Mendacia - Die Verschwörung - A. M. Berger - E-Book

Mendacia - Die Verschwörung E-Book

A. M. Berger

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Beschreibung

Die Entführung eines Freundes, ein blutiges Ritual und eine Verschwörung die sich durch das ganze Land Mendacia zieht. Niemals hätte sich der biedere Bürokrat Joachim vorstellen können, in all das Verwickelt zu werden. Als er der Korruption angeklagt wird, setzt sich eine Kettenreaktion in Gange, die ihn zu einer Flucht durch das ganze Land führt, und in tiefgreifenden politischen Einwirkungen mündet. Auf dieser langen Reise wird Joachim sowohl mit den politischen Ungereimtheiten von Mendacia als auch mit seiner eigenen Entfremdung konfrontiert.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

Kapitel XXX

Kapitel XXXI

Kapitel XXXII

Kapitel XXXIII

Kapitel XXXIV

Kapitel XXXV

Kapitel XXXVI

Kapitel XXXVII

Kapitel XXXVIII

Kapitel XXXIX

Kapitel XXXX

Kapitel XXXXI

Kapitel XXXXII

Epilog

I

„Lieber Joachim,

Wie geht es dir in der Hauptstadt? Ich hoffe gut. Ich kann dich mir kaum vorstellen, als hochrangiger Bürokrat in der grossen Stadt. Ich sehe dich immer noch als den eifrigen jungen Mann, der damals bei mir studierte. Wie viele Jahre ist es her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben? Zu viele. Ich selbst bin nun seit geraumer Zeit nicht mehr als Professor tätig, sondern arbeite an einem wissenschaftlichen Projekt für die Regierung. Ich will dir gerne alles darüber erzählen, denn ich werde in zwei Tagen in die Hauptstadt reisen. Das heisst wenn dich dieser Brief pünktlich erreicht, nur noch in einem Tag.

Ich wurde von einem gewissen Herrn Patrick Hofmeister eingeladen der Geschäftliches besprechen möchte. Er kommt sogar für die Zugfahrt auf. Du siehst also, es ist für mich nicht ruhiger geworden, ganz im Gegenteil, ich habe mehr zu tun als je. Deshalb freue ich mich auch auf ein Paar Tage weg von Severinstadt, um endlich etwas Ruhe zu haben. Obwohl ich gehört habe, die Hauptstadt sei alles andere als Ruhig. Ich war nur wenige Male dort, zuletzt vor ein Paar Jahren, und es soll sich viel geändert haben. Ich bin im Hotel Biedermann untergebracht, suche mich doch bitte morgen am Nachmittag dort auf. Ich werde in der Wirtschaft am Tresen auf dich warten.

Herzliche Grüsse und bis bald,

Ewald Baumgartner“

Joachim nahm gemächlich einen Schluck Tee, während er den Brief von seinem alten Freund Professor Baumgartner las. Ein ungewohntes Lächeln hatte sich beim Lesen auf seinem Gesicht ausgebreitet. Professor Baumgartners baldiger Besuch war eine erfreuliche Nachricht, eine willkommene Abwechslung in Joachims Alltag. Obwohl seine Arbeit eine bedeutende Berufung für ihn war, konnte sie trotzdem eintönig werden.

Joachim war ein junger Bürokrat in der Hauptstadt, kaum über 30 Jahre alt, aber mit einer, für sein junges Alter, ziemlich erfolgreichen Karriere hinter sich. Er war ein ansehnlicher Mann, von durchschnittlicher Statur und schmächtigem Körperbau. Seine halblangen Haare entsprachen nicht mehr ganz der Mode, aber er war auch nicht die Art von Person die jeder neuen Tendenz gedankenlos nachging. Zwischen seiner ausgeprägten Nase und etwas prominenten Augenbrauen waren zwei stahlblaue Augen mit eifrigem Blick zu erkennen. Zusammen mit seinem spitzen Kinn konnten sie ihm gelegentlich eine starke Präsenz verleihen konnte, sofern er die genügende Selbstsicherheit aufbrachte. Joachim sass an seinem Schreibtisch und legte den Brief nieder, schaute sich dann in seinem Büro um.

Weit hast du es gebracht. Dein eigenes Büro in der Hauptstadt, mit Heizofen und elektrischem Licht. Vor zehn Jahren hättest du dir das kaum vorgestellt, du in dieser hohen Position. Wie hast du damals im gemeinschaftlichen Arbeitsraum auf die hohen Bürokraten aufgesehen, voller Hochachtung und Neid. „Wie die werde ich auch mal sein“, hast du dir jedes mal eingeredet. Und jetzt bist du hier. Und doch fehlt dir etwas. Du dachtest dies würde dich schliesslich erfüllen, doch du fühlst dich genau so leer wie zuvor, nur warm und gemütlich sitzt du jetzt. Doch von warm und gemütlich lebt der Mensch nicht. Diese grosse Stadt, so voller Leute... und alle so einsam, in diesem Ameisenhaufen.

Joachim widmete sich weiter seiner Arbeit. Der Regen klopfte an das Fenster seines Büros und liess die Fensterscheiben leicht klirren. Die dunklen Sturmwolken vermischten sich mit dem schwarzen Rauch, den die unzähligen Schlote der Hauptstadt ausspien, was den Tag fast so dunkel wie die Nacht erscheinen liess. Joachim bediente sich seiner elektrischen Lampe um mit seinen Notizen gemütlich fortfahren zu können. Das Gebäude war erst vor knapp über einem Jahr mit dieser modernsten aller Erfindungen, dem elektrischem Licht, ausgestattet worden. Wahrlich eine eindrucksvolle Errungenschaft der modernen Zivilisation. Was würde der Mensch wohl als nächstes erfinden?

Seit einigen Tagen war Joachim mit der Generalinventarisierung für den Kreis 31 der Hauptstadt beschäftigt, welche monatlich vorzulegen war. Die verschiedenen Versorgungsmängel waren schon seit längerer Zeit zur Norm geworden, doch Joachim konnte trotzdem noch eine angemessene Verteilung zusammenzustellen. Auf dem Papier zumindest passte alles, und Papier ist bekanntlich geduldig. Wenig mehr als ein Jahr war es her, dass Joachim zum Abteilungsleiter für Rationierung und Inventarisierung des Grundbedarfs befördert worden war. Seine Arbeit hatte einen direkten Einfluss auf die Bürokratieverwaltung der Industrie. Diese Position war schon lange Joachims grosse Ambition gewesen. Zuvor hatte er viele Jahre als niederer Beamter in der selben Verwaltung vom Kreis 31 geschuftet, seit seinem Studienabschluss. Das Studium zum Beamten war in der Mittelschicht eine angesehene Laufbahn, die eine solide Anstellung in der Verwaltung mit sich führte. Die Regierung hatte diese Laufbahn während der Epoche des Übergangs eingeführt, als die Bürokratie umfunktioniert wurde, von der Monarchie zu der heutigen Technokratie. Um gegen die zuvorigen, chaotischen Zustände vorzugehen, war entschieden worden, dass die Verwaltung stark ausgebaut werden sollte. Vor allem junge Leute aus den mittleren Gesellschaftsschichten wurden angeworben, um sich dieser Aufgaben anzunehmen. Die aristokratischen Oberschichten waren sich zu fein um sich mit solchen banalen, unwürdigen Aufgaben auseinanderzusetzen, und die Arbeiter und Bauern hingegen waren ungebildet, die meisten konnten kaum lesen und schreiben. Mit diesen neuen Aufstiegsmöglichkeiten hatte sich die Technokratie bei der Mittelschicht sehr beliebt machen können, was ihren Machtanspruch festigte.

Als Joachim mit dem letzten Formular fertig war legte er seine Feder auf den Tisch und erhob sich um dann aus dem stehen nochmals seine Arbeit zu betrachten. Es schien so weit alles sachgemäss. Er schlenderte am Schreibtisch vorbei zum kleinen Heizofen, auf dessen Oberfläche sich die Teekanne warm hielt. Joachim goss sich eine Tasse Tee nach, den er sich nun verdient hatte, und starrte aus dem Fenster. Der Mann mit einem dunklen Mantel und Hut fiel ihm nicht auf, obwohl dieser von der gegenüberliegenden Strassenseite direkt in Joachims Büro schaute. Der Regen schien nicht nachzulassen, und auch so war es wohl vergebens, heute noch auf etwas Sonnenschein zu hoffen. Die Sonne war mit der Zeit zu einer Seltenheit geworden, seitdem sich die rauchenden Schornsteine massenweise vermehrt hatten. Auch ohne Regen verdeckte der Rauch meistens den Himmel, selten waren die Tage, an denen starke Windböen diese Rauchdecke öffnen konnten. Es war der Preis den die Hauptstadt dafür bezahlte, an der Vorfront des technologischen Fortschrittes zu sein.

Anstatt der Sonne erhellten dann eindrucksvolle elektrische Strassenlaternen die Strassen und Plätze. Diese Laternen, die äusserlich nur wie eine Kugel aus weissen Glas erschienen, enthielten sogenannte Bogenlampen, die mit Elektroden aus Kohle ein blendendes, weisses Licht von sich gaben, welches die ganze Umgebung erhellen konnte. Alle grösseren Strassen und Plätze waren schon seit einigen Jahren mit diesen Geräten ausgestattet worden. Joachim erinnerte sich mit Affekt an die damaligen Zeremonien, bei welchen diese neue Errungenschaft der Bevölkerung vorgestellt wurde. Der Bürgermeister selbst und Vertreter der Regierung waren zumeist anwesend. Lange Reden wurden gehalten, in denen man von einer glorreichen Zukunft sprach, in der nicht nur diese sondern auch andere Bedürfnisse durch den Erfindergeist versorgt werden sollten. Es war als ob der Tumult, der die lange Epoche des Übergangs gekennzeichnet hatte, nun endgültig vergessen werden konnte, und sich alles endlich zum besseren bekehren würde. Das Licht der Strassenlaternen sollte also auch symbolisch den Weg in die Zukunft erleuchten. Joachim bewahrte als Erinnerung eine Photographie einer solchen Eröffnungszeremonie in seinem Büro auf. In der erfreuten Menge, die auf dem Lichtbild zu sehen war, konnte man auch ihn erkennen.

Kaum zwei Jahre nach der Einrichtung dieser elektrischen Strassenlaternen kamen auch schon die ersten Kürzungen, und die Lampen konnten nicht einmal mehr die Nacht hindurch brennen. Zur Zeit als Joachim zum Abteilungsleiter befördert wurde, hatte diese Stelle schon längst ihr Prestige verloren. Die leitenden Beamten, die alle Güter rationieren mussten, wurden als Sündenböcke für die Mängel gesehen, und man sagte ihnen nach, sie würden an sich selbst und ihre Freunde mehr verteilen, als an den Rest der Bevölkerung.

So viel Schweiss, so viel Anstrengung, und jetzt bist du schon wieder nur ein verhasster Beamter. Wo du auch hin willst, du kommst doch immer zu spät. Was auch immer du dir vorsetzt, es kommt doch nicht so, wie du es wolltest. Wie dieses magische Licht der Strassenlaternen das die Zukunft erleuchten sollte. Und was ist daraus schon geworden? Die Welt ändert sich so schnell, und du schaffst es niemals, ein wirklicher Vorreiter zu sein, egal wie sehr du es versuchst.

Das Unwetter machte es keine angenehme Aufgabe, die Wärme des Büros zu verlassen, doch Joachim wollte wie immer persönlich die Verteilungsstelle für Kohlen aufsuchen, um den Stand der Vorräte zu vermerken. Er hätte zwar eine Depesche entsenden können, doch die möglichen Rückfragen würden den Vorgang verzögern. Die Dokumente mussten unbedingt beizeiten bereit sein. Das war für Joachim eine Sache der Ehre. Und bei einer ungenauen oder gar falschen Information wäre er verantwortlich dafür. In diesen Zeiten hatten viele Vorarbeiter sich angewöhnt, die Situation ihrer Betriebe schönzureden. Auch deshalb war es besser, einen kurzen Besuch zu unternehmen.

Joachim legte die Tasse auf den Schreibtisch, nahm sich den schweren Wollmantel, und machte sich auf den Weg. Der Flur war um diese Zeit schon menschenleer, die meisten seiner Kollegen hatten ihren Arbeitstag beendet. Er begegnete lediglich auf der Treppe einem Diener, der Kohlen für die Heizöfen schleppte. Der schlaksige Mann war gebeugt und trug mit viel Mühe auf dem Rücken den grossen Sack mit Kohlen. Joachim grüsste höflich im vorbeilaufen, auf dem Weg zum Erdgeschoss.

Die Eingangshalle war, anders als die oberen Flure, prächtig gestaltet. Der Boden aus feinem Marmor, die Rahmen der riesigen Fenster mit verziertem Holz versehen und umrandet von schweren Vorhängen aus rotem Samt. Zwischen den Fenstern hingen eindrucksvolle Ölgemälde von verschiedenen Industriellen Errungenschaften wie Fabriken, elektrische Generatoren oder Dampfeisenbahnen, sowie Porträts der Industriepioniere. Im Zentrum der Halle befand sich das Rezeptionspult, dahinter, gegenüber der Eingangstür gab es zwei Treppenhäuser, eines auf jeder Seite. Zwischen den Treppenhäusern hing ein pompöses Porträt von Eberhard II., dem letzten König, auf wessen Herrschaft die erste technokratische Regierung gefolgt hatte. Die Stadtkreise als Verwaltungsabteilungen waren noch in der kurzen Herrschaft dieses letzten Königs entstanden, als vergeblicher Versuch, die Bürokratie aus ihrer Lethargie zu reissen.

Im Gegensatz zum morgendlichen Treiben herrschte zu dieser Zeit eine befremdliche Ruhe in der Eingangshalle. Die Empfangsdame war mit einer illustrierten Zeitschrift abgelenkt, und aus einem Phonographenapparat erklang eine kratzige Aufnahme eines Streichquartetts.

„Guten Abend, Frau Steinach.“

„Guten Abend, Herr von Rietbach. Fertig für Heute?“, fragte sie gelangweilt ohne den Blick von ihrer Zeitschrift zu erheben.

„Nein, ich komme vielleicht später noch schnell vorbei.“

„So spät noch Arbeiten?“

„Gründlichkeit muss sein, Frau Steinach.“

„Na dann“, antwortete sie und widmete sich wieder ihrer Illustrierten.

Joachim stiess mit etwas Mühe die schweren Eingangstüren auf, zwei Türen die Schleusenartig aneinander platziert waren um so den kalten Durchzug zu verhindern. Draussen zog er sich den Mantel zu, und versuchte sein Gesicht etwas vor dem beissend kalten Wind und Regen zu schützen, während er die Steinstufen zur Strasse hinunter stakste. Das Stadtviertel, grösstenteils ein Industriestandort, war versehen von Fabriken und Lagerhäusern aus roten Ziegeln, welche vom Rauch geschwärzt waren. Das Kreisgebäude vom Kreis 31 mit seiner ornamentreichen Steinfassade und sieben Obergeschossen ragte hierbei merklich heraus. Genau gegenüber befand sich die Maschinenfabrik Rühmann und Co., einer der grössten Hersteller von Dampfmaschinen in der Hauptstadt. Hinter dem grossen Tor aus massivem Stahl gab es einen herrschaftlichen Vorgarten der auf die Bedeutung dieses Unternehmens andeutete.

Joachim konnte einige hundert Meter weiter vorne die Rauchsäule der Dampfstrassenbahn erkennen. Es war erleichternd, bei diesem Wetter nicht längere Zeit warten zu müssen. An der Haltestelle, die aus einem einfachen Metallpfahl gekrönt von einem runden Schild bestand mit der Aufschrift „Haltestelle“ in stählernen Buchstaben, die rund um das Symbol der Städtischen Lokalbahnen angeordnet waren, wartete ausser ihm niemand. Anfangs mit einem tiefen grollen aus dem Grund, dann, mit immer lauter werdendem Zischen und Krachen, näherte sich die kleine Lokomotive, welche nur einen Beiwagen hinter sich her zog. Mit lautem Quietschen kam sie vor Joachim zu stehen. Er stieg schnell in den Beiwagen ein, zog die Schiebetür hinter sich zu und setzte sich auf die Holzbank auf der rechten Seite. Daraufhin zog der Schaffner kurz an einer Schnur an der Decke, die in der Lokomotive eine Glocke erklingen liess, und mit erneutem Zischen und Rattern setzte sich das Gefährt wieder in Bewegung.

Gerade als die Strassenbahn angefahren war, sprang plötzlich noch ein Fahrgast auf. Es war ein Mann mit einem dunklen Mantel und passendem Hut. Er platzte in den Wagen, und schlug die Schiebetür hinter sich zu, dass das Glas in der Tür fast zu zerbrechen drohte. Der Schaffner starrte den Mann einen Moment verärgert an, doch dieser setzte sich seelenruhig auf eine der Holzbänke. Der Schaffner richtete sich dann wieder an Joachim.

„Der Herr brauchen einen Fahrschein?“

„Ich habe eine Wochenkarte.“ Joachim suchte in seinen Manteltaschen bis er das kleine Lederetui ausfindig machte, in welchem er seine Wochenkarte aufbewahrte.

„Danke sehr, der Herr steigen wo aus?“

„Bei der Kanonenstrasse.“

Der Schaffner nickte höflich, und fragte dann den anderen zugestiegenen Gast. Ohne auch nur ein Wort zu sagen bezahlte dieser seinen Fahrschein. Auf die Frage bis wohin er fahre antwortete er nur „Endstation“. Der Schaffner ging in den hinteren Teil des Wagens und wartete dort darauf die Haltestellen anzukündigen. Joachim rieb sich derweil die Hände aneinander. In den wenigen Minuten die er gewartet hatte waren seine Finger ganz kalt geworden. Im Wagen sassen neben ihm und dem Mann im dunklen Mantel noch zwei weitere Fahrgäste. Ihm gegenüber eine ältere Frau, einfach gekleidet, mit einem Kopftuch bedeckt und einen grossen Korb auf dem Schoss. Ganz hinten im Wagen, an die hintere Wand gelehnt, sass ein Mann mit abgerissener Kleidung, sein Gesicht fast vollständig von seinem zerfransten Schal bedeckt. Er lehnte sich an das hintere Fenster und schien zu schlafen.

Der Beschlag an den Fensterscheiben und die Spiegelung der zwei Öllampen, die von der Decke hingen, machten es fast unmöglich, durch die Fenster etwas zu erkennen. Was auch nicht weiter von Bedeutung war, Joachim kannte ja die langweilige Industrielandschaft des Südostens der Hauptstadt. In der Ferne war ein Pfeifen zu hören, wahrscheinlich ein Zug im nahegelegenen Güterbahnhof.

„Königsplatz“, sagte der Schaffner, und die Strassenbahn kam zum stehen. Königsplatz, dachte Joachim, welch ein prächtiger Name für so ein furchtbares Arbeiterquartier. Die Frau mit dem Korb stieg aus, zurück blieben nur noch Joachim, der Mann mit dem dunklen Mantel, und der Herr, der zu schlafen schien. Joachim wunderte sich, wo diese Leute hinfahren wollten, nach dem Königsplatz kam hauptsächlich nur noch Industriegebiet bis zum Ende der Strecke. Der Schaffner hatte sich in der Zwischenzeit hingesetzt und las die Zeitung. Er wusste wohl, dass noch ein ganzes Stück bis zur Kanonenstrasse fehlte. Dass der andere Mann noch später an der Endstation aussteigen wollte, war Joachim suspekt.

Einsame Leute in dieser einsamen Stadt, fahren mit dir in dieser kleinen Strassenbahn ins Nirgendwo. Du verdächtigst diese Leute, verdächtigen sie nicht wohl auch dich, dass du in diese abweisende Gegend fährst? Was suchst du im Industrieviertel? Suchst du tatsächlich die Verteilungsstelle, oder fliehst du, ohne zu wissen wovor?

„Kanonengasse“ sagte der Schaffner wenig später, und riss Joachim aus seinen Gedanken. Er stieg aus, in die Kälte und den Regen.

II

Joachim musste nicht weit bis zur Verteilungsstelle laufen, einen kurzen Fussweg von der Hauptstrasse weg, vorbei an einer, ausser ihm, menschenleeren Industrielandschaft. Aus den Fabriken und Maschinenhäusern war fortlaufend mechanischer Lärm zu hören, nur Anzeichen von Menschenleben suchte man vergebens. Nur durch seine bemerkenswerte Ausmasse unterschied sich das Gebäude der Kohlenverteilungsstelle von den anderen Gebäuden der Umgebung. Allenfalls ein Zugangsgleis, welches von der Dampfstrassenbahnstrecke dorthin führte, war ein Indiz dafür, dass dieser Ort eine besondere Bedeutung besass. Drinnen gab es, wie bei vielen Industriebetrieben, zu jeder Zeit, Tag und Nacht, reges Treiben. Hierher wurden die wertvollen Kohlen geliefert, und von hier aus wurden sie in weite Teile der Hauptstadt verteilt. Es gab vier solche Verteilungsstellen für Kohlen in der Stadt, dazu noch einige weitere, kleinere Verteilungsstellen für andere staatlich regulierte Güter. Zur hinteren Seite des Gebäudes kamen voll beladene Eisenbahnwagen und leerten tonnenweise Kohlen in die Lagerhalle, wo dutzende Arbeiter sie dann auf die andere Seite schaufelten. Von dort aus wurden die Kohlen dann weiter verladen, auf kleine Waggons, die über die Strassenbahngleise befördert wurden, auf Pferdekarren, oder in Säcke, die von Bürgern und Arbeitern selbst abgeholt werden konnten, sofern sie, gemäss Rationierungsschein, darauf Anspruch hatten. Denn die Kohlen waren die wichtigste Grundlage für die moderne Lebensweise in der Hauptstadt, ebenso wie in allen Städten des Landes Mendacia. Die Kohlen heizten die Häuser, trieben die Dampfmaschinen und elektrischen Generatoren an, und waren Kraftstoff für Eisenbahnen und Strassenbahnen, welche die Arterien der modernen Welt ausmachten. Ohne Kohlen käme die gesamte Zivilisation zum stillstand.

Aus diesem Grund war die Beschaffung und Verteilung der Kohlen auch eine streng regulierte Unternehmung, und umso tiefgreifender waren die Mängel, die sich seit je her verzeichneten. Der Industrierat hatte die Löhne für Bergarbeiter in den Kohlebergwerken leicht erhöht, wie in den Zeitungen zu lesen war, doch die schlechten Arbeitsbedingungen, aufgrund des hohen Drucks für grössere Leistungen, hatten sich herumgesprochen. Wenige Arbeiter waren es, die in guter Gesundheit nach Beendigung ihres Vertrages zurückkehrten. Viele kehrten gar nicht zurück. Folglich entschied die Magistratur, eine Notverordnung zum Einsatz zu bringen, welche viele der verurteilten Kriminellen zur Zwangsarbeit verschleppen liess. Als auch diese Massnahme nicht ausreichte, griffen die Ordnungskräfte immer stärker durch, und sogar kleinere Straftaten wurden mit mehreren Monaten oder gar Jahren Zwangsarbeit bestraft. Auch unrechtmässige Verurteilungen solle es aufgrund der Eile und ungründlichen Arbeit in den Gerichtshöfen gegeben haben, was zu Unbehagen, vor allem in den niederen Bevölkerungsschichten, geführt hatte. Als weitere Konsequenz waren Ermittlungen bei Straftätern schlampig geworden, viele der gesuchten Straftäter wurden nie gefasst, und die Wachen gingen stattdessen den Kleinkriminellen nach, die man schnell fassen und verurteilen konnte. Die Zeitungen berichteten nicht sorgfältig über diese Fälle, aber Gerüchte gab es zuhauf. Joachim aber interessierte sich wenig für diese Gerüchte, er vertraute trotz allem der Aufrichtigkeit der Richter und der gesetzlichen Ordnung.

Es ist für dich ja immer einfacher zu glauben, dass alles so ist, wie es sein soll, und nicht anders. Warum solltest du dich darum scheren, was sich der Pöbel für Märchen erzählt? Du kannst die Welt ja auch nicht ändern.

Grot, der Vorarbeiter der Verteilungsstelle, erwartete Joachim bereits. Grot war ein stämmiger Mann, nicht sehr hochgewachsen aber umso breiter, und hatte einen so mächtigen wie auch unbändigen Vollbart. Sein Gesicht und seine Hände waren von der Kohle geschwärzt, ebenso wie seine einstmals blaue Arbeitskleidung. Vom metallenen Laufsteg, der sich neben dem kleinen, erhöhten Büro befand, sah er Joachim ankommen und lief geschwind die Treppe herunter um ihn zu begrüssen.

„Guten Abend Herr Joachim, bitte, darf ich anbieten, Kaffee oder Tee.“

„Nein danke, Grot. Ich komme nur für die Aufzeichnungen.“

„Bitte, bitte.“

Mit einer einladenden Verbeugung führte Grot Joachim in der Lagerhalle herum während er ihm die aktuelle Situation erläuterte.

„Wir sind so weit allen Verpflichtungen nachgekommen. Trotz der Personalkürzungen!“

„Gut zu hören. Du weisst, ich war für diese Kürzungen nicht verantwortlich. Wenn es nach mir ginge...--“

„Selbstverständlich, ich verstehe. Wir haben die Vorgänge neu organisiert, damit wir besser zurecht kommen.“ Grot schien stolz darauf dass seine Verteilungsstelle diese Erwartungen erfüllen konnte. Es war sicherlich nicht bei allen Verteilungsstellen der Fall, und es war schon fast zur Gewohnheit geworden, dass Disziplinarmassnahmen ergriffen werden mussten. Joachim zweifelte an der Ehrlichkeit von Grots stolz, und erwog ob es sich womöglich nur um unterdrückte Angst vor solchen Massnahmen und den Wunsch, einen guten Eindruck zu machen, handelte. In diesen Zeiten wollte kaum ein Arbeiter es wagen, seine Position als Verteilungsstellenvorarbeiter zu gefährden, weil er den Erwartungen der Industrieverwaltung nicht nachkam. Vorarbeiter war eine der besseren Stellen, auf die ein einfacher Arbeiter hoffen konnte – sicherlich besser, als dort unten immerzu die Kohlen zu schaufeln.

Nach dem Rundgang setzten sich Grot und Joachim an den kahlen, rauen Holztisch im Büro, um alles zur aktuellen Situation zu notieren. Zurzeit waren keine weiteren Personalkürzungen vorgesehen, allerdings würde sich das Volumen der ankommenden Kohlen leicht erhöhen.

„Damit sollten wir eigentlich zufrieden sein, es bedeutet die Situation mit den Kohlemängeln verbessert sich langsam.“

„Bestimmt, Herr Joachim“, antwortete Grot, „nur, ich wollte...-“

„Ja?“, fragte Joachim.

„Ich wollte sie fragen, nun...“ Grot wurde etwas nervös. Er starrte mit verlorenem Blick auf den Tisch, unfähig Joachim in die Augen zu schauen. Mit den fingern schabte er Unbewusst an einem Holzsplitter am Tischrand.

„Was ist denn, Grot?“, fragte Joachim, der nun besorgt wurde. Er schätzte Grot wohl mehr, als es für jemanden aus der Verwaltung sicherlich üblich war. Als Joachim erst seine erste Verwaltungsarbeit antrat, hatte Grot ihm oftmals geholfen, seinen Anforderungen gerecht zu werden. Schon damals war Grot bereits seit langen Jahren Vorarbeiter in der Verteilungsstelle gewesen, und verstand sich mit dem Umgang der Kohleverteilung. Es wäre für ihn ein leichtes gewesen, Joachim mit den Rechnungen übers Ohr zu hauen, aber er hatte bewiesen, immer die Ehrlichkeit zu wahren, was keineswegs eine Selbstverständlichkeit war. Joachim war ihm dankbar dafür.

„Ich weiss, ich sollte das gar nicht fragen, es ist falsch aber...“, Grot rang mit sich selbst.

„Du weisst du kannst mit mir ehrlich sein. Die Antwort, die ich dir dann geben könnte, ist dann schon etwas anderes“, sagte Joachim, im vergeblichen Versuch, einfühlsam zu sein.

„Nun... ich wollte fragen... also... ich brauche ein wenig mehr Kohlen. Für mich, na ja, uns, weil ja... meine Frau ist krank, sie liegt daheim im Bett, und die Kälte ist nicht gut für sie, das sagt der Herr Doktor. Und das bisschen an Kohlen, dass ich bekomme, ist einfach nicht genug um das Zimmer warm zu halten. Normalerweise macht es nicht viel, wir decken uns einfach mehr zu aber diesmal... es geht ihr wirklich nicht gut, ich habe Angst um sie. Bitte verstehen Sie mich.“

Wie Joachim ihm zuhörte, kräuselte er mit den Fingern seine Krawatte, wie er es immer dann tat, wenn ihn etwas nervös machte.

„Ach so–“ sagte er bestürzt. Nicht nur von Grots überraschender Anfrage nach einem so sensiblen Gut wie Kohlen, aber auch weil ihn seine persönliche Situation berührte, denn sie brachte Erinnerungen zurück, schmerzhafte Erinnerungen. Er wollte ihm helfen, doch er zögerte, denn er wusste, wie heikel es war, um die Misshandlung dieses wertvollen Gutes.

„Du weisst, Grot, wie es mit den Kohlen ist...“

„Ich weiss. Ich würde ja auch nicht fragen wenn es nicht wichtig wäre. Ich flehe Sie an Herr Joachim.“ Joachim überlegte einen Augenblick.

Willst du denn diesem armen Mann nicht helfen? Hättest du damals nicht auch gerne Hilfe bekommen? Was sind denn schon ein Paar Säcke Kohlen, wenn es um ein Menschenleben geht? Als du in die Bürokratie kamst, war doch dein höchstes Ideal, deinen Mitmenschen zu helfen.

„Also gut. Wir könnten ein Paar Säcke umleiten. Ich werde es an der hereinkommende Menge ein bisschen ändern. Wegen dieser Menge wird es bestimmt keiner merken.“ Joachim versuchte ein wenig zu lächeln. Er sah eine Träne an Grots Wange herunterlaufen.

„Vielen Dank, Herr Joachim. Vielen Dank. Ich werde es ihnen nie vergessen. Nie“, sagte Grot und verbeugte sich demütig.

„Schon gut. Das muss aber unter uns bleiben. Sonst sind wir beide dran.“

„Natürlich. Kein Wort, niemand wird etwas erfahren.“

„Ich muss jetzt auch weiter, sonst habe ich meine Papiere nicht pünktlich fertig.“ Joachim stand auf und ging zur Tür.

„Bitte“, sagte Grot, und lief zu Tür um diese für Joachim zu öffnen. Bevor Joachim ging schüttelte Grot ihm die Hand, er fasste sie mit seinen beiden Händen und verbeugte sich, seine demütige Dankbarkeit zeigend. Joachim verliess das Lagerhaus und lief zur Haltestelle, um auf die Strassenbahn zu warten, doch nun überkamen ihn Zweifel. Er hatte Grot helfen können, doch ihm war die Sache nicht geheuer, es ging gegen seine eigenen Überzeugungen. Wie sollte er den Gerüchten um die Korruption der Beamten seiner Position aufrechten Hauptes entgegenstehen, wenn er doch selbst dieses Verhaltens schuldig war? Noch dazu wusste er von den unheilvollen Konsequenzen, falls diese Hehlerei entdeckt werden sollte. Er konnte nur darauf hoffen, dass dies nicht geschehen würde. Bestenfalls würde die Umleitung von ein Paar Säcken Kohle in der Bürokratie verloren gehen.

Nach seinem Besuch in der Verteilungsstelle hatte Joachim noch einen langen Heimweg vor sich. Er hatte diesmal nicht das Glück, dass seine Strassenbahn baldig ankäme, stattdessen musste er beinahe eine halbe Stunde warten. Der Schaffner entschuldigte sich, und erklärte dass der Mangel an Kohlen für die immer häufigeren Verspätungen verantwortlich war, da nicht alle Bahnen verkehren konnten. Für Joachim war es wenig Trost, nachdem er so lange in der nassen Kälte hatte warten müssen.

Im kleinbürgerlichen Viertel in welchem Joachim seine Wohnung hatte, waren die Strassenlaternen schon lange abgeschaltet, ebenfalls um Treibstoff zu sparen. Das machte es gefährlich, nach dieser Zeit noch unterwegs zu sein, da man sich der Gefahr eines Überfalls aussetzte. Die weit verbreitete Misere trieb immer mehr Leute in die Kriminalität, was zusammen mit dem verfrühten Abschalten der Lampen am Abend für menschenleere Strassen sorgte.

Es ist aber gar nicht so schlimm, wie alle sagen. Kaum jemandem mangelt es an Arbeit. Die Zahl der Arbeitslosen ist so niedrig wie nie, so steht es immer wieder in den Zeitungen. Die Siedlungen der Arbeiter werden stetig verbessert. Die Leute beschweren sich einfach nur gerne. Einige sind auch einfach faul oder unfähig, das kann man ja wohl kaum der Stadt oder der Regierung zur Last legen. Wer sich anstrengt, wie du, der bringt es auch zu etwas.

Der Wohlstand, welcher Joachim vor vielen Jahren in die Stadt gelockt hatte, war heutzutage wenig mehr als eine ferne Erinnerung. Wenn die Verhältnisse sich langsam und schrittweise ändern, geschieht es zumal, dass dies für viele Leute unerkannt bleibt, obwohl die Situation am Anfang und am Ende im direkten Vergleich kaum noch Ähnlichkeiten aufweisen würde. So war es in der Hauptstadt geschehen. Der Aufschwung, der von der Blüte der Industrie entsprungen war, hatte nicht allzu lange angehalten. Schon bald tauchten, wie Unkraut, alle möglichen Konflikte auf, welche die fragile Situation ins Wanken brachten. Zu dieser Zeit war es auch, dass König Eberhard II nicht mehr die Zügel des Landes halten konnte, und schliesslich abdankte, um sich ins Exil zu begeben. Die Regierung wurde von da an von einem Rat von Industriellen und Intellektuellen übernommen, Magistraten wurden sie genannt. Eigentlich eine provisorische Situation die aber schon seit Jahrzehnten, als sogenannte technokratische Regierung, andauerte.

Weder über König Eberhard II., der so überraschend abgedankt hatte, noch über die Legitimität der Regierung wurde viel gesprochen, solche ungemütlichen Themen zu behandeln verdarb den Leuten nur den Tag. Die Zeitungen nahmen die Situation als gegebene Tatsache an, und stellten nichts davon in Frage. Für sie war es wichtiger die Leser mit morbiden Kriminalgeschichten einzufangen, und mit glänzenden Porträts der Regierungsarbeit bei Laune zu halten. Wenn man den Zeitungen Glauben schenkte (was die Mittelschicht, zu der sich auch Joachim zählte, auch gerne tat) so arbeitete die Regierung unermüdlich daran, die Mangelsituation zu beheben und die Lebenskonditionen der Arbeiter zu verbessern. Doch die Unzufriedenheit der Arbeiterklasse, die sozialen Konflikte, die Kriminalität und die problematische Versorgungsverhältnisse verschlechterten sich zunehmend. Es geschah langsam, schrittweise, sodass es kaum jemandem wirklich auffiel, ausser der immer grösseren Masse an Leuten, welchen es dadurch tatsächlich an den Kragen ging. Über sie wurde in den Zeitungen nicht geschrieben.

Joachim kam kurz vor Mitternacht in seiner Wohnung an. Nachdem er sich den Russ der Kohle abgewaschen und sich aus seiner schmutzigen Kleidung umgezogen hatte, las er im Bett noch ein Zeitungsblatt:

ERNEUTER BAUERNAUFSTAND ENTSCHÄRFT - Der Industrierat hat einem neuen Bauernaufstand die Stirn bieten können. Die Bauern haben sich reaktionär verschworen um sich, durch Erpressung des Volkes, eine vorteilhafte Situation zu erzwingen. Die Regierung hat diese Vorzugsbehandlung strikt abgelehnt, aus dem Grunde, dass sie nicht nur Ungerecht für die restliche Bevölkerung wäre, sondern auch das gesamte konjunkturelle Gleichgewicht bedroht, da die ganze Versorgungskette aus dem Laufen gebracht werden könnte. Dies würde katastrophale Folgen mit sich bringen.

Die Sicherheitskräfte haben die Drahtzieher der Verschwörung identifiziert und unschädlich gemacht. Man wird in der nächsten Zeit die Überwachung der Landwirtschaft verschärfen, um weitere Konfliktsituationen zu vermeiden.

Der Artikel vertiefte hiernach in die Konfliktsituation mit den Bauern. Joachim legte die Zeitung müde und gelangweilt weg. Er hatte die Nachrichten von den Bauernaufständen satt, und war einfach nur zufrieden, dass die Regierung die nötigen Massnahmen ergriff.

III

Als Joachim am nächsten Tag seine Arbeitszeit beendet hatte, wollte er sogleich los, um Professor Baumgartner pünktlich zu treffen. Bevor er sein Büro verliess suchte er noch den Brief, den er von seinem Freund bekommen hatte, und wo der genaue Ort und die Zeit ihres Treffens notiert waren, doch der Brief war nirgends zu finden. Unmöglich, dachte Joachim, ich habe ihn doch hier auf der Kommode gelassen. Hätte vielleicht eine Putzfrau ihn aus versehen weggeworfen? Oder ein Wind ihn hinter die Möbel geblasen? Joachim suchte überall, doch er konnte ihn nicht ausfindig machen. Als die Zeit knapp wurde, gab er die Suche auf, schliesslich wusste er ungefähr wann er wo zu sein hatte.

Nach einer kurzen Strassenbahnfahrt kam Joachim in der Innenstadt an. Er kannte das Hotel Biedermann, es befand sich nicht weit vom Operettentheater, am Lindenplatz, ein beliebter Platz der leicht erhöht von seiner Umgebung war. An drei Seiten dieses Platzes gab es Gebäude, doch an der vierten war der Platz zur Innenstadt hin offen und erlaubte, einer grossen Terrasse ähnlich, eine endlose Aussicht über die Hauptstadt. Das machte diesen Platz zu einem beliebten Aufenthaltsort, aber gleichzeitig verlangte er auch einen kleinen Fussweg von der Magistraturstrasse aus, auf der die Strassenbahnen verkehrten. Die kleinen Dampflokomotiven der Strassenbahn konnten solche Steigungen unmöglich bewältigen, und auch die engen Gässchen waren für diese Art von Gefährten keineswegs geeignet. Es war einer der wenigen Orte in der Hauptstadt wo die Strassen noch einer alten Anordnung aus Zeiten vor der Industrialisierung folgte, der Rest der Stadt war nach und nach umgebaut worden, mit grossen, geradlinigen Hauptstrassen und kleineren Nebenstrassen.

Die grösste der Hauptstrassen war die Magistraturstrasse, benannt nach der Magistratur, dem höchsten Regierungsgebäude. Diese Strasse führte geradeaus bis zum imposanten Magistraturgebäude, wo die Regierung von Mendacia tagte. Ein massives Gebäude, bei dem schon der Eingang etwa um eine Etage erhöht war, durch eine grosse Steintreppe zu erreichen. Das Gebäude an sich bestand aus drei weiteren Stockwerken, erkennbar durch die langen Reihen von hohen Fenstern. Drei kleine Türme ragten über das Gebäude hinweg, zwei an den Seiten, und einer, etwas grösser noch, in der Mitte, alle drei mit grünen Metallkuppeln gekrönt. Mittig, in der ersten Etage, hatte es einen grossen Balkon, von drei Fenstertüren aus erreichbar, von welchem zumal Verkündungen gemacht wurden, obwohl es schon längere Zeit, seit der Epoche des Übergangs, zurücklag, dass zuletzt eine Verkündung von der Magistratur aus gemacht wurde. Inzwischen wurden Verkündungen einfach in den Zeitungen publiziert.

Die Führung der Magistraturstrasse war schnurgerade, sodass das Magistraturgebäude schon von weiter Ferne sichtbar war. Vor dem Gebäude befand sich ein Vorplatz, und die Strasse teilte sich nach links und rechts auf, um die Magistratur zu umkreisen. Viele wichtige Gebäude und Lokale befanden sich an der Magistraturstrasse, da diese immerhin die Prachtstrasse der Hauptstadt war. Nach der Abdankung des letzten Königs hatte die Regierung bald darauf den Bau des Magistraturgebäudes und der Magistraturstrasse in Auftrag gegeben, wofür unzählige Gebäude weichen mussten, die alsbald abgerissen wurden. Doch die hohe Nachfrage um einen Platz an dieser Prachtstrasse hatte dazu geführt, dass nach nur sehr kurzer Zeit die ganze Gegend wieder dicht bebaut war, edler als sie je zuvor gewesen war. Eine der ersten Massnahmen der damals neuen Regierung war es gewesen, sich selber in Szene zu setzen um die neugewonnene Macht zu festigen, und die Magistraturstrasse wurde zur städtebauliche Iteration dieses Unterfangens.

Eines der bekanntesten Gebäude auf der Magistraturstrasse war das Operettentheater, sehr beliebt unter der Ober- und Mittelschicht, wo unterhaltsame Operettenstücke der bekanntesten Komponisten aufgeführt wurden. Gleich neben diesem Theater begann der aufstieg zum Lindenplatz, wo das Hotel Biedermann zu finden war. Nicht das berühmteste Hotel der Hauptstadt, aber es war wohl bekannt wegen der grossen Wirtschaft, die auch von Einheimischen gerne besucht wurde. Diese, gleich am Eingang gelegen, bestand aus einer riesigen Halle mit einem gläsernen Wintergartenanbau, der zum Lindenplatz hinausragte. In der Mitte der Halle gab es mehrere Gruppen von je vier runden Tischen, die um kreuzförmige Trennwände aus Holz mit angebauten Sitzbänken herum standen. In der Mitte dieser Kreuze befand sich jeweils eine elektrische Lampe in Form einer gläsernen Kugel auf einem Ständer, und mit metallenen Verzierungen, die die Lampe krönten. Die Trennwände waren an der Oberseite mit Holzschnitzereien verziert. Der Wintergarten, der als Erweiterung der Halle wirkte, hatte grosse, von einer ornamentreichen Metallstruktur gerahmte Fenster, durch welche der Lindenplatz betrachtet werden konnte. An den Fenstern entlang gab es ebenfalls Tische, diese jedoch mit gemütlichen Plüschsesseln herum, die schräg zu den Fenstern standen, sodass die Gäste die Aussicht geniessen konnten. In der Halle, die ganze zwei Stockwerke hoch war, gab es grosse Säulen aus schwarzem Marmor, und von der ebenfalls geschmückten Decke hingen grosse, elektrische Kristallkronleuchter.

Den Anweisungen von Professor Baumgartner folgend, suchte Joachim die Theke der Wirtschaft auf, die sich ganz im vorderen Teil des Lokals befand, nahe der Tür die Durchgang zum Hotelempfang bot. Vor der Theke standen viele Höcker, aus Metall mit einem roten Plüschpolster oben drauf. Das ganze Lokal war belebt, obgleich zu dieser Zeit kein Hochbetrieb herrschte. An der Theke sass allerdings niemand, was Joachim verwunderte. Er hatte erwartet das Professor Baumgartner bereits auf ihn warten würde. Vielleicht war er ja zu früh da, schliesslich hatte er ja auch eine Viertelstunde früher als üblich Feierabend gemacht, und Professor Baumgartner legte viel Wert auf Pünktlichkeit. Joachim setzte sich auf einen der Höcker und bestellte sich ein Bier, während er auf seinen Freund wartete. Er sah sich in der Wirtschaft um, wo sich vor allem feine Leute der oberen Gesellschaftsschichten aufhielten.

Diese Stadt scheint alle ihre Bewohner zu verbittern und zu arroganten und neidischen Grantlern zu machen, die nur allen anderen zeigen wollen, wie viel besser sie doch sind. Welche Minderwertigkeit dieser Ort doch in den Menschen hervor bringt. Ein Glück passiert dir das nicht, nein, nur den anderen. Schau sie dir an, diese fiesen Gestalten. Erbärmlich sind sie.

Als Joachim eine halbe Stunde gewartet hatte wurde er irritiert. Als er eine Stunde gewartet hatte wurde er besorgt. Was könnte Professor Baumgartner dazu bringen, ihn so lange warten zu lassen? Er fragte den Wirt, ob ein Herr Baumgartner gekommen wäre, doch dieser konnte mit dem Namen nichts anfangen. Am Tresen habe seit zwei Stunden niemand ausser Joachim und zwei jungen Damen gesessen. Joachim bezahlte, und ging rüber in den Hotelempfang. Ein grosser Empfangssaal von weissem Marmor, mit einer Reihe von Säulen aus schwarzen Marmor, gleich denen welche es in der Wirtschaft hatte, die symmetrisch entlang des langen Raumes verliefen. Dazwischen war auf dem Boden ein prachtvoller dunkelroter Teppich ausgelegt. Kam man durch den Haupteingang hinein, so befand sich auf der linken Seite der Empfangstresen, und auf der rechten Seite der Zugang zur Wirtschaft. Am Ende der Halle gab es ein grosses Fenster das nach draussen ragte, wie ein verglaster Balkon, dort befanden sich zwei kleine Tische und ein Paar Sessel. Daneben gab es einen Dampfaufzug, mit dem die Gäste gemütlich ihre Zimmer in den sechs Stockwerken erreichen konnten. Ein seltener Luxus, selbst in der Hauptstadt.

Joachim überlegte, Professor Baumgartner in seinem Zimmer aufzusuchen, er konnte sich ja mit der Zeit vertan haben. Doch als er bei der Nachfrage am Empfang gesagt bekam, dass niemand mit dem Namen Baumgartner im Hotel untergebracht war, wurde die ganze Sache noch unheimlicher. War den der Professor gar nie in der Hauptstadt angekommen? War ihm auf der langen Reise etwas zugestossen?

Joachim ging zum Hotelportier und fragte: „Wissen sie ob der Schnellzug aus Severinstadt heute pünktlich angekommen ist?“

„So weit wir das wissen ist er um Viertel nach Drei angekommen, mit einer Viertelstunde Verspätung.“

Joachim bedankte sich und ging Langsam zum Ausgang. Es war ihm ein Mysterium was mit seinem Freund hätte geschehen können, und er sorgte sich nun um ihn. Er verliess das Hotel gedankenversunken und lief zurück in Richtung der Magistraturstrasse.

Gerade als Joachim in eine Gasse gebogen war, wurde er plötzlich von zwei Männern überrascht. Sie erschienen, scheinbar aus dem Nichts, und gingen sofort auf ihn los. Einer schlug ihm in den Bauch, woraufhin Joachim einknickte, der andere hielt ihm die Hände hinter seinem Rücken fest. Sie versuchten ihn in eine Seitenstrasse zu verschleppen, Joachim aber wehrte sich so gut er konnte.

„Hilfe! Wachen!“, rief Joachim verzweifelt, woraufhin die Angreifer ihm ein Tuch in den Mund stopften. Er versuchte weiter zu schreien, aber er brachte keinen Ton heraus, der laut genug gewesen wäre. Die Gasse war menschenleer, keiner sah was hier schreckliches vor sich ging, um Alarm zu schlagen. In der Seitenstrasse wartete eine Lieferkutsche mit offener Tür, dort wollten sie wohl Joachim hineinstecken. Er schaffte es eine Hand zu befreien, riss sich das Tuch aus dem Mund und schlug dann einem der Männer, die ihn in Richtung der Seitenstrasse schoben, einen Hieb ins Gesicht. Der schlag sass, aber der andere Mann hinter ihm Griff ihm sofort wieder die Hand und zog sie ihm hinter den Rücken.

„Wachen, Wachen!“, rief Joachim erneut. Er konnte nicht gegen diese zwei Grobiane ankämpfen. Doch sein Glück änderte sich als tatsächlich zwei Wachmänner von der Strasse gerade in diese Gasse hereinbogen. Als sie sahen was vorging liefen sie sofort zu Joachim hin, mit den Gewehren in den Händen.

„Was ist hier los, Halt! Lasst den Mann sofort los! Stehenbleiben!“, rief einer der Wachen den Angreifern zu. Als diese sie kommen sahen, liessen sie Joachim sogleich los, er fiel rückwärts auf den kalten Steinboden. Die beiden Verbrecher liefen zur Kutsche und fuhren weg so schnell sie konnten. Die Wachen kamen zu Joachim und halfen ihm auf.

„Sind sie verletzt?“, fragte der Wachmann.

„Geht schon“, sagte Joachim, „verdammt, was ist los in dieser Stadt, dass man einfach so überfallen wird, und sie sind nirgends zu sehen?“

Der Wachmann war beschämt seiner Pflicht nicht nachgekommen zu sein. Er verbeugte sich mehrmals, wie er sich entschuldigte.

„Bitte verzeihen sie vielmals. Wir werden besser aufpassen in Zukunft. Es soll nicht noch mal geschehen.“

„Das will ich hoffen.“

„Wollen sie eine Anzeige erstatten?“, fragte der andere Wachmann.

„Gegen wen denn?“, fragte Joachim irritiert, „sie haben die Kerle ja entkommen lassen. Bei den Göttern, welche Stümperei.“

Joachim stand auf, klopfte sich den Staub von der Kleidung, und entfernte sich ohne ein weiteres Wort zu sprechen. Schon kurz darauf überkamen ihn allerdings Schuldgefühle, er hatte seinen Ärger wegen des Überfalls an den Wachen ausgelassen, die ja auch nicht immer überall sein konnten. Und auch der Frust, nicht zu wissen was mit Baumgartner geschehen war, nagte an ihm. Wer waren diese Leute, wieso wollten sie ihn verschleppen? Normalerweise wurden die Leute ihrer Wertsachen wegen überfallen, und nicht in Kutschen verschleppt. Diese Kerle wollten ihn entführen, aus welchem Grund auch immer. Sehr seltsam. Seit er Baumgartners Brief bekommen hatte meinte Joachim viel mehr komischen Käuzen über den Weg zu laufen als sonst. Vielleicht auch nur Einbildung.

Auf dem Weg nach Hause hielt Joachim bei einem nahegelegenen Telegraphenamt ein. Er wollte nach Severinstadt telegraphieren lassen, um zu wissen ob Baumgartner vielleicht gar nicht abgereist war. Vielleicht war er ja plötzlich erkrankt, oder es war sonst etwas dazwischengekommen. Eigentlich hätte er auch im Hotel bitten können das Telegramm zu schicken, aber daran hatte er bei seiner Sorge nicht gedacht. Teurer wäre es auch gewesen, solche Gewerbe berechneten immer einen heftigen Zuschlag fürs Telegraphieren.

Er trat in die kleine Dienststelle neben dem Operettentheater. Sie bestand aus wenig mehr als einem Tresen und einer Anschlagtafel an einer der Wände, voll von allen möglichen Notizen, wie Kleinanzeigen und weniger bedeutsamen Kundgebungen der Regierung oder der Bürokratie. Er läutete mit der Klingel auf dem Tresen, und kurz darauf erschien auch ein Angestellter. Ein hagerer aber eifrig erscheinender junger Mann, wohl kaum zwanzig Jahre alt, der die dunkelblaue Uniform der Staatlichen Telegraphengesellschaft von Mendacia trug, zu der eine passende Schiebermütze gehörte auf der ein Symbol aus vergoldetem Metall befestigt war, welches den Buchstaben „T“ als stilisierten Telegraphenmasten zeigte.

„Ich möchte ein Telegramm aufgeben, nach Severinstadt.“

„Selbstverständlich, einen Augenblick bitte“, antwortete der Angestellte und holte aus dem Hinterzimmer das entsprechende Formular.

„Bitte.“

„Empfänger ist Professor Ewald Baumgartner, ansässig an der Universitätsstrasse 127. Die Nachricht ist: 'Lieber Professor, habe sie aufgesucht, bitte Bescheid wenn sie nicht abreisen konnten, stopp. Joachim.' Haben sie das?“

„In Ordnung. Wird heute Abend noch ausgeliefert. Das sind... vierzehn Worte, macht dann acht Silbergroschen.“ Telegramme kosteten in den Dienststellen der staatlichen Telegraphengesellschaft einen Groschen als Grundpreis, und dann fünf Heller, also einen halben Groschen, für jedes Wort. Private Telegraphen, wie im Hotel Biedermann, konnten ihre eigenen Preise erheben. Joachim bezahlte und machte sich sogleich auf den Heimweg. Er hoffte bald schon eine Antwort zu bekommen, falls Baumgartner die Reise hatte absagen müssen.

IV

Wie Joachim erwartet hatte, kam schon früh morgens eine Depesche zu ihm ins Büro. Der junge Mann brachte ihm die Antwort von Professor Baumgartner, oder zumindest war das, was Joachim erwartet hatte. Seine Erleichterung dauerte nicht lange, als er den kleinen Briefumschlag öffnete, las er lediglich zwei Worte: „Empfänger unerreichbar.“

Joachims Sorge um seinen Freund war nun noch grösser als zuvor. Er war nicht zu Hause aufzufinden, also wahrscheinlich doch abgereist, aber nie in der Hauptstadt angekommen. Zugfahrten an sich waren sehr sicher, seitdem alle Fernzüge von bewaffneten Wachen begleitet wurden, hatte man nie wieder von Überfällen gehört. Er hatte also keinerlei Anhaltspunkte über den Standort des Professors.

Doch, einen hast du. In seinem Brief hat der Professor jemanden erwähnt, wie hiess dieser Mann noch gleich? Hof... Hofmeister, ja doch, Patrick Hofmeister.

Vielleicht hatte dieser ja von Baumgartner etwas gehört, denn schliesslich war sein ganzer Grund in die Hauptstadt zu reisen der, Herrn Hofmeister zu treffen. Aber wer war dieser Hofmeister? Joachim hatte den Namen noch nie gehört, aber er wusste wo er ihn ausfindig machen konnte.

In jedem Kreisgebäude gab es ein Einwohnerverzeichnis, eine Sammlung von Büchern in denen alle eingetragenen Einwohner der Hauptstadt vermerkt waren. Dieses Verzeichnis sollte genau dazu dienen, die Einwohner, aus welchen Grund auch immer, ausfindig zu machen. Das Nachschlagen in diesem Verzeichnis war allerdings reguliert, um die Angaben der Einwohner zu schützen. Eigentlich konnte man nur mit gutem Grund beim verantwortlichen Beamten die Informationen eines Anwohners nachfragen. Joachim wusste aber, dass dieser Beamte in seinem Kreisgebäude, Erwin Strauss, ihm einen Gefallen schuldig war, seit er ihn gedeckt hatte als man eine unentschuldigte Abwesenheit bemerkte. Erwin war auf der Suche nach einer neuen Wohnung gewesen, und um mit der grossen Nachfrage mitzuhalten, hatte er seinen Arbeitsplatz noch vor Feierabend verlassen, sodass er noch vor dem grossen Andrang vom Vorabend eine Wohnung besichtigen konnte. Dabei hatte er das Pech, dass gerade an dem Tag ein Antrag gestellt wurde, und er nicht auffindbar war. Auf seine Bitte hin gab Joachim an, er hätte Erwin zu sich ins Büro bestellt, um eine andere Anfrage aufzugeben. Dies war für die Kreisleitung schliesslich eine zufriedenstellende Erklärung, obgleich man Joachim darauf hinwies, dass er sich das nächste Mal in das Büro der Verzeichnisse begeben sollte, um den Beamten nicht von seinem Arbeitsplatz zu entfernen.

Dieses kleine Büro war im Erdgeschoss, wenig mehr als ein Kämmerlein neben den Treppen. Auf der Tür befand sich eine Aufschrift die besagte „Verzeichnisse“. In diesem Raum gab es einen Tresen, dahinter unzählige Regale voll mit allen möglichen Verzeichnissen und Nachschlagewerken die man benötigen könnte. Trotzdem war dieser Ort nur wenig frequentiert. Joachim fand Erwin Zeitung lesend hinter dem Tresen. Er stand sofort auf als Joachim herein kam.

„Ach, du bist es. Was gibt's?“, fragte Erwin.

„Ich muss dich um einen Gefallen bitten, nichts grosses, nur... kannst du mir einen Namen nachschlagen? Nur so unter uns, ohne es aufzuzeichnen.“ Eigentlich musste jede Anfrage protokolliert werden.

„Für dich sicher. Wen suchst du?“

„Einen Herrn Hofmeister. Ich weiss nichts ausser diesem Namen: Patrick Hofmeister.“ Erwin ging sofort zu einem der Bücherregale rüber und suchte von den Einwohnerverzeichnisbändern der Hauptstadt das Exemplar von G bis I aus. Ein grosses, dickes Buch, in einem blauen Einband. Er legte es auf den Tresen und suchte nach Hofmeister.

„Hofmann... Hofmark... Hofmeier...“, las Erwin die Namen vor, wie er mit dem Finger die Seite runterfurt, „Hofmeister, da haben wir ihn ja. Gibt nur einen, 'P.' steht wohl für Patrick.“ Erwin drehte kurzerhand das Buch herum und deutete auf den gesuchten Namen, in winziger Schrift gedruckt, verloren in einem Meer von anderen Namen. Joachim sah sich die Adresse die als Arbeitsplatz angegeben war an und notierte sie sogleich auf einem kleinen Stück Papier, dass er aus einer Jackentasche kramte: Mülligenstrasse 4. Mülligenstrasse, dachte Joachim, das ist doch nicht weit von der Magistratur, eine gute Gegend. Es musste sich um einen angesehen Herren handeln.

„Alles klar, ich danke dir, Erwin“, sagte Joachim und steckte sein Papier ein, „weisst du vielleicht welche Haltestelle das ist?“

„Ich möchte meinen das ist beim Caligariplatz. Frag den Schaffner um sicher zu gehen. Sonst noch etwas?“

„Reicht schon, danke. Ich empfehle mich.“ Joachim verliess das kleine Zimmer und ging zurück zu seinem Büro, dann nahm er seinen Mantel und seinen Hut, und ging direkt zum Ausgang des Kreisgebäudes. Auf dem Weg nach draussen rief er Frau Steinach noch zu er müsse nochmal zur Kohlenverteilungsstelle, dass seine Abwesenheit keine grösseren Verdachte schöpfe. Er stieg in die erste Strassenbahn in Richtung der Adresse, die im Verzeichnis stand. Etwas an der Adresse kam ihm bekannt vor, davon abgesehen, dass diese Strasse in der Nähe der Magistratur war. Irgendwo hatte er diesen schon mal gehört, doch es kam ihm nichts und niemand in den Sinn, den er damit verbinden konnte.

Als er an der Haltestelle Caligariplatz ankam und aus der Strassenbahn stieg, wurde ihm sofort klar woher er diesen Namen kannte: Es war eine kleine Seitenstrasse, die sich gleich neben dem Hauptsitz der Bank P. Hellmer und Sohn befand. Die Fassade der Bank war direkt an der Magistraturstrasse, und die Mülligenstrasse führte senkrecht zu dieser am selben Häuserblock entlang. Der Strassennahme war ihm sicherlich bei einem Besuch im Bankgebäude aufgefallen. Joachim hatte seit seiner Beförderung schon einige Male dieses Gebäude besuchen müssen, es handelte sich schliesslich um die bedeutendste Bank im Lande Mendacia. Die Kredite von P. Hellmer und Sohn hatten die Industrialisierung im grossen Stil überhaupt erst möglich gemacht, und die Regierung hatte sich seit der Epoche des Übergangs reichlich daran bedient. Auch heute noch war der Fortschritt von dieser Bank stark abhängig, erst recht seitdem die Versorgungsmängel zu grösserer Armut und Misere geführt hatten. Somit war auch der politische Einfluss von P. Hellmer und Sohn inzwischen unverkennbar, manche sagten, dass die Bank sogar der Regierung vorschrieb wie sie zu handeln hatte, was Joachim allerdings für eine Übertreibung hielt. Schliesslich hatte er selbst einige Male geschäftlich mit der Bank verkehrt, und niemals hatte man ihm irgendwie vorgeschrieben, wie er zu handeln habe. Wenn man einem kleinen Beamten wie ihn nicht herumkommandieren konnte, dann bestimmt noch weniger die Regierung. Noch überspitzter waren die Gerüchte, die über das Innenleben dieser Bank kursierten. Manche Leute sprachen von Geisterbeschwörungen, dunklen Ritualen, schwarzer Magie und ähnlichen Ammenmärchen. Tatsächlich war die Familie Hellmer sehr diskret und nur selten traten ihre Mitglieder in der Öffentlichkeit auf. Joachim hatte nur einmal einen solchen Auftritt mitbekommen, vom Urenkel des Begründers Pelonius Hellmer, Albrecht Hellmer. Dies war als vor einigen Jahren dieses prächtige neue Gebäude eingeweiht wurde, welches das vorherige, kleinere, ersetzte, und eine Photographie dieses Ereignisses in den Zeitungen veröffentlicht wurde.

Joachim ging am Bankgebäude vorbei zur Mülligenstrasse, einer kleinen, etwas düsteren Gasse gleich daneben. Der Eingang der Nummer 4 war scheinbar Teil des selben Gebäudes wie die Bank. Joachim fragte sich, ob es sich dabei um einen Teil davon handelte, oder nur ein Zufällig dort beheimatetes Büro war. Er kam vor eine grosse, hölzerne Tür, und in der Tat war hierauf ein kleines Messingschild angebracht auf dem lediglich stand „P. Hofmeister“. Auf der rechten Seite des Eingangs hing eine Schnur mit einem kleinen Holzgriff, wohl die Türklingel. Er zog daran, und aus dem Inneren war das Geräusch einer kleinen Glocke zu hören. Eine altmodische Klingel, nicht wie die modernen, elektrischen Anlagen. Kurz darauf öffnete ein Dienstmädchen mit unfreundlichem Ausdruck die Tür: „Sie wünschen?“

„Ich denke sie haben einen Professor Baumgartner erwartet, ich –“, Joachim konnte den Satz nicht zu ende aussprechen als er vom Dienstmädchen unterbrochen wurde: „Augenblick bitte.“ Sie machte ihm vor der Nase die Tür zu, und entfernte sich von der Tür. Eine kurze Zeit später öffnete das selbe Dienstmädchen wieder die Tür. „Bitte folgen“, sagte sie genau so barsch wie vorher, kehrte Joachim den Rücken und ging hinein. Joachim machte noch die Tür zu, und lief ihr hastig hinterher. Beim eintreten kam er in einen Gang, auf der rechten Seite befand sich eine Holztreppe die nach oben führte, auf der linken Seite eine doppelte Tür mit Ornamentglas. Eine der Türen war geöffnet, und das Dienstmädchen deutete zu diesem Zimmer. „Hut und Mantel“, sagte sie noch. Joachim gab beides ab und trat ein. Er kam in einen grossen, bürgerlichen Salon. Direkt Gegenüber vom Eingang brannte im Kamin ein Feuer, auf der linken Seite war die Wand mit Bücherregalen versehen. Auf der rechten Seite gab es zwei Fenster, die Vorhänge liessen allerdings nicht nach draussen blicken. Das Zimmer war voll von Gemälden und eingerahmten Photographien von Leuten die Joachim nicht kannte. Der Boden war von einem dicken Teppich bedeckt, und in der Mitte des Raumes stand ein massiver Holztisch mit einigen prächtig gepolsterten Stühlen herum. Auf einem dieser Stühle sass ein Mann in feiner Kleidung mit einer Zigarre in der Hand. Er war schlank und nicht sehr gross, seine dunklen Haare mit Wachs gekämmt, seine Gesichtszüge kantig und markant, mit einem spitzen Kinn und kleinen, tief liegenden Augen. Er strahlte eine gewisse Präsenz aus, doch Joachim empfand ihn wenig vertrauenerweckend. Er erhob sich sofort als er Joachim hereinkommen sah und ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu.

„Na endlich, ich bin ja so erleichtert sie zu sehen. Wir haben sie doch schon seit gestern erwartet.“ Der Mann schüttelte Joachim die Hand, er schien sehr erfreut ihn zu sehen, doch Joachim wusste nicht wieso man ihn erwarten würde, oder was er überhaupt sagen sollte.

„Nun, hier bin ich ja, guten Tag“, platzte es aus ihm heraus, „Herr Hofmeister, nehme ich an?“

„Zu ihren Diensten. Ich hatte schon gedacht sie kämen gar nicht mehr. Darf ich ihnen etwas zu trinken anbieten?“

„Nun... Tee wäre gut. Schwarztee, wenn möglich.“

„Nichts alkoholisches, den Verstand wach halten, was?“, sagte Hofmeister und lächelte schleimend, „Wilhelmina, bitte einen Schwarztee für Professor Baumgartner.“ Als Joachim dies hörte verstand er plötzlich was vor sich ging, das Dienstmädchen hatte ihn scheinbar missverstanden, und gedacht er sei Professor Baumgartner. Seine erste Reaktion war es, das Missverständnis aufklären zu wollen, doch die Neugierde war stärker, er wollte doch wissen worum es sich bei diesem Treffen handelte. Vielleicht konnte er ja so etwas darüber herausfinden, wo der echte Professor Baumgartner abgeblieben war.

Was soll das, dich als Professor Baumgartner auszugeben? Bist du von Sinnen? Das hier ist nicht ein Betriebsfest, sondern eine wichtige, einflussreiche Person, kein Wicht wie du. Einen riesigen Ärger wirst du dir mit solchen Maskeraden suchen. Man wird dich sogleich durchschauen.

„Aber bitte, fahren sie fort“, sagte Joachim im Versuch aus Hofmeister herauszubekommen worum es bei diesem Treffen eigentlich ging.