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Sven Stricker

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Beschreibung

Man muss auch mal loslassen können. Rüdiger ist Lehrer. Verheiratet, Cordhose, 2 Kinder. Für den Rest der Welt ist er nahezu unsichtbar. An seinem 40. Geburtstag, mitten im Unterricht, merkt er, dass er sein bisheriges Leben nicht mehr erträgt. Er steht auf und geht. Tom hatte vor Jahren einen Bestseller. Danach: Schreibblockade, Lebensblockade. Jetzt sitzt er im Supermarkt an der Kasse, von Ohnmachtsanfällen heimgesucht, und hilft biologisch verteuerter Landwurst übers Laufband. Bis es auch ihm reicht. Rüdiger und Tom treffen sich auf einer Talbrücke. Beide wollen die Welt hinter sich lassen. Am Ende aber beschließen sie: Fünf Tage lang werden sie testen, ob das Leben nicht vielleicht doch noch lebenswert ist.

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Sven Stricker

Mensch, Rüdiger!

Roman

Über dieses Buch

Man muss auch mal loslassen können.

 

Rüdiger ist Lehrer. Verheiratet, Cordhosenträger und hat 2 Kinder. Für den Rest der Welt ist er nahezu unsichtbar. An seinem 40. Geburtstag, mitten im Unterricht, merkt er, dass er sein bisheriges Leben nicht mehr erträgt. Er steht auf und geht.

Tom hatte vor Jahren einen Bestseller. Danach: Schreibblockade, Lebensblockade. Jetzt sitzt er im Supermarkt an der Kasse, von Ohnmachtsanfällen heimgesucht, und hilft biologisch verteuerter Landwurst übers Laufband. Bis es auch ihm reicht.

Rüdiger und Tom treffen sich auf einer Talbrücke. Beide wollen die Welt hinter sich lassen. Am Ende aber beschließen sie: Fünf Tage lang werden sie testen, ob das Leben nicht vielleicht doch noch lebenswert ist.

Vita

Sven Stricker wurde 1970 geboren und wuchs in Mülheim an der Ruhr auf. Er studierte Komparatistik, Anglistik und Neuere Geschichte. Seit 2001 arbeitet er als freier Wortregisseur, Bearbeiter und Autor und gewann in dieser Funktion mehrmals den Deutschen Hörbuchpreis, unter anderem 2009 für seine Hörspielbearbeitung und Regie des Romans «Herr Lehmann» von Sven Regener. Er lebt in Potsdam und hat eine Tochter. Für «Sörensen hat Angst» wurde Sven Stricker für den Glauser-Preis 2017 nominiert.

Für Juli

Teil  1

1

Rüdiger schaltete das kleine, spritzwassergeschützte Badezimmerradio an, das farb-, form-, und basslos neben der elektrischen Zahnbürste stand, und atmete tief durch. Heaven 17 waren «Crushed By The Wheels Of Industry» und gaben damit das Motto des Tages vor. Rüdiger wippte auf den Fußballen, spürte kurz den in der Rückschau allgemein überbewerteten Achtzigern nach, betrachtete verkniffen sein Spiegelbild, dann die Uhr, dann wieder das Spiegelbild, und war vierzig Jahre alt. Auf die Sekunde genau.

«Herzlichen Glückwunsch», hauchte er und nutzte den Niederschlag seines Atems, um die Scheibe mit dem Ärmel zu putzen. Es war Montag, fünf Minuten nach sieben. Er bleckte die frisch geputzten Zähne, die ihm auch schon mal weißer vorgekommen waren, faltete das Handtuch ordentlich auf den silbrig glänzenden Halter und betrachtete ein letztes Mal sein jetzt auch offiziell nicht mehr ganz jugendliches Selbst. Rüdiger war blass, deutlich zu klein, von schmaler Gestalt, ausgestattet mit einem länglichen Gesicht, schlackernden Armen und viel zu dürren Beinen. Der Seitenscheitel saß akkurat, wie festgetackert, erste graue Strähnen mischten sich in das annähernd undefinierbare Dunkelblond. Rüdiger hatte keine allzu hohe Meinung von sich, gelinde gesagt. Er sah sich eher als austauschbares Füllmaterial, das die Straßen bevölkerte, um die wirklich interessanten Leute strahlen zu lassen. Sein Charisma beschränkte sich auf seine schwarze Hornbrille, die er aus genau diesem Grunde andauernd trug, am liebsten auch im Bett. Er nahm sie etwa vierzigmal in der Stunde ab, nur um sie wieder aufzusetzen.

Er holte noch einmal Luft, schaltete den besten Mix der Achtziger, Neunziger, Nuller und von heute ab, öffnete die Badezimmertür und trat in das morgendliche Chaos wie ein Barfüßiger ins Wespennest. Die Lautstärke um ihn herum explodierte, Silvia fuchtelte in ihrem hellblauen Frotté-Bademantel wild in der Gegend herum und dirigierte Max und Lilian beidhändig durch die Morgenroutine.

«So», sagte er so leise wie unbemerkt, kontrollierte mit einem routinierten Seitenblick, dass die Aktentasche ordnungsgemäß neben der Haustür stand, trat in die Küche und dort sogleich zum Tisch. Ein Post-it, das schon seit Jahren auf der Kühlschranktür klebte, erinnerte die anderen an seinen Ehrentag. Aus dem Radio über der Dunstabzugshaube verbreitete eine aufgekratzte Morgenstimme Morgenstimmung.

«Alles Gute zum Geburtstag, Papa!», rief der vierjährige Max, sprang von seinem Stuhl und raste davon, wahrscheinlich, um ein Geschenk zu holen, das aus sehr viel Papier, noch mehr Tesafilm und einem halb zerquetschten Schokobonbon bestand.

«Herzlichen Glückwunsch, Papa», sagte auch Lilian (sie war dreizehn Jahre alt), gab ihrem Vater einen Kuss auf die Wange und reichte Rüdiger den kleinen, runden Sandkuchen mit der brennenden Kerze in der Mitte, den Rüdiger jedes Jahr von seiner Tochter bekam und der immer von den anderen gegessen wurde, weil Rüdiger Sandkuchen nicht mochte. Er setzte sich und griff eine kalte Scheibe Toast aus dem Brotkorb.

«Danke, mein Schatz», sagte er, für seine Verhältnisse durchaus überzeugend lächelnd. «Das ist lieb.»

Silvia stellte sich hinter ihn und legte die Hände auf seine schmalen Schultern. «Max, komm sofort zurück!», brüllte sie, sodass Rüdiger zusammenzuckte und etwas Marmelade von seinem Messer tropfte. Er führte Daumen und Zeigefinger der linken Hand zur Nasenwurzel, bis ihm bewusst wurde, dass man das als Affront empfinden konnte, und zog die Hand zurück.

«Ich kann es aber nicht finden!», rief Max aus seinem Zimmer, das den Geräuschen nach zu urteilen in diesem Moment aufwendig renoviert wurde.

«Dann schenk es Papa später. Der freut sich auch nachher noch.»

«Natürlich», sagte Rüdiger halblaut und wünschte, es wäre so.

Silvia gab ihm einen energischen Kuss auf den Hinterkopf, dann eilte sie hinaus, um ihren Sohn einzufangen und gegen den alltäglichen, hartnäckigen Widerstand für den Kindergarten fertig zu machen.

Rüdiger aß seinen Toast, in kleinen Bissen, man sollte ja nicht so schlingen, Lilian lächelte unsicher, wusste nichts weiter zu sagen, stand auf, stellte ihren Teller in die Spüle statt in die halb geöffnete Spülmaschine und eilte grußlos aus der Küche.

Rüdiger war allein.

Die aufgekratzte Stimme aus dem Radio fand die Weltlage zwar irgendwie bedrückend, wünschte aber dennoch einen traumhaften Morgen an diesem heißen Tag, dann folgte ein kitschiges Liedchen von Phil Collins, das Rüdiger aus irgendeinem Disney-Film kannte. Er überlegte, ob er zur Feier des Tages eine zweite Scheibe Toast essen sollte, ob es für den Magen überhaupt einen Unterschied machen würde, und verzichtete. Er fand das Sitzen beklemmend, fand einfach alles beklemmend, stellte die Marmelade auf die andere Seite des Tellers, sammelte mit angefeuchtetem Zeigefinger zwei Krümel ein, schob sie in den Mund, begann ein wenig zu zittern (diese verdammte Nervosität), stand auf und trat ans Fenster.

Gegenüber, auf der anderen Straßenseite, im dritten Stock eines fabrikartigen Rotklinkerbaus, befand sich seit einigen Jahren ein Fitnesscenter. Die Fensterfront reichte vom Boden bis zur Decke. Er betrachtete die sich abmühenden, federnden, muskulösen Körper in ihrem Kampf um ewige Jugend und perfekte Fassade. Rüdiger stand jeden Morgen an diesem Fenster, immer nur kurz, aber er hatte noch nie ein Gesicht wiedererkannt. Die Körper schwitzten, sie mühten sich, sie taten sich wohl, sie arbeiteten an sich und ihrer Schönheit. Aber dann, wenn Rüdiger mit seiner Aktentasche da unten, am Fuße des Gebäudes, vorbeikam, standen dieselben Körper vor der Tür und rauchten. Rüdiger verstand das nicht. Oder er verstand es eben doch. In der Welt dieser Körper war ausschließlich wichtig, was sichtbar war. Die Lunge war nicht sichtbar. Das, so folgerte Rüdiger, war sorgsam gelebte Oberflächlichkeit. Eine Oberflächlichkeit, die er insgeheim beneidete. Rüdiger hatte noch nie geraucht. Er hatte auch noch nie andere Drogen genommen. Er war noch nie in einem Fitnessstudio gewesen.

Er trat vom Fenster zurück, setzte sich wieder hin und starrte für einen Moment in die brennende Sandkuchen-Kerze. Dann pustete er. Und noch einmal. Er brauchte vier Anläufe, bis sie endlich ausging.

*

Der Morgen war von bestürzender Klarheit, und selbst Rüdiger bemerkte, dass der Himmel heute in einem besonders intensiven Sommerblau leuchtete, während zu seinen Füßen der Asphalt in Erwartung der Hitze vor sich hin glitzerte. Sein unsportlich verkürzter Atem wies ihm den Weg, es musste immer vorwärtsgehen. Am Wegesrand blühte eine einsame Blume, die wahrscheinlich nichts als Unkraut war; die Pfützen des überraschenden nächtlichen Regens boten ihre Oberfläche als Spiegel dar. Wenigstens die Natur würdigte ihn und seinen Ehrentag angemessen, dachte er und krampfte mit der linken Hand. Dabei wollte er gar nicht gewürdigt werden, einfach nur da sein wollte er und dass der Tag möglichst schnell vorbeiging.

Rüdiger trug seine Aktentasche wie einen Staffelstab. Er bog zügigen Schrittes in die Mittelstraße ein, den Taschenträger-Arm steif ausgestreckt, vor und zurück, vor und zurück, die andere Hand tief in der Hosentasche seiner schon zu dieser Uhrzeit zu warmen Cordhose vergraben. Er straffte sich, entledigte sich mit jedem Schritt mehr des Privaten und gab sich etwas Offizielles, schlüpfte sozusagen in seinen Lehrer-Mantel, den er bis heute Nachmittag nicht wieder ausziehen würde. Seine Brust verengte sich in tiefer Traurigkeit. Weil er das schon kannte, weil das in den letzten Jahren immer mehr zum Dauerzustand geworden war, ignorierte er es. Darin war er professionell.

Rüdiger schwenkte auf den Schulhof ein, wurde links und rechts von eilenden, wackelnden Schülern in kurzen Hosen überholt, und bedachte den Stundenplan. Er hatte eine achte, eine zehnte und eine sechste Klasse. Mit der sechsten kam er hinreichend zurecht, die anderen gerieten ihm zum Problem. Rüdiger wusste, dass er über wenig Autorität verfügte. Sobald die Kinder ihm buchstäblich über den Kopf wuchsen, was spätestens in der achten Klasse der Fall war, tanzten sie ihm darauf herum. Das war immer schon so gewesen, und er hatte immer noch kein Mittel dagegen gefunden. Sie lachten ihn aus, ganz offen, redeten durcheinander, störten, verweigerten sich und die Hausaufgaben, manchmal schmissen sie Gegenstände oder attackierten sich gegenseitig mit Gemeinheiten, und er, was tat er? – er nahm seine Brille ab, setzte sie wieder auf und hielt sich an «Effi Briest» fest wie an einer Rettungsboje. Manchmal sagte er leise «Na!» oder «Herrschaften!», aber genauso gut hätte er in einem voll besetzten Fußballstadion schriftlich um Ruhe bitten können.

Rüdiger gehörte zu den Menschen, die einen Beruf ausübten, der nicht für sie geschaffen war. Für Rüdiger hätte ein idealer Arbeitsplatz folgendermaßen ausgesehen: ein Keller, ein Gitterfenster, ein Schreibtisch, ein Stuhl (mit Sitzerhöhung), eine Lampe, kein Telefon, null Menschenkontakt und eine tägliche Kleinst-Aufgabe, die mit Ordnung, Sortieren und Akten zu tun gehabt hätte. Vielleicht hätte im Hintergrund das Radio leise gespielt. Irgendwas von Mozart, Chopin oder eventuell sogar Chris de Burgh. Rüdiger wäre zufrieden gewesen, ausgeglichen, beruhigt und vielleicht in gewisser Hinsicht unter Umständen gelegentlich, zum Beispiel wenn der Sommeranfang auf einen Sonntag fiel, sogar ansatzweise glücklich.

Aber Rüdiger war Lehrer geworden. Wie um sich gegen seine Misanthropie zu behaupten, hatte er den Beruf gewählt, der seinen Neigungen am wenigsten entsprach. Er hatte mit Silvia zwei Kinder bekommen, obwohl er in der Schule doch schon so viele hatte, die ihm als abschreckendes Beispiel hätten dienen können. Er hatte eine Frau, die ihn zwar vielleicht irgendwie mochte, die ihn aber für so schwächlich hielt wie seine Schüler – und die das im Sinne der eigenen Lebensgestaltung durchaus auszunutzen wusste. Und Rüdiger? Rüdiger hatte das getan, was Männer im Allgemeinen in solchen Situationen taten: Er hatte die Flucht ergriffen. Vor Jahren schon. Nicht körperlich, aber geistig. Er schaute zum Beispiel Fußball. Sehr viel Fußball. Bis hinunter in die Dritte Liga. Er bemalte Zinnfiguren. Und er las. Er las alles, was ihm zwischen die Finger kam. Von Lessing bis Lucky Luke. Er war da wahllos. Jede erfundene Wirklichkeit war besser als die seine.

*

Der Lehrer Rüdiger Bunzel betrat den Klassenraum, die Schüler erfüllten ihre Pflicht und standen auf, wenn auch nicht gleichzeitig, einer nahm nicht einmal die Ohrstöpsel heraus. Rüdiger tat zunächst so, als würde er es nicht bemerken, dann sagte er «Guten Morgen», die Klasse antwortete leiernd wie ein altes Tonbandgerät: «Guten Morgen, Herr Bunzel.»

Ein bescheuertes Ritual.

Er zog die völlig unnötige, graue Übergangsjacke aus, hängte sie an den Haken neben der Tafel. Die Schüler blickten abfällig, vor allem die Mädchen, denn er hatte das gleiche Hemd an wie die ganze letzte Woche. Grundfarbe Blau, Karomuster, unter den Achseln etwas zu eng, Viskose. Hatte es billig im Fünferpack gegeben. Damals. Rüdiger hörte durch das Gemurmel einen zischenden Rhythmus, den er nicht ausblenden konnte, und bat Laurenz, die Ohrstöpsel herauszunehmen, was Laurenz natürlich nicht hörte, denn er hatte ja die Stöpsel im Ohr. Die Kinder kicherten. Rüdiger nahm seine Brille ab, setzte sie wieder auf und ging zwei Schritte in den Raum hinein, weg von seinem Pult, befand sich sozusagen im Feindesland, und bedeutete Laurenz mit einer kraftlosen Geste, er solle die Stöpsel herausnehmen. Der Junge gehorchte, immerhin, aber er tat es aufreizend langsam, grinsend. Aus den Kopfhörern tönte deutschsprachiger Rap, irgendwas mit Koks und Nutten und Ärschen.

«Du machst dir die Ohren kaputt», sagte Rüdiger. «Und das Hirn. Mach das aus. Bitte.»

Laurenz grinste. Die Klasse grinste. Rüdiger grinste nicht. Laurenz machte die Musik aus. Rüdiger ging zu seinem Pult zurück. «Wir lesen heute ein Buch von Christine Nöstlinger», sagte er. «Es heißt ‹Wir pfeifen auf den Gurkenkönig›.»

Die Klasse stöhnte, eines der Mädchen, deren Namen sich Rüdiger seit Jahren ums Verrecken nicht merken und die er nur über das Ausschlussverfahren benoten konnte, ließ ein Kaugummi platzen. Rüdiger kam sich lächerlich vor. Koks und Nutten und der Gurkenkönig. Der Lehrplan sollte überarbeitet werden, dachte er. Modernisiert. «Ich habe im Moment nur ein Exemplar dabei», sagte er. «Wer liest vor?»

Niemand meldete sich. Natürlich nicht. Also las er selbst, statt kraft seines Amtes jemanden zu bestimmen. Er las mit stockender Stimme, unmoduliert, der Gurkenkönig klang bei ihm genauso wie die Mutter, der Vater oder eines der Kinder. Einmal versuchte er, die Stimme zu verstellen, aus Gründen der Dramaturgie, dabei begann er zu husten, verschluckte sich und musste sich sekundenlang vor die dürre Brust klopfen. Das war der Moment, in dem er die Aufmerksamkeit der Schüler hatte. Danach las er weiter wie zuvor, die Schüler wandten sich ab und fuhren fort, mit ihren Handys zu spielen, Bildchen zu malen, die in der Regel etwas mit Geschlechtsteilen zu tun hatten, fingen an, sich gegenseitig zu ärgern, oder setzten, wie Laurenz, ihre Kopfhörer wieder auf. Koks und Nutten und der Gurkenkönig. Rüdiger las einfach weiter.

Er las so lange, bis die Stunde fast vorbei war und er annähernd die Hälfte des Buches geschafft hatte. Dann lehnte er sich zurück und beobachtete erstaunt, wie in ihm eine Lampe ausging, die schon lange nur noch geflackert hatte. Die Schüler schauten ihn an, überrascht über das Verstummen des Hintergrundpegels, er schaute die Schüler an und sah lauter fremde Gesichter.

Er stand wortlos auf, ging zum Haken neben der Tafel, zog seine Jacke an und verließ das Klassenzimmer. Einfach so. Keine Hausaufgaben, keine Ermahnungen, keine abschließenden Worte. Seine Schritte führten ihn ganz automatisch, er hätte noch Unterricht geben müssen, natürlich, es war ja nicht mal eine einzige Stunde vergangen, aber er verließ das Gebäude, verließ den Schulhof, schaltete sein Handy aus und marschierte schnurstracks in Richtung Stadt. Er dachte nicht ein einziges Mal darüber nach, ob es schlau war, was er da tat, oder auch nur irgendwie logisch, nein, er wusste nicht einmal genau, was er eigentlich bezweckte. Er atmete einfach nur schwer im Rhythmus seiner Schritte und ließ es geschehen, ließ völlig los, seine Beine den Dienst tun, den sein Kopf ihm offenbar verweigerte.

Er erreichte die Fußgängerzone und betrat den Drogeriemarkt, einfach weil es dazugehörte, weil er das immer tat, wenn er hier vorbeikam. Es war ein Automatismus, er verfolgte keinen Plan, benötigte auch gar nichts, mit vierzig brauchte man ja vielleicht sogar sowieso weniger als mit neununddreißig. Er ging trotzdem hinein, sah dieselben Verkäuferinnen wie immer, vor allem diese hochgewachsene Blondine, die stets ein wenig schwanger aussah, ansonsten von herausfordernder Attraktivität war (und den kümmerlichen Rest seiner Phantasie beflügelte, wenn sie Shampoo und Deodorants in die Regale räumte), und steuerte auf das Regal mit Bio-Süßigkeiten fürs gute Gewissen zu. Er nahm zwei Tafeln Trauben-Nuss, hatte keine weiteren Bedürfnisse, lungerte noch ein wenig herum, inspizierte die Vollversammlung der handelsüblichen Weichspüler und Waschmittel, fühlte sich urplötzlich wie ausgesetzt, bemerkte seine eigene Verwirrtheit, versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, aber da war nichts, nichts außer Fetzen, die mit Bahnhof, Flughafen, Flucht, Ausland, Karibik, Kino oder Selbstmord zu tun hatten.

Das mit dem Selbstmord verwarf er, selbstverständlich verwarf er das, lachte fast entschuldigend darüber, auch wenn er zugeben musste, dass ihm der Gedanke schon seit Jahren immer mal wieder durch den Kopf gefegt war wie eine spontane elektrische Entladung, dennoch, er tilgte das damit verbundene Bild der Erlösung pflichtgemäß. Er riss sich zusammen, schlenderte fast aufreizend beiläufig zur Kasse, stellte sich in die Schlange, registrierte einen wippenden, brünetten Pferdeschwanz vor sich, dachte ansonsten nichts, außer ob er vielleicht Fieber hatte. War seine Stirn nicht furchtbar heiß? Das konnte natürlich auch an den Temperaturen liegen, heute würden es sicherlich wieder weit über dreißig Grad werden.

Die Verkäuferin, es war die schwarzhaarige mit der spitzen Nase und dem Tattoo am Hals (Arme, Bauch und Man-wollte-gar-nicht-wissen-was waren gewiss auch tätowiert, unter dem weißen Kittel allerdings nicht zu erkennen), kassierte die Vorderleute ab und fragte routiniert nach der Payback-Karte, die noch nie ein Mensch besessen hatte, seit Rüdiger in diesen Drogeriemarkt kam. Wie musste es wohl sein, circa sechzigmal in der Stunde nach einer Payback-Karte zu fragen, diesem deutsch-englischen Wortgemisch, das bestimmt auf seine Werbewirksamkeit getestet worden war und doch wie ein besonders schlimmer Sprachunfall wirkte, vor allem für einen Deutschlehrer? Merkte diese Frau eigentlich noch, was sie tat? Hatte sie je einen Gedanken daran verschwendet? Rüdiger dachte das Wort Denglisch und fand es genauso schlimm wie das Wort Payback-Karte.

Er schwitzte trotz der Klimaanlage, kam aber nicht auf die Idee, seine Jacke zu öffnen. Die Kunden reagierten auf die Frage der Verkäuferin verneinend, unbeteiligt, ärgerlich. Der ganz normale Lauf der Dinge also. Der Verkäuferin war es sowieso egal, man hatte ihr, so dachte Rüdiger sich das, in einem wochenlangen Workshop die Frage nach der Payback-Karte eingetrichtert, in einem Scientology-ähnlichen Seminar, in das man als Mensch hineinging und als lebendes Marketinginstrument wieder herauskam, seiner Persönlichkeit beraubt, geformt zum willenlosen Teil einer Maschinerie namens Kapitalismus.

Noch zwei Kunden, dann wäre Rüdiger an der Reihe. Der Pferdeschwanz vor ihm legte ein ökologisch unbedenkliches Shampoo auf das Laufband, dazu Müsliriegel, gemahlenen Espresso und Maiswaffeln. Rüdiger nahm es beiläufig wahr, ohne es zu bewerten, dafür fehlte ihm die innere Hoheit. Er fühlte sich wie unter dem Einfluss akuten Bluthochdrucks. Dabei hatte er gar keinen Bluthochdruck. Er war vierzig. Hatte er Bluthochdruck? Der Pferdeschwanz war dran. Die Verkäuferin zog die Waren über den Scanner und fragte nach der Payback-Karte.

«Hab ich», sagte der Pferdeschwanz, öffnete seelenruhig das Portemonnaie, das einen springenden Delfin auf der Vorderseite zeigte, und zog eine Art Scheckkarte aus einem der Fächer. Rüdiger war wie elektrisiert. Er sah dem Pferdeschwanz ins Gesicht und stellte fest, dass da viel mehr war als nur ein paar zum Zopf gebundene Haare. Ein offenes Gesicht war das, ein fröhliches Gesicht, ein kluges Gesicht von vielleicht Mitte dreißig, ja, ein ausgesprochen hübsches Gesicht mit einer keineswegs zu auffälligen Brille. Es sah aus, als hätte es das Leben verstanden, das Gesicht, als könnte dieser Frau niemals passieren, was ihm heute passiert war, als würde sie niemals die Kontrolle über sich und ihr Leben verlieren.

Sie hatte eine Payback-Karte. Das hieß, sie war schlau, zumindest nicht dumm, sie hatte eine starke und weise Entscheidung getroffen, in dem Moment, als sie dem Besitz einer solchen Karte zugestimmt oder sie sogar eingefordert hatte. Eine solche Handlung war von bestechender Logik und Bodenständigkeit und damit für Rüdiger von größtmöglichem Reiz. Und günstiger tanken konnte man auch noch. Der Pferdeschwanz zog die Payback-Karte routiniert über einen oberhalb der Kasse befestigten, zweiten Scanner, bezahlte und packte seine Sachen in eine mitgebrachte Jutetasche.

Rüdiger spielte die unmittelbare Zukunft durch. Die Frau würde den Laden bereits verlassen haben, bevor seine Trauben-Nuss-Schokolade durch die Hände der Verkäuferin geglitten war. Das löste überraschend Panik in ihm aus. Sie drehte sich um, verabschiedete sich mit wohlklingender Stimme im angenehmen, mittleren Frequenzbereich und ging auf den Ausgang zu. «Ach Mensch», sagte Rüdiger übertrieben wie der Hauptdarsteller einer minder ambitionierten Laienspielgruppe. «Ich habe meine Geldbörse vergessen. Soll ich die Tafeln zurückbringen?»

Die Verkäuferin schüttelte den Kopf, verdrängte die schlichte Tatsache, dass Rüdiger sein Portemonnaie schon seit Minuten in der Hand hielt, und zeigte hinter sich auf die Ablage. Rüdiger drückte ihr die Schokolade in die Hände und folgte der Payback-Karte, gerade noch schnell genug, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Sie trat durch die Schiebetür, nur zwei Sekunden später folgte Rüdiger. Warmer Wind peitschte ihm ins Gesicht, Gewitterwolken hatten dem sommerlichen Himmelblau in Rekordgeschwindigkeit den Garaus gemacht. Das Wetter war einfach unkalkulierbar. Er blieb etwas zurück, um nicht allzu auffällig zu wirken, ansonsten schaltete er ein weiteres Mal den Kopf aus und ließ sich von ihr mitziehen, der Frau mit dem Pferdeschwanz und der Payback-Karte.

2

Jetzt würde es aber mal losgehen. Er hatte ja nur die paar Minuten. Da durfte man keine Zeit verschwenden, da hieß es Kreativität beweisen, und zwar auf Knopfdruck, da galt es, Figuren zu entwickeln, die Handlung voranzutreiben, ha, welche Handlung, eine Handlung zu erschaffen galt es, sich nicht zu verzetteln in Nebensächlichkeiten, einen Plan zu erarbeiten, fünf Seiten zu füllen, mindestens, sich nicht ablenken zu lassen von den unwichtigen Dingen des Lebens. Ein Exposé war bestimmt eine gute Idee für den Anfang, ein Exposé, das die Welle baute, auf der er mit seinen Buchstaben surfen würde, ein Exposé, das seinem Treiben einen Sinn, eine Richtung geben würde. Erst mal einen Kaffee, das war klar, dann aber würde es wirklich losgehen, dann begann die wilde Fahrt, da gab es kein Halten und kein Zaudern mehr.

Tom spürte dieses Kribbeln in den Fingerspitzen, diese Energie, diese Lust, zu fabulieren, es war ein Jammer, dass man dafür eine Art Fahrplan brauchte, eine Struktur, einen Weg und ein Ziel, dass man nicht einfach das rauslassen konnte, was einem gerade durch den Kopf ging, obwohl, natürlich konnte man das, aber es würde unweigerlich zu gedanklicher, emotionaler und inhaltlicher Erstarrung führen, was bedeutete, dass man all das, was man gerade erschaffen, quasi schon hinter sich gelassen hatte, wegschmeißen konnte, weil es für sich genommen viel zu wenig war für ein ganzes Buch, zu wenig für eine Kurzgeschichte, sogar zu wenig für einen Blogeintrag, den dann eh wieder keiner las und von dem man auf gar keinen Fall würde leben können.

Zucker. Der Kaffee brauchte Zucker. Tom hatte sich eben erst hingesetzt, da stand er schon wieder auf, kippte Zucker in den Kaffee, viel zu viel Zucker, rührte um, nahm einen Schluck, goss den Kaffee weg und setzte neuen auf. Die Sekunden verrannen und wurden zu Minuten. Wertvolle Minuten seiner Zeit. Tom starrte an die Wand. Sie war kahl. Sie bot keine Inspiration. Der neue Kaffee war fertig, zu dunkel war er, schmeckte folgerichtig bitter und begleitete Tom trotzdem zurück zum Schreibtisch.

Er setzte sich hin, nahm die Maus, zuckte über dem Browser-Symbol. Keine Ablenkungen, durchfuhr es ihn. Kein Internet! Das Internet war der Feind, allzeit verlockend, süßen Honigduft versprühend, doch jeden eigenständigen Gedanken auslöschend. Ein Kreativitätskiller. Er öffnete das Textprogramm. Das Kribbeln war aus seinen Fingerspitzen verschwunden, ein weißer, erwartungsvoll flirrender Computerbildschirm wog genauso viel wie ein blankes Blatt Papier. Oder so wenig. Nur dass man das Papier wenigstens effektiv zerknüllen konnte. Schluss damit.

Tom legte die Finger an die Tastatur. In seinem Kopf tobte eine Mischung aus starken Bildern, losen Enden, gleißender Wüste und totaler Sonnenfinsternis. Egal, nicht abhalten lassen, nicht auf Eingebung warten – machen. Schreiben. Er war Profi. Immer noch. Profis warteten nicht aufs Schreiben, sie schrieben einfach. Konzentriert und fokussiert. Also: Worum ging es? Keine Ahnung. Wer war interessant genug, dass man über ihn schrieb? Niemand. War Tom interessant genug? Auch nicht. Eine Geschichte über eine schriftstellerische Eintagsfliege, die von den Buchverkäufen nicht mehr leben kann? Nein, keine Autobiographie. Ein Schlüsselroman über die Buchbranche mit Koks und Suff und Vertretertagungen? Nein, hatte Tom nie erlebt. Langweilig war er gewesen, noch langweiliger als heute. Ängstlich. Zurückgezogen. Menschenscheu.

Eine Geschichte darüber, wie man einen Bestseller schrieb? Gab es schon. Außerdem, woher sollte er das wissen, sein Hit war Zufall gewesen, eine Verkettung von Unwahrscheinlichkeiten, eine alberne Zusammenführung von Skandalgier, Marketing, Zeitgeist und gutem Aussehen mit den schriftstellerischen Akkorden C, D und G. Allein der Titel: «Die verb(r)annte Generation». Albern. Kalkuliert. Vom Reißbrett. Rebellenattitüde für Spießer, Mittelstandsalternativgeschwurbel, das niemandem weh tat. Verzichtbarer Quatsch. Aber was sonst? Ein Roman über einen alleinerziehenden Vater, der seine Frau verloren hatte? Bei einer Schießerei? Im Zweiten Weltkrieg? In Sachsen? Der Postapokalypse? Egal, er musste nur endlich irgendwas schreiben. Er lockerte die Fingerspitzen wie ein Dirigent und schrieb: «Frühling, Sommer, pipapo. Herbst und Winter, Bahnhofsklo.»

Das hatten seine Finger ganz alleine geschafft. Toll, dachte er, löschte den Quatsch und stand wieder auf. Der Kaffee war alle. Tom ging zur Spüle, der dreckigen, und brühte sich neuen auf. Eine Geschichte über eine behinderte Autistin mit Hund, so intelligent, dass sie die kniffeligsten Rätsel löst und gleichzeitig ihre zerrüttete Familie zusammenführt bei kompletter Bindungsunfähigkeit? O Gott. Zu viel Zucker. Auch im Kaffee. Er kippte ihn weg, betrachtete den Ausguss, der mittlerweile wahrscheinlich einen Koffeinschock hatte, und schüttete nach.

Es war Viertel vor zwölf. So hatte das alles keinen Sinn. Er kippte auch den nächsten Kaffee weg, ohne ihn überhaupt probiert zu haben, quasi aus Gewohnheit, setzte sich wieder, funkelte seinen Laptop wütend an, trat in stummen Dialog mit der weißen Fläche namens Bildschirm, die ja auch nur eine Illusion war, eine optische Täuschung, die zwar vorgab, echtes Papier zu sein, aber so weit davon entfernt war wie ein Pullover aus Polyester, dann streckte er die Beine aus, stieß gegen ein Tischbein, woraufhin eine im Regal über dem Schreibtisch verwerflich an der Kante positionierte offene Schachtel mit Reißzwecken umkippte und sich im Fallen über ihm entleerte. Tom atmete tief durch. Dann rutschte er vom Stuhl, ging in die Hocke und begann, Zwecke für Zwecke wieder einzusammeln. Die Tür öffnete sich, und Kilo steckte seinen Kopf herein. Kilo hieß Kilo, weil er reichlich davon angesammelt hatte; seinen echten Namen kannte Tom gar nicht, er interessierte ihn auch nicht. Tom war nicht der freundlichste Mensch auf Erden. Kilo aber erst recht nicht.

«Pause ist vorbei, Diez», brummte er. «Vier Minuten schon. Du reizt es voll aus, was?»

«Dann heb du den Scheiß doch auf.»

Tom erhob sich erstaunlich unbehände für seine vierzig Jahre und ließ die Reißzwecken Reißzwecken sein. Der eine oder andere Anwesende würde es eventuell noch bereuen, ihn zum Ende seiner Pause genötigt zu haben.

Er klappte den Laptop zu, stopfte ihn in seinen Rucksack, band die Haare zum Pferdeschwanz, nahm seine Kassenschublade, verließ das kleine, fensterlose Büro im hinteren Bereich des Supermarkts, bemerkte, dass er erneut vergessen hatte, seine Pause zum Essen zu nutzen, schlängelte sich durch die viel zu engen Verkaufsgassen an den zu dieser Tageszeit vorzugsweise einkaufenden Rentnern vorbei und hob im Vorbeigehen zwei Mangos und eine Kiwi auf, um sie in die dafür vorgesehenen Körbe zurückzuführen. Fair Trade, aber Sonderangebot. Wie auch immer das gehen mochte, seine Sache war das nicht.

Kasse eins war die seine, er würde Rücken an Rücken mit Francesca sitzen, die Kasse zwei bediente und die außer mit einer enormen Körperfülle mit einem goldenen Herzen und ausgeprägtem Körpergeruch gesegnet war. Letzterer trat besonders im Falle von Nervosität zutage. Leider war Francesca fast immer nervös. Wegen der Kunden, mangelnden Selbstwertgefühls, besonders aber wegen Tom, der ja auch wirklich nicht schlecht aussah für sein Alter, eigentlich über die Jahre immer besser, wenn ein gewisser verhärmter Zug um die Mundwinkel nicht gewesen wäre. Tom stellte diesen Zug gelegentlich morgens vor dem Spiegel selbst fest, verbuchte ihn aber jeweils unter Momentaufnahme.

«Na, du?», sagte er, hängte die Kassenschublade ein und nahm das Stoppschild vom Laufband.

«Hihi», sagte Francesca, zog einen Deoroller über ihr Band und hätte schon wieder dringend selber einen gebraucht.

Tom begrüßte den ersten Kunden. Es war verblüffend, welche Wirkung die Wegnahme des Stoppschildes an einer Kasse haben konnte, so als hätte man ein Schleusentor geöffnet, und das gesamte Wasser hätte sich in spontaner Umwälzung überlegt, nur noch durch dieses Tor zu fließen und auf keinen Fall mehr durch die anderen, die ja schon länger geöffnet und damit uninteressant geworden waren.

Er arbeitete jetzt seit einem halben Jahr in diesem Supermarkt. Aushilfsweise. Bisher war ihm noch niemand begegnet, der ihn erkannt hätte, was ihn enorm erleichterte. Es war halt ein Geldjob, nichts gegen Geldjobs, das Leben war eben nicht nur Hei-ti-tei und Zuckerschlecken, das hier war die Realität, die hart umkämpfte Wirklichkeit, in der es ihm gerade einmal vergönnt war, seine Einzimmerwohnung irgendwie am Laufen zu halten.

Am Anfang hatte er noch was von sinnvoller Tätigkeit, Recherche und Sozialstudien gefaselt und tatsächlich darauf geachtet, was die Kunden da so auf das Laufband legten, versucht, Zusammenhänge herzustellen zwischen Person, Lebenswandel und Konsumverhalten. Mittlerweile aber war das alles nur noch ein einziger bunter Verpackungsmüll mit Barcode, der sich da vor ihm auftürmte. Auch Kunden erkannte er kaum jemals wieder, er lächelte zwar beflissen zurück, wenn er verbrüdernd angezwinkert wurde, aber das konnte man zu neunzig Prozent unter Schauspielerei verbuchen. Der Supermarkt-Kunde an sich war gesichtslos und wurde durchgeschleust, und er, Tom, saß hier am Fließband. So war das nun mal. Er fragte nach Bonuspunkten und Treueherzen, nahm EC-Karten entgegen, gab Wechselgeld heraus, wischte gelegentlich die Rollfläche vor sich sauber und löste sich ansonsten vom Geschehen ab, dachte ununterbrochen an seinen neuen Roman, den noch zu schreibenden, längst überfälligen. Dieser Roman war sein Ausstieg aus dem Überschallzug in Richtung Mauer. Sein einziger Ausstieg.

Dieser Roman war nicht existent.

«He», weckte ihn ein Kunde, ein baumlanger Resthaarbesitzer im Muskelshirt mit eckigem Gesicht und buschigen Augenbrauen. «Das stimmt so nicht.»

Er hielt Tom seinen Kassenbon unter die Nase.

«Aha?»

«Hinten, ja, hinten ist ein Schild, ein großes, rotes Schild, da steht, dass der Kaffee im Angebot ist, zweineunundneunzig statt dreifünfzig, und in der Werbung haben Sie das auch – und hier, was steht hier?»

Das war natürlich eine rhetorische Frage, eine überflüssige noch dazu, denn würde da zweineunundneunzig stehen, hätte der Mann im Muskelshirt die Frage nicht gestellt, sondern wäre friedlich seiner Wege gegangen. Die Frage diente also ausschließlich dazu, Tom bloßzustellen oder seine Lesefähigkeit zu überprüfen. Konnte man ja mal machen. Wenn man Kunde war.

«Hier steht dreifünfzig», sagte Tom brav. Die in der Schlange hinter dem Muskelshirt wartende Meute seufzte kollektiv auf und bildete die gesamte Mimikpalette von gelangweilt bis empört ab. Die meisten wollten selbstverständlich nur, dass es irgendwie weiterging.

«Und?», fragte das Muskelshirt.

«Ist wohl noch nicht im System», sagte Tom.

«Und?», fragte das Muskelshirt.

Tom drückte auf die Mikrophontaste. «Kilo, bitte sechsundneunzig-fünf. Kilo, bitte sechsundneunzig-fünf.» Seine Stimme hallte durch den Supermarkt. Das mit der sechsundneunzig und der fünf war natürlich Quatsch, aber er hatte schon als Kind diese geheimnisvollen Kaufhausdurchsagen geliebt, die ein Wissen und Hintergrundgeschehen offenbarten, das für Normalsterbliche nicht zu durchschauen war.

Kilo wälzte sich mit dem Kassenschlüssel nach vorne. «Sehr witzig, Diez», sagte er und fiel seinem Kollegen vor versammelter Mannschaft lustvoll in den Rücken. «Woher weißt du überhaupt, wie viel ich wiege? Du Arsch?»

«Sechsundneunzig-fünf?», fragte Tom, der selbstverständlich gar nichts gewusst hatte. «Na, hier herrscht ja ein Ton», bemerkte eine ältere Dame und hielt ihren grauen Bubikopf mit lila Strähne aus der Schlange heraus. Drei Leute weiter hinten wechselten wortlos die Kasse. Opportunisten, allesamt.

«Der Kaffee ist im Sonderangebot. Zweineunundneunzig statt dreifünfzig», wiederholte das Muskelshirt giftig, so als hätte man ihm die einundfünfzig Cent aus dem Portemonnaie geklaut. «Da ist ein Schild, ein großes, rotes Schild!»

«Das kann ich bestätigen, ich persönlich habe das Schild da hingestellt», sagte Kilo mit übertrieben gewichtiger Stimme, als hätte jemand die Behauptung des Kunden in Frage gestellt. «Das bekommen Sie natürlich erstattet.» Deeskalation war wohl das Stichwort. Francesca hinter Tom schwitzte jetzt sehr stark. Aber sie sagte nichts, zog einfach nur ihr Ding durch, mit einer Geschwindigkeit, die man ihr gar nicht zugetraut hätte. Tom wurde ein wenig übel.

«Wenn ich nicht aufgepasst hätte», schimpfte das Muskelshirt, «dann hätte Ihr Marketing-Trick funktioniert. Ich will gar nicht wissen, auf wie viele angebliche Sonderangebote ich schon reingefallen bin, die an der Kasse dann plötzlich keine mehr waren.» Er durchbohrte zunächst Kilo, dann Tom mit den ausgefahrenen Stahlklingen seiner Augen.

Tom seufzte. «Das ist doch kein Trick», verteidigte er sich lahm. «Das ist einfach ein Versehen. Menschen machen Fehler.»

«Geht das bald mal vorwärts hier?», fragte ein Rentner mit Rollator, der doch nun wirklich Zeit im Überfluss haben musste und seinerseits die Kundschaft gewiss noch gehörig aufhalten würde.

«Das wird auch immer schlimmer. Immer schlimmer wird das», beschwerte sich eine andere weißhaarige Dame ohne lila Strähne, dafür mit eindrucksvoll heruntergezogenen Mundwinkeln als Mahnmal eines insgesamt schwierig verlaufenen Lebens. «Hier kann man überhaupt nicht mehr einkaufen. Und teuer ist das alles. Alles wird immer teurer! Ein Euro sind doch keine zwei Mark mehr! Und betrogen wird man. Nach Strich und Faden wird man betrogen. Das ist überall das Gleiche. Das ist wie mit den Flüchtlingen!»

«Geht das bald mal vorwärts hier?», fragte der Rentner mit Rollator erneut und gab sich keine Mühe, Duktus und Tonfall auch nur geringfügig zu verändern. Die Botschaft zählte. Die Kunden gaben sich insgesamt wie ein ausgehungertes Rudel Kampfhunde, dem man das Kommando zum Zuschnappen gegeben hatte. So ein Supermarkt war nichts anderes als ein Hort der ausgelebten Unzufriedenheit, dachte Tom und fühlte leichten Schwindel. Kilo zog seinen Schlüssel ab, grinste und verkrümelte sich nach hinten ins Büro. Es war ja schließlich alles geklärt und wäre sicherlich tatsächlich irgendwie vorwärtsgegangen, wenn Tom nicht mit einem Mal wie paralysiert gewesen wäre.

Kaffee, Sonderangebot, Mundwinkel, Rollator.

Das alles war so vollkommen sinnlos. Eigentlich hätte er jetzt den Kassenbon nehmen und den Artikel zurückbuchen müssen, aber er hörte einfach auf zu funktionieren, stellte den Betrieb ein, während um ihn herum ein geifernder, sabbernder, blutrünstiger Vulkan ausbrach. Er saß da, machte gar nichts, während Francesca schwitzte, das Muskelshirt kurz davor war, ihn am Kragen zu packen, der Rollator vor Wut vibrierte und die Dame mit den Mundwinkeln zuckte.

«Tom?», fragte Francesca vorsichtig und drehte den Kopf halb nach hinten. Sie hatte stets Angst, unangenehm aufzufallen. Sie klang wattiert, man hatte ihr die Höhen herausgedreht, er hörte ihre Stimme wie durch eine Daunendecke. Plötzlich und unerwartet war ihm die Absurdität seines Daseins allzu bewusst geworden, im ungünstigsten Moment, so, als entdeckte er seine grundsätzliche Fahrunfähigkeit mitten auf der Autobahn in einer abschüssigen Neunzig-Grad-Kurve.

Der Sturm in seinem Kopf kreiste um nichts weniger als die Sinnlosigkeit eines ganzen Lebens. Seines Lebens. Und das war eine Überforderung. Er sah die keifenden Gesichter, die sich zu ihm beugenden, verzerrten Fratzen, unsympathisch war das, warum freuten sie sich nicht einfach, dass es hier für alle was zu essen gab, aber der Ton war endgültig weg, er hörte nichts mehr von außen, er hörte auch nichts von innen, verweigerte sich vollkommen dieser Wirklichkeit, die ihm so fern war und gleichzeitig so nahe.

Tom machte die Augen zu, wie in Zeitlupe, und legte den Kopf langsam auf den Scanner vor ihm. Da sein Fuß dabei auf das Laufbandpedal geriet, schoben sich Bohnen, Milch und mehrere recht spitze Cornetto-Eistüten gegen seinen Hinterkopf. Er spürte die kleinen Erschütterungen, eine Frau schrie auf, der Raum verengte sich, dann war Ruhe. Endlich Ruhe.

*

«Das war jetzt schon das dritte Mal in diesem Monat», sagte Kilo mit seiner flachen, empathiefreien Stimme. «Und wir haben gerade mal den zehnten.»

Tom blinzelte. Da war er wieder. In dem winzig kleinen, fensterlosen Büroraum, den er doch eben erst verlassen hatte. War schon wieder Pause? Kilo stand am Fußende der Liege, auf die ihn Francesca und er gehievt haben mussten. Das war sicherlich ein Anblick gewesen, wie sie ihn an Frühkartoffeln, Bioregal und Tiefkühltruhe vorbei nach hinten geschleppt hatten. Tom war ziemlich schlank, aber fast zwei Meter groß und damit tendenziell unhandlich. Er drehte den Kopf und schnupperte an seiner rechten Schulter. Das T-Shirt roch nach Francescas Schweiß. Sie hatte ihn also unter den Armen gepackt, schlussfolgerte er, während Kilo seine Füße genommen hatte. Sherlock Diez in Bestform.

«Du musst mal Arzt», sagte Francesca mit ihrem schönen italienischen Akzent und blickte ihn mitleidsvoll an. «Oder Krankenhaus.»

«Genau», sagte Kilo. «Du hast bestimmt Krebs. ’nen Tumor im Kopf. Das muss doch Krebs sein.»

«Ich hab keinen Krebs», sagte Tom und richtete sich auf. «Schwächeanfall. Ein Schwächeanfall war das.»

«Weiß man nie.» Kilo kannte keine Gnade. «Kann tückisch sein, so ein Krebs. Der kommt von hinten durchs Auge. Und zack, bist du weg.»

Tom wusste nicht, wie viele verschiedene Arten von Krebs Kilo schon ausprobiert hatte, aber er verstand sehr wohl, dass das nur ein weiterer, hinterhältiger Versuch seines Kollegen in Festanstellung war, ihm eins auszuwischen.

«Ich muss hier raus», sagte er und tat mit einer zittrigen Geste in Richtung Stirn so, als hätte er unerträgliche Kopfschmerzen.

«Super. Kann ich dem Chef sagen, dass du fristlos gekündigt hast?» Kilo grinste hoffnungsvoll. Sein vorderer Schneidezahn war schief.

«Was hast du eigentlich gegen mich?», fragte Tom zurück. «Findest du mich scheiße, weil ich nicht so fett, faul und asozial bin wie du? Oder was?»

Francesca guckte beleidigt. Tom registrierte das. «Du bist nicht fett», sagte er beschwichtigend. «Du bist weiblich.»

Jetzt lächelte Francesca. Bis sie Kilos Blick bemerkte.

«Du gehörst hier einfach nicht hin, Diez», sagte er eisig. «Du bringst den ganzen Laden durcheinander. Du kannst nicht arbeiten. Du bist schwach. Guck mal deine Finger.»

«Was ist denn mit meinen Fingern?»

«Die haben noch nie gearbeitet. Sieht man doch.»

«Ach, komm.»

«Ich hab übrigens versucht, dein Buch zu lesen. War scheiße.»

«Ach?»

«Nur blablabla. Wörter, Wörter, Wörter. Keine Action. Nix.»

«Aber du hast es dir gekauft!»

«Ich bin doch nicht bescheuert. Aus der Bücherei war das. Letzte Ausleihe war schon Jahre her.»

Tom gab auf. Das war eine Lesermeinung der nachvollziehbaren Sorte. Genau genommen, dachte Tom, war Kilo vielleicht der Erste, der ihn und seine Fähigkeiten wirklich durchschaut hatte. Auch nicht schön.

«Ich hau ab», sagte er und schwang die Beine von der Liege.

«Für immer?», fragte Francesca traurig.

«Ich glaub schon», sagte Tom, hielt die Luft an und nahm Francesca in den Arm.

Dann zog er das Firmen-T-Shirt aus, warf es einfach auf den Boden und zerrte sein eigenes aus dem Rucksack. Das schwarze Band-Shirt mit dem verblichenen Aufdruck The Jesus And Mary Chain. Er schlüpfte hinein, nahm den Rucksack und hätte einen wirklich starken Abgang hingelegt, wenn er nicht versehentlich in eine Reißzwecke getreten wäre. So aber stöhnte er auf, hob den rechten Fuß, ertrug Kilos hämisches Lachen, kratzte die Zwecke aus der erschreckend dünnen Gummisohle, vernahm Francescas erneute Empfehlung eines Krankenhausaufenthaltes und verließ das Büro. Er würdigte Tiefkühltruhe, Bioregal, Kartoffeln und Kiwis keines Blickes, nicht einmal eines strafenden, hob nichts auf, legte nichts weg und wusste im Hinausgehen, als er an den Zeitschriften vorbei die plötzlich sehr verlockende Luft der zweispurigen Durchgangsstraße erahnte, dass dies das letzte Mal war, dass er Spuren auf dem Linoleum hinterließ.

Draußen aber war alles anders. Augenblicklich. Keine Erleichterung, schon gar kein Triumph. Hatte er sie noch alle? Was hatte er getan? Wovon nun leben? Wovon die Miete zahlen? Wie die Zukunft gestalten? Was denn für eine Zukunft? Gescheiterter Schriftsteller lebt von Stütze. Schöne Schlagzeile. Er würde niemals einen zweiten Roman schreiben. Niemals. Das wurde ihm klar, ganz plötzlich, und in einem einzigen hellen Moment zog er die Bilanz seines Lebens. Viel zu ziehen war da nicht. Ein Buch auf der Habenseite, das er selbst misslungen fand, geschrieben aus Langeweile, Träumerei und in dem Versuch, irgendwo dazuzugehören, Wichtigkeit zu besitzen für irgendwen, gesellschaftlich akzeptiert zu werden. Dann der Skandal. Und sonst alles gescheitert. Beziehungen, Freundschaften, Netzwerke. Die Liebe: eine ferne Erinnerung. Mit lauter Verwundeten am Wegesrand. Kollateralschäden. Vierzig Jahre Leben ohne Ergebnis. Ohne Freude. Ohne Zufriedenheit. Von Glück gar nicht zu reden.

Er dachte an die Kundin mit den heruntergezogenen Mundwinkeln. Das war er. In dreißig Jahren. Mit einer anderen Frisur. Wahrscheinlich ohne Frisur. Er merkte, wie unglücklich er war, wie ausgeprägt eine Depression aufbrach, in die er nie wieder zurückfallen wollte und die doch an jeder Ecke seines Lebens lauerte und mit dem gekrümmten Zeigefinger lockte. Er drehte sich um die eigene Achse: Alle Menschen auf dieser Straße sahen glücklich aus im Vergleich zu ihm. Wie konnte das sein? Sein Gehirn spielte ihm einen Streich, sie waren hier schließlich in der Großstadt, da sah man nicht glücklich aus, da war man gehetzt, getrieben, gestresst, zu Boden gedrückt von der Schwere des Lebens. Und jetzt auf einmal schienen alle zu strahlen. Deprimierend war das. Zusätzlich deprimierend.

Tom schlich den Gehweg entlang, den überbreiten Gehweg, die Autos tosten, Wolken zogen auf, es würde ein Gewitter geben, die Häuser verdeckten halb den Himmel, seine Beine trugen ein tonnenschweres Gewicht. Er dachte an die Hoffnungen seines Verlags, damals, bevor der unaussprechliche Skandal seinen Erfolg erst ermöglicht und ihn gleichzeitig erledigt hatte, an die Hoffnungen seiner Eltern, seiner damaligen Freundin, an seine eigenen. Er hatte sie alle enttäuscht. Er hatte sich nicht rehabilitieren und er hatte nicht liefern können. Am Ende waren es gerade einmal fünfzehn Minuten gewesen, für die er aus seiner Lethargie herausgewachsen war, sich der Welt gezeigt, angedeutet hatte, wer er hätte sein können. Danach hatte sich sein eigentliches Wesen den Platz zurückerobert, war der öffentlich gescheiterte Thomas Diez dem wirklichen Tom gewichen. Einem Vollversager auf ganzer Linie.

3

Die Zeit verging. Wenn auch langsam. Es wurde immer drückender. Oder kam Rüdiger das nur so vor? Es war Mittag, der Himmel verdüsterte sich zusehends (wo mochte das noch hinführen?), die Luft stand plötzlich, man konnte den Staubpartikeln beim Flug zusehen. Jede Bewegung war eigentlich eine zu viel, doch die Frau mit dem Pferdeschwanz störte es nicht; sie schien die Stadt leer kaufen zu wollen, sie hatte die Karte in die verschiedensten Geschäfte getragen, obwohl sie ihr dort nicht einmal etwas genutzt haben mochte. Zuletzt in eine Kaffeerösterei, eine Papeterie und einen Dessousladen, was Rüdiger in arge innere Nöte getrieben hatte. Nicht dass er ganz grundsätzlich in übertriebenem Maße prüde gewesen wäre, aber Sex war in seiner Beziehung zu Silvia schon so dermaßen lange kein Thema mehr, dass der Gedanke an Unterwäsche, noch dazu an unter Umständen auszuziehende, ungute Gefühle in ihm auslöste. So eine Mischung aus schlechtem Gewissen, Verwunderung, Verklemmung und einem Schuss Selbsthass. Toxisch war das.

Vermisste er etwas? Eigentlich nicht. Vermisste Silvia etwas? Vielleicht. Sie sprachen ja nicht darüber. Sollten sie vielleicht mal. Aber es war über die Jahre schwierig geworden, mit Silvia über Dinge zu reden, die persönlich waren und nichts mit den Kindern zu tun hatten. Silvia … was machte er hier eigentlich? Lief stundenlang einer wildfremden Frau hinterher, die auf zumindest leicht obskure Weise sein Interesse geweckt hatte, drückte sich im Windschatten eines Ladenlokals herum und gebärdete sich wie ein Triebtäter in Ausbildung. Er kam sich jämmerlich vor, noch weniger wert als sonst.

Er hatte Unterricht. Er verlor seinen Job. Vielleicht. Was war eigentlich sein Ziel? Die Frau an irgendeiner Straßenecke anzusprechen, zu sagen, hallo, ich bin Rüdiger, schön, Sie kennenzulernen, wollen wir uns auf Ihre Payback-Karte an der Tankstelle ein Eis kaufen? Das war doch Blödsinn. Das alles. Und dass er sich hier versteckte, so als würde er gleich den Mantel öffnen und dem nächstbesten Passanten sein Gemächt zeigen, war auch Blödsinn. Rüdiger schüttelte den Kopf, sah für sich und den Pferdeschwanz nach eingehender, rationaler Betrachtung keine gemeinsame Zukunft und wollte gerade davonschleichen, um dem Tag auf andere Weise zu entfliehen, als die Frau aus dem Unterwäscheladen herauskam.

Sie sah sehr zufrieden aus, ein Lächeln umschmeichelte ihr Gesicht. Warum lächelte sie denn so, was gab es denn da zu lächeln? Rüdiger war nicht in der Stimmung für gute Laune, das kühlte sein Interesse fast noch mehr ab als die Betrachtung aller Wahrscheinlichkeiten. Dennoch folgte er ihr wie ferngesteuert, als sie mit gebräunten Beinen im kurzen Kleid die Straße hinunterschlenderte und schließlich, an der belebtesten Kreuzung des ganzen Kiezes, in ein schon von außen erkennbar vollbesetztes Café einkehrte. Na, die hatte ein Leben, dachte Rüdiger und ging ohne Zögern ebenfalls hinein, obwohl ihn Menschenansammlungen, noch dazu in engen Räumen, nachhaltig aus dem Konzept brachten und enormen Stress erzeugten. Er hätte wirklich nicht Lehrer werden sollen. Die Frau setzte sich an den einzigen freien Tisch, ganz hinten, auf der Fensterseite, und stellte ihre Tüten neben sich ab. Rüdiger hatte keine andere Wahl, als ihr zu folgen.

«Darf ich?», fragte er, fühlte sein Gesicht erröten, ihre Aufmerksamkeit konnte er aber auch damit nicht erregen. «Ich würde ja auch woanders …», stammelte er. «Aber es ist ja nichts … kann man ja nirgendwo.»

Sie nickte dezent, kramte in ihrer Handtasche, schenkte ihm keinen Blick, nicht den geringsten, vielleicht fand sie ihn schon aus den Augenwinkeln heraus genauso uninteressant wie er sich selbst. Von einem Wiedererkennen gar nicht zu reden. Mensch, kenne ich Sie nicht aus dem Drogeriemarkt, was für ein Zufall, ich heiße übrigens Sibylle, Tanja, Maria oder Simone, ganz wie Sie wollen, was trinken Sie denn? Ach, auch den Ingwer-Zitronen-Tee? Ja, der ist gesund, den trinke ich hier immer. Hitze hin oder her. Was für ein Zufall. Lassen Sie mich den bezahlen, und wir können auch du sagen. Ich habe gerade sehr schöne Unterwäsche gekauft, wie findest du die denn?

Nix. Der Tisch war klein und rund, wahrscheinlich vom Flohmarkt, total retro und vergammelt, auf der Platte war ein marmornes Mosaik für die Gemütlichkeit zuständig. Er saß so nah an ihr dran, dass die Härchen ihrer Arme sich berührten, als er sich umständlich aus der Jacke schälte.

Sie zog ein Geo-Magazin aus einer der Einkaufstüten, das sie vor dem Drogeriemarkt gekauft haben musste. Sie hat also nicht nur eine Payback-Karte, sondern auch noch etwas Intellektuelles, Zugewandtes, grundsätzlich am Weltenlauf interessiertes, dachte Rüdiger. Das begann ihm Angst zu machen. Dieser Frau war er nicht gewachsen, das spürte er, sie war eine Nummer zu groß für ihn. Lehrer hin oder her, er sah sich nicht als herausragenden Denker. Kreuzworträtselwissen im großen Stil, das hatte er, eine schlichte, angelernte Ansammlung von Fakten ohne Sinnzusammenhang, geschweige denn eigene Erkenntnisse. Und von der Welt hatte er noch gar nichts gesehen, weiter als bis an die Ostsee war er nie gekommen, da konnte man ja nicht von Welt sprechen.

Eine höchstens zwanzigjährige Kellnerin mit Piercing im Bauchnabel und eintätowierten Augenbrauen drängelte sich durch das vollbesetzte Café und stellte sich wenig erwartungsfroh vor den kleinen, runden Holztisch. Es gab nur eine einzige Speisekarte, in die weder er noch der Pferdeschwanz mit der Payback-Karte hineingeschaut hatten.

«Bitte sehr?», fragte die Kellnerin lustlos.

«Einen koffeinfreien Iced-Soy-Latte, bitte», sagte der Pferdeschwanz. «Ist der fair?»

Die Kellnerin nickte, dann wandte sie sich ab.

«Und ich?», sagte Rüdiger ärgerlich.

«Entschuldigung. Ich hab Sie gar nicht … was denn?» Unwillig blieb sie stehen, die vielleicht zwanzigjährige Kellnerin mit den blondierten Haaren und dem Piercing, und verzog genervt den Schmollmund, was einer aufrichtigen Entschuldigung zuwiderlief. Rüdiger war vierzig, ein alter Mann, und er nervte.

«Einen Kaffee», sagte er. Hatte sie ihn wirklich übersehen? Sie konnte ihn doch nicht übersehen haben? «Filter. Filterkaffee. Einen Filterkaffee. Nein, eine Cola, bitte. Ich nehme einen Ingwer-Zitronen-Tee.»

Wie konnte sie ihn nur übersehen haben? Sollte seine Selbsteinschätzung etwa stimmen? Erzeugte er so wenig Aufmerksamkeit, dass er sogar an einem Ort übersehen wurde, wo man Geld mit ihm verdienen konnte?

Die Kellnerin kommentierte nicht, sie bestätigte nicht, sie ging einfach, verschmolz mit dem wuseligen Hintergrund. Es war für Rüdiger ein Rätsel, warum sich Leute so etwas antaten, worin da der Nutzen bestand. Sich freiwillig in ein Café wie dieses zu begeben, mitten im Sommer, mit billiger Tanzmusik aus den Neunzigern und der verschwitzten Bakteriendichte einer Müllhalde. Acid Jazz. Wer hörte denn heute noch Acid Jazz? Der Pferdeschwanz blätterte in seinem Geo-Magazin. Rüdiger dachte an Phil Collins, seufzte und blickte aus dem Fenster.

«Also, warum folgen Sie mir?», fragte die Frau, ohne von ihrem Heft aufzublicken.

Rüdiger brauchte zwei Sekunden, dann durchfuhr ihn ein Adrenalinschub.

«Ich?», fragte er wenig intelligent und sah sie von der Seite an.

«Folgen mir denn noch andere?» Die Frau schlug das Magazin mit einer kraftvollen Bewegung zu. Da wollte man sich nicht zwischen den Seiten befinden.

Rüdiger errötete und schaffte es bedauerlicherweise nicht, ihr in die Augen zu sehen.

«Ich habe heute Geburtstag», sagte er, als würde das irgendetwas erklären.

«Herzlichen Glückwunsch», sagte die Frau trocken. «Und ich bin Ihr Geschenk?»

«Nein», sagte Rüdiger. «Also, nicht dass Sie denken … Ich bin verheiratet. Ich habe zwei Kinder. Ich bin Lehrer.»

«Und weiter?»

«Heute ist ein komischer Tag.»

«Das scheint mir auch so.»

«Ich bin Lehrer.»

«Das sagten Sie schon.»

«Ich bin einfach gegangen. In der Stunde, Jacke an, und zack. Einfach weg. Das habe ich noch nie gemacht. In fünfzehn Jahren nicht. Ich bin immer geblieben. Egal, was war. Ich habe noch nie … aber heute konnte ich nicht. Nicht heute.»

Die Frau schien zu dem Schluss zu kommen, dass Rüdiger nicht gefährlich war. Sie verbannte das Misstrauen aus ihrem Gesicht, ersetzte es durch leidlich interessiertes – ja, was? – Mitleid und lächelte sogar ein wenig. Allerdings ohne die Augen dafür zu bemühen. Rüdiger drehte seine Hände ineinander.

«Dann waren Sie in dem Drogeriemarkt», sagte er. «Und hatten eine Payback-Karte.»

Die Frau lachte. «Ja, und?»

Entwickelte sie etwa Spaß an dem Gespräch?

«Niemand hat eine Payback-Karte.»

Die Frau schwieg. Die Kellnerin brachte den Iced-Soy-Latte und den Ingwer-Zitronen-Tee. Mit Strohhalm. Er schwappte leicht über, als sie ihn abstellte. «Das macht nichts», sagte Rüdiger, obwohl niemand etwas anderes behauptet hatte. Schon gar nicht die bereits wieder verschwundene Kellnerin.

«Sie folgen mir, weil ich eine Payback-Karte habe?», fragte die Frau nachdenklich und rührte in ihrem Glas herum.

«Ja. Ganz schön dumm, was?»

«Ja», sagte die Frau. «Ich glaube, es gibt nichts Langweiligeres als eine Payback-Karte. Manchmal wird man angequatscht wegen der Beine oder so. Oder weil man so nett lächelt. Aber doch nicht wegen einer Payback-Karte.»

Rüdiger nickte eifrig. «Ich finde das wunderbar», sagte er. «Das mit der Payback-Karte.»

«Schön für Sie», sagte sie und klang plötzlich bitter. «Mein Mann wollte die. Ich nicht. Eigentlich steht so eine Payback-Karte für alles, was ich nicht leiden kann.»

Rüdiger runzelte irritiert die Stirn. «Aber nein», sagte er. «Sie nutzen die Möglichkeiten. Das ist so vernünftig.»

Sie sah ihn an. Ein bisschen angewidert, falls Rüdiger sich nicht irrte. «Das glauben Sie wirklich?»

«Aber ja!»

«Das macht Sie an?»

«Wie bitte?»

«Wie alt sind Sie geworden?»

«Vierzig», sagte Rüdiger.

«Sie sind nicht vierzig», sagte die Frau. «Sie sind hundert. Nichts für ungut.»

Sie schwiegen. Rüdiger dachte ernsthaft über den Unterschied zwischen biologischem und tatsächlichem Alter nach. An den Nebentisch setzte sich ein Pärchen mit der Kraft junger Herzen, dann stürzte die Frau mit dem Pferdeschwanz ihren Iced-Soy-Latte in einem Zug hinunter, wie als darstellerisches Ausrufezeichen, stand auf und ging zum Tresen, wo sie in einer fließenden Bewegung bezahlte und aus dem Café eilte. Rüdiger sah ihr hinterher, verwirrt wie ein an der Autobahnraststätte ausgesetztes Schoßhündchen, und warf einen abschließenden Blick auf den Tisch. Ihren Tisch. Sie hatte das Magazin vergessen. Wie uneffizient.

Rüdiger öffnete die Aktentasche und steckte es ein, selbstverständlich ohne es zu verknicken, ignorierte den Ingwer-Zitronen-Tee und ging ebenfalls nach vorne. Er drängelte sich an einem schmalen Hünen mit langen Haaren und Pferdeschwanz vorbei, der sich wie ein Geier auf den frei gewordenen Platz stürzte, zahlte, achtete genau darauf, exakt zehn Prozent Trinkgeld zu hinterlassen (obwohl die Kellnerin das nicht verdient hatte) und verließ das Café, in das er nie wieder einen Fuß setzen würde.

Von der Frau mit der Payback-Karte war weit und breit nichts zu sehen. Gerade war sie noch so präsent gewesen, nun war sie bereits Geschichte. Damit sollte ein Mensch klarkommen. Ein kleiner Tod war das. Obwohl das doch offiziell irgendwas anderes war. Was auch immer.

Und nun? Rüdigers kurzzeitiger Anflug von Freiheit, von angewandter Anarchie, brach in sich zusammen. Er bekam ein schlechtes Gewissen, seinen Kindern gegenüber, der Schule gegenüber, sogar seinen Schülern, denen es wahrscheinlich gerade richtig gutging. Riskierte er nicht die finanzielle Zukunft seiner ganzen Familie? Er war ein Idiot. Er war … ja, er war, man konnte es nicht anders sagen, es war wie aus dem Lehrbuch, hochgradig depressiv. Er hätte die Uhr am liebsten zurückgedreht. Dennoch, er konnte jetzt nicht einfach in die Schule zurückgehen und so tun, als ob nichts wäre. Er würde nach Hause gehen und mit aller gebotenen Sorgfalt an seiner Krankmeldung für den heutigen Tag arbeiten. Und vielleicht auch noch für den nächsten. Rüdiger nahm Tempo auf, schwang die Aktentasche und strich den Pferdeschwanz aus seinem Gedächtnis. Eine Zufallsbegegnung in der Stadt, ein kurzer Flirt, was bedeutete das schon? Kein Grund zur Eifersucht. Kein Grund für schlechte Gefühle. Er hatte Geburtstag.

4

Tom atmete schwer. Er versuchte, seine Therapeutin zu erreichen, reflexartig, aber sie hob nicht ab, natürlich nicht. Therapeuten hoben nie ab. Sie waren ja stets in Sitzungen. Von morgens bis abends waren sie in Sitzungen. Das Land war voller Patienten, das musste man so nennen, ob die Therapeuten sie nun als Klienten bezeichneten oder nicht, es wurde therapiert, rund um die Uhr, 24/7. Und wer wusste schon, ob da nicht ein hoffnungsloser Fall in der Leitung den halben Arbeitstag blockierte, sobald man ihm den Raum dafür gab. Also hoben Therapeuten nicht ab, sondern riefen zurück, und zwar frühestens am nächsten Tag. Aber da würde es zu spät sein. Die Situation war ernst. Die Situation war jetzt. Frau Glöcklers beruhigende Stimme auf dem Anrufbeantworter war kein Trost. Man würde zurückgerufen, natürlich, aber leider könnten keine weiteren Klienten mehr angenommen werden. Tom fand nach dem Piepen keine passenden Worte, also atmete er in die Leitung, was sicherlich auch keinen sonderlich souveränen Eindruck machte, bis die Maschine seinen Anruf beendete.

Was nun? Wer nun? Es fiel ihm niemand ein, den er stattdessen behelligen konnte. Was für eine Scheiße. Ihm war schon wieder schwindelig. Er musste sich beruhigen, entschleunigen. Er irrte noch ein wenig durch die Stadt, wie auf einem fremden Planeten ausgesetzt, ließ alles Bunte und Lebendige an sich vorbeiziehen, dann betrat er ein vollbesetztes Eckcafé, was er sonst niemals tat, schon aus finanziellen Gründen. Der Lautstärkepegel war enorm, irgendwelcher Kram aus den Neunzigern, es schien kein Platz frei zu sein. Doch, da. Eine Frau mit Pferdeschwanz schälte sich aus ihrem Stuhl am Fenster. Sie sah streng aus, genervt, der dazugehörige Typ konsterniert. Wahrscheinlich hatte es Streit gegeben. Kam ja schon mal vor. Bei Menschen, die Beziehungen zueinander hatten. Die Frau eilte an ihm vorbei, dann stand auch der Mann auf, nur langsamer, steckte ein Geo-Magazin in seine Aktentasche und folgte der Frau, die sich bereits grußlos davongemacht hatte. Tom beeilte sich, den Tisch in Beschlag zu nehmen. Er zögerte kurz, dann setzte er sich auf den Stuhl der Frau. Er war noch warm. Sein Kopf hämmerte, sein Herz raste. Er bemerkte das Zittern seiner Hände, er musste wirken wie ein Parkinson-kranker Langzeittrinker auf Entzug.

«Hi», sagte eine Stimme.

Eine höchstens zwanzigjährige Bedienung mit Piercing und eintätowierten Augenbrauen lächelte ihn an. «Was darf’s denn sein? Ein Bier?»

«Zu früh», sagte er. «Espresso.»

«Kommt», sagte sie, lächelte erneut und zog sich zurück. Was hatte er gerade bestellt? Entschleunigung? Espresso? Egal.

Kaum dass die Kellnerin gegangen war, fühlte Tom ein Konzentrat aller Traurigkeit in sich, einen bodenlosen Abgrund, einen Aufmarsch unabänderlicher Hoffnungslosigkeit. Er suchte nach Ablenkung, wie man es ihn gelehrt hatte, konzentrierte sich auf die anderen, den Nachbartisch. Ein junges Pärchen, vielleicht neunzehn, zwanzig, vielleicht auch vierzehn oder fünfzehn, so genau konnte man das ja heutzutage gar nicht mehr sagen, kauerte vor Fassbrause und Club Mate. Tom bemerkte sofort, dass da was im Busch war. Sie belauerten einander, tasteten sich ab, es war ein Auslesen unbekannter Buchstaben. Beide wollten, dass es passierte, dass der Funke entstand, der von einem Wirt zum nächsten übersprang. Sie vermieden Augenkontakt, schauten sich nur ganz kurz direkt an, wenn es gar nicht anders ging, denn das musste man ja erst mal aushalten. Sie hielten es kaum aus, und dann: nur keine Gesprächspausen aufkommen lassen, keine Stille. Stille war das Schlimmste. Stille war tödlich. Also lachten sie. In einem fort. Lachen war gut. Lachen brachte Zeit. Er redete weniger als sie, zumindest soweit Tom das nach den paar Minuten beurteilen konnte. Sie dafür ein bisschen zu laut. Er spielte mit seinem Ohrring, wenn er verlegen war. Wenn er merkte, dass ihm die Worte fehlten, dass er nicht so eloquent war, wie er es gerne gehabt hätte. Nicht so eloquent wie sie. Tom fühlte sich sowieso schon mies, aber jetzt wurde er richtig bitter. So als hätte man ein versalzenes Gericht noch mal ordentlich gepfeffert.

Seine Tischnachbarn waren zu nah am Kindsein, um nicht mehr an Romantik zu glauben, die Idee der großen Liebe. Hatten zu wenige schlechte Erfahrungen gemacht. Das würde sich ändern, dachte er. Zwangsläufig. Eine Liebesbeziehung bedeutete nach Toms Privatstatistik sechs gute, im besten Falle aufregende Monate, dann ein bisschen Routine, Gewohnheit, unerfüllte und sich in den Vordergrund drängende Sehnsüchte, schließlich einen elendslangen Ablösungsprozess unter Ausschüttung unzähliger Tränen, Gelübde, Angebote und Besserungsbeteuerungen, bis zur unausweichlichen Trennung. So gesehen waren diese Anbahnungsversuche hier eigentlich das Traurigste, weil sie in all ihrer Hoffnung das Ende bereits beinhalteten.

Tom beobachtete weiter. Durfte er das überhaupt? Half ihm das? Half ihm das vielleicht am Ende sogar für seinen neuen Roman? Ha, der neue Roman …

Er dachte daran, wie seine schriftstellerische Karriere begonnen und geendet hatte. Damals. Buchmesse Frankfurt, er mit dem Spitzentitel im Gepäck, fünfzigtausend Vorbestellungen, er war sich vorgekommen wie ein angehender Superstar, jung, gutaussehend, unverbraucht, rebellisch, dazu mit Hirn, Attitüde und langen Haaren, da bahnte sich etwas an, Talkshows, Interviews, Panels, Lesereisen. Das wäre seine Zukunft gewesen. Eine ganze Entourage aus Verlags- und Presseleuten hatte ihn zu dem Podium begleitet, auf dem er aus seinem Debütroman lesen sollte. Fotografen, Blitzlichter, eine dichtgedrängte Menge, Neugierde, das allgemeine Gefühl, bei etwas Großem dabei zu sein.

Dann, gerade als es losgehen sollte, er Platz nahm, eine plötzliche Unruhe im Publikum. Ein Mann erhob sich von seinem Zuschauersitz, Tom kannte ihn, erkannte ihn sofort, sie waren zusammen an der Uni gewesen, hatten sogar zusammengewohnt. Der Mann rief nur einen Satz, und dieser Satz hatte eine solche Wucht, dass er alles beendete. Dieser Satz löste einen Skandal aus, dieser Satz war eine Frage und sollte nichts anderes, als einen Skandal auszulösen.

Er lautete: «Na, schläfst du immer noch mit kleinen Mädchen, Diez?»

Eine öffentliche Hinrichtung. Tom war die Farbe aus dem Gesicht gewichen, er hatte augenblicklich die Dimension begriffen, es würde niemanden interessieren, dass er noch nie etwas Derartiges getan hatte, sich ausschließlich für erwachsene Frauen interessierte, und selbst das nur einigermaßen halbherzig. Es war eine Behauptung, die völlig aus der Luft gegriffen war und die sich wie ein klebriges Fangnetz um den Menschen Thomas Diez und sein Leben legte. Der Tumult war enorm, ein Aufschrei gar, die Lesung fand nicht statt, natürlich nicht, Tom stürmte panisch von der Bühne, erst in Richtung des Zwischenrufers, dann abgedrängt nach irgendwo, raus aus Halle 4, raus aus der Messe, raus aus dem Literaturbetrieb. Der Verlag aber hatte bereits gedruckt, nutzte den Skandal, erhöhte die Auflage und veröffentlichte das Buch. Es wurde ein Riesenerfolg, während alle nur über Herrn Thomas Diez’ angebliche Neigungen schrieben und im Buch nach Hinweisen auf die Perversionen des Autors suchten. Und fanden.

Tom verlor die Stimme, buchstäblich, gab keine Interviews mehr, verkroch sich in den Bergen Italiens, brauchte seinen Vorschuss in Windeseile auf und prozessierte gegen den Verlag. Er prozessierte auch gegen den Zwischenrufer, der Martin hieß. Martin Behrenkamp. Der sein engster Freund gewesen war. Und der – leider – die Idee zu seinem Buch gehabt hatte. Der von Tom übervorteilt worden war. Nein, nicht übervorteilt. Ausgelassen. Unerwähnt. Am Erfolg nicht beteiligt. Das, was Martin Behrenkamp da gerufen hatte, so wohlkalkuliert gerufen hatte, war ein besonders perfider Akt der Rache gewesen, so simpel wie effektiv.

Tom gewann den Prozess, aber auch das interessierte niemanden mehr. Die Verurteilung war längst passiert. Die Hinrichtung auch. Tom war erledigt. Es gab Verdächtigungen, die nie wieder aus der Welt zu schaffen waren. Vergewaltigung gehörte dazu, Drogen, Missbrauch, Mord. Etwas blieb immer haften, Freispruch hin oder her. Da würde schon was dran sein, dachten die Leute, grundlos würde ja schließlich niemand solche Anschuldigungen in den Raum stellen. Solche schlimmen Anschuldigungen.

Als er sich nach langer Zeit der Depression aus seiner Schockstarre befreit hatte, konnte er nicht mehr schreiben. Und kein Verlag fragte danach, ob er es noch einmal versuchen würde, ob er nicht doch eine Idee hätte, die es wert war, veröffentlicht zu werden. Jetzt, gut zehn Jahre später, tastete er sich langsam heran, wie ein Gitarrist, der sich bei einem Unfall das Handgelenk gebrochen hatte und mühsam das Spielen wieder erlernte. Ohne jemals wieder so geschmeidig zu werden wie zuvor.

Tom befreite sich aus seinen Erinnerungen, die ihn tagtäglich quälten, die ihn bis ins Detail in seine Träume verfolgten, und kehrte in die Gegenwart zurück. Die junge Frau am Nachbartisch hatte nun rote Bäckchen und fabulierte, dass die Grundschule sie geprägt hätte, dass sie ohne Grundschule nicht die geworden wäre, die sie jetzt war. Wobei sie «der» sagte und nicht «die». Dass sie nicht der wäre, der