Sörensen macht Urlaub - Sven Stricker - E-Book

Sörensen macht Urlaub E-Book

Sven Stricker

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Beschreibung

Der von seiner Angststörung geplagte Kriminalkommissar Sörensen will endlich einmal Urlaub machen und dem tristen Katenbüll für eine Weile entfliehen. Nach Österreich will er, in die Berge − schwimmen gehen. Nur einen kurzen Zwischenstopp in Hamburg plant er ein, bei seiner Ex-Frau Nele und Tochter Lotta. Was soll schon schiefgehen? Antwort: alles. Denn das Verbrechen reist ihm hinterher ... Parallel hat Kollegin Jennifer in Katenbüll plötzlich einen eigenen Mordfall zu bearbeiten. Und sie wird den Teufel tun, Sörensen davon zu erzählen. Sörensen sieht sich bald schon in einem Netz aus größeren und kleineren Lügen gefangen, das nicht nur ihm die Sicht versperrt. Oder ist es am Ende gerade diese Spur aus Lügen, die Jenni und ihn zur Wahrheit führt?

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Sven Stricker

Sörensen macht Urlaub

Kriminalroman

 

 

 

Über dieses Buch

IN WEITER FERNE SO NAH ...

 

Der von seiner Angststörung geplagte Kriminalkommissar Sörensen will endlich einmal Urlaub machen und dem tristen Katenbüll für eine Weile entfliehen. Nur einen kurzen Zwischenstopp in Hamburg plant er ein, bei seiner Ex-Frau Nele und Tochter Lotta. Was soll schon schiefgehen? Antwort: alles. Denn das Verbrechen reist ihm hinterher.

Parallel hat Kollegin Jennifer in Katenbüll plötzlich einen eigenen Mordfall am Hals. Und sie wird den Teufel tun, Sörensen davon zu erzählen ...

 

«Sven Stricker ist das Beste, was dem deutschen Krimi passieren konnte.» krimi-couch.de

Vita

Sven Stricker wurde 1970 in Tönning geboren und wuchs in Mülheim an der Ruhr auf. Er studierte Komparatistik, Anglistik und Neuere Geschichte. Seit 2001 arbeitet er als freier Wortregisseur, Bearbeiter und Autor und gewann in dieser Funktion mehrmals den Deutschen Hörbuchpreis. Für seine Sörensen-Romane war Stricker 2017 und 2024 für den Glauser-Preis nominiert. Die Verfilmung von «Sörensen hat Angst» gewann 2021 den Deutschen Fernsehkrimipreis sowie den österreichischen Fernsehpreis Romy. 2022 wurde Stricker für das Drehbuch mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Er lebt in Potsdam und hat eine Tochter.

 

«Sprachlich, atmosphärisch und überhaupt ist ‹Sörensen› wohl das Beste, was der deutschsprachige Krimi derzeit zu bieten hat.» Ursula Poznanski

 

«Eine Reihe, die man gelesen haben muss. Für mich ist Sörensen längst Kult!» Romy Fölck

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Redaktion Tobias Schumacher-Hernández

Covergestaltung Cordula Schmidt Design, Hamburg

Coverabbildung Mirjam Himmelsberger

ISBN 978-3-644-01926-3

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Juli

Auch in die allergröbsten Lügen

mischt oft ein Schein von Wahrheit sich.

Johann Wolfgang von Goethe

What happens in Katenbüll, stays in Katenbüll.

Mick Jagger

FREITAG

Gute Reise! Alles gepackt?

19:08Uhr

 

Danke, Jenni. Bin dabei. Überlege noch, ob ich Netflix mitnehmen soll, Auto ist aber jetzt schon so voll. Hoffe, das hält überhaupt durch. Meinst du, diese roten Warnlampen haben was zu bedeuten?

19:10 Uhr

 

Fahr doch mit der Bahn. Ist sowieso sicherer. Auf der Straße hat’s Unfälle.

19:10 Uhr

 

Nix. In der Bahn sind Menschen. Die riechen und reden. Und dann sitze ich wieder am Gang und hab vor jeder Haltestelle fremde Hintern und Rucksäcke im Gesicht.

19:12 Uhr

 

Gelassenheit üben, Sörensen. Mal schön die Berge rauf und runter. Bewegung hilft. Gibt ja bestimmt auch Wanderstöcke für Leute deines Alters. Mit Elektromotor.

19:18 Uhr

 

Was heißt für Leute meines Alters? Unverschämtheit! Kommt ihr denn überhaupt klar? Ohne mich? In Katenbüll? Ich glaube nicht.

19:19 Uhr

 

Wird natürlich schwer. Wenn nicht unmöglich. Aber irgendwie ist mir schon den ganzen Tag nach Tanzen.

19:19 Uhr

Algarve

Der erste Satz ist ja so wichtig, dachte Siemen Niehus und hoffte, er würde ihm nicht misslingen. Erster Satz gleich erster Eindruck, nicht zurückzunehmen, nicht auszugleichen, ja, ja, das kannte man von jedem Vorstellungsgespräch, jeder Klausur, jeder Frau, die man gut fand, der war wichtig, so ein erster Satz, so ein Eindruck, er war entscheidend für den Moment und damit für das ganze Leben. Also nachgedacht, der erste Satz, er musste passen. Demnächst. Bald. Gleich. Er hustete, warf den damit verbundenen Weltekel aus und betätigte den Scheibenwischer.

Es war November, es war dunkel, es war deprimierend. Das Wetter changierte zwischen Regen, Sturm, Eiseskälte und plötzlichen Hitzewallungen, alles auf einmal, alles in einem einzigen Aufwasch. Genau, meteorologische Wechseljahre waren das, man musste zur Winterjacke ein T-Shirt anziehen, ein T-Shirt mit Schal und Kapuze, Scheiß-Klimawandel, Scheiß-Zwischentöne, Scheiß-Zukunft.

Siemen war erst neunzehn Jahre alt, aber in ihm wucherte die Resignation bereits wie ein Tumor, an dem nichts gutartig war. Er war blond, schlaksig und im landläufigen Sinne gut aussehend, das Gesicht symmetrisch und fein, nur die übertriebene Blässe und heruntergezogenen Mundwinkel verrieten seine Anspannung und beschädigten den Gesamteindruck. Er wischte sich über die Stirn. Es ging um alles. Vor ihm lag das große Glück – oder der endgültige Absturz.

Er passierte das Ortsschild, die Sicht war schlecht, er schaltete das Radio aus, um sich besser konzentrieren zu können, beugte sich vor, so weit der Gurt es ihm erlaubte, ließ Tankstelle und Kirchenhügel links liegen, kniff die Augen zusammen und wappnete sich fürs Abbiegen. Hier irgendwo musste es sein. Etwas von Glanz war nicht zu erwarten – nichts in Katenbüll versprühte Glanz –, eher eine Art Baracke, ein dauerhaftes Provisorium (auch wenn sich das natürlich eigentlich ausschloss), dazu ein unscheinbares Gelände, nein, Brachland. So hatte es geheißen: Brachland mit Wellblechcontainer und Autos. Nicht verfehlen, drauffahren, hinter dem Container warten.

Eine verlassene Haltestelle, ein verkrüppelter Baum, ein einzelner, geduckter Passant im Regencape, dann ein verbeultes Schild, aufgestellt am Straßenrand: S+M Automobile. Gut, gut, gut. Das war tatsächlich schnell gegangen. Siemen bremste herunter, blinkte und befuhr knirschend das Grundstück, registrierte einen unbeleuchteten Container und erstaunlich viele Gebrauchtwagen, dicht gedrängt, so als würden sie sich zum Schutz gegen das nordfriesische Wetter zusammenrotten. Wer sollte die denn eigentlich alle kaufen? Hier, am Ende der Welt?

Schlagloch folgte auf Schlagloch, er rollte und ruckelte über den lehmigen Boden links am Container vorbei, wandte sich nach rechts und hielt direkt dahinter an, von der Straße aus nicht zu sehen. Er machte den Motor aus, schnallte sich ab, öffnete die Tür und brauchte einen langen Anlauf, um auszusteigen – der Druck, der Regen, die Angst. Der Wind schlug ihm entgegen und peitschte ihm das Wasser ins Gesicht; die eh schon verwohnten roten Chucks steckten im Matsch fest, er befreite sie steifbeinig und fluchte, in ihm entfaltete sich mit einem Mal ein Unwetter, das es mit den äußeren Verhältnissen aufnehmen konnte. Was tat er hier? Es war Freitagabend, verdammt noch mal! Da ging man aus, traf sich mit Freunden, sofern man welche hatte, chillte irgendwo im Trockenen, das hätte man doch machen können! Oder den Boden wischen, Zwiebeln schälen, Schnecken züchten, Gras rauchen, den Müll rausbringen, neuen Müll machen. Egal. Alles war besser als das hier. Er kam sich vor wie ein Balletttänzer, der sich völlig überraschend im Boxring wiederfand. Er rang um Kontrolle, Selbstbewusstsein, Festigkeit. Festigkeit war wichtig. Ein souveränes Auftreten, ein guter Stand.

An seinen Füßen wurde es nass, während der Regen immer stärker wurde. Siemen hatte weder Schirm noch Kapuze, er kniff die Augen zusammen und versuchte, sich zu orientieren. Viel war nicht zu erkennen, ohne Lampe, ohne Licht. Einige scheinbar wahllos dahingeworfene Autowracks sah er, Reifen, die sich zu bedrohlichen Stapeln auftürmten, einen Lkw-Anhänger und verschiedene Haufen Schrott oder Ersatzteile, es war wie ein Hindernisparcours für Endzeit-Touristen. Weiter hinten, etwas diesig, befand sich eine breite, hohe Garage mit zwei, nein, drei Toren. Die Werkstatt. Kein Mensch war zu sehen. Kein Nachtwächter. Auch kein Wachhund. Natürlich nicht. Genau deshalb war er ja hier, war dies der Treffpunkt.

Siemen schauderte und überlegte, eine Zigarette zu rauchen, griff nach der Schachtel in seiner Hosentasche – aber nein, er versuchte ja, es sich abzugewöhnen, seit … Moment … fünf Jahren. Genau. Er hatte mit vierzehn angefangen und seitdem fast jeden Tag aufgehört. So etwas wurde viel zu selten gewürdigt, dachte er, dieses tägliche Aufraffen, diese Willensstärke. Siemen war ein Zyniker. Er mochte nicht, dass es so war, aber er mochte sowieso wenig an sich.

Er strich sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augenbrauen. Die Uhrzeit? 20:30 Uhr. Er war pünktlich. Der andere nicht. Fünf Minuten würde er noch warten, nur fünf Minuten. Dann war es genug, hatte es halt nicht sein sollen, hatte das Schicksal für ihn entschieden. Oh Gott, was hatte er sich bloß dabei gedacht?

Siemen musste aufpassen, nicht durchzudrehen, er neigte zur Impulsivität, hatte keine Erfahrung in diesen Dingen, wirklich nicht, lehnte sie sogar entschieden ab, er hatte Werte, richtige und wichtige Werte, eine klare Vorstellung von Gut und Böse – aber er war auch Realist. Und Realismus hieß in diesem Fall, dass er kein Geld hatte, um sich Idealismus leisten zu können. Wenn er sich an die Regeln hielt, wenn er nur bis zur Markierung schwamm, spülte die Welle über ihn hinweg. Aber wenn er sie brach, nur dieses eine Mal, dann brach er auch die Welle. Dann konnte er Gutes tun, zum Beispiel. Mit Geld, das woanders nicht fehlen würde. Gutes für die Welt und ein ganz klein wenig für sich selbst. Die Algarve, dachte er. Das war die Möhre, der er als Esel hinterherlief: Portugal, Algarve. Dort musste er hin. Mit einem Camper, er durfte auch gebraucht sein. Erfahrungen sammeln am Strand. Erleuchtung finden zwischen schroffen, roten Felsen. Einen Wink für die Zukunft.

Siemen hörte auf, sich seine Tat schönzureden, und vergaß zu atmen. Er sah zuerst die Scheinwerfer, dann hörte er den Motor, das Rütteln auf der Buckelpiste, holte eiligst sein Handy heraus, öffnete das Audioprogramm, drückte auf Aufnahme, verstaute das Gerät in der Innentasche seiner Jacke, trat einen Schritt vor und wollte die Zigarette wegschnippen, die er gar nicht geraucht hatte. Er hob zögerlich den rechten Arm. Der Wagen bremste und kam vielleicht fünf Meter vor ihm zum Stehen. Der Höhe nach war es ein Geländewagen. Das Licht blendete ihn, der Motor lief weiter. Siemen betastete jetzt doch einigermaßen zitternd und zum insgesamt zwölften Mal seine rechte Jackentasche. Er war noch da. Die Fahrertür öffnete sich, ein Mann stieg aus und stellte sich dem Regen. Siemen konnte nicht viel erkennen, außer dem breiten Körperbau und einer Haltung, die sich vor allem durch diesen Körperbau definierte. «Du bist ja fast noch ein Kind», sagte der Mann, seine Stimme war ruhig, vielleicht ein wenig enttäuscht. Siemen erkannte sie nicht.

«Bin ich nicht.» Siemens Herz hüpfte hin und her wie ein Luftballon über einem Lüftungsschacht. War das jetzt ein guter erster Satz gewesen? Eher nicht. «Haben wir telefoniert?», fragte er. «Also, wir beide?»

«Ja, natürlich», sagte die Stimme. «Ja, natürlich, wir haben telefoniert. Ich hoffe, du bist allein gekommen?»

«Ja … Ich hoffe, Sie sind … Sie auch?»

«Gib mir einfach den Stick.»

«Erst wenn ich das Geld habe.»

Sehr gut. Erste Stunde auf der Robert-De-Niro-Mafiaschule für Minderbegabte. Siemen sah, wie der Mann, dessen Gesicht nach wie vor im Dunkeln lag, hinter der Fahrertür hervorkam, den entscheidenden Schritt auf die Bühne aber nicht machte. Ob er einen Koffer bei sich trug, ließ sich nicht erkennen. Nicht einmal einen Rucksack, eine Bauchtasche oder einen Brustbeutel.

«Dir ist schon klar, dass alles anders wird, wenn du das Geld nimmst?»

«Das will ich ja», sagte Siemen.

«Sicher? Im Moment bist du nur ein verwirrter Trottel im Regen, der aus irgendeiner Laune heraus den falschen Leuten ans Bein gepisst hat. Nichts für ungut. Du bist jung, hast ein bisschen Wirbel gemacht und mit dem Feuer gespielt. Okay. Kann passieren, jeder wandelt ja mal an der Klippe. Vor allem in deinem Alter. Das kann gut gehen, muss es aber nicht.» Der Mann machte eine Pause. «Aber wenn du das Geld annimmst, Junge, dann bist du ein Krimineller. Endgültig. Und das bleibst du dann auch. Das ist schon ein ziemlicher Einschnitt. Du hast dann zwar das Geld, aber was ist mit dem Gewissen? Was ist mit der Angst? Dem Blick über die Schulter? Dein Nacken wird steif vom vielen Umdrehen. Ich sage dir, du wirst dich für den Rest deines Lebens verfolgt fühlen. Zum Beispiel von uns.» Er setzte eine erneute Pause. «Und wer weiß schon, wie lange dein Geld reicht? Ob du nicht doch noch mehr willst? Irgendwann?»

Siemen schluckte. «Will … will ich nicht.»

«Sicher?»

«Nein. Also, ja, will ich nicht. Und vielleicht bin ich ja gar nicht so naiv? Vielleicht weiß ich ja genau, was ich tue? Vielleicht bin ich ja schon länger, äh, in dem Geschäft?»

«Bist du nicht, Siemen», sagte der Mann.

Siemen erstarrte. «Was?»

«Du heißt Siemen Niehus, du studierst in Flensburg so ein komisches Fach, wie heißt das? Transportunion?»

«Transformation», murmelte Siemen.

«Richtig. Und du arbeitest nebenbei in einem Geschäft für Anglerbedarf in Husum. Das Einzige, was da kriminell ist, sind die lebenden Köder in den Plastikschachteln. Als ich dir bei der Arbeit zugeguckt habe, hattest du keinen einzigen Kunden. Außer mir. Und ich habe auch nichts gekauft. Ich interessiere mich nicht fürs Angeln.»

«Sie … Sie waren da?»

Siemen überlegte fieberhaft, ob ihm jemand in Erinnerung geblieben war, der in letzter Zeit das Geschäft betreten und nichts mitgenommen hatte. Aber es verschwamm alles, auch er interessierte sich nicht fürs Angeln, und schon gar nicht für diese peinlichen Petrijünger mit ihren ärmellosen Nylon- und Polyesterwesten, die bei ihm ein und aus gingen.

«War übrigens nicht so schlau, die Fotos aus eurem Firmenwagen heraus zu machen», sagte die Stimme fast sanft.

«Hab ich gar nicht», murmelte Siemen. Seine Kehle war vollkommen ausgetrocknet, sosehr es auch auf ihn regnete. Faszinierend, was der Körper veranstaltete. In Stressmomenten.

«Was?»

«Nichts», sagte er eilig.

«Was ist denn eigentlich Transformation? Wer transformiert denn da?»

«Wir.» Siemen wollte nur noch nach Hause. «Also, die Menschen. Geht um die Frage, wohin wir uns entwickeln bei all … bei all den Krisen.»

«Und das hier ist deine Antwort? Ich verstehe ja, dass du Geld brauchst. Ich meine, wer braucht das nicht? Aber dafür gleich in ein Piranhabecken springen? Als Karpfen? Wenn du mich fragst, ist das Selbstmord. Muss man die Eier für haben. Haben Karpfen Eier?»

«Nur wenn sie sie legen», sagte Siemen kleinlaut.

«Du hast also keine Eier.»

«Geben … geben Sie mir einfach das Geld.»

Siemen hörte, wie der Mann gegen die Windschutzscheibe klopfte; die Beifahrertür öffnete sich, ein weiterer Schemen stieg aus, der sich so beiläufig wie drohend der Breitbeinigkeit hingab.

«Was denn?», rief Siemen, seine Stimme überschlug sich, «da muss man doch nicht so einen … hier, also … hier!»

Er griff nach dem USB-Stick, holte ihn aus der Jackentasche und ließ ihn in den Matsch fallen. «Scheiße», sagte er, bückte sich, tastete ein wenig herum, versaute sich die Fingerspitzen und bekam den Stick zu fassen. «Hier ist er doch, hier.»

«Und das ist der Einzige?» Der Mann blieb ruhig, was Siemen erst recht alarmierte.

«Ja, natürlich, hab ich doch am Telefon gesagt, das ist der Einzige.»

«Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Da sind alle Fotos drauf? Nur auf diesem Stick? Keine Kopien auf irgendeiner Festplatte? In irgendeiner Cloud? Einem Briefumschlag an Mami?»

«Nein.» Siemen ärgerte sich über den fast flehentlichen Klang seiner Stimme. «Ich will aus der Sache raus, ich hab nichts aufgehoben. Hier ist alles drauf, was ich habe. Ich schwör’s!»

«Gut», sagte der Mann, während der Schemen daneben sich noch breiter machte. «Allerdings ist niemand so blöd, keine Kopien von belastendem Material zu machen, um sich abzusichern. Ich wette, dass sogar dein Handy gerade unser Gespräch aufzeichnet.»

«Was? Nein? Ich bin blöd. Ich bin total blöd. Keine Kopien, kein Handy … wo ist das Geld?», fragte Siemen, bei Weitem nicht zu blöde, um zu erkennen, dass die Übergabe eine eher ungünstige Wendung nahm – aber nicht willens, seinen Traum von der Algarve so einfach zu begraben. Algarve. Lagos. Delfine im türkisblauen Meer. Einmal die Welt sehen, bevor sie sich in Staub transformierte.

«Gib mir dein Telefon», sagte der Mann ruhig.

«Was? Nein!»

«Kein Telefon, kein Geld.»

«Kein Geld, und der Stick geht an die Polizei!»

Der Mann seufzte, er besprach sich leise mit dem anderen, der Regen war so stark, dass Siemen kein Wort verstehen konnte. «Na ja, gut, dann anders», sagte er schließlich. «Es regnet, und wir müssen ja auch mal vorwärtskommen.»

Siemen wollte noch etwas erwidern, aber ein Geräusch hinter ihm lenkte ihn ab. Er fuhr herum, aber es war zu spät. Aus dem Augenwinkel bemerkte er gerade noch, wie sich etwas über seine Haarspitzen erhob, roch, wie jemand in seinen Nacken atmete, schmeckte, wie sich zu guter Letzt doch noch Spucke in seinem Mund sammelte, dann verspürte er einen harten Schlag, der sein Gehirn in alle sieben Kontinente zerteilte. Portugal würde ein unerfüllter Traum bleiben. Keine Erfahrungen, keine Erleuchtung, kein Trost. Die Algarve teilte ihr Schicksal mit dem Rest von Siemens Welt. Sie war fort.

*

Warum überhaupt Urlaub? Sörensen strich sich durchs lichter werdende Haupthaar und stieg auf einen wackeligen Tritthocker. Unter ihm taten sich Abgründe auf. Was war das überhaupt für ein Konstrukt? Urlaub? Und wie war dieses seltsame Wort zusammengesetzt? «Ur» von früher und «Laub» von Blätterhaufen, oder was? Wen sollte das denn zu irgendwas verführen, für wen sollte das denn verlockend sein? Nein, dachte er, öffnete die Küchenschranktür und begann die Innenseiten zu putzen, kein einziges Tier – von der Gesägten Flachschildkröte bis zum Blauwal – würde jemals auf die absurde Idee kommen, eines Morgens aufzustehen, sich ausgelaugt zu fühlen, seine zukünftige Abwesenheit einzureichen, die Koffer zu packen und ein willkürliches Ziel anzusteuern, das sich im Wesentlichen dadurch auszeichnete, woanders zu sein. Ein Ziel, an dem es gefälligst schön zu sein hatte, exotisch, fremd und gleichzeitig vertraut, Palmen mit Schwarzbrot gewissermaßen, das aber doch und vor allem aus Projektion, Ungewissheit und wechselseitiger Ausbeutung von Gast und Gastgeber bestand.

Nein, so ein Blauwal blieb natürlich im Wasser, Tag für Tag, Nacht für Nacht, er erlaubte sich keine unnützen Sehnsüchte, ihn zog nichts in Gefilde, für die er zu schwer und unbeweglich war. Urlaub … temporäre Flucht aus mühsam geordneten Verhältnissen, das träfe es besser. Klang aber natürlich nicht so gut. Sörensen seufzte. Worauf hatte er sich da bloß eingelassen? Warum hatte er nicht einfach zwei Wochen lang Absenz geheuchelt, die nicht vorhandenen Rollläden heruntergelassen und die Füße vor dem Fernseher ausgestreckt, wo andere, gut aussehende Leute meist jüngeren Alters in schicken Klamotten für ihn hin- und herreisten, vom Mittelpunkt der Erde bis zum Mars, und dafür sogar noch von einer Filmgesellschaft bezahlt wurden? Und indirekt ja auch von ihm? Das war doch gerade der Deal, dachte er, eine Win-win-Situation war das. Die kämpften sich durch und retteten die Welt, er stierte auf den Bildschirm und hatte schon zehn Minuten nach dem Abspann alles wieder vergessen. Toll war das!

Aber nein, er hatte sich ja diesem sozialen Druck hingeben müssen, diesem unausgesprochenen Gruppenzwang, es sich so richtig gut gehen zu lassen, auswärts, nur um hinterher erzählen zu können, wie gut er es sich hatte gehen lassen und wie der Schnee geglitzert und die Sonne geschienen hatte, ja, auch des Nachts, und das Essen, hm, das Essen, ein Gedicht, wirklich, also das Essen, toll war das, oben rein und unten raus, aber auf allerhöchstem Niveau.

Sörensen fand, es roch in seinem Geschirrschrank nach Pest und Verwesung, das verbesserte seine Laune kaum. Er wischte, bis ihm die Erschöpfungsröte ins Gesicht stieg und der Arm zu schmerzen begann, dann gähnte er. Es war Spätherbst oder Frühwinter, es war kalt, klamm und nass, es war der Vorabend der Abreise, und er schlief schon seit Wochen schlecht. Je näher der Urlaub gekommen war, umso mehr Sorgen hatte er sich gemacht, so unflexibel, ja geradezu störrisch stellte sich ihm sein frei drehendes Gedankenkarussell in den Weg und versperrte die Sicht. Er war nun mal kein Abenteurer. Er war ein Angstpatient, der grundsätzlich damit beschäftigt war, immer wieder aufs Neue einen sicheren Hafen zu suchen, in dem er sich vertäuen konnte. Hier in Katenbüll, Nordfriesland, war er endlich angekommen, einigermaßen zumindest, es hatte gedauert, aber nun kannte er die Wege, die Abläufe, den Deich gegenüber, konnte ihm nur noch wenig passieren, solange alles in gewohnten Bahnen verlief.

Er war gerüstet auch für schlechte Tage – warum also wegfahren? Dahin, wo alles passieren konnte? Zum Beispiel ein … na ja, Motorschaden, das Liegenbleiben auf halber Strecke, geschlossene Tankstellen und Supermärkte, der Verlust des Mobiltelefons, abstürzende Hubschrauber, einstürzende Tunnel, wegstürzende Brücken, Verständigungs- und Sprachprobleme, komplette Abgeschnittenheit, Krankheit, Gicht und zum schlechten Ende der qualvolle Tod in freier Wildbahn. Er seufzte und schüttelte den Kopf. Er musste wahnsinnig sein … immerhin ging es bis nach Österreich.

Zugegeben, das war nicht direkt der Dschungel von Malaysia, aber es war halt auch nicht Husum, eine fremde Kultur war das, und es war nur deshalb zu seinem Reiseziel geworden, weil es eben nicht Deutschland war, weil da kein Meer war, sondern Gebirge, und weil es ihm zu albern vorgekommen wäre, von der Nord- an die Ostsee zu fahren, um sich an einem anderen Strand zu langweilen. Er mochte das Meer nur bei Ebbe und aus sicherer Entfernung. Zumal bei diesen Temperaturen.

Er dachte an den Wahnsinn seiner plötzlichen Entschlussfreude an jenem Samstagnachmittag vor zwei Monaten, als die Bundesliga wegen einer Länderspielpause ausgesetzt hatte, er also Zeit gehabt und sich plötzlich auf einem Internetportal wiedergefunden hatte, wo die Reservierung wie von selbst gelaufen war, er sich ein Zimmer auf einem Bio-Bauernhof am Hang mit Streichelzoo und hausgemachtem Schinkenspeck gesichert hatte, der ihm nichts nutzte, Frühstück inklusive, aber kein Mittagessen, kein Abendessen, was hieß, er würde sich selbst darum kümmern müssen. Jeden Tag aufs Neue. Was, wenn es ihm nicht schmeckte? Oder es erst gar keine vegetarischen Gerichte gab? In Österreich? Die hatten doch nur Schnitzel. Oder Reh. Rind. Bestenfalls Huhn. Mit Speckkartoffeln, Klößen und Kaiserschmarrn. Alles, was das Touristenherz begehrte. Und das Touristenherz war nun einmal karnivor. Ein Drama. Diese Ungewissheit …

Vielleicht, wenn er sein Medikament gegen die Angst aufdosierte? Das Citalopram? Auf zwanzig Milligramm? Um vorübergehend Ruhe zu erlangen? Nein, das würde erst dann zu wirken beginnen, wenn der Urlaub vorbei war. Und dann musste er den ganzen Kampf zur niedrigeren Dosierung erneut antreten, ohne dass es ihm etwas genützt hätte.

«Du machst dir keinen Kopf, ne?», sagte er nach unten und klang ein wenig gequetscht. Der Küchenschrank war aus irgendeinem Grund hoch angebracht, obwohl die Zimmerdecke niedrig war. Man musste also selbst auf dem Tritthocker auf die Zehenspitzen steigen, ein Riese sein, um den Schrank zu reinigen, dafür ein Zwerg, um in der Kate zu wohnen. Eine Fehlkonstruktion. Der Mensch an sich machte Fehler. Im Gegensatz zum Blauwal.

Cord, der durchaus struppige Mischling aus Schäferhund und Golden Retriever, antwortete nicht. Auch dieses Mal nicht. Er sah zu seinem Rudelführer hinauf, der sehr seltsame Verrenkungen veranstaltete, für die es in seinem auf die eigenen Bedürfnisse abgestimmten Denkapparat keine Erklärung gab. Dementsprechend ratlos wirkte Cord. Die Zunge hing heraus, der Kopf war schief, beides traf auch auf Sörensen zu, der nun in eine Ecke des Schranks geriet, wo noch nie ein Mensch zuvor gewesen war.

«Ich muss sehr viel Hundefutter mitnehmen», sagte er dumpf. «Sehr, sehr viel. Achtundzwanzig Dosen. Nee, lieber neunundzwanzig, falls mal eine nicht aufgeht. Sicherheitshalber. Wird natürlich eng dann. Im Auto. Kann sein, dass wir dich zu Hause lassen müssen. Oder mich. Aber Hauptsache, das Futter kommt mit.»

Er streckte den Kopf heraus und lächelte den Mischling an, Cord lächelte nicht, außer in Sörensens Augen, der so ein richtiger, typischer Hundebesitzer geworden war inklusive ironiefreier Vermenschlichung und gelegentlicher Überinterpretation kleinster Blicke, Bewegungen und, na ja, Gesten. «Ja, sicher», bekräftigte er. «Dir ist das egal, ne? Fahren wir eben nach Österreich. Kannst du auf dem Gipfel mal schön ’n Selfie machen und auf Instagram posten. Weiß gar nicht, was wir da machen sollen. Wandern ja wohl eher nicht, am Ende geht’s da noch bergauf. Das wüsste ich aber!»

Sörensens Telefon vibrierte in seiner Hosentasche. Der Tritthocker wackelte bedenklich, dann hatte Sörensen auch schon den Wischlappen in die rechte Hosentasche gesteckt und das Telefon aus der linken geholt.

Nele.

«Ja, Mensch!», freute er sich, nachdem er das grüne Hörersymbol gedrückt hatte.

«Na, Sörensen?»

Sie klang freundlich und zugewandt, wenn auch ein wenig nervös. Sörensen brauchte nie lange, um ihre Stimmung zu erspüren. «Alles gut?»

An seinem rechten Bein wurde es nass. Er fummelte eilig den Putzlappen aus der Hosentasche und schmiss ihn auf den Boden. Cord fühlte sich animiert, sprang um den Tritthocker herum und biss hinein, registrierte Geschmack, Geruch und Feuchtigkeit und spuckte den Lappen wieder aus.

«Ja, ja», sagte sie eilig, sodass Sörensen sofort wusste, dass es nicht stimmte. Er war letztlich gar nicht so lange mit Nele zusammen gewesen, aber für ein umfassendes Bild ihrer Persönlichkeit hatte es gereicht – und für ein gemeinsames Kind, Lotta, die mittlerweile sieben Jahre alt war und die Sörensen mehr liebte als alles andere auf der Welt. Auch wenn er sie fast nie zu Gesicht bekam. Ein guter Vorsatz für das nächste Jahr war das, dachte er. Mehr Zeit mit Lotta verbringen. Unbedingt.

«Und? Schon gepackt? Morgen geht’s doch los, oder?»

«Ja.» Sörensen seufzte, stand dabei immer noch auf dem Hocker und scharrte dennoch mit den Füßen. Im Wohnraum der kleinen Kate lag schon seit zwei Wochen der Koffer, aufgeschlagen, einladend, hier und da wanderten Shirts, Socken und Thermounterwäsche hinein, was Sörensen halt gerade so einfiel und im Vorbeigehen erledigt werden konnte. Sehr organisiert war das nicht, aber warum beim Verreisen anders funktionieren als im Dableiben?

«Tausendeinhundert Kilometer», sagte er. «Ein Wahnsinn ist das.»

«Machst du eine Übernachtungspause? Zwischendurch?»

«Geplant ist das nicht.» Er versuchte den Gedanken an die mindestens zwölf Stunden Fahrt zu verdrängen. «Vielleicht fahre ich spontan irgendwo raus, wenn ich nicht mehr kann.»

«Wie geht es Alfred?»

«Besser.» Sörensens Vater hatte es vor ungefähr drei Monaten schwer erwischt, zur Krebserkrankung war ein schlimmer Unfall gekommen, als ihn ein Amokfahrer auf die Haube genommen hatte. «Ist zur Reha in Bayern. Macht trotzdem Fortschritte … die Chemo haben sie natürlich erst mal ausgesetzt. Klingen aber alle ganz optimistisch.»

«Schön.»

«Ja.»

«Sag mal …»

Sörensen wusste, jetzt kam das, weshalb sie eigentlich angerufen hatte. Er stieg die beiden Stufen hinunter, trat auf den Putzlappen und wäre beinahe ausgerutscht. Auch eine Möglichkeit, sich des Urlaubs zu entledigen.

«Du musst doch morgen früh durch Hamburg durch, oder?»

«Klar. Die A7 kennt da nix.»

«Willst du uns nicht mal besuchen? Lotta sehen? Wenigstens für ein, zwei Stunden?»

Sörensen zögerte. «Klar will ich Lotta sehen. Immer. Aber dann bin ich ja noch länger unterwegs. Weiß eh schon nicht, wie ich das schaffen soll.»

«Komm schon. Lotta freut sich, Cord freut sich. Und ich freue mich auch.»

«Wirklich?» Eine dumme Frage, aber Sörensens Herz ging immer noch auf, wenn Nele nette Sachen zu ihm sagte. Er hatte ihre Trennung nie so ganz verwunden, da mochte es noch so viele Argumente und Beschönigungen geben, er betrachtete sie als die Niederlage seines Lebens. Und Niederlagen hatte es einige gegeben, man hätte Listen damit füllen können. Nicht unbedingt Bestenlisten.

«Ja, wirklich», sagte sie. Sörensen hörte sie lächeln. «Und dann lernst du endlich auch mal Achim kennen.»

Sörensens positive Grundstimmung warf sich in den Mixer und zerkrümelte auf höchster Stufe. «Weiß ich gar nicht, ob ich das will. Muss ich doch gar nicht kennen, so einen Achim.»

«Ach, jetzt hör doch mal auf damit und sei erwachsen. Komm vorbei, setz dein schönstes Lächeln auf und trink einen Kaffee mit uns. Weißt du noch, wo wir wohnen?»

Sörensen hatte die Adresse und den Weg dahin in seine Großhirnrinde eintätowiert. «Ungefähr», behauptete er. «Schick mir die Beschreibung lieber noch mal.»

«Schön.»

«Aber wirklich nur kurz, ich hab ja Urlaub, hab ich. Und nachher komme ich da an, in Österreich, und dann ist der ganze Schnee weg.»

«Liegt da denn schon welcher?»

«Keine Ahnung.»

«Was willst du denn überhaupt im Schnee? Skifahren?»

«Stapfen will ich. Stapfen! Und vor allem schwimmen gehen. Ich fahre in die Berge, um schwimmen zu gehen. In einem Schwimmbad. Mit Bergblick.»

Sie lachte. Aber auf eine leicht hysterische Art.

«Wirklich alles okay?», fragte er.

«Ja, ja. Mehr dazu morgen. Wir freuen uns. Du fährst bestimmt früh los, oder?»

Nicht einmal dazu hatte sich Sörensen bislang Gedanken gemacht. «Klar. Um neun oder so.»

«Das ist doch nicht früh.»

«Für mich schon. Denn ich hab ja Urlaub. Hab ich das schon gesagt? Ich hab Urlaub! Toll ist das.»

SAMSTAG

Chaos zum Kakao

Der Anruf kam, als Polizeiobermeisterin Jennifer Holstenbeck gerade den dritten Kaffee des noch jungen Morgens in ihre Tasse überführte. Sie ließ sich Zeit. Der Akt des Eingießens war der einzige ruhige Moment in ihrem aufgepeitschten Familienalltag, weswegen sie ihn so oft wiederholte, bis es selbst dem Koffein zu viel wurde. Ihre Tochter Lucy, achtzehn Jahre alt, Mutter des noch nicht einmal einjährigen Jonte, holte zwischen Dusche und Deo ihre Pubertät nach und wütete sich quer durchs Obergeschoss, Lucys Freund Ole, Jontes Vater, übte schon vor dem Frühstück Gitarre, wie um sich von sämtlichen Umweltreizen abzugrenzen, während Jennifers Mutter Henriette mit großer Geste die Hauptrolle im Stück der über den Dingen schwebenden Matriarchin probte. Sie wallte ihren voluminösen Körper durch das Erdgeschoss und übertönte alle anderen allein durch ihre gut gelaunte Anwesenheit, selbst das Baby, das auf dem Weg zum Kleinkind war und auf seiner Wippe mangelnde Argumentationskraft durch Stimmgewalt ersetzte. Dazu dröhnte aus dem Radio ein Lied von Miley Cyrus, das sich wenig von Jontes Geschrei unterschied und ausgesprochen atonal zu Oles flirrendem Gezupfe verhielt.

Vielleicht war Lucys Freund auch einfach verstimmt, weil er immer noch hier war, in Katenbüll, weil nichts vorwärtsging, sich nichts bewegte, in Richtung Musikstudium, Karriere, großer Bühne und regelmäßigem Einkommen, das über das karge Aushilfsgehalt eines ungelernten Tankstellenmitarbeiters hinausging. Es war das übliche morgendliche Durcheinander ihres Mehrgenerationenhaushalts, zusammengehalten von vier Wänden und dem grundsätzlichen Selbstverständnis, dass man sich ja eigentlich mochte, auch wenn man sich bisweilen kaum ertrug.

Jennifer rief ihre mittlerweile tägliche Fluchttendenz ab, ja, auch sie hatte den Plan, Katenbüll baldigst zu verlassen, die Welt und sich selbst zu entdecken, keineswegs auf Eis gelegt. Es fehlte nur noch der letzte Funke, die zündende Idee, das Entflammen für eine Aufgabe oder einen Ort, der mehr Feuer und, tja, Wärme versprach.

Sie nahm Jonte hoch, der Junge wand sich, trat ihr gegen die Brust, dass der Schmerz nur so explodierte, während Lucy durch den Flur schrie, dass sie die Nase voll hätte, von allen und allem, Ole nicht ansprechbar blieb und Henriette in aller Seelenruhe einen frisch bepflanzten Blumenkübel von A nach B trug, wobei A für den sorgsam verwilderten Garten stand und B für das Gäste-WC. Jennifer fragte sich, wer denn bitte einen Blumenkübel im November bepflanzte und wofür das alles gut sein sollte. Der von ihr einigermaßen liebevoll gedeckte Frühstückstisch blieb unangerührt, obwohl sie bereits vor zwölf Minuten mit einem Ausrufezeichen darauf hingewiesen hatte, dass der Kaffee kalt würde; es war Wochenende, und sie hatte keinerlei Hoffnung, dass man sich innerhalb der nächsten halben Stunde zu einem gemeinschaftlichen Tagesbeginn einfinden würde. Sie schloss die Augen, Jonte hätte fast ein Wort gesagt, es wäre sein erstes gewesen, und warf einen Blick auf ihr Telefon, das auf der Kante des Wohnzimmertisches lag und sich langsam gen Abgrund vibrierte. Sie überlegte kurz, Kaffee oder Kind (es hätte ihr wirklich leid um den Jungen getan), dann setzte sie doch den Becher ab und ging ran. Jonte fing augenblicklich an zu weinen.

«Holstenbeck?», sagte sie mit gedämpfter Stimme, während die Trompeten von Jericho ihr Trommelfell zum Bersten brachten.

«Faltermeyer», meldete sich eine vom Leben ramponierte Stimme, die in diesem Kontext noch bräsiger wirkte als sonst. «Ich rufe Sie an, Frau KOKin …»

«Das ist richtig.» Jennifer hielt Jonte plötzlich kopfüber, so als könnte sie das Geschrei auf diese Weise aus seinem Mund bugsieren, mitsamt Stimmbändern, Zwerchfell und Resonanzraum. «Herrgott noch mal, Jonte!»

«Ich war noch gar nicht fertig», sagte Faltermeyer. Der Polizeiobermeister musste taub sein oder altersstur, auf jeden Fall fest entschlossen, sich nicht von seinem einmal gewählten Kommunikationspfad abbringen zu lassen. «Ich rufe Sie an, Frau KOKin, obwohl es Samstag ist und Sie freihaben. Dafür möchte ich mich in aller Form entschuldigen.»

«Zur Sache, Faltermeyer! Zur Sache!»

«Ja, also, wie sag ich das jetzt …»

«Sagen Sie’s einfach schnell!»

Henriette kam vorbei, sah den Kampf ihrer Tochter mit Enkelkind und Telefon und fühlte sich keineswegs bemüßigt, helfend einzugreifen. Sie lächelte freundlich bis gütig, ohne Blumenkübel, und ging vorbei in Richtung Küche. Jennifer sah ihr fassungslos hinterher. Jonte ließ den Tränen noch ausdrucksstärker freien Lauf und schlug ihr mit beiden Handflächen auf die Nase. «Du kleines Biest!», fauchte Jennifer. «Lass das!»

«Wer, ich?»

«Kommen Sie endlich zum Punkt, Faltermeyer. Sie hören doch, was hier los ist!»

«Ich dachte, bei Ihnen läuft der Fernseher.»

«Bei wem, Herr Kollege, läuft um diese Zeit der Fernseher? Und was soll das denn für ein Programm sein? Anarchie zum Apfelsaft? Chaos zum Kakao?»

«Bei mir. Bei mir läuft der Fernseher. Ich hab immer den Fernseher an. Weil es sonst so still ist. Gesche sagt ja nicht viel, und das mit den Selbstgesprächen hab ich aufgegeben.»

«Lucy!», brüllte Jennifer. «Komm endlich runter und kümmere dich um dein Kind!»

«Ich verstehe.» Der Polizeiobermeister räusperte sich lautstark. «Ich rufe ungelegen an.»

«Herrgott, was ist denn passiert?» Jennifer schwitzte, mitten im November, der Rücken tat ihr weh, der linke Oberarm, sie sehnte sich nach einer Dusche, einer Zeitmaschine – und dann begann man eben noch mal von vorn. Mit dem Tag. Dem Leben.

Jonte beruhigte sich abrupt und zeigte fordernd auf den Frühstückstisch. Jennifer verstand. Sie griff in den Brotkorb und stopfte ihm eine Scheibe Weißbrot zwischen die Kiemen, ungesund war das, Jonte schmiegte sich an sie und kaute mit allen vier Zähnen, die er hatte. So war er eigentlich doch ganz süß.

«Na ja», sagte Faltermeyer, «ich stehe hier mit dem Kollegen Dhonau, und wir … haben Sie Ihre Uniform schon an?»

«Ich ziehe doch nicht meine Uniform an, wenn ich freihabe. Das wäre ja vollkommen bescheuert. Wer tut denn so was?»

«Na ja …»

«Ich will’s nicht wissen, Herr POM. Warum? Was ist denn los?»

«Also, es ist nur, also, ich rufe Sie an, weil der KHK ja nicht da ist …»

«Es ist Samstag. Der hätte auch frei, wenn der da wäre.»

«Nein.» Faltermeyer seufzte. «Hätte der nicht.»

*

Der Morgen folgte einer abschreckenden Nacht. Sörensen hatte keinerlei Ruhe gefunden, mit weit aufgerissenen Augen im Bett gelegen und sich sein Scheitern in den buntesten Farben ausgemalt. Er hatte die kleine Meerjungfrau seiner Tochter Lotta fest umklammert, Auffahrunfälle vorausgesehen, für die in Hollywood Stuntmen engagiert worden wären, hatte Lottas enttäuschtes Gesicht vor sich gesehen, wenn er nach seiner kurzen Stippvisite weiterfuhr, den ewigen Stachel verspürt, nicht gerade ein Vorzeigevater zu sein, dann wieder Leitplanken, Tod, Trauer und die eigene Beerdigung, zu der nur sein Vater kommen würde, im Rollstuhl, vielleicht auch noch Jennifer, sie würde eine Träne verdrücken, ganz gewiss, Jennifer und die Polizeiobermeister Dhonau und Faltermeyer, der sein geliebtes Absperrband um die Grabsteine herumflechten würde, um Sörensen noch im Tod von der Menschheit zu isolieren.

Die Nacht war stetig vorangeschritten, die Sorge übernahm, nicht fit genug zu sein für die große Fahrt, jetzt aber auch wirklich schlafen zu müssen, um wenigstens noch auf fünf Stunden zu kommen, auf vier, auf drei, dann wurde die Weckzeit verschoben, erst um eine Stunde, dann um noch eine. Nur, damit Sörensen um sechs Uhr immer noch wach war und beschloss, endgültig aufzustehen. Hatte er eigentlich sein Medikament eingepackt? Das fehlte ihm gerade noch, irgendwo in der österreichischen Mondlandschaft zu stehen ohne sein Antidepressivum. Er schwang sich auf, war nassgeschwitzt, kontrollierte den Koffer, den Kulturbeutel, sicher nicht zum ersten Mal, bemerkte enorme Körperschwere, legte sich noch einmal hin, ganz kurz, und stand um halb acht wieder auf. Gerädert, geknickt und im Begriff, alles abzusagen. Gar nicht erst loszufahren. Spätestens in Kassel würde er eingeschlafen sein. Hinterm Steuer, bei voller Fahrt. Das durfte man doch nicht riskieren? Durfte man?

Aber Lotta wartete auf ihn. Mehr oder weniger um die Ecke. Kein Argument konnte schwerer wiegen. Er stand also auf, fühlte sich wie schlecht gelebte fünfundachtzig, wünschte sich, jemand würde ihm den Führerschein wegnehmen, putzte sich die Zähne, aß eine Banane auf Vollkornbrot, fütterte den Hund, nahm das Citalopram gegen die Angst, zehn Milligramm, immer noch, entsorgte den Müll und schloss den Koffer. Vielleicht nicht unbedingt in dieser Reihenfolge, aber irgendwie automatisch, es war ein gehirntotes Abhaken und Funktionieren, dass es die pure, untote Freude war. Er stiefelte mit Cord auf den Deich gegenüber, begrüßte Regen und Wind wie alte Bekannte, ließ die Witterung seine Gesichtswäsche übernehmen, starrte in das Geduckte, Niedergedrückte des menschenleeren Koogs vor sich und griff sich an die Brust. Ging. Keine besondere Enge, keine Einschränkung. Wenigstens die Atmung funktionierte. Konnte man machen. Konnte man drauf aufbauen.

Als er den Passat belud, war er schon ein wenig enttäuscht, dass niemand Notiz davon nahm, nicht einmal die Nachbarn in den Pensionen und Wohnhäusern um ihn herum, die er sowieso nie zu Gesicht bekam. Es war deprimierend, dass es keinen Unterschied machte, ob er da war oder nicht, dass der Wind einfach so weiterpeitschte, der Regen die Grashalme bog. Nichts und niemand hielt inne, es gab kein Bedauern, keine guten Wünsche, keine Vorfreude auf sein Wiederkehren. Seine kleine Welt zuckte nur mit den Schultern und zersetzte sich eben ohne ihn weiter. Er überlegte, Jennifer anzurufen, so zum Abschied, sie einfach mal zu fragen, was sie so vorhatte, an diesem grauen Wochenende, ob es ihr gut ging, aber er ließ es bleiben. Sie hatten sich geschrieben, gestern Abend erst, er hatte Urlaub, sie hatte Urlaub. Von ihm. Das musste man respektieren. Jeder ging jetzt seines Weges. Erst einmal. Er würde Berge sehen. Hurra.

Er schnallte Cord auf dem Rücksitz in seinem Geschirr an und fuhr los, ohne Blick zurück, schon an der ersten Straßenbiege hätte er am liebsten umgedreht und sich zu Hause eingeschlossen, hoffentlich hatten die überhaupt Netflix, da in den Bergen, hoffentlich gab es Pizza, Pizza Hawaii ohne den Schinken und die bescheuerte Ananas, und mit Hawaii hatte die ja sowieso so viel zu tun wie mit den Bergen, und erfunden hatte die ein Grieche, der in Kanada lebte. Es war alles so verwirrend.

Sörensen durchquerte das Zentrum von Katenbüll, na ja, Zentrum, fuhr an diesem komischen Gebrauchtwagencenter vorbei, an der Kirche von Pastor Freudig, deren Tore geöffnet waren, der Tankstelle von Töns Gregersen, hinter dessen Tresen nichts von Ole Kellinghusen zu sehen war, dann kam auch schon das Ortsschild, lag Katenbüll hinter und die große weite Welt vor ihm. Durchatmen, beruhigen, weiterfahren. Die schweren Augenlider reiben.

Felder. Windräder.

Überraschende Kurven, endlose Geraden.

Absolute Reizarmut.

So wohltuend wie ermüdend.

Zusätzlich ermüdend.

Er passierte Husum, fuhr über die Landstraße in Richtung Tönning, aus der Landstraße wurde Autobahn, er gab Gas und wurde langsam zuversichtlicher. Lotta. Er würde Lotta wiedersehen. Jedes Mal aufs Neue war er nervös. Würde sie ihn überhaupt erkennen? Hatte sie ihn noch gern? Oder vielleicht sogar lieb? Wie endlos mussten sich die Monate zwischen ihren Begegnungen dehnen für ein Kind, das nur im Moment lebte. Er würde ein Fremder sein. Von vorne anfangen müssen.

Der Passat schnurrte wie ein Neuwagen, Cord schlief, Sörensen griff nach einer selbst gebrannten CD aus dem Seitenfach, die ohne Hülle auf ihren Einsatz wartete. Don’t Stop von Bloodstone. Schwarze Musik aus den Siebzigern beruhigte und beschwingte ihn, Funk und Soul gaben ihm ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit. Er brauchte das. Gerade hier und jetzt.

Er kam an Itzehoe vorbei, es war nicht mehr weit bis Hamburg, er hoffte auf ein Frühstück, ein Frühstück ohne Achim, aber Achim war wohl Teil des Büfetts, er fragte sich, wie er wohl sein mochte, der neue Freund von Nele, ob er besser aussah als er und damit Neidgefühle hervorrief, oder ob er langweilig war, bürgerlich bieder, und dadurch Unverständnis erzeugen würde. Unverständnis und die Frage, wie Nele sich an so jemanden verschwenden konnte. Ja, Sörensen pflegte die Oberflächlichkeit, zumindest in Sachen Beziehung, und er gefiel sich darin. Man konnte nicht immer differenziert sein.

Die Stadtgrenze zu Hamburg, ein kurzes Stück auf der A7, die Ausfahrt Stellingen, der Weg in die Innenstadt. Sörensen fädelte unsicher in den Berufsverkehr ein wie ein ungünstig abgebogener Tourist aus Papua-Neuguinea, er hatte sich erstaunlich schnell an die zwei, drei Pkw gewöhnt, die einem rund um Katenbüll, kurz vor der dänischen Grenze, im Laufe eines Vormittags so begegneten – das war jetzt sein Rhythmus, seine Erlebniswelt, Hamburg war ihm fern geworden –, dann war er auch schon in Winterhude, einer feinen Gegend, in der die Leute wohnten, die es zu etwas gebracht hatten. Sörensen hatte sich letztes Mal bereits gewundert, wie die Physiotherapeutin Nele sich hier eine Wohnung leisten konnte, aber vielleicht war ja Achim der Grund, Achim der Rechtsanwalt, Achim der Chefarzt, Achim der Besitzer eines börsennotierten Biotechnologieinnovationszentrums, was wusste man schon? Sörensen fühlte sich automatisch unterlegen, nur weil er eine Welt betrat, die nicht von Brötchenhälften und Filterkaffee beherrscht wurde. Hier trank man Cappuccino. Mit Hafermilch. Er befuhr das Wohngebiet, zwei links, zwei rechts, eins fallen lassen, hielt gegenüber der weißen Fassade zu Neles dreistöckigem Haus, an derselben Stelle wie beim letzten Mal, als er sie kurz vor Ostern überrascht hatte und naturgemäß abgewiesen worden war. Nur weil es halb acht gewesen war. Morgens. An einem Schultag.

Er stieg aus, öffnete die linke der hinteren Türen und schnallte Cord ab, ließ ihn mit seiner Zunge einmal über die Bartstoppeln wischen, dann richtete er sich mühsam auf, der Rücken, herrje, und betrachtete die gepflegte Fassade, die glänzende Tür, die frisch gestrichenen Fenster. Hamburg, meine Perle. Ein Haus in Weiß, so würdevoll wie hochherrschaftlich, mit Erkern, schwarz eingefassten Balkonen, verschnörkelten Verzierungen und mehr als einem Hauch architektonisch-blasierter Arroganz.

Er überquerte mit Cord die Straße, trat unrund auf (der schlecht verheilte Bänderriss), ertappte sich beim falschen Atmen und sog Luft ein, mit gespitzten Lippen, ließ sie langsam entweichen, Kontrolle war wichtig, Kontrolle beim Atmen, Kontrolle beim Denken. Der Vorgarten gab sich keine Blöße, war wie aus dem Katalog geklöppelt, klein, aber opulent, Löwenberg stand unter einem der goldenen Klingelknöpfe, Nele und Lotta Löwenberg. Niemand hieß hier Sörensen, es war schmerzhaft, aber richtig.

Er klingelte und sah auf die Uhr. Kurz vor zehn. «Moin», erklang Neles Stimme aus der Sprechanlage. «Du bist ja zeitig unterwegs.»

«Mutig», sagte Sörensen. «Also, von dir jetzt. Vielleicht bin ich das ja gar nicht. Also, Sörensen, meine ich. Vielleicht bin ich ja der Postbote. Mit ’ner Zahlungsaufforderung. Und du hast mich gerade geduzt, obwohl wir uns gar nicht kennen.»

«In Hamburg duzt man sich, weißt du doch. Da machen der Postbote und ich keine Ausnahme.»

«Ich bin in Hamburg geboren, Nele. Ich hab schon Leute geduzt, da warst du noch nicht mal ein Pronomen. Wie heißt der denn, der Postbote?»

«Franjo. Hübscher Kerl.»

«Ich nicht.»

«Kannst trotzdem reinkommen. Geradeaus durch den Hausflur, hinten wieder raus, wir sind in der Remise.»

Ach so, dachte Sörensen irgendwie erleichtert, man residierte gar nicht im Schloss, man bewirtschaftete die Scheune, schlief vermutlich ohne Heizung im Stroh. Die Tür summte, er drückte sie auf und ging durch einen nach Flieder duftenden Flur, der frisch gebohnert schien, keine Striemen an der Tapete, kein Körnchen Erde in den Ecken, einfach nur gepflegte Sterilität, instand gehalten von beflissenen Dienstboten, die jeden Krümel mit der Pinzette einsammelten und danach einzeln zum Kompost geleiteten. Sörensen war mehr so der Typ Knitterhemd und vergessener Frühjahrsputz, er war froh, hinten wieder herauszudürfen. Als er den mit wuchtigen Blumenkübeln zugestellten Hinterhof betrat, stürmte ihm etwas entgegen, das kaum größer als ein Butterkeks war, aber mindestens genauso süß.

«Papa!», rief Lotta und sprang ihm auf den Arm. Rücken, dachte Sörensen, Bandscheibe. Und freute sich.

«Ja, Mensch», sagte er und blinzelte die Rührung weg. «Bist du schon wieder groß geworden. Ist ja blöd, wenn das immer alle sagen, ne? Aber wenn es doch stimmt? Fällt einem dann halt so auf, ne?»

«Hier wohnen wir!» Lotta schüttelte die braunen Locken, die sie mit ihrer Mutter teilte, und zeigte auf eine wirklich übersichtliche, schlichte, zweistöckige Remise, die oben und unten vielleicht sechzig Quadratmeter maß. Zusammen. «Ich will dir mein Zimmer zeigen! Dir und Cord!»

«Und ich will das sofort sehen.» Sörensen ließ seine Tochter herunter. «Aber erst mal Mama Hallo sagen, ne?»

Nele stand an der Tür, lehnte im Rahmen, hatte die Arme verschränkt und lächelte. Sie sah frisch aus, durchtrainiert und hübscher denn je, die dunklen Locken reichten nun fast den ganzen Rücken herunter, was ihr etwas Wildes, Unangepasstes gab. Sörensen seufzte innerlich und grinste äußerlich. «Gut siehst du aus», sagte er. Das war in Ordnung, das war unverfänglich.

«Du siehst auch aus.» Sie deutete eine Umarmung an, ohne sie zu Ende zu bringen. «Komm rein.»

Sörensen betrat ein Reich, das nicht seines war, kam sich vor wie der Eindringling in eine Welt, die nur deshalb heil war, weil er kein Teil davon war. Im winzigen Flur hing ein Bild von ihm an der Wand, ja, wirklich, ein Bild von ihm und Lotta im Zoo, im Hintergrund schaute ein Orang-Utan um die Ecke. Lotta war noch nicht in dem Alter gewesen, wo sie die Tragik dahinter erkannt hätte, sie beide lachten wie ein glücklicher Vater mit glücklichem Kind, ungeachtet dessen, was bei Sörensen bereits damals im Verborgenen vonstattengegangen war. Er erkannte Möbelstücke wieder, die in ihrer gemeinsamen Wohnung gestanden hatten und zu denen er einen plötzlichen Bezug aufbaute, den er vorher nie gehabt hatte. Die Garderobe, die Truhe, das wirklich furchtbar kitschige Bild mit der Skyline New Yorks, einem Sehnsuchtsziel Neles, zu dem sie es nie gemeinsam geschafft hatten.

«Willst du was frühstücken?», fragte sie und nahm ihm die Jacke ab.

«Ach, vielleicht höchstens so ein … muss nicht.»

«Tee? Oder Kaffee?»

«Tee», sagte er. «Unbedingt Tee. Also, morgens. Morgens immer Tee. Außer, wenn keiner da ist. Dann natürlich Kaffee. Mit Milch. Den Kaffee. Den Tee nicht. Tee mit Milch, bah.»

«Hier geht’s lang», sagte sie, während Lotta an Cords Fell hing und gar nicht wieder loslassen wollte. «Aber nicht erschrecken.»

Sörensen wappnete sich. Jetzt würde sie also folgen, die Begegnung, die Prüfung, das Duell, dem er mit einer gewissen Skepsis begegnete. Konnte man einer Begegnung überhaupt begegnen? Oder hob sich das gegenseitig auf? Egal. Er nahm sich vor, stark und souverän zu sein. Sympathisch und empathisch. Anders konnte er hier nichts und niemanden gewinnen. Keinen Achim. Und vor allem keine Nele.

Österreich

Die Leiche baumelte an einem Abschleppseil, das um einen Arm der ganz nach oben gefahrenen Hebebühne geschlungen war, die Füße berührten fast den Boden, sie pendelte dezent hin und her wie ein Sandsack im Durchzug, da war keine Körperspannung, kein Widerstand, der Kopf war abgeknickt und lag resigniert auf der Brust. Eine kleine rote Pfütze hatte sich unter dem Toten gesammelt.

«Ach, Mensch.» Jennifer schloss für einen Moment die Augen. Nein, die Leiche war immer noch da. Keine Einbildung, kein Irrtum, kein LSD im Kaffee, auch wenn ihrer Mutter alles zuzutrauen war.

«Hubhöhe zwei Meter», sagte der Automechaniker, der sie in die Werkstatt gelassen hatte. «Die mussten das Seil ganz schön knapphalten. Und wenn der Kollege hier nur etwas größer wäre, hätte der sich trotzdem einfach hinstellen können. Aber so … ich meine, da entscheiden fünf Zentimeter Körperwuchs über alles, ne? Vielleicht hat der ja geraucht. Also, als Teenager schon, und dann ist der nicht mehr genug gewachsen. ‹Rauchen kann tödlich sein› steht auf den Packungen. Aber ob die das so gemeint haben?»

Jennifer betrachtete den Mann neben sich forschend. Er mochte vielleicht dreißig Jahre alt sein, trug einen wieder modern gewordenen Schnurrbart und hatte sich das schwarze Haar mit einer Überdosis Gel zurückgekämmt. Vielleicht war es auch Motoröl.

«So richtig geschockt sind Sie ja nicht», stellte sie fest.

«Hab zu viele Filme gesehen», sagte der Mann trocken. «Vielleicht lese ich mal ein Buch.»

«Das wäre auch gut fürs Gehirn. Soll man ja immer mal trainieren, so ein Gehirn.» Polizeiobermeister Dhonau, hoch aufgeschossen, schlank, unsportlich, zwinkerte, machte Fotos von der Leiche und wirkte fast ein wenig zu gelassen dabei. Bei ihm schien der Polizistenschnurrbart weit weniger modern, eher wie ein Relikt aus dem Jahrzehnt ärmelloser Netz-T-Shirts und Zauberwürfel. Sein Kollege Faltermeyer jedenfalls konnte von Dhonaus guter Laune nur träumen, ihn zwangen Alter und Gewicht immer mehr in die Knie, körperlich und seelisch. Er zog sein Absperrband rund um die Hebebühne. Langsam, sehr langsam. Aber hier gab es wenigstens keine Probleme mit der Befestigung.

Jennifer sah zu der Leiche hinauf. «Ich mag nicht mehr», sagte sie resigniert. «Immer ist irgendwas. Nie ist einfach mal nix.»

Der Mechaniker nickte. «Ich weiß, was Sie meinen. Bin eigentlich hergezogen, weil mir Frankfurt zu aggro war. Geh in den Norden, hieß es. Da gibt es Schafe, hieß es. Und frische Luft. Ich hab ja Asthma.»

«Und dann in der Werkstatt mit all den Abgasen, oder was?»

«Kann man sich nicht immer aussuchen.»

«Nee», seufzte Jennifer. «Mir passt das hier auch gerade gar nicht.»

«Ach, es gibt Momente, wo das passt?»

«Nein, ich meine nur, weil … also, unser KHK hat Urlaub.»

«Kaha was?»

«Kriminalhauptkommissar. Sörensen heißt der.»

«Wer hat denn im November Urlaub?»

«Was weg muss, muss weg.» Jennifer zückte Notizblock und Kugelschreiber und begann mit dem Datum. «Ist das eigentlich so… also, betrachtet man die Schiene, an der der hängt, jetzt aus der Sicht des Opfers oder aus unserer Sicht?» Sie sah abwechselnd zu den Polizeiobermeistern und dem Toten hinauf. «Also, nur wegen des Protokolls … hängt der an der rechten oder der linken Schiene? Sagt man da überhaupt Schiene? Da, wo die Reifen von dem Auto draufstehen? Oder Spur?»

«Keine Ahnung», sagte Faltermeyer.

«Hab ich noch nie drüber nachgedacht», sagte der Mechaniker. «Gleis. Hätte ich jetzt gesagt.»

«Das ist doch kein Gleis.» Jennifer schüttelte angewidert den Kopf. «Da oben fährt doch kein Zug. Eine Schiene ist das.»

«Ach so, und Züge und Schienen haben natürlich nichts miteinander zu tun, oder was?»

Jennifer murmelte Unverständliches und suchte nach einer klaren Linie, einer Schiene zum Dahingleiten. «Sie haben mir noch gar nicht gesagt … wer sind Sie denn überhaupt?»

«Schulz. Sturmhart.»

«Schön für Sie», sagte Jennifer. «Und der Vorname?»

«Sturmhart. Bitte, ich hab alle Witze über diese Scheißidee meiner Eltern gehört. Lassen Sie’s einfach.»

Jennifer grinste und nahm es sofort wieder zurück. Das hier war nicht der Ort für ein Grinsen. «Können Sie sich mit dem Sörensen zusammentun. Unser KHK hat das gleiche Problem. Sind Sie denn das S von S+M Automobile?»

«Nee, bin nur angestellt. Weiß gar nicht, wo der Chef ist. Oder wann der kommt.»

«Wie heißt der denn?»

«Staupe. Manfred. Der ist das S und das M. Bisschen schizo, ne? Den Laden dann so zu nennen?»

«Aber die Leiche, die haben Sie gefunden, ja?»

«Ja, sicher, sonst hätte ich Sie ja nicht angerufen. Also, Ihr Revier. Da ist echt der Anrufbeantworter rangegangen. Was wäre denn gewesen, wenn es dringend gewesen wäre?»

«Dann hätten Sie die 110 angerufen und nicht auf dem Revier.»

«Und wer wäre dann nicht gekommen?»

«Die Kollegen aus Husum. Oder wer halt sonst so gerade nicht in der Nähe gewesen wäre.»

«In Osterbüll gibt es noch Kollegen», sagte Dhonau. «Die waren aber bestimmt auch nicht in der Nähe.»

«Irgendwer wäre auf jeden Fall gekommen», sagte Jennifer streng. «Früher oder später. Wie war das denn jetzt mit Ihnen und der Leiche?»

«Na ja.» Sturmhart Schulz überlegte. «Ich bin hierher, da ist die Garage offen, trotz Regen und Sturm und so. Hab ich aber nicht aufgelassen, und ich war gestern der Letzte hier. Und dann hängt der da.»

«Haben Sie was angefasst?»

«Nur den Lichtschalter und mein Telefon.»

Jennifer bemerkte, wie fahrig sie war. Wie unruhig. Dabei hatte sie sich immer gewünscht, mehr Verantwortung zu tragen. Ernst genommen zu werden. Als Polizistin. Als Mensch. «Tja», sagte sie. Drei Buchstaben als Ausdruck der Ratlosigkeit.

«Wollen Sie denn nichts machen?», fragte der Automechaniker. «Ich mein, der hängt da so rum. Vielleicht ist der ja auch gar nicht tot.»

«Meinen Sie?» Jennifer erschrak und trat näher an den Körper heran, bis sie ihn fast mit der Nasenspitze berührte und horchte. «Doch, der ist tot.»

«Mal abhängen?»

«Nee», brummte Faltermeyer. «Der muss da bleiben, wo er ist. Das macht die Spusi.»

«Genau», sagte Jennifer erleichtert. «Die rufe ich. Die Spurensicherung.»

«Gut.» Der Polizeiobermeister war fertig mit dem Absperrband und betrachtete zufrieden das Ergebnis. Hier waren alle Grenzen gesetzt, es gab nun ein Innerhalb und ein Außerhalb. Und er alleine würde bestimmen, wer wohin gehörte.

«Der KHK hätte nach der Spusi wahrscheinlich den EKHK in Flensburg angerufen», sagte er. «Damit der EKHK in Flensburg dem KHK sagen kann, dass er leider keine Zeit hat. Und keine Leute. Und dass der KHK alleine ermitteln soll, weil er ja mal beim LKA war. Dann hätte der KHK sich noch ein bisschen gesträubt und dann die Sache in die Hand genommen, allein schon, weil das ja in der Regel die Geschichte vom KHK ist und nicht die vom EKHK oder der KOKin oder der POMs.»

«Ich war ja mal beim ADAC.» Sturmhart Schulz kratzte sich am Schnurrbart. «Hilft das?»

Sturmhart

Ja, gut, ich hab das jetzt halt so wegmoderiert, ne? Hier ein Spruch, da kurz gegrinst, schön breitbeinig und selbstbewusst, weiß eigentlich gar nicht, warum man das so macht. Kann man ja auch lassen. Einfach mal zugeben, dass das ein Schock ist. Wenn man so ’ne Leiche findet. Aber irgendwie ging das nicht. Man ist ja auch nur das erste Opfer seiner eigenen Vorgeschichte, und in dem Block, in dem ich aufgewachsen bin, war Schwäche zeigen die Aufforderung, eins in die Fresse zu bekommen. Oder abgestochen zu werden. Aus dem zwölften Stock gehalten zu werden, an den Füßen.

Und dann die Polizistin. Spätestens als ich die gesehen hab, musste ich natürlich cool bleiben, vielleicht lade ich die ja mal zum Essen ein, oder man sieht sich auf dem Schützenfest oder so. Die steht bestimmt nicht auf so Lastenradfahrer, die bei jedem Toten gleich ’ne Erektionsstörung kriegen. Ich mein, für die ist das ja Alltag. Obwohl, so richtig souverän war die jetzt auch nicht.

Trotzdem: war schon scheiße. Von wegen zu viele Filme gesehen und abgestumpft, das hat aber mal echt nichts mit Film zu tun, so was Echtes. Allein der Geruch. Der hat eingeschissen, kurz vor seinem Tod. Oder danach. So als letzter Kommentar zu seinem ganzen verkackten Leben. Keine Ahnung. Muss krass sein, wenn du als Letztes merkst, dass du stirbst. Da hat der halt Schiss gekriegt. Ha, Schiss gekriegt.

Genau. Vielleicht kommt die Polizistin ja noch mal wieder, dann frage ich sie nach einem Date. Die war echt ganz süß. Bisschen älter als ich, glaube ich. Ist aber egal. Wenn du dich schon in die letzte Absteige vor Alaska katapultiert hast, musst du halt nehmen, was du kriegen kannst. Klingt das herzlos? Meine ich nicht so. Ich hab einfach zu viele falsche Entscheidungen in meinem Leben getroffen, vor allem in Sachen Frauen, da wird man so ein bisschen zynisch. Man muss sich ja schließlich selbst aushalten.

Der Chef hat am Telefon wieder nur rumgeschrien, was denn die Scheiße soll und ob ich gestern nicht richtig abgeschlossen hab, wie die überhaupt reingekommen sind und wer das repariert und bezahlt und warum die den nicht woanders aufgeknüpft haben, zum Beispiel im Rathaus bei den ganzen Versagern von der Politik, da hätten die mal ein Zeichen setzen können, was der Staat mit den einfachen Leuten macht und so weiter. Ich weiß jetzt nicht, was genau der Staat mit dem Rathaus hier in Katenbüll zu tun hat, aber ich hab nicht widersprochen. Wenn du bei dem Chef widersprichst, öffnest du aber mal das ganz große Garagentor. Da kommt der dann mit dem Trecker durch und macht alles platt. Außerdem interessiere ich mich nicht für Politik. Ich interessiere mich für Motoren. Die schreien dich nicht an, und die belügen dich auch nicht.

Es wäre leicht zu sagen, wäre ich mal in Frankfurt geblieben. Aber da war auch schon alles scheiße. Wie gesagt, zu viele falsche Entscheidungen, zu viele Leute am Straßenrand liegen gelassen und dann noch mal draufgetreten. Egal. Hat ja hiermit nichts zu tun. Und interessiert auch keinen. Nur so viel: Du wirst vielleicht in Katenbüll geboren und kommst da nicht mehr weg. Aber niemand zieht freiwillig her. Und ich bin halt trotzdem hier. Wie mein Chef. Wie die Polizistin. Nur der mit dem Strick, der hat’s hinter sich. Arme Sau. Aber morgen ist Sonntag, dann wird aufgeräumt, und am Montag kommt Kundschaft und lässt sich die Winterreifen aufziehen und die Sitzheizung reparieren. Am Dienstag ist das Thema durch.

Ähnlich wie in Sörensens Kate waren Küche und Wohnzimmer bei Nele eins, gingen ineinander über. Der Raum war hübsch eingerichtet, aber angemessen chaotisch, Spielzeug lag herum, Erstlesebücher, auch Haarbänder, Socken und Tücher. Sörensen trat auf einen Playmobilelfen, der spontan einen Flügel verlor. Cord interessierte sich nicht für zertretenes Plastik und schaffte es zielsicher, jedem spitzen Ungemach auszuweichen.

«Mann, Papa», sagte Lotta im mauligen Ton ihrer Mutter. «Kommst rein und machst alles kaputt.»

«Also wie immer», sagte Sörensen. «Entschuldige. Baue ich gleich wieder zusammen.»

Und schon hatte er es vergessen. Denn am Küchentisch, der sich auf halbem Weg zwischen Spüle und Sofa befand, saß jemand vor einem Becher dampfenden Kaffees, den Laptop aufgeklappt, und sah ihn an. Eine Frau. Eine ausgesprochen hübsche, mit langen braunen Haaren, großen grünen Augen und einem schmalen Gesicht, das ein wenig misstrauisch, aber sympathisch wirkte. Sie war ungefähr in Neles Alter.

«Moin», sagte Sörensen verwundert. Das war nicht das, was er erwartet hatte.

«Moin», sagte auch die Frau, stand auf und gab ihm die Hand. «Sie müssen der Mann ohne Vornamen sein.»

«Korrekt», sagte Sörensen, während Nele ihm mit einer Geste zu verstehen gab, sich hinzusetzen. «Können aber ‹Du› sagen. Also, wir. Trotz ohne Vornamen.»

«Ich find den eigentlich gar nicht so übel. Hat mir Nele verraten. Ist doch okay, oder?»

Sörensen ließ sich nieder und nahm zufrieden zur Kenntnis, dass Lotta keine Sekunde brauchte, um auf seinen Schoß zu klettern. «Wunder Punkt», sagte er und grinste. «Wie ist denn deiner?»

«Das ist Achim», krähte Lotta und zog Sörensen am Ohrläppchen.

«Nee. Im Ernst jetzt.»

«Achim», sagte die Frau, setzte sich ebenfalls wieder hin und klappte den Laptop zu. «Ich bin Achim.»

«Bist du nicht», sagte Sörensen. «Achim ist ein Mann und Mitte fünfzig. Chefarzt ist der, in irgendeiner Klinik, weiß ich nicht, Zahn- oder Brustersatz. Oder Rechtsanwalt, der denen mit dem Brustersatz beim Verklagen hilft. Vielleicht hat der auch ein Marktforschungsinstitut, auf jeden Fall hat der teure Klamotten, die man nicht im Internet bestellt, und ’nen Vollbart, der immer dichter wird, je mehr die Haare sich zurückziehen. Also, die oben. Die unten werden natürlich mehr. Und, äh, einen Bauchansatz hat der, obwohl der dreimal die Woche Tennis spielt, aber den kann der sich leisten, den Bauchansatz, weil der nämlich richtig viel Geld hat, der Achim, und im Sommer fliegt der mit dem Privatflugzeug nach Mallorca und kümmert sich in seiner Finca um die Lipizzaner und die Koi-Karpfen.»

«Was?» Sie lachte, vermied aber Augenkontakt. «Nein, nein. Ich bin Achim. So heiße ich schon, seit ich klein bin.»

«Warum? Du bist doch eine … nein?»

«Doch», sagte Achim. «Ich bin eine Frau.»

«Aha.»

«Ich heiße eigentlich Aileen. Aber als Kind hab ich nicht ausgesehen wie Aileen. Also haben die anderen irgendwann Achim gesagt.»

«Kinder sind grausam.»

«Nicht nur Kinder.»

«Aber heute siehst du schon aus wie Aileen.»

«Tja, zu spät.»

«Moment mal.» Bei Sörensen sickerte es langsam durch. Er sah Nele an, die mit dem Kochen des Tees ausgelastet schien und ihm den Rücken zuwandte. «Das ist Achim? Wir haben die ganze Zeit über diesen … diese Achim geredet?»

Nele drehte sich um und bebte vor Schadenfreude. «Ganz genau. Du müsstest dich mal sehen, Sörensen. Manchmal ist die Erde eben doch eine Scheibe.»

«Und ich bin über den Rand gefallen, oder was? Das hättest du mir doch sagen müssen.»

«Hätte das denn einen Unterschied gemacht? Ob Mann oder Frau?»

«Na klar macht das einen Unterschied. Jetzt nicht im Detail, oder gerade im Detail, weiß ich nicht, was man da heute so sagt, wenn man da korrekt … äh, aber für mein Empfinden macht das schon einen Unterschied. Wenn Lotta hier jetzt plötzlich ein Junge wäre, dann würde ich ja auch denken, äh … nein?»

«Aber liebhaben würdest du sie dann schon, oder?»

«Ihn.»

«Aber liebhaben würdest du ihn dann schon, oder?»