Sörensen hat Angst - Sven Stricker - E-Book
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Sörensen hat Angst E-Book

Sven Stricker

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Beschreibung

«Sörensen hat Angst» - auch als Film (ARD) von und mit Bjarne Mädel - der «Tatortreiniger» mit seinem Regiedebüt! Mit einer Angststörung im Gepäck lässt sich Kriminalhauptkommissar Sörensen von Hamburg nach Katenbüll in Nordfriesland versetzen. Er hofft, dass der kleine Ort ihm ein ruhiges, beschauliches (Arbeits-)Leben bescheren wird. Doch Katenbüll ist grau und trostlos, es regnet ununterbrochen, die Einheimischen haben nicht gerade auf Sörensen gewartet. Und es kommt noch schlimmer. Gleich nach Sörensens Ankunft sitzt Bürgermeister Hinrichs im eigenen Pferdestall, so tot wie die ganze Umgebung. Schon die ersten Blicke hinter die Kleinstadtkulisse zeigen dem Kommissar: Hier kann man es wirklich mit der Angst bekommen.

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Sven Stricker

Sörensen hat Angst

Kriminalroman

 

 

 

Über dieses Buch

Tod am Koog

Mit einer Angststörung im Gepäck lässt sich Kriminalhauptkommissar Sörensen von Hamburg nach Katenbüll in Nordfriesland versetzen. Er hofft, dass der kleine Ort ihm ein ruhiges, beschauliches (Arbeits-)Leben bescheren wird. Doch Katenbüll ist grau und trostlos, es regnet ununterbrochen, die Einheimischen haben nicht gerade auf Sörensen gewartet. Und es kommt noch schlimmer. Gleich nach Sörensens Ankunft sitzt Bürgermeister Hinrichs im eigenen Pferdestall, so tot wie die ganze Umgebung. Schon die ersten Blicke hinter die Kleinstadtkulisse zeigen dem Kommissar: Hier kann man es wirklich mit der Angst bekommen.

 

«Mit Sörensen wird man gern nass, weil der Humor trocken bleibt. Spannend ist das alles auch noch.» (Bjarne Mädel)

Vita

Sven Stricker wurde 1970 in Tönning geboren und wuchs in Mülheim an der Ruhr auf. Er studierte Komparatistik, Anglistik und Neuere Geschichte. Seit 2001 arbeitet er als freier Wortregisseur, Bearbeiter und Autor und gewann in dieser Funktion mehrmals den Deutschen Hörbuchpreis. Mit «Sörensen hat Angst» war Sven Stricker für den Glauser-Preis 2017 nominiert, die gleichnamige Verfilmung gewann 2021 den Deutschen Fernsehkrimipreis sowie den österreichischen Fernsehpreis Romy. 2022 wurde Stricker für das Drehbuch mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet. Er lebt in Potsdam und hat eine Tochter. 

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Januar 2016

Copyright © 2016 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Redaktion Tobias Schumacher-Hernández

Covergestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Coverabbildung Michael Ihle

ISBN 978-3-644-55241-8

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Juli

«Er beschloss, sein Leben zu ändern, die Morgenstunden auszunutzen. Er stand um sechs Uhr auf, nahm eine Dusche, rasierte sich, kleidete sich an, genoss das Frühstück, rauchte ein paar Zigaretten, setzte sich an den Arbeitstisch und erwachte am Mittag.»

Ennio Flaiano

Prolog

Das war aber auch ein verfluchtes, verdammtes Scheißwetter. Heiner Hinrichs trommelte genervt mit den Daumen auf das mit beiden Händen fest umklammerte Lenkrad. Seit Tagen, nein Wochen regnete es in Katenbüll aus vollen Kübeln. Die einstmals tröstend milde Septembersonne hatte sich dieses Jahr überhaupt noch nicht blicken lassen. Dafür peitschte der Wind mit höhnischem Geheule die Blätter von den Bäumen, das Meer befand sich in gespenstischem Aufruhr, der Koog war beinahe unzugänglich und ein einziger Morast.

Das war schlecht für die Stimmung, und es war schlecht fürs Geschäft. Und bald würde der Herbst das trübe Werk des Spätsommers vollenden und auch die letzten Touristen vergraulen. Hinrichs’ gerade mal acht Wochen alter Jeep sah aus wie nach einer mehrmonatigen Rallye durch Sumpfgebiet. Wieso gab es hier auch überall so viel Lehm? So viele unbefestigte Wege? Sie lebten doch nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert, verdammt noch mal. Das musste sich ändern, dafür würde er sorgen. Wozu war er schließlich Bürgermeister? Und wenn er jeden einzelnen seiner Wähler zum Steineklopfen schickte – am Ende würde der Asphalt glänzen, überall und vor allem dort, wo er unterwegs war. Im Sinne der Kinder und so weiter, irgendein Mist würde ihm da schon einfallen.

Der Oldie-Sender spielte Hotel California von den Eagles, der Scheibenwischer arbeitete in Höchstgeschwindigkeit gegen die grotesken Wassermassen an. Hinrichs seufzte. Oldie-Sender. Jetzt hörte er schon den Oldie-Sender. Genau den Kanal, den er noch vor ein paar Jahren gemieden hatte wie eine offene Bürgerversammlung. Der ihm so gestrig vorgekommen war, so verstaubt, so perspektivlos. Den nur hörte, wer die Vergangenheit der Gegenwart vorzog. Und jetzt? Jetzt war er einer von denen. Aber nur weil die anderen Radiostationen so ein unerträgliches Gejaule sendeten. Konnte er ja nichts für.

In der Dunkelheit wirkten die wenigen Lichter, die ihm begegneten, verschwommen, flackernd, schwer zu orten. Er kniff die Augen zusammen und beugte sich wie ein Fahranfänger vor, ganz nah an die Scheibe. «Verdammte Scheiße», fluchte er nicht zum ersten Mal. «On a dark desert highway», sang er dann bitter vor sich hin, «cool wind in my hair.» Jetzt nicht die Auffahrt verpassen. Sein Handy klingelte. Er fingerte danach. «Verdammte Scheiße», wiederholte er. Den Anrufer kannte er. Natürlich kannte er ihn.

«Was ist denn jetzt noch?», fragte er und legte die linke Hand mittig aufs Lenkrad. Ab und zu scherte sein Wagen aus oder wurde kurz langsamer, wenn er durch eine der zahlreichen Wasserlachen schlitterte.

«Ich glaube, da kommt ein Problem auf uns zu», sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung, die ungewohnt hektisch war.

«Was denn für ein Problem?», ächzte Hinrichs und riss das Lenkrad nach rechts. Da war sie, seine Auffahrt. Das sah aber auch alles gleich aus hier. Vor allem bei einer Sicht unter zehn Metern.

«Einer will reden», sagte die Stimme.

«Woher weißt du das?»

«Ich weiß es halt.»

«Dann hau mehr Kohle raus», befahl Hinrichs und würgte sein Auto direkt in der Einfahrt ab. Das Wohnhaus war dunkel. Der Junge lag natürlich längst im Bett, und seine Frau hatte sich wahrscheinlich bereits anderweitig die Lichter ausgeknipst. Wie üblich. «Oder droh ihm. Irgendwie hat das doch bisher immer geklappt.»

«Wir müssen aufhören», sagte die Stimme. «Es ist vorbei.»

Hinrichs öffnete die Fahrertür. Es war, als erfasste ihn die Sintflut. «Wann es vorbei ist, bestimme ich!», brüllte er, sprang kraftvoll in den Schlamm, versaute sich die Halbschuhe, die in Husum glücklicherweise nur fünfzig Euro gekostet hatten, und wuchtete seinen massigen Körper mit großen Schritten und auf Zehenspitzen wie ein übergewichtiger Balletttänzer unter den schützenden Vorbau des Pferdestalls. Er liebte den Geruch von nassem Heu, er liebte es, die Pferde atmen zu hören, ihr Scharren, ihre Trägheit, wenn sie sich wohl fühlten. Wenn es nicht so zugig wäre, würde er lieber hier als bei seiner Frau schlafen. «Alles Glück dieser Erde …», brummte er.

«Was?», fragte sein Anrufer.

«Nix.» Hinrichs hörte Bonnie schnauben, aus der hintersten Box links. Ausgerechnet Bonnie, die doch eigentlich nichts erschüttern konnte. Schon gar nicht Regen. Aber Bonnie war nervös. Dafür hatte Hinrichs einen Sinn.

«Ich meld mich wieder», sagte er und legte auf. Der Regen prasselte dumpf auf das Blechdach, das Heu dampfte. Bonnie scharrte mit den Hufen und krachte mit dem Hinterteil gegen das Gitter, als wollte sie ausbrechen. Hinrichs tastete sich in die Stallungen hinein und betätigte den Lichtschalter. Nichts passierte. «Verdammte Scheiße», fluchte er zum dritten Mal. Er glaubte eine Bewegung vor Bonnies Box wahrzunehmen, aber es war zu dunkel, um Genaueres erkennen zu können. Auch die anderen Pferde wurden nun unruhig, spürten die Spannung, die in Hinrichs’ Glieder kroch wie Schüttelfrost. «Ist da jemand?», rief er und ging breitbeinig auf die Box seines Lieblingspferdes zu. Er kam sich vor wie ein Cowboy. Oder ein Farmer. Er verspürte zwar ein wenig Angst, aber das hier war seine Ranch, und niemand würde es wagen, ihm diesen Ort streitig zu machen.

Lächerlich, dachte er dann. Was für ein lächerlicher Gedanke. Farmer. Cowboy. Ranch. Streitig machen. Ein Schatten bewegte sich, schien in einer Entfernung von etwa fünf Metern von links nach rechts durch das diffuse Bild zu gleiten. Er drehte sich um und suchte nach irgendeiner Waffe, einer Heugabel oder Ähnlichem. In diesem Moment krachte ein Schuss. Sein linkes Bein wurde weggerissen, er sackte auf die Knie. Es tat gar nicht so weh, wie er sich das immer vorgestellt hatte. So ein Einschuss hatte vor allen Dingen Wucht – und dann kam der Schock und unterband den Schmerz.

Hinrichs zitterte, merkte, wie sein Kreislauf schwächer wurde, wie das Blut austrat, wie sein Bein mit dem restlichen Körper nicht mehr verbunden schien. Auf Knien drehte er sich erneut um und sah dem Schützen direkt ins Gesicht. «Du?», fragte er fassungslos. Und grinste. Begriff, dass es ernst war, und ließ das Grinsen fallen. Zwei weitere Kugeln drangen in ihn ein. Den ersten Knall hörte er noch und dachte Ach? – dann gingen die Lichter langsam aus, wie durch einen Dimmer, in derselben Geschwindigkeit, wie der Boden sich näherte. Der Regen setzte zu einem letzten Trommelwirbel an, und noch bevor sein Kopf auf Stein aufschlug, war es in ihm endgültig dunkel geworden.

Erster Tag

Jeder flieht vor irgendwas

Sörensen stand im Stau, betrachtete seine feuchten Handflächen und ärgerte sich über sich selbst. Da hätte man nämlich drauf kommen können. Man hätte darauf kommen können, dass so ein früher Montagmorgen in der Mitte des Monats September vielleicht nicht der ideale Zeitpunkt für eine Fahrt an die Nordsee war. Ein gewöhnlicher Montagmorgen, kein Ferienmontagmorgen, auch kein Feiertagsmontagmorgen, einfach ein typischer, hemdsärmeliger Wochenanfang, an dem die allermeisten Arbeitnehmer das taten, was normale Arbeitnehmer an einem x-beliebigen Montagmorgen eben so taten: Sie setzten sich in Bewegung. Kreuz und quer, wie die Insassen eines ruckartig umgekippten Ameisenhaufens, aus allen Stadtteilen und Vororten nach Hamburg hinein oder aus Hamburg hinaus.

Man hätte also darauf kommen können, dass die Fahrt am Tag zuvor, einem ganz gewöhnlichen Sonntag, egal zu welcher Uhrzeit, wesentlich entspannter, nervenschonender und zeitsparender gewesen wäre. Sörensen fuhr sich mit der Hand durch das stetig schwindende Haupthaar und seufzte. Denn er war natürlich nicht darauf gekommen. Der HSV hatte noch das Sonntagabendspiel bestritten, und als das endlich vorbei und selbstverständlich verloren gegangen war, hatte die Uhr schon wieder halb acht gezeigt, und er hing ja nicht nur wie ein nasser Sack in seinem Fernsehsessel, sondern auch so sehr an Hamburg. Also hatte er es einfach nicht mehr aus der Tiefe seines Sitzmöbels auf die Gerade der A 23 geschafft.

Er nahm für einen Moment den Fuß von der Bremse, rollte zentimeterweise vorwärts und rieb sich die Augen. Er war um fünf Uhr aufgestanden, mit dem üblichen Druck auf der Brust, hatte um halb sechs das Gepäck in den alten Passat gewuchtet, sich um zehn vor sechs verschwitzt selbst hineingequält und war mit unscharfer Sicht und Augenringen bis in den Fußraum am Flughafen vorbei in Richtung A 7 aufgebrochen. Von dort hatte ihn der Weg auf die A 23 geführt, auf der er nun schon seit einer Viertelstunde kurz vor Halstenbek-Krupunder stand. Halstenbek-Krupunder!

Sörensen seufzte, sah die Zeit verrinnen, verspürte Hunger, Durst und eine sehr geringe Frustrationstoleranz. Laut Navi waren es noch zwei Stunden bis Katenbüll, es war sechs Uhr fünfzig, das würde eventuell und bei Vermeidung weiterer Kalamitäten gerade so hinhauen – allerdings sollte dann auch langsam mal Bewegung in die Sache kommen.

Kurz bevor sein Unmut autoaggressive Züge annehmen konnte, versuchte er die andere Seite zu betrachten, wie man es ihm geraten hatte. Vielleicht hatte es einen Unfall gegeben, dachte er. Das war bestimmt kein menschliches Versagen hier, sondern ein Unfall. Genau. Ein Unfall. Stand ja niemand freiwillig dumm in der Gegend herum. Schlimm war das. So ein Unfall. Viel schlimmer, als einfach nur sinnlos herumzustehen und sich selbst auf die Nerven zu gehen. Irgendjemandem da vorne ging es jetzt wahrscheinlich richtig schlecht. Vielleicht sogar mit Blut, Schweiß und Tränen und eingedrückter Windschutzscheibe. Da wollte er mal besser nichts gedacht haben. Und übte sich in Gleichmut, während seine Finger sich ins Lenkrad krallten. Es ging aber auch wirklich überhaupt nicht vorwärts, hier mal ein Meter, da mal ein Meter. Da konnte man nicht von Fortschritten reden. Sörensen bemerkte die Parallele zu seinem Leben und hob einen weiteren Keller für seine eh schon im Souterrain befindliche Laune aus.

Er betrachtete sich im Rückspiegel. Traurige, leicht gerötete blaue Augen, denen man die schlechte Zeit ansah, verstrubbelter, dunkelblonder Seitenscheitel, rundliches, jungenhaftes Gesicht, die Rasur vom gestrigen Abend war bestenfalls mittelgut gelungen. Hätte er doch besser mal das Licht angemacht im Bad. Sörensen blickte an sich herunter, wie um sich zu vergewissern, dass da trotzdem noch was zu retten war: Er trug Jeans und ein Sakko, das notdürftig ein altes, schwarzes T-Shirt mit V-Ausschnitt kaschierte, welches er immerhin gebügelt hatte. Der Bauch spannte im Sitzen etwas, dank seiner breiten Schultern wirkte das aber eher männlich als schlaff. Zum Anlehnen, hatte Nele immer gesagt. Dennoch, Sport tat Not. Langfristig gesehen. Er lächelte sich im Rückspiegel an: Wenn er grinste, erkannte er sich wieder. Und fand sich nicht komplett unsympathisch. Ach, Nele. Ach, Lotta.

Er zog ein Foto aus der Innentasche seines Sakkos, das er am letzten Heiligabend gemacht hatte. Nele, Lotta und er, lachend vor dem Weihnachtsbaum. Nele, die ihn mit gespieltem Teufelsblick umarmte, ausgelassen, fröhlich, und zwischen ihnen Lotta, die ihr quietschbuntes und ausgesprochen hässliches Filly-Pferd voller Stolz in die Kamera hielt wie den wertvollsten Schatz der Welt. Ein unschuldiger Moment. Zumindest für ihn. Zwei Tage später, zwischen den Jahren, hatte Nele ihn mit Lotta verlassen. Sie hatte nicht einmal bis Silvester warten können. Alles war zusammengebrochen. Das System Sörensen war implodiert, Familie auf einen Schlag nur noch eine Konstruktion der anderen und er ausgespuckt in eine Welt, die nicht länger die seine war. Hoffentlich ging das bald mal vorwärts hier.

Sein rechter Fuß begann zu schmerzen. Stop and go war nichts mehr für ihn. Seit dem Bänderriss vor zwei Jahren, der seine nie so recht erblühte Fußballkarriere in der dritten Alte-Herren-Mannschaft des SV Barmbek auf abrupte Weise beendet hatte, konnte er mit dem Gaspedal auch nicht mehr besser umgehen als mit dem Ball. Das Band mochte einfach nicht mehr gedehnt werden. Wenn er längere Zeit saß, humpelte er nach dem Aufstehen jeweils ein paar Meter, bis sich der Fuß wieder an die Belastung gewöhnt hatte.

Er steckte das Foto wieder in seine Innentasche, verzog das Gesicht und lenkte die Gedanken von Nele und Lotta zu Buttermann, seinem Nachbarn, der außer mit einem dämlichen Nachnamen mit erstaunlicher Schlichtheit ausgestattet war, besonders wenn es um die komplizierten Dinge des Lebens ging – also um alle. Buttermann war kahl und sehr klein, und das war ein Glück für ihn, denn er bewirtschaftete eine Art Mäuse-Kiosk direkt vor der Tür des Mehrfamilienhauses, in dem sie beide wohnten, eine Schuhschachtel für Raucher und Leser, in die er, und nur er, wie ein anatomisch-architektonisches Wunder exakt hineinpasste.

«Du fährst weg?», hatte Buttermann vor einer Stunde scharfsinnig gefragt, als er, mit den Ellbogen auf die Boulevardzeitungen gestützt, den rackernden Sörensen beim Einladen begutachtet hatte.

«Ich muss», hatte Sörensen geantwortet und geächzt, so ein Gitarrenverstärker hatte nämlich ein ganz schönes Gewicht.

«Und wohin?»

«Nach Katenbüll.»

«Wo?»

«Katenbüll.»

Buttermann hatte sich an der Nase gekratzt. «Wo?»

«In Schleswig-Holstein ist das. Über Husum.»

«Für immer?»

«Ja, das ist für immer da.» Sörensen hatte bemerkt, dass er eventuell keinen Platz mehr für die Gitarre hatte, wenn er den Verstärker einpackte. Das war natürlich ein echtes Problem. Was sollte er mit dem einen ohne das andere?

«Wieso denn Katenbüll?» Buttermann hatte keine Miene verzogen.

«Ist nicht Hamburg.»

Buttermann hatte den Kopf geschüttelt und auf die Hamburger Morgenpost vor sich gezeigt. «Versteh ich nicht. Es geht doch nichts über Hamburg, mein Freund. HSV, Schanze, St. Pauli. Hier spielt das Leben!»

«Ja, genau. Zu viel Leben spielt das hier.»

Buttermann hatte ihn abschätzend gemustert, so als wollte er mit einem bislang verborgen gehaltenen Röntgenblick Sörensens polizeiliche Fähigkeiten erkunden.

«Brauchen die dich denn da?», hatte er dann gefragt. «In … Katenbüll?»

«Ja, sicher», hatte Sörensen gesagt, auch wenn er wusste, dass das nicht stimmte. Er hatte keinen Zweifel, dass die Entscheidung, sich versetzen zu lassen, notwendig gewesen war. Und im Gegensatz zu ihm würde der Gitarrenverstärker erst mal hierbleiben. Mitsamt der Gitarre. Konnte man ja später immer noch holen. Irgendwann.

Buttermann hatte mit den Knöcheln der rechten Hand auf das Titelblatt der Bild-Zeitung geklopft. «Also wenn du mich fragst, Sörensen, ist das natürlich übel mit Katenbüll, hat aber auch sein Gutes. Also für dich jetzt. Dann bist du wenigstens weit genug weg, wenn der Russe kommt.»

Sörensen hatte Putins Kopf unter der Schlagzeile erkennen können. Er war rot-schwarz eingefärbt und sah gefährlich aus.

«Wieso kommt der Russe denn?» Er wollte die Antwort eigentlich gar nicht wissen.

«Ist doch bald wieder», hatte Buttermann gesagt und sich voller Überzeugung in ein Schleudertrauma genickt. «Der hat den nie aufgegeben, den Plan mit der Weltherrschaft. Ich weiß das. Steht ja auch hier.» Buttermann hatte die Bild in die Luft gehoben. «Und wenn du dann in Katenbüll bist, bist du fein raus. Da kommt der Russe nämlich nicht hin. Berlin, Hamburg, Frankfurt, und wenn der völlig bescheuert ist, noch Köln und München, aber Katenbüll, was soll der denn in Katenbüll?»

«Ich muss dann mal», hatte Sörensen entschuldigend gemurmelt, den Verstärker wieder hinaufgetragen und im Flur neben die E-Gitarre gestellt. Seine Wohnung sah trostlos aus, so halb leer. Seine neue Bleibe würde ebenfalls trostlos aussehen, so halb voll. Irgendwie auch ein Kreis, der sich schloss. Er hatte die Tür hinter sich zugezogen, den Schlüssel zweimal im Schloss gedreht, war die Treppen hinuntergeeilt und hatte überlegt, ob er Buttermann auf dem Weg zu seinem Wagen einfach ignorieren sollte. Das ging natürlich nicht.

«Ja, dann mal toi, toi, toi und gute Reise», hatte Buttermann gewünscht, sich die mit Sicherheit nicht erste Zigarette des Tages angezündet und Nase und linke Hand hochgezogen zum hochoffiziellen Abschiedsgruß. Damit war die Sache für ihn erledigt gewesen. Sörensen hatte das irgendwie geärgert.

«Du, Buttermann?»

«Ja?»

«Der Russe kommt nicht», hatte er sich nicht verkneifen können zu sagen. Dann war er eingestiegen und davongebraust, erst auf die A 7, dann auf die A 23, und nun stand er hier bei Halstenbek-Krupunder. Halstenbek-Krupunder!

Sörensen schaute erneut auf die Uhr. Es war Punkt sieben. Er reckte den Hals. Bewegte sich da vorne etwas? Ja, tatsächlich, da bewegte sich etwas, und zwar nachhaltig, die Wagen bekamen Schwung, der Stau schien sich aufzulösen. Nach zweihundert Metern sah er hinter einer leichten Kurve die Überreste eines ausgebrannten PKWs am Straßenrand ausglimmen, er bedauerte pflichtgemäß den Fahrer, schalt sich ob seiner unangemessenen Ungeduld und ließ Hamburg mit Tempo hundert endgültig hinter sich. Auf der linken Seite nahm er ein Möbelhaus wahr, an dessen Fassade sie einen gelben Smiley befestigt hatten, der die vorbeifahrenden Autos werbewirksam angrinste. Das war also das Letzte, was er von Hamburg und Umgebung in Erinnerung behalten sollte: eine Grinsebacke, die an einer Glasfassade klebte.

Fünfzehn Kilometer vor Itzehoe tauchten die ersten Windräder auf und erhoben sich aus der flachen Landschaft wie gigantische Roboter, die jederzeit loszumarschieren drohten. Vielleicht im Dienste der Russen. Als Sörensen die Dauerbaustelle bei Itzehoe passierte, die Hohenhörn-Brücke über den Nord-Ostsee-Kanal überquerte und unter sich links wie rechts Containerschiffe ausmachte, die sich durch die nicht allzu breite Wasserstraße schoben, war das für ihn wie eine Trennlinie zwischen altem und neuem Leben, wurde ihm endgültig klar, dass sich seine Lebenswirklichkeit ein weiteres Mal unabdingbar veränderte.

Er ließ das Beifahrerfenster herunter und atmete die bereits spürbare Seeluft ein. Eigentlich ging es ihm gut, dachte er, im Moment ging es ihm wirklich gut, vergleichsweise, in seinem Auto ging es ihm sowieso immer am besten, woran auch immer das liegen mochte. Vielleicht weil es so ein kleines, übersichtliches, geschlossenes System war. Weil die Aufmerksamkeit auf die Straße gerichtet war und nicht auf ihn selbst. Er bemerkte erleichtert, dass der Druck in seiner Brust auszuhalten war, dass seine Beine nicht zitterten.

Er passierte Heide, aus der Autobahn wurde Landstraße, und nach einiger Zeit überquerte er eine weitere Brücke, die Eiderbrücke vor Tönning. Er warf einen angewiderten Blick auf das unpassend in die Landschaft geworfene Multimar Wattforum, dann nahm er Abschied vom Vertrauten. Ab hier kannte er sich nicht mehr aus. Wenn er in den letzten Jahren überhaupt einmal am Meer gewesen war, dann war er bei Tönning links abgebogen in Richtung St. Peter-Ording, zum Weststrand. Das war allerdings ausgesprochen selten vorgekommen, denn in Wirklichkeit machte er sich nichts aus Wasser. Vor allem nicht aus dem Schwimmen darin. Die Fische kommen ja auch nicht einfach so an Land, sagte er sich immer. Die wissen schon, warum. Nur der Mensch muss immer dahin, wo er nichts zu suchen hat.

Sörensen blinzelte. Direkt hinter Tönning stand ein junger Mann an der Landstraße, in der klassischen Ausrüstung eines jungen Mannes an einer Landstraße: Rucksack, zu weiter, wahrscheinlich selbstgenähter Pullover am spindeldürren Körper, Sandalen, zauseliger Vollbart, Schlaghosen, zum Pferdeschwanz zusammengebundene Rastalocken. Er war vielleicht zwanzig Jahre alt, vielleicht älter, so genau konnte man das durch das Gestrüpp um den Mund nicht erkennen. So weit, so gewöhnlich. Was aber wirklich bemerkenswert war, war das Pappschild, das er über seinem Kopf schwenkte. Darauf stand nicht Husum oder Flensburg oder Dänemark, nein, da stand: Jetzt sei kein Arsch und nimm mich mit.

Sörensen trat fast automatisch auf die Bremse. Der junge Mann ergriff seinen Rucksack und eilte zum heruntergelassenen Beifahrerfenster.

«Mensch, toll», sagte er mit einer tiefen Stimme, die in krassem Gegensatz zu seinem jugendlichen Aussehen stand.

«Wer will schon ein Arsch sein?» Sörensen öffnete die Tür. «Wo soll’s denn hingehen?»

«Erst mal bis Husum», sagte der Tramper und schwang sich in den Passat. Den Rucksack behielt er nach einem kurzen Blick in den Rückraum auf dem Schoß. War ja sowieso nirgends mehr Platz. Sörensen fädelte wieder in den Verkehr ein.

«Ich sag’s lieber gleich: Wenn du mich ausrauben willst, ist das keine gute Idee. Ich bin Kriminalhauptkommissar.»

«Gut zu wissen», grinste der junge Mann. «Ich bin Ole.»

«Sörensen», sagte Sörensen und wurde von einem Mercedes überholt, so dicht, dass zwischen die Seitenspiegel kein Blatt Papier mehr gepasst hätte.

Er zog die Luft ein. «Meine Fresse.»

«Gewöhn dich dran», sagte Ole abgeklärt. «Machen die hier alle so.»

Sörensen nickte, wusste aber nicht, ob er das in Ordnung fand, von seinem Mitfahrer einfach so geduzt zu werden. Dann schüttelte er entschieden den Kopf. «Ich hab aber keinen Bock, jetzt die ganze Fahrt über zu quatschen.»

«Kein Problem», sagte Ole freundlich, befreite seine Rastalocken aus dem Pferdeschwanz und schlang die Arme dichter um seinen Rucksack. Danach testeten sie die Stille aus. Sörensen sinnierte sich kreuz und quer durch die Weltgeschichte. Sein heimweherahnender Plan, an jedem Wochenende nach Hamburg zurückzukehren, hatte sich bereits erledigt. Viel zu viel Fahrerei. Bei seinem schwachen Nervenkostüm war das keine Option. Da hieß es an freien Tagen erholen, abschalten, Gesundheit verwalten. Und an unfreien möglichst auch.

Sörensen fiel auf, dass er noch nie in seinem Leben so viele Windräder gesehen hatte, Legionen von Windrädern, sie schienen sich im Sekundentakt zu vermehren. Da konnte doch niemand mehr ernstlich behaupten, dass Nordfriesland flach war.

Als sie etwa fünf Kilometer vor Husum waren, fand er es plötzlich doch etwas seltsam, aus reiner Konsequenz und nur weil er es einmal in den Raum gestellt hatte, dauerhaft den Mund zu halten. Ole hatte sich diesbezüglich äußerst diszipliniert gezeigt, ein wenig mit seinem Smartphone gespielt, ein wenig vor sich hin gesummt, ansonsten stur und rücksichtsvoll aus dem Fenster gestarrt.

«Was willst du denn in Husum?», fragte Sörensen. Ole guckte ihn überrascht an.

«Wer, ich?»

Sörensen drehte sich kurz nach hinten, wie um sich zu vergewissern, dass da sonst niemand war. «Ja, du», sagte er dann und grinste.

«Gar nichts. Ich muss ganz woandershin, aber Husum ist eine gute Zwischenstation. Von da aus geht’s immer weiter. Zur Not mit dem Bus.»

«Warum hast du mich denn dann nicht gefragt, wo ich überhaupt hinfahre?»

«Wo fährst du denn hin?»

Sörensen betrachtete die möglichst souveräne Aussprache seiner neuen Heimat als Übung. «Nach Katenbüll.»

«Geil!», freute sich Ole. «Da muss ich auch hin.»

Sörensen zuckte innerlich zusammen. Was für ein Zufall. Hätte er mal lieber nichts gesagt. Dieser Ole wirkte sympathisch, klar, aber er hätte gerne noch ein paar Kilometer für sich gehabt. So rein aus Gründen der Gewöhnung.

«Du musst mich aber nicht bis dahin mitnehmen», sagte Ole. «Das ist völlig okay für mich.»

«Was willst du denn überhaupt in Katenbüll?», fragte Sörensen, als wäre es völlig abwegig, dass da außer ihm noch jemand hinwollte.

«Ich wohne da. Aber am Wochenende bin ich immer in Tönning. Musikmachen bei meinem Freund.»

Sörensen hätte jetzt gerne gefragt, ob «mein Freund» jetzt «ein Freund» oder halt doch «der Freund» war, aber schon der Gedanke kam ihm spießig vor. Stattdessen gab er sich väterlich-moralisch, was auch nicht besser war.

«Und da fährst du immer per Anhalter hin und zurück? Mit diesem Schild?»

Ole nickte. «Funktioniert super. Wollen echt nicht viele ein Arsch sein.»

 

Sie passierten Husum, die dänische Grenze war nun bald in Spuckweite. Sörensen beugte sich vor, denn er wusste, jetzt musste er gleich irgendwo links abbiegen, Richtung Mildharder Koog. Das Navi hatte er längst ausgemacht, ihm ging das andauernde Gequake auf die Nerven. Ole hob ganz leicht den Zeigefinger. Da war die Ausfahrt. Sörensen ließ das Fenster einen Spalt weit hinunter. Es roch noch stärker nach Nordsee als zuvor, natürlich tat es das, es roch aber auch nach Kälte, Kuhmist und Regen. Kurz hinter Hamburg hatte es für eine halbe Stunde aufgehört, immerhin, nun aber war die Strecke wieder in schweres, tristes Nass gehüllt. Sörensen hatte schlechte Sicht, kniff die Augen zusammen und dachte, wenn es auch von unten feucht wurde, dann war da das Meer. Dann war er zu weit gefahren.

«Kann man in Katenbüll gut wohnen?», fragte er. «Ich tue das nämlich ab jetzt auch.»

«Ach, echt?» Ole betrachtete ihn, als gehöre er zu einer sehr seltenen, aber durchaus besonderen Sorte Mensch. «Na ja, in deinem Alter ist das wahrscheinlich okay. Du darfst halt keine Pläne mehr haben.»

Sörensen wusste nicht, welche dieser gebündelten Frechheiten ihn am meisten empören sollte. Darüber verlor er die Gelegenheit zu einer schlagfertigen Entgegnung. «Wie alt bist du denn?», fragte er stattdessen.

«Einundzwanzig.»

«Und was macht man mit einundzwanzig in Katenbüll?»

«Saufen. Kiffen. Abhängen. Brot backen.»

Sörensen sah kurz zur Seite. «Hey, ich bin Polizist.»

«Das ist doch nur ein Bild.» Ole zuckte mit den Schultern, unbeeindruckt wie das Meer, wenn darin eine Boje trieb. «Also, das mit dem Kiffen. Und das andere. Nur Brot backen stimmt.»

«Brot backen, na klar.»

«Nee, ernsthaft. Es ist sterbenslangweilig in Katenbüll.»

«Gut.»

Sie schwiegen erneut und lauschten dem Prasseln des Regens auf die Windschutzscheibe. Sörensen dachte an sein insgesamt planloses Leben, wie er hineingeraten war in diesen Polizistenjob, wie er eine Beamtenlaufbahn eingeschlagen hatte, um die er sich nie gerissen hatte und die einfach zu ihm gekommen war wie ein entfernter Verwandter, der zufällig gerade in der Stadt war.

«Was sind denn deine Pläne?», fragte er und verdrehte innerlich die Augen. Es war wirklich nicht leicht, die Klappe zu halten.

Ole seufzte. «Weiß nicht. Gitarre studieren. In Arnheim. Oder New York. Oder irgendwo anders, wo nicht hier ist.»

Sörensen dachte an die vielen Musiker, die ihm seit seiner Jugend begegnet waren, und wie wenige es davon geschafft hatten. Inklusive ihm.

«Es spielen so viele Gitarre», sagte er.

«Aber nicht so wie ich.»

«Das sagen doch alle.»

«Ich gehe darin einfach auf.»

Sörensen grunzte. «Das klingt ja schon fast nach Selbstverwirklichung.»

«Wäre doch schön. Ich mein, das ist doch das Ziel im Leben. Oder nicht?»

Sörensen stellte den Scheibenwischer auf die höchste Stufe.

«Nee, ist es nicht», sagte er ein wenig zu schroff. «Vergiss das mit der Selbstverwirklichung.»

«Wie bitte?»

«Vergiss das. Das ist Scheiße. Selbstverwirklichung, alleine dieses Wort! Selbstverwirklichung, das ist was für Leute, die keine Aufgabe haben! Die sich künstlich eine Bedeutung schaffen wollen, wo es nichts zu schaffen gibt! Selbstverwirklichung, das ist doch nur ein anderes Wort für Egotrip. Klingt nur besser. Ist man denn nicht wirklich, wenn man sich nicht selbst verwirklicht? Weißt du, was das ist, Selbstverwirklichung? Unsozial ist das. Weil es den Einzelnen über die Allgemeinheit stellt. So was gibt es auch nur in so einer Überflussgesellschaft wie unserer! Frag mal jemanden, dem es nicht so gutgeht, der kein Geld hat, kein Gesundheitssystem im Rücken, der keine Absicherung hat, ob der Lust hat, sich selbst zu verwirklichen. ‹Nee, ich will was zu essen›, sagt der dann. ‹Und ein Dach über dem Kopf. Und neue Zähne. Das will ich›. Verdammte Scheiße!»

Sörensens Fingerknöchel hoben sich weiß vom Lenkrad ab. Natürlich, und das konnte Ole nicht wissen, hatte sein Ausbruch etwas mit dem Satz zu tun, den Nele ihm an den Kopf geworfen hatte, kurz bevor sie die Wohnungstür hinter sich und Lotta zugezogen hatte. Der Satz lautete: «Es tut mir leid, aber du stehst meiner Selbstverwirklichung im Weg.» Das hatte sie gesagt und ihn so zurückgelassen. Er hatte damals nicht sofort etwas gefühlt, hatte lange Monate gebraucht, um überhaupt etwas fühlen zu können, aber seitdem war der Begriff Selbstverwirklichung in seinem Kopf irgendwie negativ besetzt.

Ole schien etwas sehr Interessantes auf dem Verschluss seines Rucksacks entdeckt zu haben. «Ich weiß gar nicht …», murmelte er eingeschüchtert. «Ich liebe halt einfach Musik.»

«Das ist ja auch in Ordnung», zischte Sörensen. Er bekam einfach keinen Dampf vom Kessel. «Aber red mir bloß nicht von Selbstverwirklichung.»

«Du hast das doch gesagt!», sagte Ole. «Ich war das gar nicht! Du hast damit angefangen!»

«Richtig», gab Sörensen ohne Zögern zu.

«Ich hätte das nie gesagt, das Wort.»

«Nee?»

«Du hast mir das in den Mund gelegt.»

«Ist ja gut.»

«Vielleicht werde ich auch gar nicht Musiker.»

«Aha!»

«Vielleicht werde ich Gemüsebauer. Bio.»

«Sehr gesund», nickte Sörensen. «Gute Idee.»

«Oder Lifecoach.»

«Ach, komm! Was?»

«Lifecoach. Jemand, der den anderen sagt, was sie falsch machen und wie sie es richtig machen können. Jemandem wie dir zum Beispiel.»

Sörensen sah Ole von der Seite an und sah nur Rastalocken und eine spitze Nase. «Eigentlich ist es mir fast egal, was ich mal werde», sagte Ole leise. «Ich will einfach nur weg. Du kannst dir nicht vorstellen, wie froh ich bin, wenn ich mal nicht mehr nach Katenbüll zurückmuss.»

Sörensen dachte an seinen eigenen Weg und die Umwege, die er schon gegangen war, ohne jemals irgendwo richtig anzukommen. «Doch, kann ich», sagte er. «Jeder flieht doch vor irgendwas.»

«Aber niemand, den ich kenne, flieht nach Katenbüll.»

 

Unendliche Felder erstreckten sich vor ihnen. Unendliche Weiten. Immer, wenn Sörensen dachte, jetzt mussten sie doch mal irgendwo anstoßen, machte die Straße eine erneute Biegung, bevor es wieder elendig lang geradeaus ging. Hier und da stand mal ein Hof an der Seite, ein Bauernladen, ein Windrad in gleichmäßiger Bewegung. Ansonsten Felder, Felder, Felder. Irgendwann, als Sörensen schon dachte, dass das doch schon längst nicht mehr Deutschland oder irgendein anderes europäisches Land sein konnte, zeigte Ole nach vorn. «Wir sind da.»

Tatsächlich. Fast hätte Sörensen das Ortsschild übersehen. Der erste Eindruck seiner neuen Heimat war so kärglich wie die Anfahrt. Wiesenparzellen zu beiden Seiten, einige holsteinische Kühe darauf, ein, zwei Pferde. Bauern- und Wohnhäuser, die meisten typisch im Friesenhausstil, rot geklinkert, geschwungene, weiße Lattenzäune davor, andere eher grau, flach und pragmatisch. Auf der Straße war kein Mensch zu sehen, abgesehen von einer alten, gebückten Frau mit Kopftuch, die einen großen Müllsack am Rande ihres Vorgartens zur Straße zog und sich die Zeit nahm, Sörensen missbilligend in seinem Auto zu fixieren. «Guten Morgen», rief Sörensen und winkte mit der rechten Hand. Die Frau reagierte nicht. Natürlich nicht. Albern, dachte er sogleich, aber das war wahrscheinlich nur der natürliche Instinkt des Neuankömmlings, sich mit der Umgebung gutzustellen.

Ole lachte. «Was war das denn?»

«Übersprungshandlung», brummte Sörensen.

Ole lachte gleich noch einmal. Aber es war ein sympathisches Lachen.

Es wurde städtischer oder zumindest dörflicher. Eine Esso-Tankstelle, die damit warb, dass man bei einer Wachswäsche einen Cappuccino extra bekam («Mach hier bloß nie ’ne Wachswäsche!», beschwor Ole ihn), daneben ein Wellblechcontainer mit der Aufschrift S+M Automobile, allerdings ohne sichtbare Autos. Links ging es jetzt zur Touristeninformation ab, rechts zum Krankenhaus. Einfamilienhäuser säumten die Straße, niedrig gebaut, eng aneinander, windschief, wie sich vor den Böen duckend. Eine Apotheke war das erste Ladengeschäft, das er wahrnahm. Im Fenster standen drei mannsgroße Playmobilfiguren im Arztkittel und mit Mundschutz. Wofür die auch immer Werbung machten, es funktionierte nicht. Jetzt kam nach und nach das Übliche hinzu. Ein Bäcker mit Brezel-Logo, Krummhauer hieß er, daneben ein Metzger ohne Auslage und mit verschmiertem Fenster, dann ein Penny-Supermarkt. Die sind auch überall, dachte Sörensen.

«Kapitalistenschweine», stellte Ole sachlich fest.

Sörensen rümpfte zustimmend die Nase, gleichzeitig versuchte er sich den Standort zu merken. Auf der gegenüberliegenden Seite ein Friseursalon mit einer Gardine von 1972. Wer sich hier die Haare schneiden ließ, ließ sich immer schon hier die Haare schneiden. Daneben der Deichkrug, eine Gaststätte, die so tot und dunkel wirkte, wie Gaststätten um kurz vor neun Uhr morgens von Amts wegen zu wirken hatten. Eine Tafel im Fenster warb um Aufmerksamkeit: Lecker Frühstück. Sörensen merkte erneut, dass er Hunger hatte. Und dass er diesen nicht im Deichkrug stillen wollte.

«Wo soll ich dich denn rauslassen?», fragte er. Ole zeigte auf einen Schreibwarenladen an der nächsten Ecke.

Zwei, drei Leute waren auf der Straße unterwegs. Keine Regenschirme, nützte ja nix. Dafür Multifunktionsjacken, Kapuzen und krumme Rücken im Wind. Sörensen fuhr rechts ran. Der Schreibwarenladen lockte mit rotem Schlussverkaufaufkleber im Fenster. Was konnte denn ein Schreibwarenladen für saisonale Artikel loswerden wollen? Egal. Ole packte seinen Rucksack und öffnete die Beifahrertür. «Danke, Sörensen», sagte er im verbindlichen Ton des Profi-Anhalters. «War … nett.»

«Fand ich auch», nickte Sörensen und winkte zum Abschied. Ole warf die Tür zu, und Sörensen legte die letzten Meter zurück. Weit konnte es ja nicht mehr sein. Da, ein Hinweisschild. Zum Rathausmarkt ging es links ab. Dahin musste er, da war sein Ziel. Es war sieben Minuten vor neun.

Als der Passat über das Kopfsteinpflaster ruckelte, spürte Sörensen erstmals an diesem Tag stärkere innere Anspannung, diese wohlbekannte Unruhe, diesen guten Grund, aus dem Auto gar nicht erst auszusteigen. Er merkte, wie die Atmung schwerer wurde, wie er flacher und gleichzeitig hektischer die Luft einzog, der Brustkorb noch enger wurde, wie seine Handflächen wieder zu schwitzen begannen, sein Gehirn in verschiedene Richtungen gleichzeitig zu denken versuchte. Es ist mein Job, sagte er sich, ich kann das. Ich hab das schon so oft gemacht. Reingehen, hallo sagen, hinsetzen, arbeiten.

Der herausragende Backsteinbau im Stil der nordischen Renaissance direkt vor ihm, das musste das Rathaus sein. Und auf der linken Seite des Marktplatzes, deutlich kleiner, aber ebenfalls aus Backstein, mit den beiden Streifenwagen vor der Tür, na ja, das war wohl sein neues berufliches Zuhause. Direkt zwischen dem Chinarestaurant Peking-Ente und dem Dönerladen König Kebap. Sörensen stellte das Auto auf dem Marktplatz ab, der außer einem einsamen Marktwagen mit der Aufschrift Käse-Käthe kommt und einem notdürftig mit einem Sonnenschirm überdachten Bratwurststand nichts zu bieten hatte, und zwang sich zum Öffnen der Tür. Wind und Regen gaben ihm eine volle Breitseite. Er fotografierte innerlich die restlichen Geschäfte ab, die sich rund um den Marktplatz gruppierten. Ein Optiker, der mit Messeneuheiten warb, ein Antiquitätenhändler, der antikes und stilvolles Wohnambiente versprach, ein Eiscafé namens Pinocchio, eine weitere Apotheke, eine Sparkasse, eine Hypo-Vereinsbank und ein Versicherungsbüro. Die Touristeninformation war direkt neben dem Rathaus, auf dessen anderer Seite sich das Fleischerfachgeschäft Nehlsen neben der Katenbüller Backstube befand. «Selbstverwirklichung», murmelte Sörensen und vermisste seine Gitarre schon jetzt. Er versuchte die Aufregung zu unterdrücken, rieb sich mit der rechten Hand über die Brust und überquerte mit schweren Beinen den Platz.

Das Radio bleibt an

«Sie sind das, ne?», sagte die junge Frau, die Sörensen mit breitem Grinsen und ausgestreckter Hand entgegenkam.

«Jou», sagte Sörensen und wusste, der nun folgende Händedruck würde feucht werden, was weder am Regen lag noch an seiner neuen Kollegin. Die Polizistin, brünetter Pferdeschwanz, braune Augen, hübsches, aber angenehm unglattes Gesicht, ließ sich nichts anmerken, verzichtete höflich auf das Abwischen am Hosenbein und zeigte stattdessen einladend und nicht ohne Stolz auf den hinter ihr liegenden Bereich.

Die Kriminalpolizeiaußenstelle Katenbüll war der Größe des Städtchens angemessen. Ein Großraumbüro, das eigentlich ein Kleinraumbüro war, mit vier Schreibtischen und einem Tresen für Touristen, Zuhälter, Zeugen oder wer auch immer sich hier so blicken ließ. An den Wänden eine Landkarte, Pinnwände, Fotos. Zwischen den Schreibtischen ein stattlicher Ficus Benjamini, der das Menschliche betonen sollte. Zwei Beamte in Uniform lümmelten am Kaffeeautomaten herum, ein sichtlich kaum der Polizeischule entwachsener schmaler Mann mit bravem hellblondem Seitenscheitel erhob sich von seinem Stuhl und kam Sörensen entgegen. Er hatte ein offenes, freundliches und altersbedingt arg unschuldiges Gesicht. Das wird das Leben schon noch einkerben, dachte Sörensen, fand das eigentlich ganz schön traurig und hatte das Gefühl, sein Körper hing wie ein nasser Sack unter seinem Kopf. Er hätte sich jetzt natürlich vorstellen und ein paar joviale Worte in Richtung seines Teams verlieren müssen, aber er war leider ganz mit seiner Befindlichkeit beschäftigt.

«Ja …», sagte die Polizistin also ratlos und steckte die Hände in die Hosentaschen, nur um sie gleich wieder herauszuziehen.

«So», sagte Sörensen und nickte.

Seine neue Kollegin nahm dies zum Anlass, das Kommando zu übernehmen, zumindest vorübergehend.

«Dann mal herzlich willkommen hier bei uns in Katenbüll», begann sie und blickte ihm direkt in die Augen. «Ich bin KOK Jennifer Holstenbeck. Sie können aber Jenni sagen. Ja, und hier, der schüchterne junge Mann, das ist Malte Schuster. Sozusagen unser Azubi. Kriminalkommissaranwärter, erstes Behördenpraktikum.»

«Moin, moin», sagte Malte Schuster, der Jüngling mit dem Seitenscheitel, und aus seinem Mund klang das so lässig wie ein Marschbefehl.

«Und die beiden Herren dahinten bei der Lebensverlängerungsmaschine sind die Obermeister Dhonau und Faltermeyer, die Kollegen von der Schutzpolizei», fuhr Jennifer Holstenbeck fort. Ganz sensible Ohren konnten da im Ton durchaus einen leicht negativen Einschlag wahrnehmen. Dhonau und Faltermeyer gehörten offensichtlich nicht dazu, sie tippten sich synchron an die Schirmmütze, grinsten, sagten aber nichts. Sörensen wusste, nun war er dran, da gab es kein Entkommen mehr.

Er räusperte sich. «Moin», sagte er dann. Ein guter Einstieg war schließlich wichtig. «Ja, was soll ich sagen … ich bin Sörensen. Ihr könnt mich Sörensen nennen.» Er ließ seinen Blick durch das Büro streifen und blieb an einem Fahndungsplakat hängen. «Schön habt ihr’s hier.»

Jennifer Holstenbeck winkte ab. «Ist halt alles ein, zwei Nummern kleiner als in Hamburg. Muss ein ziemlicher Kulturschock für Sie sein.»

Nun winkte Sörensen ab. «Nee, ich wollt das so», sagte er und öffnete den Mund, um eine Erklärung nachzuschieben, entschied sich aber im letzten Moment dagegen. Stattdessen winkte er noch einmal ab. Das war aber auch eine Abwinkerei hier.

«Ach? Echt jetzt? Also der Kappler, Ihr Vorgänger, der, mit dem Sie den Arbeitsplatz getauscht haben, ja, der ist nach Katenbüll strafversetzt worden. Hat er jedenfalls behauptet. Und der Vorgänger vom Kappler auch. Und der … die waren jedenfalls immer alle froh, wenn sie wieder weg waren.»

«Ist doch ganz nett hier.» Sörensen zwang sich zu einem Lächeln. Mein Gott, er war Kriminalhauptkommissar. Ein Kriminalhauptkommissar, der sich aufführte wie ein übernervöser Hospitant. «Was steht denn heute so an?», fragte er, um das Thema zu wechseln.

Malte Schuster bekam Hektik-Flecken im Gesicht. «Ja, ich hab da so ’nen Kuchen gebacken.» Er wurde geradezu eifrig und befreite umständlich ein rundes Etwas auf einem Suppenteller aus seiner Alufolie. «So für’n Einstand. Mach ich ganz gern, manchmal. Ist bio!»

Dhonau und Faltermeyer schauten sich entgeistert an.

Sörensen lächelte. «Schoko?»

«Mousse au chocolat», freute sich Malte Schuster.

«Das ist ja nett», freute sich Sörensen zurück.

Der Praktikant hob den Zeigefinger. «Mit Kirschen!», triumphierte er.

Sörensens Lächeln fiel in sich zusammen.

«Darf ich nicht», sagte er enttäuscht.

«Bleibt mehr für mich», unterbrach Jennifer Holstenbeck resolut und zog den Teller zu sich herüber. Malte Schusters Diensttelefon klingelte. Und so wie er das Telefon betrachtete, kam das nicht allzu häufig vor.

«Polizei Katenbüll, KKA Schuster», hörte Sörensen noch, dann nur noch einen Haufen Achs und Jas und Wos.

Jennifer hob die imaginäre Trennlinie zwischen ihnen auf und dirigierte Sörensen in den Arbeitsbereich. «Das ist alles sehr überschaubar bei uns», sagte sie. «Manchmal passiert auch tagelang gar nichts, außer dass vielleicht mal ein Besoffener in den Graben fällt.»

Sörensen nickte. «Das ist genau der Grund, warum ich hier bin. Also, nicht der Besoffene jetzt.»

«Verstehe. Ja, Ausweis kommt dann bald. Ist noch nicht ganz fertig, hab ich gehört.» Jennifer klopfte auf ein Stück altes, massives Holz vor ihnen. «Das hier wäre dann Ihr Schreibtisch. Der mit dem schönen Kaktus. Muss man gar nicht oft gießen.»

Sörensen blickte sich unbehaglich um. Der Kaktus war stachelig. «Da hab ich ja die Tür im Nacken. Weiß ich nicht, ob ich die Tür im Nacken haben will.»

«Können wir ja umdrehen. Also, den Tisch jetzt», schlug Jennifer vor.

Das war eigentlich eine Diskussion nach Sörensens Geschmack. Wenn er sich nur nicht so schwach in den Kniekehlen gefühlt hätte. «Oder den Tisch stehen lassen und einfach den Stuhl auf die andere Seite», sagte er.

«Das geht natürlich auch», bestätigte Jennifer. «Allerdings haben Sie dann die Kollegen im Nacken, und die gucken Ihnen alle auf den Computerbildschirm.»

«Und wenn wir die Kollegen auch umsetzen? Dann gucken die in Richtung Fenster und ich in Richtung Tür.»

«Und wir dann Rücken an Rücken, oder was? Also ich persönlich möchte auch lieber in Richtung Tür gucken.» Jennifer musste jetzt fast lachen, wusste aber nicht, ob das angebracht war. «Was macht das denn auch für einen Eindruck, wenn alle Polizisten mit dem Rücken zum Eingang sitzen.»

«Alle bis auf mich!»

«Und wenn Sie mal nicht da sind, dann stellen wir die Tische wieder um, oder was?»

«Oder die Stühle!»

«Das meinen Sie jetzt aber nicht ernst, Herr Kriminalhauptkommissar Sörensen, oder?»

«Nee», sagte Sörensen, zwang sich zu einem einnehmenden Grinsen und stellte fest: Er mochte Jennifer Holstenbeck. Da diese zurückgrinste, war er sich einigermaßen sicher, dass dieser Eindruck auf Gegenseitigkeit beruhte. Kein gar so schlechter Anfang. Er hatte schon oft genug spontane Ablehnung erfahren, wenn es ihm so ging, wie es ihm gerade ging. Die Leute spürten, dass irgendetwas nicht stimmte, ohne genau definieren zu können, was es war. Das brachte sie auf Abstand. Erstaunlich jedenfalls immer wieder, wie normal er äußerlich funktionierte, obwohl es in ihm so aussah wie im Maschinenraum eines untergehenden Schiffes.

Malte Schuster legte den Telefonhörer auf und räusperte sich. «Das ja’n Ding», sagte er lautstark. Ein klarer Versuch, Aufmerksamkeit zu erregen.

Sörensen und Jennifer taten ihm den Gefallen. «Was denn?», fragten sie brav und unisono.

Malte stand auf, strich sich über den Scheitel und nahm Haltung an. «Kuchen ist nicht», verkündete er. «Der Hinrichs sitzt tot in seinem Stall.»

*

Die kurze Fahrt im blauen Dienst-BMW verlief mehr oder weniger schweigend. Sie kannten sich noch nicht genug, um unbefangen miteinander umgehen zu können. Malte Schuster hatte Sörensen beim Verlassen des Reviers dienstbeflissen darauf aufmerksam gemacht, dass er seinen Passat nicht auf den Marktplatz stellen durfte – absolutes Halteverbot –, und war seitdem mit Lenken, Kuppeln und der permanenten Neujustierung des Scheibenwischers ausgelastet. Jennifer Holstenbeck hing ihren Gedanken nach, und Sörensen … Sörensen kauerte auf dem Rücksitz und war ganz mit sich selbst und seiner Atmung beschäftigt. Er versuchte, ein kleines, feines a einzuatmen, dachte sich also den Vokal, wenn er die Luft durch die Nase zog, spitzte anschließend beim Ausatmen die halb geschlossenen Lippen und bemühte sich, in etwa die doppelte Zeit für das Ausstoßen des verbrauchten Sauerstoffs zu benötigen wie für die Gegenbewegung. Das erweiterte die Lungenkapazität, das linderte die innere Spannung. Zumindest theoretisch.

Am liebsten hätte Sörensen sich losgeschnallt, die Wagentür aufgerissen und wäre während der Fahrt herausgesprungen, auch auf die Gefahr hin, sich die Knochen zu brechen oder sein zuweilen desolates Leben zu beenden. Dagegenwirken, dachte er. Ablenken. Ablenkung war alles. Nicht zu sehr auf sich selbst konzentrieren, nicht zu sehr der Angst nachspüren. Kaum dass sie den Ortskern verlassen hatten, bemerkte er zu seiner Linken einen fensterlosen weißen Klotz in der Größe zweier Fußballfelder, der mitten auf eine Wiese gesetzt worden war. Er wirkte wie ein Fremdkörper in dieser ländlichen Umgebung. Zwei, drei Flugzeuge dürften da wohl hineinpassen, schätzte Sörensen, mindestens. Ein Parkplatz vor der Halle schien Abstellmöglichkeiten für Hunderte von Autos zu bieten, er wirkte gut ausgelastet. Etwa zwei Dutzend Viehtransporter standen in langer Front und hatten ihr Werk entweder bereits getan oder warteten noch auf ihren Einsatz. Ein rundum verglastes Bürogebäude auf der linken Seite bildete einen modernen, aber ebenso pragmatischen Gegenpol. Umgeben war das Gelände von einem hohen Elektrozaun mit Stacheldraht, der nur durch ein Tor zur Straße unterbrochen wurde, das von zwei Pförtnern und einer Schranke gesichert war. Alles in allem sah das ziemlich nach Großindustrie aus. Nach Militär. Nach James-Bond-Bösewicht auf dem Weg zur Weltherrschaft. Auf jeden Fall nicht nach Katenbüll. Sörensen nahm sich vor, seine Kollegen danach zu befragen, später, auf dem Rückweg. Jetzt galt es erst einmal, die Atmung zu kontrollieren und eine Leiche zu besichtigen. Verdammt noch mal, eine Leiche … Am ersten Tag. Nein, nicht am ersten Tag, das wäre ja vielleicht gerade noch zu verkraften gewesen. Aber gleich in den ersten fünf Minuten des ersten Tages? So hatte er sich das nicht vorgestellt mit der Versetzung in die Ruhezone an der Nordsee … Jetzt bloß nicht kollabieren. Durchhalten. Atmen.

Als Malte den Blinker setzte und sie auf Heiner Hinrichs’ Hof fuhren, war es noch nicht einmal halb zehn und weit und breit niemand zu sehen. Keine Schaulustigen, keine Nachbarn, keine Angehörigen. Nur ein verdreckter Jeep versperrte die Einfahrt, sodass Malte kaum um ihn herumkam. «Das kann man aber auch anders lösen», murmelte er verärgert und parkte nach einigen Verrenkungen neben dem Pferdestall.

Jennifer öffnete die Beifahrertür. «Ich geh ins Haus», sagte sie, wartete weder auf Bestätigung noch auf Widerrede, zog die Schultern ein und war auch schon verschwunden. Malte zeigte auf den Stall. «Da muss er drin sein. Der Hinrichs.»

«Na, dann mal los.» Sörensen atmete tief durch und schnallte sich ab. Direkt hinter ihnen hielt ein weiterer Polizeiwagen, das Blaulicht effektvoll eingeschaltet. «Mensch, ausmachen», sagte Sörensen. «Da lockst du die Motten ja direkt ins Licht. Wer ist denn das?»

«Dhonau. Oder Faltermeyer. Ich mach schon», sagte Malte Schuster, stellte den Motor ab und sprang aus dem Wagen. Wenige Sekunden später war das Blaulicht erloschen, Dhonau oder Faltermeyer gedemütigt und Malte nass wie ein Fisch in der Dusche.

Sie stiefelten durch den Matsch; Malte mit einer kleinen Tasche, Dhonau oder Faltermeyer mit einer Rolle Absperrband und Sörensen mit dem Blick fürs große Ganze. Ihm fiel auf, wie aufgeräumt es hier aussah. Kein Traktor, kein Anhänger, keine sonstigen landwirtschaftlichen Geräte, keine gestapelten Autoreifen, nicht einmal einen Hundezwinger schien es zu geben. Ein Resthof, dachte Sörensen, hier wird nicht mehr gearbeitet, hier wird nur noch gelebt und gestorben. An einer Linde hing eine angerostete Kinderschaukel, die der Wind träge hin und her bewegte. Das Holz des Pferdestalls ächzte im Protest gegen das anhaltend schlechte Wetter hörbar schon aus größerer Entfernung, der Wind pfiff durch die Boxen und zauberte die wundersamsten Töne herbei. Sörensen schüttelte den Kopf. Die Miniatur einer Geisterstadt.

*

Heiner Hinrichs lehnte an einem Stützbalken, sitzend, die Beine von sich gestreckt, der Kopf aufrecht. Um ihn herum eine unverhältnismäßig große rote Lache. Kaum vorstellbar, dachte Sörensen, dass ein Mensch so viel Blut in sich haben, und kaum vorstellbar, dass sich überhaupt noch etwas davon in Hinrichs’ Körper befinden konnte. «Ach du Scheiße», stellte er treffend fest und überwand sich, genauer hinzuschauen. Solch einen Anblick war er ja eigentlich gewohnt, da sollte er auf jeden Fall professionell sein, unbeeindruckt und abgebrüht. War er aber nicht. Weglaufen, weglaufen, weglaufen, schrie es in ihm. Nein, setzte ein anderer Teil seines Gehirns ruhig dagegen. Dableiben. Überwindung durch Konfrontation. Aushalten, bis es besser wird. Das, was ihn beschäftigte, war ja nicht das Blut an sich, sondern die Verantwortung, die auf ihn zukam.

Okay, also, dachte er und stellte sich Hinrichs aufrecht vor. Etwa eins neunzig, bulliger Typ, eine Glatze wie Buttermann, Anzug von der Stange, gelockerte, geschmacklose Krawatte, die glubschigen Augen weit aufgerissen. Sörensen wandte sich irritiert ab. Der Mann sah irgendwie widerlich aus. Schmierig. Er schämte sich fast. Durfte man einen Toten unsympathisch finden? So auf Anhieb? Dhonau oder Faltermeyer sagte kein Wort, sondern rollte bedächtig sein Absperrband aus. Wahrscheinlich hatte er seit seiner Ausbildung auf diese Gelegenheit gewartet. Die Pferde in den Boxen wirkten unbeeindruckt und spähten neugierig über ihre Gitter. Malte hingegen atmete tief durch. «Ich glaub, mir wird schlecht.» Er stellte seine Tasche auf den Boden und hielt sich an dem Stützbalken neben Hinrichs fest. Sörensen berührte kurz tröstend seine Schulter, obwohl er sich dadurch wie sein eigener Großvater vorkam. «Das übt», sagte er. «Also, was sehen Sie, Malte? Ich sag mal Malte.»

«Kann gerade nicht. Sorry. Ich guck später, okay?»

Sörensen seufzte. «Okay.»

Er ging in die Hocke. Die Leiche schien ihn fragend und verwundert anzublicken. Sörensen vermied weiteren Augenkontakt, er hatte ja sowieso keine Antworten. Noch nicht. «Also … drei Einschüsse. Wenn nicht noch einer verborgen ist. Einmal in die Stirn, einmal knapp überm Herzen und … ein Einschuss in den Oberschenkel, soweit ich das erkennen kann.» Sörensen erhob sich. «Ja, ich sag mal so: Selbstmord ist das nicht.»

Malte atmete tief durch. «Hab ich noch nie gesehen, so was. Also, aus der Nähe. In Filmen und so, aber doch nicht aus der Nähe.»

Für einen Moment hätte Stille geherrscht, wenn nicht Dhonau oder Faltermeyer das knisternde Absperrband um ein paar Balken gewickelt hätte. Sörensen blickte Hinrichs noch ein letztes Mal ins Gesicht. «Hat der da was im Mund? Was hat der denn da im Mund?»

«Ich …»

«Jetzt schauen Sie schon hin, Mensch.»

Malte begriff dies als Lektion fürs Leben, als Gelegenheit, seinem direkten Vorgesetzten Mannhaftigkeit zu beweisen, also nickte er schicksalsergeben und kniete sich ganz dicht vor den Toten. Er hätte die Hautporen zählen können, die Unreinheiten, die Mitesser, die Nasenhaare. Ihm fiel auf, dass er einem Menschen noch niemals so nahe gekommen war, ohne ihn anschließend zu küssen. Er fummelte einen Einweghandschuh aus seiner Tasche, stülpte ihn umständlich über und griff Hinrichs in den leicht geöffneten Mund. «Ich komm nicht ran», sagte er gequält.

«Ja, dann machen Sie weiter auf. Er wird schon nicht zubeißen.»

Malte drückte mit Daumen und Zeigefinger die Zahnreihen auseinander und arbeitete sich vor. Da war tatsächlich etwas. Es gab ein leicht quietschendes Geräusch. «Ach, nein, Scheiße, jetzt hab ich’s weiter nach hinten geschoben», stöhnte er. Sörensen verdrehte die Augen.

«Soll ich mal?», fragte Dhonau oder Faltermeyer; es war das erste Mal, dass Sörensen seine Stimme hörte. Sie war tief und rau.

Malte schüttelte den Kopf, nahm mit all der Entschlossenheit seiner jungen Jahre die ganze Faust, schob sie in den geöffneten Rachen hinein und öffnete dann scherenartig die Finger. «Ich hab’s», zischte er nach einigen Sekunden. «Warten Sie … jetzt.»

Er zog die Faust heraus wie einen Korken aus der Flasche. «Ein Zettel», stellte er fest. «Bisschen durchgeweicht. Ich versuch mal, den …»

«Nee, nicht», sagte Sörensen. «Das ist ein Fall für die Spusi.»

«Die müssen wir erst aus Husum anfordern», entgegnete Malte leicht verärgert. Er hielt den Zettel zwischen Daumen und Zeigefinger wie ein Brennnesselblatt, unschlüssig, was jetzt damit zu tun war.

«Sie haben doch in Ihrer Tasche bestimmt auch so nette Plastiktütchen», sagte Sörensen und begutachtete den Stall aus Hinrichs’ Position. «Dahinein.»

Malte nickte, während Dhonau oder Faltermeyer beflissen Maltes Tasche durchsuchte, um überhaupt irgendetwas zu tun; das Absperrband spannte nämlich mittlerweile wie eine Eins. Für wen auch immer, die Neugierigen standen ja nicht gerade Schlange.

«Wer hat die Leiche eigentlich gefunden?», fragte Sörensen.

Malte übergab den Zettel dem Plastik. «Hinrichs’ Frau. Hilda heißt die. Die leitet hier den Kirchenchor.»

*

Malte führte Sörensen über die Hintertür direkt in die Küche. Sie fanden Hilda Hinrichs in der Mitte des Raumes auf einem Holzstuhl, wie ausgestellt saß sie da, ein zerknülltes Taschentuch in der Faust. Sie weinte leise, wiegte sich vor und zurück wie ein sich selbst beruhigendes Kleinkind und schien die Polizisten gar nicht zu bemerken. Jennifer Holstenbeck hockte neben ihr und hielt ihre freie Hand. Aus einem Transistorradio dudelte die Schlagerwelle, es klang nach Ireen Sheer oder irgendeinem anderen Grauen der siebziger Jahre. Sörensen hätte nichts zynischer finden können.

Er versuchte, Hilda Hinrichs einzuschätzen. Sie war etwa fünfzig, mit langen, im Ansatz silbergrauen Haaren, einer randlosen Brille und auffälligen Kugelohrringen in so einer komischen Zwischenfarbe, vielleicht Magenta. Ihr Gesicht war gebräunt, aber zerfurcht, vermutlich von zu viel Höhensonne, gewiss vom Nikotin, sicher vom Schmerz. Sie war etwas zu bunt bemalt, um elegant wirken zu können, eine Idee zu übergewichtig. Ihre Haare standen in alle verfügbaren Richtungen vom Kopf ab, waren ungewaschen, ungekämmt. Klar, dachte Sörensen, wer macht sich schon die Haare, wenn der eigene Mann tot im Stall liegt. Er stellte sich Hilda Hinrichs in einer Alltagssituation vor. Da war durchaus ein Anschein von Autorität. Von Strenge. Aber auch von Zerbrechlichkeit. Vielleicht existierte beides nebeneinanderher, vielleicht wechselte sich beides ab. Schwer zu sagen. Sörensen nahm eine Bewegung wahr und sah erst jetzt, dass in der Sitzecke am Fenster noch jemand kauerte. Ein Kind. Ein schmächtiger, dünner Junge von vielleicht zehn Jahren. Er schien mit der Sitzecke verschmolzen und rührte sich nicht.

Sörensen lächelte dem Jungen zu und räusperte sich. «Frau Hinrichs?», fragte er vorsichtig. Jennifer Holstenbeck sah ihn an, während sie immer noch neben der Frau hockte. Nicht zu hart anfassen, las er aus ihren Augen. Hilda Hinrichs antwortete nicht. Sie weinte so hemmungslos, als wäre es ihr egal, was um sie herum geschah, wer außer ihr die Küche besetzte, wer sie ansprach oder auch nicht. Vielleicht war es ja auch so, vielleicht war es im Moment wirklich egal. Sörensen wartete noch ein paar Sekunden und sah sich um. Hochwertig ausgestattet war die Küche, aber ziemlich verwahrlost. Hier war lange nicht mehr richtig geputzt worden; Fettspritzer auf Boden, Wand und Herdplatte, Brotkrümel auf der Anrichte. Drei Aschenbecher auf Küchentisch, Bord und Fensterbank quollen fast über. Wie mochte es wohl im restlichen Haus aussehen?

«Frau Hinrichs?», versuchte es Sörensen ein zweites Mal. «Mein Name ist Sörensen. Kriminalhauptkommissar Sörensen. Ich bin der neue Revierleiter hier … mir tut das alles sehr leid.»

Hilda Hinrichs reagierte immer noch nicht, also wandte sich Sörensen an den Schatten in der Ecke. «Und du bist der Sohn, ja?»

«Ja», antwortete eine schwache Stimme, die noch keine Nähe zum Stimmbruch aufwies.

«Das ist Jan», sagte Jennifer Holstenbeck.

Sörensen versuchte zu lächeln. «Wie alt bist du denn?», fragte er.

«Zwölf», sagte der Junge leise. Sörensen staunte. Jan wirkte ausgesprochen klein für zwölf, fast schon zart. Auf jeden Fall eingeschüchtert und verloren. Wie er so dasaß in seiner Ecke, den Rücken fest an die Lehne gepresst, wäre er sicher noch weiter weggerückt, hätte die Wand ihn nicht aufgehalten. Die Hände hatte er im Schoß gefaltet wie zum Gebet. Man muss ihn vor alldem schützen, dachte Sörensen. Das ging über den Tod seines Vaters hinaus. Hilda Hinrichs hob den Kopf und schien ihn nun erstmals wahrzunehmen. Sörensen durfte die Gelegenheit nicht verpassen.

«Frau Hinrichs … ich muss Sie ein paar Sachen fragen. Meinen Sie, das geht?»

Sie schaute ihn nicht an. «Ich denke schon.»

«Aber nur wenn das wirklich geht, Hilda, ja?» Jennifer Holstenbeck drückte ihre Hand. «Sonst können wir das auch später machen.»

Können wir nicht, dachte Sörensen, aber Hilda machte jeden Einwand überflüssig. «Hab ich ja schon gesagt», fauchte sie. Jennifer ließ abrupt ihre Hand los, stand auf und wandte sich ab. Jan zuckte zusammen, als hätte ihn eine Ohrfeige getroffen.

«Jennifer, gehen Sie doch bitte mit dem Jungen nach nebenan und kümmern Sie sich um ihn, ja?», sagte Sörensen. «Und fordern Sie psychologische Betreuung an.»

«Wo denn?», fragte Jennifer.

«Was weiß ich. In Husum vielleicht? Oder in Flensburg?»

Jennifer straffte sich. «Finde ich heraus. Komm, Jan», sagte sie sanft und hielt dem Jungen die Hand entgegen. Jan schälte sich dankbar aus seiner Ecke und trottete mit gesenktem Kopf hinter ihr her, allerdings ohne die Hand zu ergreifen. Seine Mutter ignorierte ihn.

«Ich brauche keine psychologische Betreuung», murmelte sie nur, kaum dass sich die Küchentür geschlossen hatte.

«Aber Ihr Sohn», entgegnete Sörensen und zog sich einen Holzstuhl heran. Er setzte sich Hilda Hinrichs gegenüber und betrachtete ihr verweintes Gesicht.

Malte Schuster, der bislang aus gutem Grund geschwiegen hatte, hob fast schüchtern den rechten Arm. «Und ich, kann ich auch etwas tun?», fragte er.

Sörensen bedachte ihn mit einem Blick zwischen Ärger und Verzweiflung. «Hinsetzen», sagte er dann bemüht freundlich. «Und zuhören. Meinetwegen mitschreiben.»

Malte setzte sich dezent, aber umso auffälliger auf die Kante der Sitzecke und holte einen Block aus seiner Tasche.

«Können wir das Radio vielleicht ausmachen?», fragte Sörensen.

«Nein», sagte Hilda. «Das Radio bleibt an. Das Radio ist immer an. Und um diese Uhrzeit sowieso. Das Radio muss an sein.»

Sörensen nickte. «Frau Hinrichs», begann er. «Können Sie mir erzählen … wie haben Sie Ihren Mann gefunden?»

Hilda wischte sich die Tränen ab. «Er ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen. Also, er kommt oft spät, aber … gar nicht? Ich hab versucht, mir keine Sorgen zu machen. Und dann hab ich heute Morgen die Pferde gehört … so unruhig … da bin ich in den Stall. Das ist eigentlich seine Aufgabe, wissen Sie … ich mag keine Pferde, aber er wollt die ja haben … und da hat er dann gelehnt. Und überall das Blut …»

«Und Sie haben keine Schüsse gehört?»

«Nein.» Hilda schüttelte den Kopf. «Wenn ich schlafe, dann schlafe ich.»

«Sie konnten so tief schlafen, obwohl Sie sich Sorgen gemacht haben?»

«Ja», nickte Hilda. «Ich … ich nehme Seroquel.»

«Das kenne ich. Das ist ein Neuroleptikum. Wirkt gut gegen Schlafstörungen.»

Hilda richtete sich auf. «Aber man kann es nicht einfach so weglassen, nur weil man sich Sorgen macht.»

Sörensen nickte. «Ich muss Sie das jetzt fragen, Frau Hinrichs. Das ist so eine Standardfrage, und ich bin mir sicher, Sie hätten es gleich als Erstes gesagt, wenn Sie es wüssten, aber: Haben Sie eine Ahnung, wer Ihren Mann erschossen haben könnte?»

«Nein.»

«Irgendwelche Feinde?»

«Ich kenne keine.»

Sörensen blickte sich um. Und erneut fiel ihm auf, wie wenig hier zusammenpasste. Geld war offensichtlich vorhanden. Sorgfalt, Lebensfreude oder Lust an der Gestaltung allerdings nicht. «Sagen Sie mal», fragte er, «was war Ihr Mann eigentlich von Beruf? So ein richtiger Bauernhof ist das hier doch nicht, oder?»

Malte Schuster ächzte versehentlich, Hilda Hinrichs erhob sich erstaunlich behände und ging zum Fenster. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, beobachtete den Regen und schwieg. Lange und intensiv.

«Frau Hinrichs?»

Sie drehte sich nicht um.

«Wie war Ihr Name noch mal?»

«Sörensen.»

«Es wäre gut, wenn Sie sich mal ein bisschen erkundigen, bevor Sie einen neuen Job antreten, Herr Kriminalhauptkommissar Sörensen.» Sie breitete die Arme aus. «Mein Mann war hier der Erste Bürgermeister.»

*

«Das hätte mir übrigens ja ruhig mal jemand sagen können, Herrgott. Da stehe ich ja selten dämlich da.»

Sörensen saß mit verschränkten Armen auf dem Rücksitz des Dienstwagens und schämte sich immer noch in Grund und Boden. Zwei Stunden waren vergangen. Zwei Stunden, in denen sie vergeblich auf die Spurensicherung gewartet und nach Anwohnern gesucht hatten, die irgendetwas gesehen oder gehört hatten. Auch das hatte wenig Erfolg gebracht. Die nächsten Nachbarn wohnten etwa fünfzig Meter vom Hof entfernt, ein älteres Ehepaar namens Pohl, das wegen des Regens in der Nacht das Schlafzimmerfenster geschlossen gehalten hatte. Außerdem, so Frau Pohl, würde Herr Pohl dermaßen laut schnarchen, dass sie es nur mit Ohropax aushalte und selbst eine Atombombe direkt vor dem Gartentor ihn kaum übertönen könne. Herr Pohl hatte das bestätigt und im Gegenzug behauptet, Frau Pohl schnarche selbst wie ein Nilpferd mit Polypen und es gehe in ihrem Schlafzimmer lauter zu als in einer Großraumdisco nachts um halb zwei.

Fazit: Niemand hatte etwas gehört, gesehen oder geahnt, die Hinrichs seien vorbildliche Nachbarn gewesen, aber bei Interesse könne man gerne Frau Pohls selbstgemachten Pflaumenkompott probieren.

«Tut mir leid», sagte Malte Schuster zerknirscht. «Ich dachte, Sie wüssten das von dem Hinrichs.»

Sörensen schüttelte den Kopf und bemerkte an sich die unangenehme Geruchsmischung aus normalem Schweiß und diesem anderen, dem nervösen. «Nee, woher denn?», fragte er. «Ich dachte ja, ich hätte Zeit, mich in aller Ruhe einzuarbeiten.»

Jennifer Holstenbeck guckte unverhohlen genervt in den Rückspiegel. «Manche lesen so etwas ja auch vorher nach, bevor sie irgendwo neu anfangen», sagte sie. «Welche Partei ist hier an der Macht?»

«Na ja, Macht.»

«Wie viele Einwohner hat Katenbüll?»

«Genug für einen Bratwurststand auf dem Marktplatz.»

«Wovon lebt die Stadt hauptsächlich?»