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Sven Stricker

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Beschreibung

«Das war mit Abstand die fürchterlichste Woche seines Lebens. Und es war gerade erst Dienstag.» Paul Uhlenbrock schleppt sich so durchs Leben: Er hasst Berlin. Er hasst den Job im Call-Center, die unfreundlichen Kunden und die verkrachten Existenzen um sich herum. Und Kuli, den neuen, nervigen und anhänglichen Kollegen, den mag er auch nicht. Doch dann werden Kuli und Paul am Telefon unfreiwillig Zeugen eines Verbrechens. Tags darauf ist eine junge Floristin tot, und in Kulis Briefkasten steckt ein Foto: Es zeigt das Opfer mit einem berühmten Berliner Politiker - in eindeutiger Pose. Plötzlich ist Pauls Ehrgeiz geweckt. Er und Kuli beschließen, auf eigene Faust zu ermitteln. Und stolpern mitten in einen hochbrisanten Fall, der sich schnell als mindestens eine Nummer zu groß entpuppt … «Er kann lustig, er kann genau, er kann spannend, Stricker kann schreiben! Ein Debütroman, der sich gewaschen hat! Großartig.» (Bjarne Mädel) «Wunderbare Unterhaltung. Komisch, irrsinnig und nachdenklich zugleich.» (Florian Lukas)

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Sven Stricker

Schlecht aufgelegt

Roman

Über dieses Buch

«Das war mit Abstand die fürchterlichste Woche seines Lebens.

Und es war gerade erst Dienstag.»

 

Paul Uhlenbrock schleppt sich so durchs Leben: Er hasst Berlin. Er hasst den Job im Call-Center, die unfreundlichen Kunden und die verkrachten Existenzen um sich herum. Und Kuli, den neuen, nervigen und anhänglichen Kollegen, den mag er auch nicht. Doch dann werden Kuli und Paul am Telefon unfreiwillig Zeugen eines Verbrechens. Tags darauf ist eine junge Floristin tot, und in Kulis Briefkasten steckt ein Foto: Es zeigt das Opfer mit einem berühmten Berliner Politiker – in eindeutiger Pose. Plötzlich ist Pauls Ehrgeiz geweckt. Er und Kuli beschließen, auf eigene Faust zu ermitteln. Und stolpern mitten in einen hochbrisanten Fall, der sich schnell als mindestens eine Nummer zu groß entpuppt …

 

«Er kann lustig, er kann genau, er kann spannend, Stricker kann schreiben!

Ein Debütroman, der sich gewaschen hat! Großartig.» (Bjarne Mädel)

 

«Wunderbare Unterhaltung. Komisch, irrsinnig und nachdenklich zugleich.» (Florian Lukas)

Vita

Sven Stricker wurde 1970 geboren und wuchs in Mülheim an der Ruhr auf. Er studierte Komparatistik, Anglistik und Neuere Geschichte. Seit 2001 arbeitet er als freier Wortregisseur, Bearbeiter und Autor und gewann in dieser Funktion mehrmals den Deutschen Hörbuchpreis, zuletzt 2009 für seine Hörspielbearbeitung und Regie des Romans «Herr Lehmann» von Sven Regener. «Schlecht aufgelegt» ist sein erster Roman. Er lebt in Potsdam und hat eine Tochter.

Inhaltsübersicht

WidmungPrologSchönen guten TagSpaß macht dasDer Fernseher ist kaputtRauchverbotBio-KaffeeIn einem BlumenladenErotik 2 GoFinnisches FrühstückFroschscheißeZappSchimmel an der WandMahlzeitRain DogsSophies WeltNur nach HauseDer Leuchtturm in der WüsteNatürlich nichtTief im WestenAuseinander gelebtDie ÜbergabeBessere ZeitenP. S.Leseprobe «Bin noch da»Leseprobe «Mensch, Rüdiger!»Leseprobe «Sörensen fängt Feuer»

Für Juli

Prolog

Sie lehnte mit dem Rücken an der Tür, die Arme weit ausgebreitet, die Hände auf beiden Seiten gegen den Rahmen gepresst. Es schien, als wollte sie die Tür in den Angeln halten, als wollte sie sie gegen den Angriff von außen schützen. Er stand auf der anderen Seite, im Hausflur, und hämmerte dagegen. Einmal, zweimal, dreimal. Sie zuckte bei jedem der Schläge zusammen, als träfen sie direkt ihre Magengrube.

«Mach die Tür auf!», bat er. «Bitte, Lisa. Ich steh ja hier herum wie ein Volltrottel.»

«Aber ich habe dir das doch schon alles erklärt», entgegnete sie. «Verschwinde einfach!»

Er hämmerte erneut gegen die Tür. Seine ganze Kraft lag in seiner Faust, seine Stimme aber blieb gedämpft; er sprach nicht zu laut, nicht zu aggressiv, nicht zu drohend. Er hatte sich unter Kontrolle, wie immer. Wie fast immer.

«Ich will nur ganz kurz mit dir reden. Wirklich!», beteuerte er.

«Ich habe Angst vor dir, Henning.» Sie erhoffte sich etwas davon, wenn sie es aussprach. Sie spürte ihren erhöhten Herzschlag, die flachere Atmung.

«Ach, das ist doch nun wirklich absurd», sagte er. «Komm, Lisa, mach die Tür auf, ja? Wenn mich hier jemand sieht …»

Wenn das doch nur so wäre, dachte sie. Wenn doch nur jemand käme. Da wohnte man in einem Mehrfamilienhaus, in dem ein ständiges Kommen und Gehen herrschte, zu den unmöglichsten Zeiten, und ausgerechnet jetzt wirkte es wie ausgestorben.

«Können wir nicht telefonieren?», fragte sie. «Nachher, ja? Wir telefonieren nachher. Da kannst du alles sagen, was du sagen willst.»

Schweigen. Von der anderen Seite war kein Laut mehr zu vernehmen. Für wie lange? Zehn Sekunden? Eine halbe Minute? Gerade, als sie vorsichtig, ganz sachte, zu hoffen wagte, dass er vielleicht gegangen wäre, gerade, als sich ein zartes Gefühl der Erleichterung einzustellen versprach, erklang seine Stimme wieder.

«Susanne ist heute den ganzen Abend zu Hause.» Er klang so ruhig wie zuvor. «Es geht wirklich schnell. Ich will dir nur noch mal in die Augen sehen, okay? Dann bin ich sofort weg.»

Sie überlegte. Sie seufzte. Und dann tat sie das Falsche: Sie entriegelte die Tür.

Schönen guten Tag

Paul Uhlenbrock schaute aus dem Fenster in den Regen. Die Tropfen klatschten wie Ohrfeigen auf den Parkplatz voller Mittelklasse- und Kleinwagen, von denen die meisten noch aus dem letzten Jahrtausend stammten. Die Blechablage, wie Paul sie nannte, wurde umrahmt von grauem Häuserbeton, dazu flatterten ein paar Fahnen im Wind, auf denen das T2-Logo zu lesen war. Inmitten dieser Wüste der Zweckmäßigkeit barmten zwei krüppelige und ausgesprochen mickrige Bäume um Aufmerksamkeit, die der Betriebsrat vermutlich nur mit Mühen bewilligt bekommen hatte. Den Bäumen geht’s wie mir, dachte Paul oft. Und das waren nicht einmal seine dunkelsten Stunden.

Nein, es war nicht schön, was Paul Uhlenbrock sah, wenn er aus dem Fenster schaute, aber alles Grau war ihm lieber als der Blick in die andere Richtung. Er saß inmitten eines Großraumbüros, das etwa zweihundert Quadratmeter maß und genau dreißig Vierertische mit Trennwänden beinhaltete, dazu einen breiten Mittelgang, Neonröhren, einen durchgetretenen Teppich in den Firmenfarben Blau und Rot, eine nicht ganz lautlose, dafür erkältungsfördernde Klimaanlage sowie eine untote Hydrokultur, die der Atmosphäre dienen sollte, aber einfach nur im Weg stand. Direkt neben dem Eingang thronte, leicht erhöht, ein riesiger Schreibtisch mit gewichtigen Ablagetürmen, die anscheinend niemals geleert, aber beständig angebaut wurden. Von hier aus hatte man die perfekte Aussicht auf alle Mitarbeiter der Telefonauskunft. Paul und seine Kollegen nannten diesen Platz «den Hügel». Dort residierte der Abteilungs- oder Schichtleiter, je nachdem, wer gerade da war.

Paul seufzte. Ein paar Plätze links von ihm hatte sich soeben Martin Schulte die Schuhe ausgezogen, so wie immer, es waren ganz widerwärtige ausgelatschte Treter, die vor Gewicht und Größe ihres Besitzers schon lange kapituliert hatten und vermutlich wie ein träger, altersschwacher Hund jeden Moment der Entlastung genossen. Dazu präsentierte Schulte – ebenfalls so wie immer – der nicht sonderlich staunenden Belegschaft seine ehemals weißen Tennissocken, von denen er offenbar nur ein Paar besaß, wie die gelb verfärbten Schweißflecken oberhalb der Ferse vermuten ließen, und legte die dazugehörigen Füße demonstrativ auf dem Schreibtisch ab. Er war ein ehemaliger BWL-Student ohne Abschluss, Mitglied der Jungen Union und fuhr des Nachts Rettungswagen für das Deutsche Rote Kreuz, darauf war er stolz, dabei machte er das nicht aus sozialem Engagement, sondern weil er da mal so richtig Gas geben durfte. Martin Schulte war ein schwammiger Typ mit klebriger Ausstrahlung; seine Kunden ölte er so komplett ein, dass sie am Ende nicht mehr wussten, ob sie sich gerade beschweren oder verbinden lassen wollten. Jedenfalls legten sie beglückt auf. Das machte ihn zu einem wertvollen Mitarbeiter des T2-Teams.

Paul starrte auf Martin Schultes Tennissocken, als wären sie voller glibberig wimmelnder Maden. Martin Schulte durfte seine Füße auf den Tisch legen, weil er für Herrn Kletzke, den Abteilungsleiter, auf dem Hügel den Computer bediente, davon hatte Herr Kletzke nämlich wenig Ahnung, und Martin Schulte war schlicht der Erste gewesen, der diese Chance erkannt und ergriffen hatte. Hätte Paul seine Füße auf den Tisch gelegt, er wäre sofort zu Herrn Monschau, dem Personalleiter, geschickt worden. Das waren die feinen hierarchischen Unterschiede.

Paul ließ seinen Blick schweifen. In der hintersten Ecke auf der anderen Seite des Raums, geschätzte dreißig Meter entfernt, da saß Frau Gutschmidt und versuchte, eine Taste ihrer Telefonanlage zu treffen. Sie war die Schwächste unter den Schwachen, auf ihr lastete die Verachtung der gesamten Belegschaft. Ihr blieben noch etwa fünf Jahre bis zur Rente, eine weißhaarige Frau mit dem angstvollen Gesicht eines aufgeschreckten Uhus, die vor wenigen Jahren von ihrem Mann verlassen und nicht auf das Leben in der Wildnis vorbereitet worden war. Frau Gutschmidt konnte weder telefonieren noch mit einem Computer umgehen, noch flüssig lesen oder schreiben. Es war allen ein Rätsel, welche Verkettung von Zufällen und Fehleinschätzungen ihr zu dieser Anstellung verholfen hatte, und es war Konsens, dass die Tätigkeit im Call-Center für die T2-Vermittlung ja wohl der verlorenste, miserabelste und unbeliebteste Job der Welt sein musste, wenn sogar Frau Gutschmidt ihn ausüben durfte. Ihre letzte Beschäftigung an einer Supermarktkasse hatte sie verloren, weil sie es nicht geschafft hatte, die Waren über den Scanner zu ziehen. Sie konnte einem nicht einmal leidtun, denn sie war nicht einmal nett. Frau Gutschmidt war eine Einzelkämpferin, sie tauchte so gut wie nie im Pausenraum auf und saß die meiste Zeit allein an einem Vierertisch. Ihr war das wahrscheinlich recht, vermutete Paul, so fiel es nicht auf, dass alle ihre Kundengespräche ein einziges großes Desaster waren. Kunden, die mit Frau Gutschmidt telefoniert hatten, riefen nie wieder an. Das machte sie dann doch irgendwie auch zu einer wertvollen Mitarbeiterin des T2-Teams.

Paul stöpselte sein Headset in die dafür vorgesehene Buchse seiner Telefonanlage. Er hasste seinen Job, er hasste die missratenen Existenzen um ihn herum, und er hasste es, ein Teil von ihnen zu sein. Er langweilte sich zu Tode. Er fühlte sich unterfordert, gedemütigt, überflüssig sowie am falschen Ort, und im Innersten wusste er, dass es jedem einzelnen seiner Kollegen genauso ging – sogar Frau Gutschmidt – und er daher eben doch in einer Reihe mit ihnen stand. Das demütigte ihn zusätzlich.

Eine Schicht bedeutete annähernd hundert Kollegen, er kannte kaum jemanden von ihnen, und diejenigen, die er kannte, hätte er lieber nicht gekannt. Vielleicht mal abgesehen von Sandy Schorndorf, die einen sehr großen Busen und ein sehr kleines Hirn hatte und um die sich die männlichen Mitarbeiter des Call-Centers gruppierten wie ein Schwarm Bienen um ein prall gefülltes Honigglas. Trotzdem, wenn Paul die Wahl hatte zwischen dem Blick auf Sandy Schorndorfs Brüste und den Parkplatz, er wählte den Parkplatz. Der Parkplatz stand symbolisch dafür, dass man von hier auch wieder wegfahren konnte.

Paul setzte sein Headset auf und seufzte erneut. Der Anfang einer Acht-Stunden-Schicht. Eine Dreiviertelstunde Pause in der Mitte, dazwischen telefonieren ohne Punkt und Komma. Die meiste Zeit war Warteschlange, so hieß das, wenn mehrere Kunden in der Leitung hingen und darauf warteten, entweder verbunden zu werden oder eine Telefonnummer oder Adresse angesagt zu bekommen. Oder aus der Leitung zu fliegen, was oft genug vorkam. Wenn an der Telefonanlage eine kleine Lampe blinkte, dann war sie da, die Warteschlange. Da hieß es Tempo machen bei den Gesprächen. Je schneller die Lampe blinkte, desto mehr Kunden hingen in der Leitung. Die meiste Zeit feierte das Lämpchen eine Techno-Party und blinkte geschätzte zweihundert Mal in der Minute. Das konnte einen wahnsinnig machen.

Paul hatte sich das Rauchen angewöhnt, um wenigstens einmal in der Stunde fünf Minuten durchatmen zu können. Nichtraucher hatten hier verloren, da gab’s keine kleinen Pausen, da hieß es ackern, Stundensoll erfüllen, für die Raucher mitschuften. Paul hasste das Rauchen, aber nach sorgfältigem Abwägen zog er das Risiko eines qualvollen Krebstodes vor. Er war doch nicht bescheuert. Er würde niemals für Raucher mitarbeiten, er würde stets darauf achten, derjenige zu sein, für den mitgearbeitet wurde. Er seufzte noch einmal. Dann drückte er die grüne Taste.

«Schönen guten Tag, T2-Vermittlung. Mein Name ist Paul Uhlenbrock, was kann ich für Sie tun?» Paul hörte sich selbst schon gar nicht mehr zu, dieser Satz fiel ganz automatisch aus seinem Mund. «Sammeln Sie Herzen?» – «Haben Sie eine Payback-Karte?» – «Möchten Sie vielleicht ein leckeres Croissant zu Ihrem Tankeinkauf?» Ein Satz dieser Kategorie war das. Paul nuschelte die Begrüßungsfloskel manchmal so, dass der jeweilige Kunde kein Wort davon verstehen konnte – was aber sowieso egal war, denn niemand hörte bei diesem Satz richtig hin, und niemanden interessierte es, dass er Paul Uhlenbrock hieß.

«Tach.»

Die Stimme kam vom Nachbarplatz. Hatte sich da etwa gerade jemand hingesetzt? Bitte nicht. Der Anrufer, irgendein Herr Müller oder Meier oder Moldau, gab einen Städtenamen durch.

«In Berlin? Gerne», sagte Paul. Die erste Lüge. Nein, die zweite. Schönen guten Tag war auch schon falsch.

«Ich setz mich mal hierhin, ja?» Wieder diese Stimme. Wer quatschte ihn denn da einfach so von der Seite an? Sah der denn nicht, dass er telefonierte?

Paul beschloss, seinen Nachbarn vorerst zu ignorieren. «Kellermeier? Mit E-I oder A-I …»

«Ich heiß Kuli», sagte die Stimme. «Von Kulenkampff. Da gab’s auch mal so einen Showmaster. Kennst du vielleicht noch.»

Paul tippte «Kellerm» ein, drückte auf Suchen und ignorierte diesen Kulendings weiter. Da war er konsequent. «Da hätte ich doch sehr viele Einträge in Berlin. Gibt’s denn da auch einen Vornamen?» Das war immer das Schlimmste. Kunden, die nicht mitdachten. Überhaupt, Menschen, die nicht mitdachten. Überhaupt, Menschen.

«Uli. Also Ulrich», sagte die Stimme. «Aber du kannst mich ruhig Kuli nennen. Das machen alle.»

Jetzt konnte Paul nicht anders, jetzt musste er doch mal einen Blick zur Seite werfen. Ein freundlich dreinblickender, etwas rundlicher Mann um die vierzig, mit hellblondem Kurzhaarschnitt und schwarzem James-Brown-T-Shirt hatte sich da niedergelassen. Paul hatte ihn noch nie gesehen. Der Mann drehte sich in seinem Stuhl hin und her, grinste und verschränkte die Zeigefinger vor dem Bauch. Wieso grinste der? Was gab es denn hier zu grinsen? Hier gab es doch nichts zu grinsen. Das regte Paul jetzt schon auf. Sein Kunde, der Herr Müller oder Meier oder Moldau, verlor langsam ebenfalls die Geduld. Er verweigerte Herrn Kellermeiers Vornamen.

«Ja, dann müssten Sie aber die Straße wissen», sagte Paul und wusste, er war bereits auf dem sicheren Weg zur Eskalation. Sein Sitznachbar kratzte sich hinterm Ohr.

«Der Herr Monschau vom Personal hat gesagt, ich soll mich einfach auf einen freien Platz setzen», sagte er. «Da würd mich dann schon jemand einarbeiten.»

Herr Müller oder Meier oder Moldau fing an zu schimpfen. Irgendwas mit Idiot, Unverschämtheit, Inkompetenz und Schlafmützigkeit. Am Ende stand der Wunsch nach einem übergeordneten Gesprächspartner.

«Wieso denn jetzt meinen Vorgesetzten?», fragte Paul und schnappte nach Luft. Nach all der Zeit hatte er noch immer keine Methode entwickelt, seine Wut zu unterdrücken. «Sie wissen doch die Straße nicht. Und den Vornamen wissen Sie auch nicht. Was?»

Eine Flut von unaussprechlichen Beschimpfungen überrollte ihn. Am Ende stand die Frage nach seinem Namen. «Paul Uhlenbrock. Ja, ja, natürlich können Sie meinen Vorgesetzten sprechen. Moment.»

Paul drückte auf eine Taste zum Stummschalten und hob den Kopf. Kuli hatte aufgehört zu schaukeln. «Herr Kletzke», rief er.

Etwa fünf Meter entfernt, hinter dem riesigen Schreibtisch, hob ein klein gewachsener Mann mit langem Gesicht und lächerlich bunter Krawatte zum fliederfarbenen Hemd den Kopf.

«Beschwerde», sagte Paul und fing sich die teils mitleidigen, teils gehässigen Blicke seiner Kollegen ein. Martin Schulte zog seinen linken Socken hoch. Die gierten auf so was, wusste Paul. Das waren die Höhepunkte ihres unglaublich langweiligen Lebens.

Es dauerte keine drei Sekunden, da stand Herr Kletzke vor ihm. «Was ist denn hier los?» Er hatte die Brauen gehoben und schaute auf Paul herab wie ein Specht auf einen Regenwurm. «Beschwerde», antwortete Paul und bemühte sich, keinen Trotz zu demonstrieren. Es gelang nicht.

Pauls Nachbar hob die Hand. «Ich bin Ulrich Kulenkampff, Herr Kletzke.»

Herr Kletzke würdigte ihn keines Blickes. «Weshalb?», fragte er.

«Weil meine Eltern mich so …», setzte Kuli an, aber das war Paul dann doch zu albern. «Kellermeier, Berlin, kein Vorname, keine Straße», unterbrach er.

Herr Kletzke machte eine fordernde Geste. «Geben Sie mir mal Ihr Headset», verlangte er und zog sich, wohl wissend, dass alle Augen der Belegschaft auf ihn gerichtet waren, das Headset über den kahlen Schädel. Sandy Schorndorf biss in eine Möhre und sah hinreißend dabei aus.

Herr Kletzke setzte ein einstudiertes Lächeln auf, denn er war ja geschult; er wusste, das Lächeln übertrug sich, auch wenn der Kunde ihn nicht sehen konnte. «Ja, guten Tag, Kletzke ist mein Name», sagte er, legte den linken Zeigefinger auf die Unterlippe und nickte im Sekundentakt.

Der Neue beugte sich zu Paul hinüber. «Ich bin Kuli», sagte er, als wäre das nicht deutlich genug geworden.

«Ja», sagte Paul.

«Ich hab mich hier mal hingesetzt», sagte Kuli.

«Das ist selbstverständlich ein Fehler», sagte Herr Kletzke. «Ja, natürlich. Das geht ganz nach oben, natürlich.»

Paul sah sich schon bei Herrn Monschau. «Scheiße», sagte er.

«Ich kann mich natürlich auch woanders hinsetzen», antwortete Kuli freundlich und warf einen Blick auf die anderen Plätze. Seine neuen Kollegen starrten wie aufs Stichwort angestrengt auf ihre Monitore. Herr Kletzke hatte den linken Zeigefinger von der Unterlippe genommen und stattdessen die rechte Hand flach auf seinen Kopf gelegt. Das sah selten dämlich aus und betonte die Schweißflecken unter seinen Armen.

«Ach, wenn Sie wüssten, was wir für einen Beschäftigungsmangel haben», setzte er an. «Sonst würden die ja auch alle gar nicht hier arbeiten.» Paul glaubte sich verhört zu haben. «Bitte?», fragte er mehr zu sich selbst. Kuli hob die Schultern, schüttelte den Kopf und grinste.

Herr Kletzke geriet jetzt richtig in Fahrt. Er schien in Herrn Müller oder Meier oder Moldau einen neuen Freund gefunden zu haben, vielleicht fuhren sie ja bald sogar gemeinsam in Urlaub. «Ja, also, wenn Sie jemanden wissen, der kann sich ja dann mal hier melden», wieherte er und machte eine ausladende Geste in Richtung seiner Belegschaft. So beruhigte man einen aufgeregten Kunden, sollte das heißen, und darum bin ich der Abteilungsleiter, und Sie sind nur die Telefonisten, sollte das heißen, und schauen Sie mich an, dann wissen Sie, wie das Leben funktioniert, sollte das heißen. Leider hatte Herr Müller oder Meier oder Moldau keinen Sichtkontakt zu Herrn Kletzke und offenbar etwas in den falschen Hals bekommen. Selbst Frau Gutschmidt in der hintersten Ecke musste das abrupte, löwenähnliche Gebrüll aus Pauls Headset vernommen haben, denn sie kramte in ihrer Tasche nach dem Asthmaspray, das sie immer nur herausholte, wenn sie eigentlich vor Schreck am liebsten in die Tasche hineinschlüpfen wollte. Herrn Kletzkes Lachen gefror, und er nahm Haltung an. «Nein, das kriegen Sie erstattet, das ist klar», sagte er ernsthaft. «Ja … auch … ja, auch unser Gespräch jetzt hier, klar. Natürlich.»

Kuli hatte inzwischen ebenfalls ein Headset in der Hand und fummelte an seiner Telefonanlage herum.

«Wo schließ ich das denn an?», fragte er. Paul dachte kurz nach, dann entschloss er sich, seinen ganzen Unmut an Kuli auszulassen.

«Mann, da! Da in der Buchse. Das ist die einzige Buchse, wo das reinpasst. Sieht man doch», schnappte er und warf einen Kugelschreiber auf Kulis Platz. Ein guter Wurf, die Spitze zeigte genau auf die kleine Buchse, in die man das Kabel stecken musste.

«War ja nur ’ne Frage.» Kuli schien nicht im mindesten beleidigt zu sein. Er gab Paul den Kugelschreiber zurück, sozusagen auf dem Silbertablett, artig wie ein Klassenesel. Paul konnte damit nicht umgehen. «Schon gut», sagte er und merkte, wie seine gerade aufflackernde Aggression auch schon wieder verpuffte. Warum aufregen, dachte er. Ein Job ist ein Job ist ein Job. Und nachher war Feierabend. Und der Regen ließ sicher auch irgendwann nach. Herr Kletzke war inzwischen auf der Zielgeraden angekommen.

«Gut. Wiederhören, Herr Möhling. Ja. Wiederhören», sagte er beschwichtigend, drückte die rote Taste und riss sich das Headset vom Kopf. «Vollidiot», sagte er und meinte neben Herrn Möhling vermutlich auch alle Anwesenden.

Kuli hob erneut die Hand. «Herr Kletzke …»

Der schien ihn nun erstmals wahrzunehmen. «Wer sind Sie denn?»

«Kulenkampff, Ulrich», antwortete Kuli.

«Wie der Showmaster», ergänzte Paul genüsslich, aber Herr Kletzke wedelte Pauls Einwurf weg wie Karl Lagerfeld ein lästiges Nachwuchsmodel.

«Ist mein erster Tag heute», führte Kuli weiter aus. «Der Herr Monschau hat mich in die Mittelschicht gesetzt.»

«So, der Herr Monschau», sagte Herr Kletzke und schürzte die Lippen. Alle hier wussten, wie sehr sich Herr Kletzke und Herr Monschau hassten. Auf einer Weihnachtsfeier, so gegen halb vier in der Frühe, hatte Herr Monschau Pauls Kollegen Richard Schiefelbeck gestanden, dass er die Anstellung und Beförderung Herrn Kletzkes als größten Fehler seines Lebens betrachtete, noch vor der Heirat mit seiner frisch geschiedenen Exfrau Sabine, die ihm Haus, Hof und Kind genommen und eine Geschlechtskrankheit hinterlassen hatte. Das war zumindest das, was Richard Schiefelbeck von Herrn Monschau noch verstanden hatte. Paul kam plötzlich der Gedanke, dass Herr Monschau sie alle nur eingestellt hatte, um Herrn Kletzke zu ärgern.

Kuli sah sich Hilfe suchend um. «Ja, und nun bin ich hier. Jetzt müsste mich halt mal jemand einarbeiten.»

Herr Kletzke klatschte in die Hände. «Na, das kann ja dann gleich der Herr Uhlenbrock machen. Ich hab auf dem Monitor gesehen, dass Sie heute sowieso nicht mehr auf den Stundenschnitt kommen, Herr Uhlenbrock. Sie sind zu langsam.»

«Aber ich habe doch gerade erst …», wollte sich Paul verteidigen, doch Herr Kletzke schnitt ihm mit einer Feldherrengeste das Wort ab.

«Zu langsam und renitent. Schlechte Kombination. Bringen Sie Herrn Kuhlmann …»

«Kulenkampff!», warf Kuli hilfsbereit ein.

«… die nötige Technik bei, plus für Sie außerirdisches Tempo.»

Ohne ein weiteres Wort schritt Herr Kletzke zurück auf den Hügel.

«Super», freute sich Kuli.

«Scheiße», sagte Paul.

Spaß macht das

Wie, Spaß?», fragte Paul, stützte sich auf einen Stuhl und zog ein Gesicht, als hätte ihm jemand den Urlaub gekürzt.

Kuli antwortete nicht sofort, er musste sich konzentrieren. Er versuchte nun schon zum dritten Mal, sich einen Latte macchiato aus dem so riesigen wie unförmigen Kaffeeautomaten zu ziehen, der nichts weniger war als das Herz der T2-Vermittlung, zentrale Anlaufstelle, Kontaktbörse und Trostspender zugleich. An diesem Kaffeeautomaten wurden Beförderungen beschlossen, Kollegen gemobbt und Schichtpläne geändert.

Beim ersten Mal hatte Kuli vergessen, den Plastikbecher unter die Düsen zu stellen, beim zweiten Mal zwar die Milch hineinfließen lassen, dann aber den Becher weggezogen, bevor der Kaffee kam. Um sich nichts anmerken zu lassen, hatte er ein paar kräftige Schlucke der entsetzlich wässrigen Milch getrunken, den Rest unauffällig in den Ausguss gekippt und nun den Becher ein drittes Mal untergestellt. Paul hatte all das unkommentiert gelassen.

Der Pausenraum, in dem sie sich befanden, war niemals für eine so große Anzahl von Telefonisten konzipiert worden. Es gab zwei kleine Tische, einen Kühlschrank, eine Spüle und ein paar selbstgemalte Bilder an der Wand, die der Belegschaft freundlicherweise von Frau Stefanie Baldrup aus der Kundenbetreuung zur Verfügung gestellt worden waren. Das verrieten kleine Hinweisschilder an den Rahmen, die gleichzeitig den Kaufpreis des jeweiligen Kunstwerks verrieten. Was genau auf den Bildern zu sehen war, wusste Paul nicht, irgendwas mit Meer und Blumen und Katzen, er hatte sich den Kram noch nie richtig angesehen. Er wusste nur, dass zumindest in den letzten zwei Jahren kein einziges Bild abgehängt worden war und Frau Stefanie Baldrups Nebenverdienstmöglichkeiten offensichtlich beschränkt waren.

Es roch nach ewigem und nicht auszumerzendem kalten Rauch; früher, vor dem Nichtraucherschutz, war es hier zugegangen wie in einer Absturzkneipe nachts um halb fünf; in dem dichten Gedränge aus Rauchern und ihren Schwaden sollte der Sage nach sogar der eine oder andere Mitarbeiter verschwunden und nie wieder aufgetaucht sein. So erzählten es jedenfalls die Alteingesessenen, allesamt Nichtraucher, aber die waren ja sowieso alle verrückt, dachte Paul, denn das waren ja die, die für die anderen mitarbeiteten. Heute ging man zum Rauchen vor die Eingangstür im Erdgeschoss, was das kleine Durchschnaufen aufs angenehmste um zwei Minuten verlängerte.

«Ja, Mensch, wann kommt man schon mal in so kurzer Zeit mit so vielen Leuten in Kontakt», sagte Kuli endlich und beobachtete zufrieden, wie die braune Brühe auf seine Milch lief. «Ist doch super. Macht doch Spaß!»

Paul konnte seine Verachtung nicht verbergen. «Redest du dir das jetzt schön hier? Was denn für ein Kontakt? Die haben’s eilig, wir halten sie hin, stellen uns blöd an und werden dafür angeschissen. Das hält man doch im Kopf nicht aus, was das für ein Scheißjob ist.»

«Also, als so unfreundlich hab ich die Kunden gar nicht empfunden», antwortete Kuli. Paul schaute nur kurz hoch.

«Okay, ein paar schon», gab Kuli zu. »Aber ich bin ja auch noch ein bisschen langsam. Au, Scheiße! Scheiße, au!»

Er hatte sich die Lippen verbrannt.

Paul verlor sich in Gedanken. Das passierte ihm manchmal, das tat ihm gut, das war sein Ausstieg aus der Zeitachse der Wirklichkeit, wenn es gar zu blöd wurde. Und gerade wurde es ziemlich blöd. Er fragte sich, ob so ein Kaffeeautomat eigentlich eine FSK-Freigabe benötigte. Gut, das hieß bei Kaffeeautomaten sicherlich ganz anders, meinte aber eigentlich dasselbe. TÜV hieß das, fiel ihm ein, und er fand den Gedanken schön, dass da so ein Kaffeeautomat auf so einer Hebebühne stand und sich mehrere Mechaniker in blauen Overalls und mit ölverschmierten Händen darunterbeugten und ihn für den Straßenverkehr freigaben. Dann dachte er, dass in Amerika der Kaffeemaschinenhersteller jetzt wohl verklagt worden wäre und dass sich Kuli mit dem erstrittenen Geld ein Haus am See in der Stadt hätte kaufen können, auch wenn er, Kuli, bislang der Einzige gewesen war, der jemals den Kampf mit dem Kaffeeautomaten verloren hatte. Weiter wollte er dann aber doch nicht abschweifen. Denn eigentlich ging es hier ja um Grundsätzliches.

«Die sind auch unfreundlich, wenn du schnell bist, die Kunden», sagte er. «Die sehen dich ja nicht. Da haben die keinen Respekt. Geht’s?»

Kuli machte eine wegwerfende Geste und nahm die Hand vom Mund. «Wiefo ham die kein Reschpeckt?» Er befingerte seine Unterlippe.

«Ist halt anonym. Da kann man schön die Sau rauslassen», schimpfte Paul.

«Ischt das nicht ein bischschen zu …»

«Nee, gar nicht, das ist gar nicht zu.»

Jetzt war Paul auf Betriebstemperatur. «Ich sag dir mal was: Niemand wird freiwillig Call-Center-Agent, okay? Es gibt drei Berufe, ja, drei Berufe gibt es. Wenn du auf die Welt kommst, wenn du in die erste Klasse kommst und gefragt wirst, was willst du denn mal werden, wenn du groß bist, was bist du denn da von Beruf, da gibt es genau drei Berufe, die niemals, nicht ein einziges Mal genannt werden: Müllmann bei den Jungs, Prostituierte bei den Mädchen und Call-Center-Agent bei beiden. Leichenbestatter, okay. Imbissbude, meinetwegen. Aber nicht Call-Center-Agent. Allein schon dieses Wort: Call-Center-Agent! Wie klingt das denn? Wollen die uns eigentlich verarschen, wollen die uns lächerlich machen? Call-Center-Agent! Mit der Lizenz zum Quatschen, oder was? Sag das mal auf einer Party, hey, ich bin Call-Center-Agent, da werden dir die Frauen aber nachrennen, da bist du aber mal ’ne ganz fette Partie, bist du da!» Er holte tief Luft. «James Bond ist Agent! Wir sind das nicht. Niemand wird freiwillig Call-Center-Agent, das heißt, wir alle hier sind woanders gescheitert oder hatten keine Alternative. Und die Idioten, die hier anrufen, die wissen das, die schauen auf uns herab. Wenn du hier überleben willst, musst du dagegenhalten, konfrontieren, aggressiv sein, keine Gefangenen machen. Du musst selbst so unfreundlich sein, wie’s nur irgendwie geht.»

«So habe ich das noch nicht betrachtet», sagte Kuli und stellte seinen Kaffee auf den Tisch, um ihn nie wieder anzurühren.

Paul klopfte sich zwei Mal gegen die Brust. «Das ist eine Frage der Würde.»

Er nahm einen Becher aus der Halterung des Automaten, ging zur Spüle, füllte ihn mit Leitungswasser und gab ihn Kuli, der dankbar einen Schluck trank und sein T-Shirt nur ganz leicht bekleckerte.

«Wie lange machst du das denn schon?», fragte Kuli und suchte nun offensichtlich nach einem Taschentuch.

Paul seufzte. Höchste Zeit, eine rauchen zu gehen. «Zwei Jahre. Zwei Jahre Schichtdienst», versetzte er knapp, zeigte auf die Einweghandtücher an der Spüle und wollte schon den Raum verlassen, als ihm Sandy Schorndorf in die Quere kam.

«Hi», sagte sie, lächelte ihn an, schob sich sehr nah an ihm vorbei durch den Türrahmen und bewegte sich in Richtung Kühlschrank. Paul beschloss, noch ein wenig zu bleiben.

«Was hast du denn vorher gemacht?», fragte Kuli, schien aber ebenfalls leicht abgelenkt zu sein.

«Was?»

«Was du vorher gemacht hast?»

«Studiert», sagte Paul.

«Okay», sagte Kuli.

Sandy Schorndorf hatte einen Apfel aus dem Kühlschrank genommen und grinste die beiden Männer an. «Ein Apfel», sagte sie treffend.

Paul und Kuli nickten. Sie setzte sich an den Tisch.

«Ich bin Kuli», sagte Kuli.

«Okay», sagte Sandy Schorndorf und vertiefte sich in ihr Obst. Kuli wandte sich wieder Paul zu.

«Was denn?»

«Was denn, ‹was denn›?», fragte Paul.

«Studiert. Du.»

«Ach so. Germanistik, Psychologie und Politik.»

«Was denn, du?»

«Wieso denn nicht?», antwortete Paul barsch. «Traust du mir das nicht zu, oder was?»

«Doch, na klar. Natürlich, wieso denn nicht. Studiert, klar. Ja, sicher. Aber …»

«Was?»

Kulis Lächeln ähnelte dem eines Buddhas. «Na ja … Keinen Job gefunden?»

«Nee, keinen Abschluss gemacht. Hat mich genervt, an der Uni. Lauter Schwätzer.»

Darauf wusste Kuli erst mal nichts zu sagen. Sandy Schorndorfs grüner Apfel trug mittlerweile leicht rote Spuren. Paul hoffte, es kam vom Lippenstift und nicht vom Zahnfleisch.

«Ich bin ja gerade erst hierhergezogen», nahm Kuli den Faden wieder auf.

«Soso.» Paul hatte jetzt wirklich keine Lust mehr. «Ich geh mal noch schnell eine rauchen», sagte er.

Kuli reckte sich.

«Aus Dortmund. War da beim Bund.»

«Was? Du?», unterbrach ihn Paul.

«Ja, wieso denn nicht?» Kuli war nun seinerseits beleidigt. «Was dagegen?»

«Nee. Aber du wirkst so …»

«Wie denn?»

«Unsoldatisch.»

Kuli schnaubte. «Kann ja nicht jeder immer sofort den einen Plan haben, der ihn ganz nach vorne bringt, oder?»

«Nee, klar.»

«Muss man sich ja erst mal ausprobieren. ’ne Idee kriegen.»

«Klar. Aber du bist doch bestimmt … na ja, vierzig oder so.»

Kuli zupfte an der Kordel seines Kapuzenpullovers. «Na und? Hab ja auch noch andere Sachen gemacht. Außerdem war das ein super Arbeitgeber.»

«Klar.»

«Gute Kameradschaft und so.»

«Okay.»

«Und viel an der frischen Luft war man.»

«Na, prima», sagte Paul. «Alles genau wie bei uns.»

Sandy Schorndorf kicherte. Kuli errötete. «Holger Staniak aus meiner Grundschule», sagte er nach einer kurzen Pause.

Paul stöhnte innerlich auf. «Wer?», fragte er notgedrungen.

«Holger Staniak. Der wollte Müllmann werden. Ganz viele wollten Müllmann werden.»

«Ach?»

«Ja, und der ist jetzt Zahnarzt, der Holger Staniak. Und ich finde übrigens überhaupt nicht, dass ich irgendwie gescheitert bin. Wollen wir mal weitermachen? Das reißt ja sonst ein hier.»

 

Die Stunden schlichen dahin, und da Kuli ein erstaunliches Computer-Verständnis offenbart und Paul sowieso keine Lust mehr hatte, ließ er Kuli nun schon seit etwa zwei Stunden alleine telefonieren. Paul hörte über seinen Kopfhörer zu und drückte hier und da mal ein Knöpfchen oder half bei der Eingabe von Abkürzungen und Städtenamen. Alles in allem, wenn man großzügig war, fünfe gerade sein ließ und allen Gleichmut zusammennahm, stellte sich Kuli insgesamt gar nicht mal so ungeschickt an. Gut, er brachte ständig alles durcheinander und verband Kunden, die eigentlich nur die Telefonnummer wollten, oder verschickte SMS mit Kundendaten an Leute, die diese weder erfragt hatten noch benötigten. Aber im Vergleich zu beispielsweise Frau Gutschmidt war er Weltklasse.

«Schönen gut … guten Tag, T2-Vermittlung, was kann ich für Sie tun?», fragte Kuli ein weiteres Mal in das kühle Rauschen hinein, der seltsam monotone Singsang dieser Formel ging ihm immer besser über die Lippen.

«Name», sagte Paul von der Seite.

«Gib … mir … das Telefon!», hörten sie eine gepresst klingende, männliche Stimme am anderen Ende der Leitung. Kuli stutzte. Das schien nicht ihm zu gelten, das ergab ja sonst gar keinen Sinn, ihm musste man das nicht sagen.

«Was?», sagte Kuli und meinte Paul.

«Name», antwortete Paul genervt. «Du hast deinen Namen vergessen.»

«Kulenkampff», sagte Kuli irritiert, zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder seinem Anrufer zu. «Kulenkampff, mein Name ist Kulenkampff.»

Es knallte in der Leitung. Der Mann jaulte auf. «Hau ab, ja! Hau endlich ab!», schrie nun eine weibliche Stimme. Offensichtlich hatte sie ihrem Gegenüber eine gescheuert. Kuli und Paul schauten sich ratlos an.

«Drehst du jetzt völlig durch?», brüllte nun wieder der Mann. «Scheiße, das schwillt an. Wie soll ich das denn jetzt erklären?»

«Hallo?», fragte Kuli schüchtern.

«Sag doch die Wahrheit!», fauchte die Frau. «Sag doch einfach mal irgendwem die Wahrheit, Henning! Über dein Doppelleben! Was für ein Mensch du in Wirklichkeit bist!»

«Was geht denn da ab?» Paul kratzte sich am Kopf und nahm das Headset ab, setzte es aber sofort wieder auf. Was sollten sie tun? Um Hilfe rufen? Aber wen? Doch nicht Herrn Kletzke?

Kulis linkes Bein fing an zu zucken, er starrte auf seinen im Moment völlig nutzlosen Monitor.

«Was bin ich denn für ein Mensch?» Das war nun wieder der Mann. Er atmete so schwer, dass es sogar durchs Telefon zu hören war. Er schien große Mühe zu haben, seine Wut zu unterdrücken.

«Hallo?», fragte Kuli noch einmal, nun etwas lauter. Die Frau stieß einen fast verzweifelt klingenden Lacher aus.

«Du manipulierst. Du denkst nur an dich und deine Karriere. Du spielst mit den Gefühlen anderer Leute. Du benutzt deine Frau, und du hast mich benutzt», ratterte sie in atemberaubendem Tempo herunter. «Aber damit ist jetzt Schluss. Ich lass das alles auffliegen.» Die nun folgende Stille wirkte bedrohlich. Kuli war fast froh, als der Mann das Schweigen brach. «Du lässt das auffliegen?», fragte er, und da er das sehr leise sagte, wusste Kuli sofort, dass es nun richtig gefährlich wurde.

«Was machen wir denn jetzt?», flüsterte er Paul zu, der wie versteinert an seiner Seite saß und die sonst so zur Schau gestellte Gleichgültigkeit verloren hatte. Paul schüttelte nur den Kopf.

«Hallo!!! Können Sie mich hören?», brüllte Kuli in sein Headset, so abrupt und so laut, dass Martin Schulte die Füße vom Tisch nahm. Die Anrufer reagierten nicht.

«Ich hab die Schnauze so voll von dir, du Pazifist!», schimpfte die Frau und benutzte den eigentlich doch eher positiven Begriff als Schimpfwort. «Ich könnte jedes Mal kotzen, wenn ich deine Fresse in der Zeitung sehe! Du kannst das scheiß Auto wiederhaben! Und die Wohnung! Und alle deine beschissenen Geschenke! Ich lasse mich nicht länger von dir kaufen! Und nimm endlich deine Finger von mir, verdammte Scheiße … sonst gehe ich zu deiner Frau!»

Kuli und Paul hörten die Frau würgen, offensichtlich drückte der Mann nur noch fester zu. «Willst du mich erpressen?», zischte er. «Renn doch gleich zur Presse. Einmal fünfzehn Minuten Ruhm für dich. Kann man doch mal machen.»

«Ich will nur, dass du gehst», flehte sie mit schwacher Stimme. «Geh zurück zu deinen Kindern.»

Das war offenbar der falsche Knopf, den sie da gedrückt hatte, denn die Wut des Mannes kochte nun über wie ein Liter Milch auf zu hoher Flamme. «Lass meine Kinder aus dem Spiel», brüllte er.

Paul hielt es nicht mehr aus, er griff sich Stift und Zettel. «Ich schreib mir mal die Nummer auf», sagte er und schrieb. Wenigstens was tun, was auch immer. Der Mann aber schien inzwischen eine Entdeckung gemacht zu haben. «Gib mir das Telefon. Sofort!», befahl er.

«Oh, oh», sagte Paul.

«Nein», sagte die Frau.

«Sag mal, hast du da gerade jemanden angerufen?» Der Mann verlor endgültig die Nerven. «Gib mir das scheiß Telefon!», brüllte er so laut, dass es in der Leitung zerrte.

Dann hörten sie einen weiteren Knall, ähnlich einem Peitschenhieb, schließlich wurde kommentarlos aufgelegt. Kuli bemerkte, dass seine Beine zitterten. Sein Telefon begann sofort wieder zu läuten, sie hatten Warteschlange. Kuli ignorierte es. «Scheiße, was war das denn?», fragte er.

«Hatte ich auch noch nicht», antwortete Paul knapp.

«Vielleicht ein Versehen, Vielleicht hatte die vorher hier angerufen und ist auf die Wahlwiederholung gekommen. Oder wir sind eingespeichert, und die hat die Kurzwahltaste gedrückt», vermutete Kuli und nahm sein Headset ab. Er spürte die Achselnässe unter seinen Armen und den Schweißfilm auf seiner Stirn.

«Oder die wollte einfach, dass wir das hören.» Paul riss den Zettel mit der Telefonnummer vom Block.

«Aber warum denn wir? Warum nicht die Polizei? Rufen wir die jetzt?», fragte Kuli hilflos.

«Moment.» Paul stand auf und ging zu Martin Schulte hinüber, der das irgendwie geahnt zu haben schien und zu diesem besonderen Anlass – Paul war noch nie freiwillig auf ihn zugegangen – sogar seine Schuhe wieder angezogen hatte. Paul hasste das, was nun folgen würde, aber ein Mann musste eben tun, was ein Mann tun musste.

«Du hast doch einen Kumpel bei unserer Kundenbetreuung im dritten Stock?», brachte er mühsam hervor, während Martin Schulte seine Mundwinkel zu einem triumphierenden Lächeln nach oben zog. «Ich habe meine Kumpel überall, man trifft sich, man hilft sich, man ist füreinander da», ölte er und genoss den Moment, gebraucht zu werden. Paul würgte innerlich und grinste äußerlich. «Ich habe hier eine Telefonnummer. Du könntest mal herausfinden, ob der bei T2-Mobilfunk-Kunde ist.»

«Lass mich raten», sagte Martin Schulte. «Der Anrufer, den der Neue eben angebrüllt hat, will sich über ihn beschweren. Ich soll für euch ermitteln, wie er heißt, wo er wohnt, wie seine E-Mail-Adresse lautet und wie hoch seine Handyrechnung ist. Und dann schreibt ihr ihm eine Entschuldigungsmail vom Firmen-Account, damit er Ruhe gibt.» Martin Schulte freute sich über seine Schläue.

«Handyrechnung ist egal», grinste Paul und beugte sich verschwörerisch nach vorn. «Aber mit dem Rest hast du den Nagel auf den Kopf getroffen.»

Martin Schulte beugte sich nun seinerseits vor. «Nageln ist meine Stärke», sagte er und fand sich und seinen Witz einfach großartig. Paul lachte laut auf, aber er wusste, es würde ihre letzte direkte Begegnung in diesem Berufsleben bleiben, soweit er es irgendwie beeinflussen konnte. Martin Schulte wurde abrupt ernst. «Was kriege ich dafür?»

«Bitte?» Pauls Lachen erstarb.

«Ich hab gesehen, du hast am Samstag Spätschicht, Paul. Die will ich haben. Du kriegst meine Frühschicht.»

«Aber das geht nicht. Ich habe am Freitag Mittelschicht, und die dauert bis acht, und die Frühschicht beginnt um sechs, und da müssen elf Stunden dazwischen sein, und ich hab auch was total Wichtiges …», protestierte Paul, aber Martin Schulte winkte ab.

«Ich hab doch gesagt, ich hab meine Kumpel überall. Das wird kein Problem sein. Deal?»

Er streckte Paul die Hand hin.

Paul schlug ein, aber da war nicht viel zu schlagen. Martin Schulte kam sozusagen ohne Händedruck aus, dafür schwitzten seine Innenflächen stark. So musste es sich anfühlen, einem gerade aus dem Wasser gezogenen Aal die nicht vorhandene Flosse zu schütteln.

Martin Schulte drückte seinen schon seit Ewigkeiten unverschämt hartnäckig klingelnden Anrufer aus der Leitung und wählte eine interne Nummer an.

«Manuel», frohlockte er. Paul stellte sich vor, wie besagter Manuel in diesem Moment in einen Eimer kotzte. «Alles klar? Super. Hör mal, du alter Hecht», sagte Martin Schulte und gab Manuel die Nummer durch, die Paul auf den Zettel geschrieben hatte. Er notierte sich ein paar Daten und zwinkerte Paul dabei immer wieder zu. «Danke, mein Bester», sagte er abschließend. «Ach, das mit dem Rettungswagen Freitagabend geht klar. Kannste einfach mitkommen, ich freu mich! Aber schön anschnallen, freitags geht’s immer richtig ab!» Er lachte sich halb tot, und Paul ertappte sich bei dem Gedanken, dass er das «halb» gerne gestrichen hätte.

«Hast Glück gehabt. Die ist sogar Gold-Kundin bei uns. Lisa Gerhard heißt sie», sagte Martin Schulte. «Wohnt gleich hier um die Ecke. Ich hab’s dir aufgeschrieben. Hat ’ne ziemlich hohe Handyrechnung. Aber immer liquide.»

«Alles klar, danke.»

«Denk an Samstag, Paul.»

«Alles klar, danke.»

«Jederzeit wieder.»

«Alles klar.»

Martin Schulte zog zufrieden seine Schuhe aus, legte die Füße auf den Tisch und grinste selbstgefällig in sich hinein. Dann winkte er Paul hinfort wie ein Sonnenkönig den ungewaschenen Küchenjungen und meldete sich bei seinem nächsten Anrufer, wie stets mit einem gewinnenden und gütigen Grinsen im Gesicht.

Paul schleppte sich zurück zu Kuli, der immer noch wie paralysiert auf seinen Monitor starrte. Er fragte sich, warum sich der Gewinn des Namens und der Adresse trotzdem wie eine Niederlage anfühlte.

«Lisa Gerhard heißt die», sagte er mürrisch. «Pestalozzistraße wohnt die. Hier bei uns in Berlin.»

«Wo ist das denn?», fragte Kuli.

Paul sah den anhaltenden Schock in seinen Augen.

«Gleich hier um die Ecke. Brauchst du ’nen Kaffee?»

«Neee, Kaffee ist mir zu gefährlich», antwortete Kuli, und da er so gar nicht zu Scherzen aufgelegt schien, musste das wohl ernst gemeint gewesen sein.

«Rufen wir denn jetzt die Polizei oder nicht?», fragte er und blickte nervös zu Herrn Kletzke, der soeben mitbekommen hatte, dass hier, in der hintersten Ecke am Fenster, nicht korrekt gearbeitet wurde.

«Und wenn da gar nix war?», fragte Paul zurück. Unnötigen Ärger galt es stets zu vermeiden.

«Wie, wenn da nix war? Da war doch …»

«Die haben doch nur gestritten», unterbrach Paul. «Jetzt stell dir mal vor, wir rufen die Bullen, die tauchen da auf, und dann hatte die nur ein bisschen Streit mit ihrem Freund. Was glaubst du, was der Kletzke uns erzählt.»

«Das ist doch egal, was der uns erzählt.» Kuli konnte es nicht glauben. «Jetzt stell dir mal vor, wir rufen die Bullen nicht, und die hätte gerettet werden können, und dann ist da was ganz Schlimmes passiert, und zwar nur, weil wir nicht aus dem Quark gekommen sind. Da will ich dich aber mal sehen. Und mich.»

Herr Kletzke erhob sich von seinem Schreibtisch und machte sich auf den Weg zu ihnen.

«Wir haben Warteschlange», argumentierte Paul.

«Und warum hast du dir dann den Namen und die Adresse überhaupt besorgt?», fragte Kuli.

«Weil … darum.»

«Aha.»

«Na, die Herren», sagte Herr Kletzke und baute sich vor ihnen auf. «Kleines Nachmittagspläuschchen? Gemütlicher Kaffeeklatsch? Der Beginn einer zärtlichen Freundschaft?»

Paul schüttelte den Kopf. «Auf keinen Fall, Herr Kletzke. Herr Kulenkampff hat etwas Probleme mit der Kundenweiterleitung, keine große Sache. Aber ich muss ihm das immer wieder erklären, damit er das auch wirklich richtig verinnerlicht und seinen Stundenschnitt schafft, Herr Kletzke.»

«So.»

Kuli nickte. «Jawohl, Herr Kletzke, Herr Uhlenbrock macht das ganz ausgezeichnet, das liegt alles nur an mir und daran, dass ich neu bin.»

Herr Kletzke wusste offenbar nicht so ganz genau, ob man sich gerade über ihn lustig machte, und zog misstrauisch die Brauen in Richtung Haaransatz. Martin Schulte mischte sich über den Vierer-Tisch hinweg ein. «Die arbeiten super, Herr Kletzke», rief er lässig durch den Raum und lachte seinen Abteilungsleiter an. «Ich hab das schon die ganze Zeit auf dem Schirm!»

Herr Kletzke sah plötzlich zufrieden aus.

«Wenn Sie das sagen, Herr Schulte.» Er drehte sich um und ging zurück auf seinen Hügel. Martin Schulte streckte den Daumen in die Höhe und malte ein großes ‹S› in die Luft. ‹S› für Samstag. ‹S› für Spätschicht.

‹S› für Spacken, dachte Paul, setzte sein schönstes Lächeln auf und hob seinerseits den Daumen.

«Gleich ist Feierabend», sagte er zu Kuli. «Gleich haben wir’s geschafft.»

Kuli wand sich. «Ich weiß das alles nicht …», fing er an.

«Was denn?»

«Diese Lisa Gerhard …»

Paul schnaufte. Dann gab er sich einen Ruck. «Ja, komm, ich ruf die an», sagte er und griff nach dem Zettel mit der Telefonnummer. Er wählte, es klingelte, sie warteten.

Fünf Sekunden später klackte es in der Leitung, jemand ging ran, sagte aber nichts.

«Hallo?», fragte Paul.

Schweigen.

«Hier ist Uhlenbrock, wir hatten Sie eben am Apparat …», versuchte er es dann.

«Verdammt noch mal», brüllte da eine weibliche Stimme, die dennoch tränenerstickt schien. Kuli und Paul zuckten zusammen.

«Wo bleiben Sie denn?», schrie die Frau. «Was glauben Sie denn, warum ich Sie angerufen habe?»

«Ich …», begann Paul.

«Sie sollten herkommen und mir helfen! Meine Adresse werden Sie ja wohl rausfinden können, oder was?»

«Natürlich», sagte Paul.

«Dann los! Arschlöcher!», schloss sie und legte auf.

Kuli und Paul schauten sich an.

«Tja», sagte Paul.

Kuli nickte. «Wo wohnt die noch mal?»

Der Fernseher ist kaputt

Keiner da», sagte Paul mürrisch. Sie waren unter leichten Mühen die hölzerne Wendeltreppe hinaufgestiegen und standen nun im vierten Stock direkt vor Lisa Gerhards Wohnungstür. Kuli hatte geklingelt, und während sie warteten, tropfte es von ihrer regennassen Kleidung auf den Boden. Das leise hallende Plitsch, Platsch, Plitsch war – vom dumpfen, unheimlich grollenden Dröhnen der Straße abgesehen – das einzig wahrnehmbare Geräusch, ansonsten drang kein Laut zu ihnen. Schon gar nicht aus Lisa Gerhards Wohnung.

«Erst mal abwarten», antwortete Kuli und rümpfte die Nase. Seine Jeans entfalteten den charakteristischen Geruch von nassem Hund.

Paul hatte recht gehabt, die Pestalozzistraße befand sich tatsächlich ganz in der Nähe des Call-Centers. Sie mussten nur in die Grolmanstraße einbiegen, vorbei an all den Cafés, Kneipen und Restaurants, die sich rund um den Savignyplatz gruppierten, und dann die erste Querstraße links nehmen. Der Regen war immer dichter geworden, und die Menschen unter den Regenschirmen wirkten auf Kuli noch mürrischer als sonst. Das war ja eh so etwas, was Kuli mit Berlin assoziierte: eine ganze Stadt voller schlecht gelaunter Menschen. Er hatte natürlich eine Ahnung, dass das nicht die ganze Wahrheit sein konnte, aber wenn es denn irgendwo in irgendeinem Stadtteil einen Hort der guten Laune gab, dann hatte er sich gut getarnt und trat wahrscheinlich nur an besonders sonnigen Tagen an die Öffentlichkeit. Und die waren im Moment selten. Jedenfalls hatten er und Paul sich angeschwiegen und waren am A-Trane vorbeimarschiert, dem besten Jazz-Club der Stadt. Dann weitere Altbauten, Cafés, ein Drogeriemarkt. Bis sie schließlich vor einem für Charlottenburg fast enttäuschend schlichten Altbau standen, gelb verblichene Fassade, grau ummalte Fenster.

«Hier wohnt sie», hatte Paul gesagt, es waren seine ersten Worte gewesen, seit sie das Call-Center verlassen hatten. Und nun standen sie hier im Flur und warteten und tropften.

Das Haus zu betreten war einfach gewesen. Auf ihr Klingeln unten hatte Lisa Gerhard nicht reagiert, aber gerade als sie, unschlüssig, wie sie waren, schon wieder verschwinden wollten, hatte sich die Haustür geöffnet, und ein Asiate mit grünen Warmhaltekartons war herausgekommen. «Ling Wai – China, Thai und Vietn. Spez.» stand auf seiner Jacke, und Paul bemerkte zunächst, dass er Hunger hatte, und überlegte dann, ob es denkbar wäre, in Vietnam einen Lieferservice mit deutschen, kroatischen und belgischen Spezialitäten aufzumachen und so zu tun, als sei das alles eins. Der liefernde Asiate hatte ihnen jedenfalls die Tür aufgehalten, sie waren ein paar Stockwerke gestiegen, hatten erneut geklingelt und warteten und tropften weiter. Es tat sich weiterhin nichts.

Paul verschränkte die Arme vor der Brust. «Das ist doch eine totale Scheißidee, ist das. Wir dürfen das hier doch gar nicht, da gibt’s doch auch Datenschutz und so.»

Kuli seufzte. «Ich klingle noch mal.» Er streckte die Hand aus.

«Brauchste nicht», sagte Paul mürrisch. «Die Tür ist offen.»

«Was?»

«Offen, sieht man doch. Das Schloss ist nicht eingerastet. Hier.»

Paul tippte die Wohnungstür an, die mit kleinem Klicken und anschließendem Scharren ein paar Zentimeter weit aufschwang.

«Warum hast du das denn nicht gleich gesagt?», fragte Kuli und tippte die Tür nun seinerseits an, sodass sie sich noch ein wenig weiter öffnete. Jetzt konnte man schon etwas vom Flur dahinter erahnen, ein feiner Parkettboden glänzte sie an, die Wand war verputzt und in einem gedeckten Grünton gestrichen.

«Weil das nichts geändert hätte», sagte Paul. «Oder willst du jetzt hier einbrechen? Du kannst da ja nicht einfach reingehen, nur weil die Tür offen ist.»

«Nein?», fragte Kuli harmlos.

«Nein!», antwortete Paul bestimmt.

Kuli tippte die Tür ein weiteres Mal an. Jetzt sah man schon mehrere Zimmer, die von dem scheinbar endlosen Flur abgingen; die Türen waren weiß und strahlten so unbeschmutzt vor sich hin, als wären sie frisch lackiert. An der Garderobe hing ein einzelner grauer Damenmantel, der allerdings ausgesprochen wertvoll aussah und dekorativ platziert war. Sonst sahen sie nichts und niemanden.

«Siehste. Niemand da. Auf Wiedersehen», sagte Paul und wandte sich zum Gehen. Kuli hielt ihn an der Schulter fest.

«Jetzt warte doch mal», sagte er. «Hallo?», rief er halbherzig.

Keine Antwort.

«Hallo??»

Keine Antwort.

«Komm, wir rufen die Bullen. Lass uns abhauen», drängte Paul.

Aber Kuli konnte sich nicht losreißen.

«Nee, die Tür ist offen. Das ist doch nicht normal.»

«Natürlich ist das nicht normal. Deshalb rufen wir ja die Bullen», sagte Paul und zog Kuli am Ärmel. Nicht, dass er Angst gehabt hätte, wovor auch, aber jetzt hier einfach so in die Wohnung einer fremden Frau einzudringen, deren Adresse man sich auf zumindest zweifelhafte Art besorgt und deren Privatleben man gefälligst zu akzeptieren hatte, so wie man ja auch Pauls Privatleben gefälligst zu akzeptieren hatte, das ging ihm einfach kolossal auf den Zeiger.

«Ich geh rein», sagte Kuli.

«Ich nicht», sagte Paul.

«Muss man doch mal nachsehen», sagte Kuli.

«Finde ich nicht», sagte Paul.

«Ich war doch nicht beim Bund, um jetzt zu kneifen», sagte Kuli.

«Und wenn wir da drin eine Leiche finden?», fragte Paul. Das war sein letzter Trumpf, den hatte er sich aufgespart.

Und tatsächlich, Kuli wirkte ernstlich erschrocken.

«Meinst du?»

«Na klar!»

«Ach so.»

Für einen Moment wirkte es, als hätte Paul gewonnen, als würden sie jetzt gleich die Holzstufen wieder hinuntersteigen und unten, am Fuß der Treppe, die Polizei rufen, dann gemütlich nach Hause gehen, jeder für sich, und Paul würde vielleicht einen Film gucken, aber sicherlich keinen Krimi, irgendwas ohne Mord und Geschrei und Panik, vielleicht was mit Tieren und Zeichentrick von 1955.

Dann stieß Kuli die Tür vollends auf und betrat Lisa Gerhards Wohnung.

«Ist ja kein Film hier», sagte er nur und guckte neugierig in die einzelnen Zimmer. Paul blieb gar nichts anderes übrig, als hinterherzutrotten.

«Mann, das ist ja mal richtig ‹Schöner Wohnen›», sagte Kuli, der gerade einen Blick in das Bad geworfen hatte. Der Raum war komplett verspiegelt, in der Mitte stand eine Badewanne, die eigentlich gar keine Badewanne, sondern ein runder Whirlpool auf gusseisernen Füßen war und bläulich von unten angeleuchtet wurde. Paul zählte drei Waschbecken, eine Dusche und ein Bidet, alles anscheinend individuell angefertigt.

«Wer braucht denn so was?», fragte Kuli.

«Das ist nicht die Frage.» Paul zog die Tür wieder zu. «Wen geht das was an, das ist die Frage», führte er aus und schob Kuli weiter durch den Flur. Wie viele Quadratmeter mochte diese Wohnung wohl haben? Zweihundert? Zweihundertfünfzig?

«Warte mal kurz», sagte Paul plötzlich und fasste Kuli am Arm.

War da nicht ein Geräusch gewesen? Ein menschlicher Laut?

«Hast du das gehört?»

Kuli nickte.

«Vielleicht ist ja doch jemand da», flüsterte Paul.

Kuli nickte.

«Hallo? Frau Gerhard?», rief er.

Und ganz weit entfernt, sehr leise, offenbar aus der hintersten Ecke im hintersten Zimmer, hörten sie plötzlich jemanden schluchzen. Es war eigentlich eher ein Wimmern als ein Schluchzen, kein lauter, alarmierender, mitteilsamer Ausbruch, eher ein privates, intimes Zwiegespräch mit der eigenen Trauer. Das dachte Paul und wunderte sich über sich selbst.

Sie schauten sich kurz an, ein weiteres Mal hin- und hergerissen zwischen Weitergehen und Weglaufen, dann beschleunigten sie ihre Schritte und stießen eine Tür auf, die ins Wohnzimmer führte.

«Oh», stieß Kuli erschrocken aus.

«Ah», sagte Paul.

Vor ihnen breitete sich ein Chaos aus, das im krassen Gegensatz zu der sortierten Eleganz der anderen Räume stand. Ein Ledersofa war umgeworfen worden, zwei Bilder lagen zerschlagen auf dem Boden, ein nur noch dreibeiniger Stuhl davor. Überall zerbrochenes Glas, Geschirr, ein gesprungener Spiegel, aufgerissene und zerwühlte Schubladen. DVDs und CDs lagen verstreut, teilweise hüllenlos herum. Kuli sah eine DVD der dritten Staffel von Lost, und für einen winzigen Moment breitete sich ein angenehmes Gefühl in ihm aus. Bis er die Frau wahrnahm. Ganz klein wirkte sie, zerbrechlicher als Glas und Spiegel zusammen. Sie war blond, langhaarig, Strähnen hingen ihr wirr ins Gesicht, sie weinte, sie blutete, sie hockte in der Mitte des Wohnzimmers auf einem ehemals weißen Teppich, der um sie herum rot eingefärbt war. Sie krümmte sich, hielt sich den Arm, von dem ein dicker, zähflüssiger Blutfaden über die Hand auf den Boden tropfte.

«Hallo», sagte Paul ratlos.

«Wer seid ihr?», fauchte die Frau mit schmerzverzerrtem Gesicht und blickte sie feindselig an. «Was wollt ihr hier?»

«Sind Sie … bist du Lisa Gerhard?», fragte Paul.

«Wer will das wissen?», antwortete sie.

«Sollen wir die Polizei rufen?», fragte Kuli. «Einen Krankenwagen?»

«Nein», sagte Lisa Gerhard knapp. «Abhauen.»

«Wir haben eben schon einmal telefoniert», erläuterte Kuli. «Die Auskunft. Also, das waren wir. ‹Schönen guten Tag, T2-Vermittlung› und so weiter. Da hast du … also wir …»

«Wie, die Auskunft?» Sie wischte sich etwas Blut vom Ärmel.

Paul bemerkte, dass sich Kuli verfranst hatte. «Ja, Sie … du bist da auf die Taste gekommen … und dann waren wir da dran … also, die Auskunft … also wir», ergänzte er nicht weniger unstrukturiert. Das war aber auch ein Anblick, das hatte man ja nicht alle Tage, da konnte man schon mal ein bisschen den Wortschatz verlieren.

Kuli hob ein zerbrochenes Weinglas auf. «Und du hast uns nicht gehört, wir dich aber.» Er stellte den Stiel auf dem Tisch ab. Lisa Gerhard schien jetzt etwas kapiert zu haben. Sie versuchte aufzustehen, was nicht sofort klappte. Als Kuli ihr helfen wollte, machte sie eine so abwehrende Geste, dass er drei Schritte zurückwich.

«Wieso die Auskunft?», fragte sie. «Ich hab auf die Kurzwahl der Bullen gedrückt!»

«Nein», sagte Kuli.

«Doch», beharrte sie.

«Knapp daneben», sagte Paul.

«Warum habt ihr die Bullen denn dann nicht gerufen, ihr Idioten? Jetzt ist es zu spät.»

«Mein Kollege hier, der ist neu …», fing Paul an, wurde aber von Lisa Gerhard unterbrochen.

«Was? Neu?», schrie sie. «Was ist denn das für eine Scheiße?»

Sie warf mit dem abgebrochenen Stuhlbein nach ihnen, traf aber bloß den Türrahmen, dem das jetzt auch egal war.

«Du hast da Blut», sagte Paul und bemühte sich weiterhin, deeskalierend zu wirken. Das war der Schock, da musste man drüber hinwegsehen, da musste man Ruhe ausstrahlen, Souveränität und Gleichmut demonstrieren.

Lisa Gerhard sah ihn feindselig an. «Ich bin hingefallen», antwortete sie und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund. Paul lachte kurz auf und verlor seinen mühselig hergestellten Gleichmut sofort wieder. Wie lächerlich war das denn?

«Du bist also hingefallen, gegen die Wand, ja?», fragte er. «Gegen den Spiegel bist du gefallen, hast dabei die Bilder runtergerissen, das Sofa umgeschmissen, den Stuhl zerbrochen, in den Fernseher getreten, die Gläser vom Tisch gefegt und bei der Suche nach einem Pflaster deine Schubladen durchwühlt und auf dem Boden verteilt. Das war aber mal ein Sturz, war das. Die Mutter aller Stürze war das.»

Lisa Gerhard hob trotzig den Kopf. «Das geht dich ja wohl einen Scheißdreck an, wie und wohin ich falle.»

Paul hob beschwichtigend die Arme. Souveränität und Gleichmut. «Kann sein. Aber das ist ganz schön viel Blut. Und ich glaube, die Nase ist gebrochen.»

Er hatte medizinisch gesehen nicht viel Ahnung, aber dass die Nase zum Fenster zeigte, während Lisa Gerhard in ihre Richtung schaute, das schien ihm definitiv nicht korrekt zu sein.

Bei Kuli hatte es währenddessen Klick gemacht. «Tatsächlich. Der Fernseher ist ja kaputt», sagte er schockiert und näherte sich vorsichtig dem überdimensionierten Gerät. Der LCD-Bildschirm hatte in der Mitte einen ziemlich großen Sprung.

«Können wir dir denn jetzt noch irgendwie helfen?», wollte Paul wissen und strafte Kuli mit einem verächtlichen Seitenblick, den dieser nicht registrierte.

«Ihr hättet mir helfen können, wenn ihr rechtzeitig die Polizei gerufen hättet. Jetzt ist das auch zu spät», antwortete Lisa Gerhard. «Wofür hab ich denn die Scheiß- Vermittlung auf Kurzwahl?»

Die legt sich das zurecht, wie sie es braucht, dachte Paul.

«Der Fernseher …», sagte Kuli wie in Trance.

«Können wir ja noch machen», sagte Paul und schüttelte ärgerlich den Kopf. «Außerdem dreht sich das jetzt langsam im Kreis. Und du brauchst einen Arzt.»

«Brauch ich nicht. Mach ich selber. Verschwindet», antwortete sie.

«Fünfundfünfzig Zoll. Hundertvierzig Zentimeter Bilddiagonale …», staunte Kuli.

Paul wurde das jetzt alles zu bunt. «Dir hat doch einer auf die Schnauze gehauen, oder?», fragte er. «Wir haben das gehört. Wer war denn das? Wir können den anzeigen. Oder … Zeuge sein. Wie hieß der? Henning?»

Lisa Gerhard mauerte weiterhin so, dass nicht einmal die spanische Fußball-Nationalmannschaft einen Weg durch die Deckung gefunden hätte. «Geht dich nichts an.» Sie zeigte mit der blutenden Hand zur Tür.

«Nee, sieht aber nicht gut aus», meinte Paul und zeigte seinerseits auf Lisa Gerhards Hand.

Für einen Moment trat etwas Verletzliches in ihr Gesicht. «Kenne ich schon», sagte sie leise. «Kenne ich schon.»

Dann fing sie erneut an zu weinen.

«Ich hab da in Dortmund einen Techniker, der kann da vielleicht noch was machen», versuchte Kuli zu trösten. «Es gibt auch schon ganz günstige Geräte, die kann man online …», fügte er hinzu, aber Paul fuhr ihm über den Mund.

«Jetzt hör doch mal mit dem Scheiß-Fernseher auf», schimpfte er.

«Wieso denn? Der ist kaputt. Ich will doch nur helfen. Weißt du, was so ein Gerät kostet?»

«Verpisst euch, alle beide!!», schrie Lisa Gerhard und fasste sich an den Kopf. «Haben die euch eigentlich ins Hirn geschissen in eurem Call-Center? Muss man da durch einen Idioten-Test fallen, um genommen zu werden? Haut jetzt endlich ab und geht anderen Leuten auf den Sack!»

«Wer so schimpfen kann, der hat nichts Schlimmes», sagte Kuli würdevoll, kramte in seiner Jackentasche und legte eine Visitenkarte auf den Tisch. «Kannst dir das ja mal überlegen mit dem Fernseher. Den muss man da halt hinschicken, aber das ist ja kein Problem mehr, heutzutage. Ich wohn auch gar nicht weit weg, kannst dich ja mal melden.»

Lisa Gerhard griff wahllos in den Haufen mit CDs um sie herum und fing an, Paul und Kuli damit zu bewerfen. «Raus», brüllte sie, «raus!»

«Okay, wir sind weg», sagte Paul, wich Bryan Adams aus, zog die Schultern ein und musste feststellen, dass Bon Jovi nicht nur weh taten, wenn man sie hörte, sondern auch, wenn man von ihnen am Kopf getroffen wurde. Kuli konnte gerade noch Usher und Simply Red zur Seite abwehren, dann stürmten sie durch den endlosen Flur zurück zur immer noch geöffneten Wohnungstür, die Paul so rasant hinter sich zuzog, als wären alle musikalischen Übel der Welt auf diese Weise einzusperren und für immer aus den Gehörgängen der Menschheit zu verbannen.

«Alter Schwede, hat die ’ne Energie», keuchte Kuli.

«’ne Macke hat die», sagte Paul und stapfte missmutig die Holzstufen hinab.

«Und einen sehr schlechten Musikgeschmack.» Kuli schob mit dem rechten Fuß eine Lady-Gaga-CD beiseite, die vor ihm zum Liegen gekommen war, und trat noch einmal kräftig drauf. «Aber Kohle hat die, das ist doch nicht normal», setzte er kurzatmig nach, während Paul mit Riesenschritten die Treppe hinunterrannte. «Was für eine krasse Bude … ich mein, die ist doch höchstens so alt wie wir.»

«Na und», schnaubte Paul. «So jung sind wir jetzt ja auch nicht mehr. Da kann man schon mal ein bisschen Geld verdient haben.» Er verzog das Gesicht. «Außer man ist wie wir.»

Paul beschleunigte seinen Schritt. Das Treppenhaus war so typisch für Berlin mit seinen durchgetretenen Holzstufen, den besprayten Wänden und mit Ochsenblut lackierten Wohnungstüren, dass Kuli sich nicht gewundert hätte, in jedem Zwischenstockwerk ein paar Patchwork-Ratten beim gemeinsamen Abendessen anzutreffen. Er hatte Mühe, Paul zu folgen. Er war sich sicher, das machte Paul mit Absicht, das war ein Test, eine Provokation; hier durfte er nicht verlieren, aufgeben, stehen bleiben, hier hieß es dranbleiben, Tauglichkeit demonstrieren, sich nicht abhängen lassen, auf der Höhe der Zeit verweilen. Also keuchte er wie ein Walross beim Bergwandern und versuchte gleichzeitig unangestrengt zu wirken. Schwierig war das. Er war irgendwie aus dem Training.

«Was machen wir denn jetzt?», fragte er gepresst und seufzte erleichtert auf, als sie endlich das Erdgeschoss erreicht hatten. Paul öffnete die schwere Doppeltür, und sie wurden wieder hinausgespuckt auf die Straße, die nicht gerade verkehrsumtost war, aber dennoch dieses typisch Rastlose, Getriebene, Ruhelose der Großstadt ausstrahlte. Wichtige Menschen taten wichtige Dinge und wollten dabei gesehen werden, ohne selbst zu sehen. Es hatte aufgehört zu regnen, die Leute hatten ihre Schirme gesenkt, ihre Laune allerdings nicht gehoben. Bösen Blicks drängelten sie sich an Paul und Kuli vorbei, die etwas unmotiviert auf dem Bürgersteig verharrten.

«Ich weiß nicht, was du machst», sagte Paul schließlich. «Aber ich geh jetzt schön nach Hause und versuche noch irgendwas Brauchbares aus diesem beschissenen Abend zu machen.»

Kuli nickte. «Ach so, klar.»

«Ja», sagte Paul und suchte nach seinen Zigaretten.

Kuli nickte weiter. «Bestimmt auch mit Familie und so?»

Pauls Laune schien Reserven nach unten zu haben. «Nee. Bin getrennt», sagte er, während er in seiner Hosentasche fündig wurde. «Will ich jetzt aber nicht drüber reden.»

Kuli nickte immer noch. «Ah so.»

«Ja.»

«Dann mach’s mal gut.»

«Ja. Du auch.» Paul steckte sich eine Zigarette in den Mund und wandte sich ab.

«Bis morgen», erwiderte Kuli schnell.

«Ja-ha.»

Kuli hob die Hand. «Man sieht sich.»

«Jo.»

Kuli setzte wieder dieses buddhahafte Grinsen auf, das Paul zwar erst zum zweiten Mal wahrnahm, das ihn aber jetzt schon wahnsinnig machte.

«Ich hab ’ne ziemlich große DVD-Sammlung», sagte Kuli. «Asien-Action und so weiter.»

«Kuli …», begann Paul mahnend. Zeit für Klartext.

«Ja?», erwiderte Kuli und freute sich.

«Ich such keinen Freund, okay?»

«Okay», sagte Kuli und grinste und nickte.

Paul drehte sich endgültig ab und ging in Richtung Hardenbergstraße. Er schaute kein einziges Mal zurück, aber er war sich sicher, dass Kuli immer noch grinste und nickte, als er längst außer Sichtweite war

 

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