Menschen auf der Hummelwiese - Frank Gaede - E-Book

Menschen auf der Hummelwiese E-Book

Frank Gaede

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Beschreibung

Heute nennen wir es "das Pop-Jahrzehnt"… Viele sehnten sich danach, groß herauszukommen. Andere waren bemüht, alles zu erhalten, was sie bereits erreicht hatten. Dann gab es die, die einfach feiern und leben wollten. Und manchmal wollten alle alles… die Menschen waren anspruchsvoll geworden, das Leben sollte reich und bunt und erfüllt sein. Die Sorglosen, gut Verdienenden schmückten sich mit Rolex-Uhren und die weniger Begüterten taten es ihnen nach, mit Imitationen, die man im Kaffee-Geschäft kaufen konnte! Die Ängstlichen, aber auch die Rebellischen, sie waren nicht verschwunden, doch auch sie wollten jetzt Karriere machen, sich verwirklichen,um jeden Preis. Eine hochgejubelte Minderheit träumte vom "aussteigen", sehr viel zahlreicher waren dagegen diejenigen, die endlich einsteigen wollten. Dabei sein! Frei sein! Die Welt sehen! Oder wenigstens mit dem Rhythmus dieses Jahrzehnts mittanzen. Es gab einmal eine Disko in einer Straße namens Hummelwiese… Es war einmal ein Jahrzehnt, die Achtziger… Ein vorwiegend heiterer, satirischer Rückblick auf diese Jahre – Menschen auf der Hummelwiese.

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Seitenzahl: 336

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Frank Gaede

Menschen auf der Hummelwiese

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Meer und Küsten

Labyrinth

Frische Luft ist nicht genug

Stadt und Land

Moderne und modernes Leben

Die Besten von Kiel

Die Dinge des Lebens nehmen, wie sie sind

Wiedersehen mit der Hansestadt Hamburg

Haus der Braut

Inseln und Nester

Platz an der Alster

Abschließendes

Impressum neobooks

Meer und Küsten

Das war vielleicht ein Tag! Endlich konnte man einmal ein Kiel erleben, das jedem zusagte. Die Stadt an der Förde zeigte sich von ihrer sommerlichen Seite, an diesem Tag im Mai. Es lag nicht allein am milden Licht, welches die Stadt seit einigen Tagen vergoldete, nicht nur an der lauen und dabei doch erfrischenden Brise, die von der Ostsee her in die Straßen wehte. Nein, darüber hinaus hatte eine ungewohnte Leichtigkeit von den nordisch-sachlichen Einwohnern Besitz ergriffen, eine süd-skandinavische Lebensfreude, sozusagen. Viele Menschen hatten bereits sonnengeküsste Gesichter, die Eiscafés in den Fußgängerzonen waren überfüllt, und wer dort keinen Platz fand, der begab sich ans Meer. Aber wer von den Kielern und den Touristen, die nun die Strände und Ufer der Förde bevölkerten, hätte geahnt, dass diese größte – manche sagen, einzige – Attraktion Kiels bedroht war? Wohl in erster Linie diejenigen, die an diesem Tag zusammen gekommen waren, um einen Vortrag von Silke Kröger anzuhören.

«Der Meeresboden der Ostsee ist in der Förde und in der Bucht zum größten Teil völlig abgestorben», dozierte sie, «man findet dort unten nichts Lebendiges mehr, nur noch eine schleimige Substanz von Verwesungsprozessen, bedingt durch die Abwesenheit von Sauerstoff und die Anwesenheit von toxischen Stoffen in hoher Konzentration, vornehmlich Kohlenwasserstoffabbauprodukte. Alles voller giftiger Halogene! Was von der Küste aus betrachtet intakt wirkt, ist in Wahrheit bereits Wüste. In nicht allzu ferner Zukunft wird der größte Teil der Förde-Küstenbereiche nicht mehr besiedelbar sein.»

Silke Kröger bediente sich fortschrittlicher Präsentationstechnik, um ihren Vortrag, zu dem der Gret-Schrupp-Förderkreis von Kiel eingeladen hatte, überzeugend zu gestalten. Es war ihr bewußt, dass es einer gesteigerten Aufmerksamkeit bedurfte, um die Information aus den Grafiken, die sie projizieren ließ, nachvollziehen zu können, zumal ihr Vortrag auch nicht gerade kurz war. Die dramatische Entwicklung, die sie an die Wand malte, sollte jedoch ausreichen, ein Auditorium zu fesseln, meinte sie. Im Großen und Ganzen war das wohl auch der Fall, nur fielen einigen Anwesenden doch nach einer Weile die Augen zu. Plötzlich entstand eine kleine Unruhe, als zwei Zuhörer aufstanden und den Saal verließen.

Die blaue Stunde eines sehr warmen Tages war angebrochen, und die meisten Kieler hätten sich etwas Unterhaltsameres vorstellen können, als in einem stickigen Saal dem Vortrag einer Frau zu lauschen, die den Weltuntergang beschwor, mindestens die künftige Unbewohnbarkeit der Stadt Kiel. Aber Rafael Wildner, genannt Rafi, war schließlich von Silke Kröger persönlich eingeladen worden, ihren Vortrag anzuhören. Sein Begleiter hatte darauf gedrängt, den Saal zu verlassen.

«Was sollen wir hier draußen?», fragte Rafi, «ich würde viel lieber hören, was Silke zu sagen hat, das klingt sehr interessant.»

Sein Begleiter war anderer Meinung, er konnte mit dem Vortrag nichts anfangen und machte sich zudem über das Porträt der Stifterin des Förderkreises lustig, dieses prangte seitlich auf dem Podium. Es zeigte die unvergessene Gret Schrupp, eine Dame mit besorgtem Blick hinter einer dicken Brille, schwarzes Horngestell, leider weilte sie seit einigen Jahren nicht mehr unter den Lebenden. Zum einen stellt sich die Frage, was an einem solchen Bildnis wohl lächerlich sein sollte, zum anderen gehört es bestimmt nicht zum guten Ton, über das Foto einer Verstorbenen zu spotten.

«Wir zünden uns jetzt erstmal eine an», sagte Rafi, er meinte natürlich eine Zigarette, es wurde überall und immerzu geraucht in der Mitte der Achtzigerjahre.

«Und dann lass uns wieder hineingehen. So lange kann's ja nicht mehr dauern.»

Aber Rafis Begleiter machte einen Gegenvorschlag.

«Versteh' ich nicht», sagte Rafi, «wozu sollen wir jetzt in den Fahrstuhl steigen, was soll das bringen?»

Ein Glas Sekt in der einen Hand und die lederne Mappe mit der Niederschrift ihres Referats in der anderen, so stand Silke Kröger nach dem Vortrag im Foyer, umringt von ihrem Publikum. Einige hatten dringende Fragen bezüglich eines eventuellen Wertverlusts von Immobilien, die sich in idyllischer Lage direkt an der Förde befanden, andere baten um Hinweise auf praktische Maßnahmen, die zu ergreifen waren, um die Ostsee zu retten und am liebsten in Turbogeschwindigkeit wieder aufzuforsten. Silke gab sich Mühe, fachlich überzeugende Antworten zu liefern. Es gab einige Gleichgesinnte.

«Ich bin der Meinung», verkündete der Direktor der Dietrichsdorfer Sterbekasse, «der Küsten- und Meeresschutz braucht uns nicht, sondern der Mensch braucht den Küsten und Meeresschutz!»

In einem anderen Zusammenhang hätte dieser Sinnspruch vielleicht nach plumper Anbiederung geschmeckt, in diesem Fall passte er zur Stimmung auf dem Häppchen- und Sektempfang, jedermann war noch aufgewühlt von Silkes Prognosen. Nur sie selbst war innerlich nicht bei der Sache. Wo war Rafi? An dieser Stelle sollte man vielleicht ausführen, dass Silke Kröger nicht die gewöhnliche Expertin der Meere war, wie sie sich jedermann vorstellt. Auch wenn die wenigsten Zuhörer ihres Vortrags es vermutlich einordnen konnten, weil diese eher der tiefgründigen, leicht weltfremden Variante angehörten, Silke Kröger war nach ihrem eigenen Verständnis New-Waverin. In diesem Fall bezieht sich diese Bezeichnung nicht auf die Freunde der gleichnamigen cineastischen Strömung, sondern auf die begeisterten Anhänger einer Musik und Weltanschauung, die den Punk-Stil abgelöst hatte. Man las damals in den Feuilletons den schmissigen Satz: New Wave ist das Kind von Punk, Funk und Elektro. Wie auch immer, in einem Kieler Szene-Lokal, in einem ruhigen Café nahe der Eckernförder Straße, und nicht in der legendären Bergstraßen-Diskothek mit den Neon-Röhren, hatte Silke vor ein paar Monaten Rafi Wildner kennen gelernt und Freundschaft mit ihm geschlossen, denn sie fanden sich sofort gegenseitig sympathisch. Silke bewunderte Rafis Kreativität und seinen Aufzug, man hätte denken können, er gehörte der New-Wave-Nebenströmung New Romantics an, denn er trug eine Art senfgelben Sari, selbst genäht, und jede Menge blauschwarzes Augen-Make-Up. In den Metropolen bereits Schnee von Gestern, war ein solcher Look in Kiel damals noch Anlass zu größter Überraschung und Beachtung durch die Passanten in den Fußgängerzonen. Silke selbst war immer schwarz gekleidet, sie hatte einen Poncho aus einer Pferdedecke anfertigen lassen, darunter trug sie ein enges dunkles Kleid, an kühlen Tagen aus Wolle. Sie kombinierte es mit großen, schreiend bunten Accessoires aus Kunstharz, zum Beispiel korallenroten Gürtelschnallen und üppigem Halsschmuck in leuchtendem Blau, mit dazu passenden Ohrringen. Als Rafi endlich im Foyer auftauchte, musste Silke sich erst einmal aus einem Kreis von Gönnern des gemeinnützigen Gret-Schrupp-Förderkreises lösen.

«Rafi, da bist du ja! Ich freue mich!», rief Silke aus.

Dabei wäre sie in Wirklichkeit beinah zurückgeprallt, denn Rafi war nicht nur in Begleitung eines Mannes, den Silke nicht mochte, nein, die beiden sahen auch noch aus, wie Brüder! Sie trugen beide weiße Oberhemden mit Krawatten und keine Jacken. Hochgerollte Ärmel. Silke fand das geschmacklos! Denn Rafi war nicht mehr Rafi! War da überhaupt noch etwas von seiner Kreativität und seiner Unterhaltsamkeit übrig geblieben, in diesem Aufzug? Aber Rafi kam auf Silke zu, umarmte sie und war so herzlich wie immer. Silke war in diesem Moment innerlich zerrissen, einerseits stolz, dass Rafi ihren Auftritt miterlebt hatte, andererseits voller Eifersucht, sie wäre zu gern mit Rafi zusammen gekommen, das war wohl leider nicht möglich. Aber wieso musste sich Rafi gerade mit einem dermaßen unsympathischen Menschen einlassen?

Einen Augenblick lang hatte Rafi überlegt, ob er nicht vorschlagen sollte, zu dritt nach dem Empfang in eine Bar oder in eine Kneipe zu gehen. Vielleicht konnte man auch noch irgendwo in einen Biergarten einkehren, so einen warmen Abend gab es in Kiel nicht oft, das musste ausgenutzt werden. Aber diesen Gedanken legte er gleich wieder zu den Akten, denn er bemerkte, dass Silke Kröger erstarrte, als sie aus dem Augenwinkel registrierte, wie Rafis Begleiter eine mit Lachsschinken belegte Brötchenhälfte verschlang. Silke Kröger würdigte den Kauenden keines direkten Blicks. Rafi hatte die beiden vor ein paar Wochen an einem Sonnabend Vormittag miteinander bekannt gemacht, als die drei sich in der Dänischen Straße begegnet waren. Als enge Vertraute, die einem sehr interessanten Beruf nachging, so hatte Rafi die Meeresfreundin vorgestellt. Statt Interesse zu zeigen, hatte Yvo Thomsen nur Silkes Ohrschmuck gemustert und gesagt: «No Future!-Ohrringe – was soll das denn? Das ist doch seit Jahren out!»

Das stimmte gar nicht, man konnte in Kiel an zahllosen Stellen auf diese Parole stoßen, auf das Markenzeichen der Punk-Bewegung. Selbst in der Dänischen Straße, Kiels kurzer, exklusiver Boutiquenstrecke, traf man auf einige entsprechende Schmierereien, teils gesprüht, teils mit schwarzem Edding hingekritzelt. Hätte Silke zu ihrer Rechtfertigung etwa darauf hinweisen sollen? Sie verzichtete darauf, was kann man einem offensichtlich ungehobelten Menschen schon entgegen halten? Es zeigte sich jetzt, dass sie die Kränkung nicht auf die leichte Schulter nehmen wollte, mit dem Angriff war vom ersten Moment an klar, dass sie diesen Yvo nicht zu ihren Freunden zählen würde, niemals. Sie vermutete, dass er Rafi irgendwie ausnutzte. In welcher Weise, das würde sich sicher noch herausstellen. Etwa sexuell? Für Rafi hingegen war das kein besonderer oder gar beeinträchtigender Vorfall gewesen…

Andere Gewässer, die für die Stadt Kiel ebenfalls von Bedeutung sind, sollten nicht außer Acht gelassen werden. Zum Beispiel die Schwentine. Ein junger Reporter überreichte Silke eine Sammlung von Fotos, die für seine Redaktion geknipst worden waren und sagte: «Hier sieht man, dass dort nicht alles zum Besten steht.»

Das konnte man wohl sagen! Ein typischer Fall von Ausbeutung der Natur, dabei hätte die Schwentinemündung eine unberührte Oase inmitten all' der Kieler Bausünden sein können. Silke warf einen Blick auf die Bilder. Sie kannte die Probleme im Bereich der Schwentine nur zu gut, zum Glück wusste sie auch ein Gegenmittel.

«Dieses Gebiet ist sehr leicht zu retten, man muss einfach sämtliche Bebauung entfernen und für die Zukunft verbieten, dann entsteht dort ein Schutzgelände, ein Auenwäldchen im Urzustand, um das uns andere Städte beneiden werden!»

Zugang zu diesem Reservat sollten dann ausschließlich Mitglieder der Naturfreundschaftsvereine und Wissenschaftler haben. Und nicht irgendwelche Schnösel, die sich dort eventuell eine Villa bauen wollten.

«Insbesondere das Herumgepaddel auf den Booten müsste sofort gestoppt werden, zugunsten der Niststätten störungsempfindlicher seltener Vögel, die sich dann endlich für immer dort niederlassen und brüten können», ergänzte Silke noch.

Der Journalist des Publikationsverbunds Kiel-Eckernförde war tief beeindruckt.

«Donnerwetter, sind Sie leidenschaftlich!», staunte er, «zu diesem Thema sollten wir ein längeres Interview mit Ihnen machen, dazu veröffentlichten wir dann diese Bilder.»

Die Fotos lagen nämlich schon ziemlich lange ungenutzt herum, sie waren ursprünglich für eine Reportage über die Gastronomie in den kleinen, verschwiegenen und romantischen Orten an der Förde vorgesehen. Silke hatte sich auf Anhieb mit dem Reporter verstanden. Jetzt schob sie ihr Holland-Fahrrad durch das spätabendliche Kiel. Es mag überraschen, dass Silke Kröger ein Holland-Fahrrad benutzte, aber nur weil sie Anhängerin des New-Wave war, musste sie ja nicht auf sämtliche Annehmlichkeiten aus anderen Subkulturen verzichten. Ihr war auch sehr wohl bewusst, dass die meisten in ihrer Clique Holland-Fahrräder prinzipiell lächerlich stillos fanden, im Hier und Jetzt lebten und Silkes Befürchtungen und Engagement für eine lebenswerte Zukunft überhaupt nicht nachvollzogen. Deshalb zweifelten sie Silkes Hingabe an den Lebensstil des New-Wave manchmal etwas an. Aber sie war eben ein Mensch mit Facetten. An diesem Abend wollte Silke nicht mehr in die Szene von Kiel gehen. Gleich nach Hause. Ob der Reporter, er wird ein, zwei Jährchen jünger als Silke gewesen sein, an ihr interessiert gewesen war? Es kam ihr so vor. Vielleicht hätte sie seine Einladung auf ein Glas Wein annehmen sollen, es war schnell klar geworden, dass sie eine gemeinsame Wellenlänge hatten. Es gab jedoch eine sehr gewichtige Sache, die gegen ihn sprach: er trug einen Kragenbart.

«Nimm' mal die Hand da weg», rief Rafi aus, es fiel ihm schwer, seinen kleinen roten Fiat durchs Zentrum Kiels zu steuern, denn Yvo hatte angefangen, an Rafi herumzufummeln, um ihm ein bisschen einzuheizen.

«Hör' auf damit, das lenkt mich ab!»

Yvo ließ sich nicht entmutigen, beherzt schob er seine Hand in Rafis Hemd, auf dessen flachen Bauch.

«Yvo!», schrie Rafi, «wenn das jemand sieht!»

Es war Yvo völlig egal, «ich kann noch viel schlimmere Griffe», sagte er.

Die Frage stand im Raum, ob die beiden sich jetzt vom Nachtleben Kiels fesseln lassen würden. Oder später.

«Ich habe eine Idee, lass uns mal auf den Famila-Parkplatz fahren.»

«Wird das wieder so eine Nummer, wie im Fahrstuhl?», erkundigte sich Rafi, leicht tadelnd.

Der Fahrstuhl! Yvo war früher schon einmal in dem Gebäude gewesen, in dem Silke Krögers Vortrag stattgefunden hatte, deshalb hatte er gewusst, dass der Lift dort eine besondere Eigenart aufwies. Es gab darin einen Nothalte-Knopf. Wenn man diesen betätigte, wurde nicht etwa ein Alarm ausgelöst, sondern die Kabine hielt einfach nur an, wo sie gerade war, zwischen den Stockwerken. Ohne die Gefahr, dass jemand zustieg, ergaben sich für einen Fahrstuhlfahrer, der sich auskannte, ein paar ungestörte Minuten. Und diese Minuten hatte Yvo für eine hemmungslose Knutscherei mit Rafi ausgenutzt. Im ersten Moment hatte sich Rafi von Yvos Zudringlichkeiten leicht überrumpelt gefühlt. Und dann begeistert mitgemacht.

Silke Kröger schreckte hoch, mitten in der Nacht. Sie hatte vergessen, ihre Kontaktlinsen herauszunehmen und zu reinigen. Im Alltag trug sie Brille, aber bei ihrem Vortrag war sie dem Publikum ohne das hinderliche Gestell entgegentreten. Nicht, dass sie noch mit Gret Schrupp verwechselt wurde. Als Silkes Blick kurz auf ihre Reflexion im Badezimmerspiegel fiel, fand sie sich ganz ansehnlich. Nicht schlecht jedenfalls, ohne Brille. Und sie wirkte auch noch jung. Jünger, als viele andere Frauen, die schon über dreißig waren. Silke haderte damit, dass es so schwer war, einen passenden Partner in Kiel zu finden. Es gab Männer, die ihr Komplimente machten, die ihr näher kommen wollten. Und manchmal bestand da sogar eine stärkere, im besten Fall sogar seelische Übereinstimmung. Silke war tolerant, sie konnte sich auch mit Männern verständigen, die eine andere Musikrichtung mochten, als New-Wave, solange es sich nicht um Heavy Metal oder Mittelalter-Rock handelte. Vieles wäre einfacher für Silke gewesen, wenn sie sich im Umgang mit dem anderen Geschlecht nicht so überaus sachlich verhalten hätte, das war ihr bewusst. Deswegen musste man sich jedoch nicht gleich so hemmungslos aneinander abarbeiten, wie dieser Yvo an ihrem Freund Rafi. Auch wenn sie sich versagt hatte, es zu kommentieren, Silke hatte sehr wohl mitbekommen, dass Rafi beim Sektempfang zerrupft aussah, das Hemd hatte ihm hinten aus der Hose heraus gehangen. Furchtbar, dieser Yvo, der schreckte offensichtlich vor nichts zurück. Silke fand schon den Namen Yvo so aufgesetzt. Der hieß ganz bestimmt in Wirklichkeit Michael oder Thomas, oder noch banaler, vielleicht Ulf, dachte Silke, kurz bevor sie wieder einschlief.

Ein Becher Kaffee zum Frühstück hätte Yvo auch gereicht. Und Zigaretten. Aber Rafi wollte ein richtiges Frühstück bieten, mit Brötchen und allem drum und dran. Im Bett. Dabei konnte Yvo Brötchenkrümel nicht ausstehen.

«Zum verrückt werden, das Krümelkribbeln», beklagte er sich.

«Das musst du aushalten, mir zu Liebe», sagte Rafi, versprach aber auch, Bettdecke und Laken hinterher auszuschütteln.

«Hast du noch O-Saft?», fragte Yvo.

Rafi stand sofort auf, um in seinem Kühlschrank nachzuschauen.

«Übrigens ist New-Wave genau so tot, wie Punk, wenn du mich fragst», rief Yvo ihm hinterher.

Rafi musste lachen, er hatte schon damit gerechnet, dass Yvo noch einmal davon anfangen würde.

«Meinst du? Ich höre das noch ganz gerne.»

«Deine übergewichtige Freundin passt außerdem eher zur Müsli-Fraktion, finde ich.»

«Übergewichtig?», sagte Rafi, «ist mir noch nie aufgefallen. Höchstens ein paar Pfund.»

Yvo erklärte, dass Silke Kröger seiner Meinung nach in erster Linie eine Wichtigtuerin war, die sich das eine oder andere oberflächlich angelesen hatte.

«So einen Vortrag kriegt aber nicht jeder hin», widersprach Rafi, «ich glaube, ich könnte das nicht, vor so vielen Leuten sprechen. Außerdem – ich kann nur sagen, ich mag sie eben.»

Yvo trank einen Schluck Saft.

«Ihre No-Future-Ohrringe sind total blöd, wenigstens das musst du wirklich zugeben.» Rafi schwieg und umarmte seinen Freund.

«Sie ist scharf auf dich», sagte Yvo.

«Na und?», gab Rafi zurück, «du bist doch auch scharf auf mich.»

Labyrinth

«Geh' zu den Bäumchen, kannst du überhaupt nicht verfehlen», hatte Herbert Behrmann gesagt, «ich komme hinterher.»

Die zierlichen Bäume lagen inmitten einer Gartenanlage, die vor langen Jahren angelegt worden war, bestimmt schon vor dem Ersten Weltkrieg. Helge Möbius steuerte auf eine kleine Gesellschaft zu, die sich an und unter den Bäumen versammelt hatte. Die Wege durch die Rabatten waren etwas uneben, schwarzer Mutterboden, Helge wäre einmal fast zu Boden gegangen, die Erde war an mancher Stelle so weich, dass man einsackte. Als er angekommen war, bot sich ihm ein bemerkenswerter Anblick, viel nacktes Bein und nackte Arme, leicht bekleidete Jugend. Die Frauen trugen kurze, weiße Gewänder mit Diana-Dekolleté. Die Männer waren ganz ähnlich gekleidet, jedoch mit komplett bedeckten Schultern, und ihre Säume waren mit Mäander-Bändern geschmückt. Musik lag in der Luft.

«Wo kommen Sie denn her, gehören Sie auch zu unserem Fest?», fragte eine junge Frau, die Helge wie eine Nymphe vorkam. Allerdings eine geschminkte, toupierte und rauchende Nymphe.

Ein junger Bursche sagte: «Komm' zieh' dich aus, dann kannst du mitfeiern.»

Falls Helge damit gemeint war, so hatte er nicht vor, sich zu entblößen, dieser Aufforderung wäre er niemals nachgekommen. Das war ihm zu plump. Vermutlich sollte das hier die Überraschung sein, die Herbert Behrmann ihm angekündigt hatte, es handelte sich um ein Kostümfest im Freien. Helge überlegte, ob er wenigstens seine Krawatte ablegen sollte, ihm war sehr heiß und er hatte auch getrunken. Sein Jackett hatte er im Schlößchen gelassen, so nannte sich dieses Anwesen mit Restaurantbetrieb. Herbert Behrmann hatte dort ein Meeting der wichtigsten Interessengruppen organisiert. Helge blickte zum Schlößchen hinüber, zu den Sonnenschirmen, die dort auf der Terrasse aufgespannt waren. Wo blieb Herbert Behrmann? Sie wollten doch zusammen einen Blick auf das Labyrinth werfen. Es war im Rokoko-Stil gehalten und schloss sich hinten an die Parkanlage an.

Alkohol in Form von Schnäpsen war einfach nicht gut für Helge Möbius. Ein oder zwei Gläser Bier, das war sein Limit. Aber Herbert Behrmann hatte darauf bestanden, gemeinsam mit verschiedenen Gesprächspartnern mit einigen starken Kurzen anzustoßen. Das hatte ein ziemliches Getränkedurcheinander bei Helge verursacht. Er hätte sich am liebsten bei der Trinkerei ausgeschlossen, nur ging das in seiner Position eben nicht immer. Die Wärme trug sicher auch dazu bei, dass er sich leicht betrunken fühlte und angeheitert genug, um sich jetzt auf eigene Faust in den Irrgarten zu wagen. Es handelte sich eher um die Bonsai-Version eines Labyrinths, nur halbhoch. Falls Herbert Behrmann auftauchte, würden sie sich nicht verfehlen, denn so kurz gewachsen war keiner von beiden. An einer Verzweigung stieß Helge auf drei junge Männer, die es sich hier im Schatten unter einem Baum auf dem Boden gemütlich gemacht hatten.

«Du weißt das bestimmt: wer ist der griechische Gott der Berauschtheit?», fragte einer von ihnen forsch.

Helge blickte sich um, erst dachte er, dass hinter ihm vielleicht noch jemand herumspazierte. Fehlanzeige. Ein weiteres Mal war er hier so ohne Weiteres mit du angesprochen worden, das war er von wildfremden Menschen nicht gewohnt.

Zwangloses Miteinander war offenbar Grundbedingung dieser Feier, die drei waren so gekleidet, wie die Gesellschaft bei den Bäumen, also gehörten sie wohl auch dazu.

«Mein Kumpel hier sagt, der heißt Hermes, aber ich denke, es handelt sich um Dionysos.»

Helge überlegte einen Augenblick, dann antwortete er dem jungen Mann, der seine Haare nicht sehr antik, sondern im Stil des Sängers Billy Idol trug, allerdings nicht in Blond, sondern dunkelbraun:

«Sie haben – du hast Recht.»

«Mag sein, aber ist Hermes nicht sein Spitzname?», fragte der Kumpel.

«Nein, nein, die Wette habe ich gewonnen!», der Dunkelhaarige schlug sich auf den Oberschenkel.

Helge starrte auf die nackten, behaarten Beine.

«Irgendwas nicht in Ordnung?», wollte der Wettgewinner wissen.

«Kommt das von einem Sturz?», fragte Helge ihn und deutete auf ein Pflaster, das auf dem Knie des jungen Mannes angebracht war, genau dort, wo gewöhnlich Schuljungen, die auf dem Heimweg hinschlagen, ein Pflaster tragen würden. In der Kurze-Hosen-Jahreszeit.

«Das war mir gleich klar, dass jeder danach fragt», der junge Mann kicherte, «nein, das ist nur Jux. Das gehört zur Verkleidung. Passt nicht so ganz dazu, im Altertum gab's ja noch kein Hansaplast, oder?»

Helge wurde aufgefordert, sich zu den drei zu setzen. Er krempelte sich die Ärmel seines Hemds auf, nahm seine Krawatte ab und setzte sich tatsächlich hin. Warum auch nicht? Als ihm mit den Worten «Willst du auch mal?» eine brennende Zigarette gereicht wurde, nahm Helge einen Zug. Danach begann er ganz ordentlich zu husten.

Das Service-Personal tischte das Mittagessen erst mit einer geschlagenen dreiviertel Stunde Verspätung auf. Zunächst hatte Herbert Behrmann eine ganze Weile gebraucht, um den abhanden gekommenen Helge Möbius zu finden. Nachdem man den Rückweg zum Schlösschen überwunden hatte, musste Helge wieder präsentabel gemacht werden, das brauchte seine Zeit. Herbert Behrmann half, indem er Helges Hose ausbürstete, die hatte im Labyrinth etwas Sand abbekommen.

«Dein Hemd sieht auch ein bisschen fragwürdig aus», sagte Herbert, «ziehst du das Jackett drüber?»

Helge krempelte die Ärmel herunter, sah sich die Manschetten an, schüttelte nachsinnend den Kopf, krempelte wieder hoch und zog die Anzugjacke über das leicht ramponierte weiße Hemd, Krawatte um den Hals, fertig. Dann ging es zum Rinderbraten mit Buttermohrrüben und Rotweinsauce. Während des Essens dachte Helge nicht an die kleine Rede, die er nachher noch halten wollte, auch nicht an das Griechenfest der Jungen Friseure von Schleswig-Holstein e.V. durch das er vorhin gestolpert war, sondern an den Unfall vor ein paar Wochen, der für ihn glimpflich ausgegangen war, für seinen Fahrer leider nicht. Nein, eigentlich dachte er auch nicht an den Unfall, obwohl er hinterher lange den Verdacht nicht loswerden konnte, dass der Unfall in Wirklichkeit eine verkappte Attacke war. Das, was kurz danach geschehen war, es war für Helge noch unbegreiflicher. Es hing mit einem Besucher zusammen, im Krankenhaus, in dem er nach dem Unfall durchgecheckt worden war…

Alle rundherum waren mit dem Essen beschäftigt, Helge stocherte nur mit seiner Gabel in den Karotten. Herbert Behrmann nahm Helges gedankenverlorenen Blick wahr und sprach ihn an: «Kommst du gerade ins Träumen? Da waren ganz hübsche Oberweiten dabei, bei den Mädchen im Park, stimmt's?»

Im ganzen Haus roch es nach Weihrauch. Gerda Möbius räumte schnell das Wahrsagebrett weg und riß ein paar Fenster auf. Helge hatte soeben anrufen lassen, er würde früher nach Hause kommen, als angekündigt.

«Frau Brummund, wir müssen das hier leider abbrechen, ich habe es Ihnen ja schon mal mitgeteilt, wenn mein Mann nach Hause kommt, hat er gerne nur die Familie um sich.»

«Das ist schade», sagte die Nachbarin, «ich hatte gerade so einen guten Lauf. Ich habe mehr gesehen, als sonst. Sehr Erfreuliches habe ich wahrgenommen. Demnächst wird viel Gutes auf Sie zukommen.»

«Ja, mag sein», erwiderte Gerda ungeduldig, «können wir das nicht in ein paar Tagen fortsetzen? Machen Sie sich doch Notizen!»

Das lehnte Frau Brummund jedoch entschieden ab, da sie der Meinung war, dass Nachrichten aus der feinstofflichen Welt im Moment der Mitteilung entgegen genommen werden müssen und dass man diese nicht festhalten kann und darf. Alles andere als sofortige mündliche Weitergabe stört die Balance. Die kosmische Balance. Kurz nachdem Gerda ihre Nachbarin herauskomplimentiert hatte, stand auch schon Helge vor der Tür.

«Wonach riecht es denn hier?», fragte er ein wenig mißtrauisch.

«Das muss wohl das neue Raumparfum sein.» behauptete Gerda zaghaft.

Vielleicht keine besonders originelle Ausrede, aber Helge nahm sie ab und fragte nicht weiter nach.

«Schatz, ich muss mich ein bisschen hinlegen, ich habe furchtbare Kopfschmerzen», erklärte er seiner Frau. Er begab sich ins Dachzimmer, wo extra eine Liege aufgestellt war, für den kleinen, erholsamen Tagesschlaf, den Helge manchmal brauchte. Aber statt zu schlafen, grübelte er wieder über die Geschichte, die im Krankenhaus passiert war. Ein berühmter Mann, eine Koryphäe, er spielte in Helges Zukunfts-Plänen eine Rolle, war zu ihm geeilt, gleich nach dem Unfall, als erster Besucher sogar, und wollte Helge Beistand spenden. Helge hatte immer ein wenig Abstand zu dem Mann gehalten, obwohl er ihn durchaus sympathisch und gewinnend fand. Dieser Mensch war kein bisschen arrogant oder abgehoben, trotz seiner vielfältigen Begabungen. Aber es gab da seit einiger Zeit Gerüchte über eine gewisse Distanzlosigkeit des Künstlers. Und sobald der Mann im Raum war, und die Krankenschwestern und Ärzte sich vom ausruhenden Helge zurückgezogen hatten – zack, da passierte es auch schon. Ein Kuss wurde Helge aufgenötigt. Sogar ein Zungenkuss! Helge war so überrascht, dass er gar nicht wusste, wie er reagieren sollte. Das war ihm noch nie passiert. Er ließ es über sich ergehen, völlig passiv. Hinterher plauderte der Mann mit ihm, als ob nichts geschehen wäre. War das etwa nur ein Traum gewesen? Nein, das war wirklich passiert. So wirklich, wie heute im Irrgarten der Zug aus der Zigarette, die möglicherweise ein Joint gewesen war. Und jetzt fiel Helge ein, wo seine Manschettenknöpfe geblieben waren. Er hatte sie dem jungen Mann mit den behaarten Beinen zur Aufbewahrung gegeben.

Der Zeitungsverband Süddeutschland hatte einen Interview-Wunsch. Das Bundesgesundheitsministerium ließ wegen einer Benefiz-Veranstaltung in Stormarn nachfragen. Die Stadt Flensburg wünschte sich Grußworte von Helge zur Eröffnung ihrer Festwoche. Hatte irgendjemand daran gedacht, dass demnächst ein halbwegs rundes Jubiläum bezüglich des Nord-Ostsee-Kanals anstand? In Helges Hauptquartier gab es mehrere Fernsehbildschirme, auf denen die beiden wichtigen Programme flimmerten, stumm geschaltet. Vier Sekretärinnen, Berichtigung: eine Büroleiterin, eine Assistentin und zwei Sekretärinnen, gaben sich allergrößte Mühe, jeder Anfrage, jedem Anruf gerecht zu werden und sich durch die Post und die Tagespresse zu wühlen. Alles rotierte, alles reagierte.

«Ich dreh' durch», rief die Assistentin, nachdem sie den Telefonhörer auf die Gabel geknallt hatte, «schon wieder der Behrmann. Kann bitte einer dem mal das Telefon aus dem Auto 'raus reißen?»

Herbert Behrmann rief in der Tat andauernd an.

«Was will er denn jetzt schon wieder?», fragte eine der Sekretärinnen.

Es ging um ein weiteres Come-together, oder, wie man damals sagte, eine Versammlung in gehobenem Rahmen. In diesem Moment betrat Helge den Raum.

«Fräulein Feddern, bitte zum Diktat.»

Flink nutzte Helges Assistentin Lisa Beck sein Erscheinen, um sich bei ihm mit der Liste der wichtigen Anrufer vor die Schreibkraft zu drängeln.

«Und hier habe ich noch einen Anruf, den ich nicht zuordnen kann, kam mir komisch vor, weder privat noch geschäftlich», sie wedelte mit einem separaten Notizzettel, «in den Papierkorb?»

Die Seelen der Verstorbenen, die Gespenster, wenn man so will, wurden von Frau Marlies Brummund wieder einmal vom Jenseits ins Dieseits gerufen, nachdem die letzte Seance so brüsk beendet worden war. Insbesondere der schmerzlich vermisste Vater von Gerda Möbius, Julius von Tevenar, sollte dieses Mal nach seinem Befinden und seinen Erkenntnissen in der Totenwelt befragt werden. Der Kontakt über den Tod hinaus war Gerda Möbius sehr wichtig, schon als Kleinkind hatte sie eine besondere Sehnsucht nach dem Übersinnlichen entwickelt, nur leider fehlten ihr Sensorium und Instrumentarium, die subtilen Botschaften ihrer dahingegangenen Ahnen oder eben sonstige Schwingungen aus diesem Bereich auch zu entschlüsseln. Frau Brummund glaubte von sich, derartige Fähigkeiten zu haben und stellte sich Gerda gern wieder und wieder zur Verfügung. Helge Möbius hingegen lehnte den kompletten Spökenkieker-Kram, wie er es nannte, entschieden ab. Gerdas Lösung war, ihn nicht damit zu konfrontieren.

«Heute haben wir ausgiebig Zeit, mein Mann ist verreist, wir können auch zwischendrin Getränke einnehmen, und ich habe Kekse zur Stärkung», frohlockte Gerda.

«Wollen wir hoffen, dass nur gute Geister zu uns kommen», sagte Marlies Brummund.

«Hat mein Vater denn etwas über Helges vordringlichstes Projekt mitzuteilen?»

Marlies Brummund war einen Moment lang verunsichert. Sie selbst hatte nicht die leiseste Ahnung von Helges Projekten. Dabei war es doch ratsam, auch in der grobstofflichen Welt gut orientiert zu sein, zum Beispiel mit Hilfe der schleswig-holsteinischen Presse.

«Wir sollten erst einmal eine allgemeinere Vorhersage Ihrer Zukunft mit Hilfe von Kaffeesatz anstreben», lenkte Marlies Brummund geschickt ab, «und die Reise Ihres Mannes, kann ich Ihnen jetzt schon sagen, die wird ein großer Erfolg.»

«Du liebe Güte», gab Gerda Möbius zurück, «wo kriege ich denn jetzt Kaffeesatz her?»

Marlies Brummund war zum Glück ein flexibles Medium und schlug vor, stattdessen das Wohnzimmer abzudunkeln, um eventuelle zarte Gespinste aus Ektoplasma gut wahrnehmen zu können, an und für sich wäre das eher eine Methode für das Winterhalbjahr mit seinen langen trüben Tagen gewesen. Gerda, immer um die besten Bedingungen bemüht, zog die schweren Vorhänge zu. Da klopfte es zaghaft an der Wohnzimmertür.

«Mutti, ich hab' Angst, die Riesenspinne ist wieder da», sagte Gerdas jüngste Tochter Antonia, die in Schlafanzug und Hausschuhen die Treppe heruntergekommen war.

«Liebes, du träumst nur, geh' wieder hoch, Mami kommt gleich zu dir, wir rufen hier gerade Opa Julius an.»

Manchmal dachte Helge Möbius an Clemens Burmeister zurück, seinen engsten Freund aus der Studienzeit. Das war ein Mensch zum Pferde stehlen gewesen, wenn man den jetzt anrufen könnte! Helge befand sich in seinem kleinen, aber voll ausgestatteten Kieler Appartement, viele Kilometer von seiner Familie und seinem eigentlichen Heim entfernt. Heute Abend hätte Helge einen echten Freund gebraucht, um sich auszusprechen. Herbert Behrmann zählte nicht, das war eine Freundschaft, die ausschließlich auf gegenseitiger Nützlichkeit basierte. Dem hätte Helge nie irgendetwas wirklich Persönliches anvertraut. Ob Clemens Burmeister noch in Norddeutschland wohnte? Vielleicht sogar in Kiel? Helge war drauf und dran, im Telefonbuch nachzuschauen. Unterliess es aber doch. Am Nachmittag hatte Helge den jungen Mann getroffen, mit dem er sich beim Schlösschen unterhalten hatte. Dieser hatte sich gemeldet, um Helge die Manschettenknöpfe zurückzugeben. Das war erfreulich, denn es handelte sich um Helges Lieblingsmanschettenknöpfe, man sah es ihnen nicht ohne weiteres an, doch bestanden sie aus Platin. Helge wollte einen Drink ausgeben, ein Bier oder ein Glas Wein, irgendwo an der Förde in Richtung Schilksee, wo man am Nachmittag in der Sonne sitzen konnte.

«Geht es Ihrem Knie wieder besser?», fragte Helge, als sie ein Lokal mit passendem Außengelände gefunden hatten.

Der junge Mann blickte erst fragend, dann fiel es ihm wieder ein und er lachte.

«Würde man ja heute auch nicht sehen, bei den langen Hosen», sagte Helge.

Das Gespräch zwischen den beiden Männern kam anfangs nicht richtig in Gang, möglicherweise war der Altersunterschied ein Hindernis, ging Helge durch den Kopf.

Er versuchte es mit Smalltalk: «Was unternimmt man in seiner Freizeit in Kiel? Ich bin ja kein Kieler.»

Was sollte man schon unternehmen? Ausgehen, Konzerte, und zusätzlich Strand. Alles Dinge, die Helge überhaupt nie machte. Allein brachte nichts davon Spaß. Gerda Möbius vertrug nicht den geringsten Sonnenstrahl. Sie blieb am liebsten daheim.

«Wollen wir zum Baden fahren, jetzt?», fragte Helge unvermittelt den jungen Mann. Und wie sich dann der Nachmittag entwickelte, darüber hätte Helge gerne mit irgendjemandem gesprochen. Obwohl doch gar nichts Außergewöhnliches geschehen war. Aus dem Bad wurde nichts. Die beiden Männer waren stattdessen eine Weile lang gemeinsam am Strand von Schilksee spaziert, Helge hatte Schuhe und Strümpfe ausgezogen und lief mit bloßen Füßen durch das seichte Ostseewasser. Am späten Nachmittag eines sorglosen Tages.

Der kleine Fernseher in der Arbeitswohnung dudelte unbeachtet vor sich hin.

Doch dann stellt Helge ihn etwas lauter. Denn in diesem Moment trat eine Künstlerin mit einem Lied auf, das er heute schon einmal gehört hatte, im Autoradio, auf der Rückfahrt vom Strand. Was hatte sein neuer Bekannter über dieses Lied gesagt?

«Das ist Mädchenmusik.»

Helge hatte darüber gelacht. Wirklich? Mädchenmusik? Weil es von einem Mädchen gesungen wurde?

«Nein, weil das extra für kleine Mädchen produziert wird.»

Der Fernsehmoderator kündete an, dass seiner Meinung nach die Sängerin Sandra mit ihrem Gesang in diesem Jahr einen großen internationalen Hit landen würde. Hatte Helge das Lied nicht früher einmal schon von anderen Interpreten gehört? Möglich, aber sicher war er sich nicht. Helge konnte nicht ganz abstreiten, dass es ihm ein wenig gefiel, es war irgendwie eingängig. Everlasting love hieß der Song. Im Grunde derselbe musikalische Einheitsbrei, der überall und jederzeit gespielt wurde, immer ging es auf eine sentimentale Art um Liebe und tiefe, tiefste Gefühle. In der Familie Möbius ließen Gerda und Helge von Anfang an ausschließlich klassische Musik zu, darauf hatten sie sich verständigt, um die Töchter musisch zu fördern. Am liebsten mit Stücken von Johann Sebastian Bach. Wenn man sich daran gewöhnt hatte, vermisste man die aktuelle Popmusik kaum. Später, wenn sie ins Alter kamen, in dem man tanzen geht, wäre für seine Töchter die klassische Musik allein sicher nicht mehr ausreichend, ging Helge durch den Kopf.

Aber später war später, und heute war heute, sagte Helge sich.

Frische Luft ist nicht genug

Blaugrün, sehr viel Blaugrün, das war der erste visuelle Eindruck, den man hatte. Mit rostroten Akzenten. Und groß war das Objekt, das seit kurzem hier hing, bestimmt zwei Meter zwanzig breit und einen Meter dreißig hoch. Das Gemälde machte sich ganz imposant an der Wand, fand Dagmar Schöndorf. Sie war stolz auf ihren Geschmack. Ihre Sitzmöbel hatte sie sozusagen an der Quelle erstanden, authentischer Bauhaus-Stil. Solche Möbel besaß wirklich nicht jeder, man sollte vielleicht erwähnen, dass Dagmar Schöndorf exzellente Kontakte nach Dessau hatte. Ihr Mann Jörg mochte den Raum gern leiden, eigentlich. Es gab hier einen gemütlichen Erker, groß genug, um ein Bücherregal aufzustellen und auch Jörg Schöndorfs heißgeliebten Sessel, den Familienthron, wie er ihn scherzhaft nannte, dieser war im Krieg aus Jörgs brennendem Vaterhaus gerettet worden. Damals war Jörg noch ganz klein und wurde von der Familie Siegfried genannt, warum auch immer. Im Erker konnte man genüßlich rauchen und auch ein gutes Glas Wein genießen. Jörg zelebrierte das geradezu.

«Nun sag' doch, wenn's dir nicht gefällt», Dagmar bezog sich auf das Werk an der Wand.

«Nein, das habe ich ja nicht gesagt. Aber du weißt doch, ich mag auch gerne die kleineren Formate.»

Dagmar nahm einen großen Schluck aus ihrem Kristallbecher. War das Mineralwasser? Bei Dagmar konnte man nie wissen. Irgendetwas störte Jörg, gerade jetzt. Es war nicht das Kunstwerk. Nein, es war der Fernseher.

«Schatz, kannst du etwas leiser stellen, ich möchte noch ein, zwei Kapitel lesen.»

Dagmar stellte sich vor ihm auf, die Hände in die Hüften gestemmt.

«Tagesschau!», sagte sie mit gehobener Stimme, «gleich kommt die Tagesschau, und die möchtest du doch sehen!»

Jörg blickte auf die wertvolle Wanduhr, ebenfalls vor Jahrzehnten aus den Flammen geborgen.

«Ach, das dauert noch fast eine halbe Stunde.»

«Soll ich solange etwas Musik anstellen?»

Bloß das nicht, Dagmar stellte seit einiger Zeit mit Vorliebe das neue privat betriebene Radioprogramm an, das fürchterlich banale Unterhaltungsmusik sendete.

«Ach nein, es muss auch einmal ohne Ablenkung gehen.»

Jörg war der populären Kultur durchaus nicht abgeneigt, zum Beispiel Jazz fand er fabelhaft. Jörg mochte auch Rockmusik. Wohldosiert. Bei lauter Musik musste man leider immer so brüllen, wenn man sich unterhalten wollte. Das war jedem guten Gespräch abträglich. Und das war vielleicht Jörgs größte Vorliebe im Leben, noch vor der Literatur: intensive Gespräche führen.

«Was denkst du, vielleicht könntest du die Platte auflegen, die Wilfried uns geschenkt hat?», schlug Jörg vor.

Aber diesen Gefallen tat Dagmar ihm nicht. Stattdessen hockte sie sich vor dem großen Fernseher auf den Teppichboden und verfolgte aus dieser Position das Vorabendfernsehprogramm. Es ging um den Hamburger Hafen. Es war lustig. Und Heidi Kabel spielte mit.

Dagmar gluckste: «Was hat die denn da Merkwürdiges auf dem Kopf?»

Jörg mochte nicht hinschauen, er wollte schließlich noch in seinem Buch lesen. Es interessierte ihn einfach nicht, das Fernsehen im Allgemeinen.

«Ich habe keine Kapazitäten dafür frei», pflegte er seinen Freunden zu erklären.

Vor Kurzem war ihm und Dagmar bei einem Empfang die berühmte Schauspielerin des niederdeutschen Fernsehtheaters vorgestellt worden. Er fand die alte Dame ganz angenehm, hanseatisch zurückhaltender, als erwartet, aber trotzdem hatte Jörg auch in Zukunft nicht vor, seine Abende mit volkstümlichem Theater zu vergeuden.

«Das ist ein vielleicht ein Kapotthut, den die da aufhat!», rief Dagmar spöttisch, «mit Veilchen druff!»

Ihre Stimme klang undeutlich. Sie nahm wieder einen Schluck aus dem Kristallbecher, den sie so liebte. Einen herzhaften Schluck.

Jörg waren die Augen zugefallen. Die Nachrichten – das Übliche. Krisen, Umweltskandale, vieles, das man erstmal einordnen musste, vieles, das die Menschen beängstigte. Aber Jörg fand das auch ermüdend. Er hielt sich für einen Menschen voller Tatendrang. Wenn etwas beunruhigt, dann muss man etwas dagegen tun. Dann muss man Maßnahmen ergreifen. Gemeinsam mit anderen. Man müsste die anderen anstacheln, zur guten Tat. Aber das ging heute Abend nicht mehr. Und die Probleme der Welt hatten einerseits nicht heute erst angefangen und waren andererseits sicher nicht an einem einzigen Abend zu bewältigen. Jörg konnte einordnen, das war seine Stärke. Deswegen konnte er immer noch gut schlafen in dieser unruhigen Zeit. Und Jörgs abendlicher Rotwein trug sicher auch dazu bei. Ein sehr guter Wein. Jörg schwenkte das Glas so gern. Plötzlich schreckte er auf. Wegen Dagmar.

«Das ist ja großartig!», rief sie aus.

Erst dachte Jörg einen Moment lang, dass es um irgendetwas im Fernsehen ging.

Aber Dagmar sprach ins Telefon: «Eine glänzende Idee, Gisela! Natürlich kommen wir auch.»

Jörg schloss wieder die Augen. Schön gemütlich wäre es gewesen, wenn ihm Dagmar jetzt die feine Kaschmirdecke angereicht hätte. Er litt manchmal unter kalten Füßen.

«Hallo», rief Dagmar, «hallo, mach doch mal die Augen auf!»

Sie hatte den Böll-Roman aufgehoben, der Jörg vorhin im Einschlafen aus der Hand geglitten war.

«Ich mach' uns einen Kaffee!»

Dagmars Ankündigung alarmierte Jörg, jegliche restliche Schläfrigkeit war wie weggeblasen.

«Was? Ich trinke jetzt keinen Kaffee mehr, es ist fast neun Uhr.»

«Ja, wir beeilen uns ein bisschen, dann schaffen wir es noch.»

Jörg sah sie fragend an, Dagmar sprach in Rätseln. Schaffen? Was schaffen?

«Wir treffen uns alle am Strand! Ist das nicht toll?»

«Was soll das?», Jörg konnte noch immer nicht folgen.

«Ich habe eben mit Gisela telefoniert. Wir treffen uns am Strand und trinken was Feines. Klaus und Erwin bringen diese köstlichen Häppchen mit, die sie immer zaubern. Und hinterher gehen wir alle noch tanzen.»

«Also, ohne mich, ich muss gleich ins Bett, ich habe morgen Sitzung.»

«Wir können bei Gisela schlafen, in einer ihrer Gästewohnungen. Betti macht das auch.»

Jörg war unwillig: «Wir müssten extra 'rüber fahren. Die anderen wohnen alle dort in der Nähe.»

«Ja, und was ist schon dabei? Dann sparst du morgen früh die Fahrt. Um diese Uhrzeit kommen wir glatt durch, ist doch kaum Verkehr. Ach herrlich, ich stelle es mir vor, wie in einem Fellini-Film, wir alle am Strand mit Laternen.»

Dagmar stand mit einem Becher in der Küche. Sie hatte sich soeben Kaffee eingegossen. Ihre Miene war verfinstert.

«Mist.»

Sie knallte den Becher auf die Spüle. Oh ja, sie war wütend. Sie nahm den Becher wieder hoch und kippte das heiße Getränk in den Ausguss.

«So ein Mist!»

Dann goss sie sich wieder Kaffee ein und trank einen Schluck. Sie verzog das Gesicht, der Kaffee schmeckte ihr nicht.

«Dann fahr ich eben ohne dich!», brüllte sie unvermittelt von der Küche in Richtung Livingroom, wie sie und Jörg ihr Wohnzimmer nannten.

Jörg kam zu ihr in die Küche. «Nein, du kannst nicht fahren.»

«Wieso nicht? Ich habe einen Fü–hürerschein, genau wie du. Ich fahre gar nicht schlecht.»

«Nein, ich meine, weil du getrunken hast.»

«Aber doch nur einen kleinen Schluck!»

Jörg war wirklich müde. Und ratlos. Dagmar war enttäuscht.

Jörg wollte sie trösten: «Lass uns hier tanzen!»

Dagmar blickte ihn hasserfüllt an.

«Ich glaube, du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank. Hier tanzen? Ich bin doch keine Rentnerin. Ich muss raus», Dagmars Stimme wurde schrill, «ich will ans Meer, ich will leben, das musst du doch einsehen!»

Jörg verzog sich sofort aus der Küche. Er wollte die ewig gleiche Litanei nicht hören, die jetzt beginnen würde: wie Dagmar alles für ihn tat, wie immer nur er im Mittelpunkt stand und wie sie alles, was für sie je von Bedeutung war, für ihn aufgegeben hatte. Nun gut, wenn sie die Sache so sah…

Dagmar wimmerte. Gerade so laut, dass Jörg es noch in seinem Arbeitszimmer hören konnte. Er hatte die Füße auf seinen Schreibtisch gelegt und versuchte sich abzulenken. In Gedanken wollte er die morgige Tagesordnung durchgehen. Das funktionierte nicht. Jetzt konnte man trampelnde Geräusche hören. Dagmar stampfte durch den Livingroom, wütend und noch angetrunkener, als vorher, das lag am Rüdesheimer Kaffee, den sie in der Zwischenzeit zubereitet und ausgetrunken hatte. Für dieses Rezept hatte Dagmar eine beträchtliche Menge Asbach Uralt Weinbrand verbraucht. Jörg konnte sich darauf einstellen, dass sie sich nicht so bald wieder beruhigen würde. Das hatte er schon des Öfteren erlebt, gerade in letzter Zeit häuften sich die Vorfälle.