Menschen ohne Geschichte sind Staub - Anna Hájková - E-Book

Menschen ohne Geschichte sind Staub E-Book

Anna Hájková

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Beschreibung

Eine Untersuchung, die für das Erinnern an queere jüdische Opfer während des Holocausts und für ein Ende der Stigmatisierung eintritt. Queere Geschichte des Holocaust, also die Frage nach gleichgeschlechtlichem Verlangen unter den Holocaustopfern, ist bis in die heutigen Tage eine Leerstelle geblieben. Dies liegt an einer weitreichenden Homophobie der Häftlingsgesellschaft in KZs und Ghettos, was dazu führte, dass die Stimmen dieser Menschen weitgehend aus den Archiven getilgt sind. Anna Hájkovás Text baut auf bestehender Forschung zu Homophobie auf und macht den Versuch, die Geschichte dieser ausradierten Menschen zu schreiben. Die Untersuchung ist dabei gleichzeitig eine Geschichte der Sexualität des Holocaust und nimmt in Augenschein, dass die Beziehungen im Lager mitunter ausbeuterisch und gewaltsam waren, wobei die Übergänge fließend waren. Hájková setzt sich mit einigen besonderen Fällen von Jugendlichen (unter anderem Anne Frank) und Erwachsenen auseinander, es geht um romantische, erzwungene und abhängige Beziehungen, um romantische Sexualität und sexuellen Tauschhandel. Sie zeigt die Gleichzeitigkeit von queerer und Hetero-Sexualität und argumentiert, dass wir von einem ausschließlichen Konzept der sexueller Identität Abschied nehmen und von Akten und Praktiken sprechen müssen, um das Verhalten der Opfer verstehen zu können.

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Anna Hájková

Menschen ohne Geschichte sind Staub

Queeres Verlangen im Holocaust

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2024

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Filip Kraus

ISBN (Print) 978-3-8353-5641-2

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-8638-9

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-8639-6

Inhalt

Vorwort von Tessa Ganserer

Vorbemerkung der Autorin zur zweiten Auflage

Den Holocaust queer erzählen

Die queere Archivlücke

Homophobie der Überlebenden

Queeres Verlangen in Theresienstadt

Schlussfolgerung

Menschen ohne Geschichte sind Staub

Homophobie

Margot Heuman

Kinship

Nate Leipciger

Anne Frank

Melania Weissenberg

Jiří Vrba

Schlussfolgerung

Anmerkungen

Vorwort von Tessa Ganserer

Meine Aufgabe als Politikerin sehe ich darin, mich für ein gutes sowie diskriminierungsfreies gesellschaftliches Miteinander und Gleichberechtigung einzusetzen. Dabei sind mir die Rechte marginalisierter Personen und hier die Rechte queerer Menschen ein besonderes Anliegen. Denn von Gleichheit in Recht und Gesetz kann auch in der Mitte der zwanziger Jahre des einundzwanzigsten Jahrhunderts noch lange nicht die Rede sein. So müssen auch heute noch lesbische Mütter ihr gemeinsames Kind adoptieren, während bei verheirateten heterosexuellen Paaren der Ehemann automatisch als Vater anerkannt wird – ganz ohne Nachweis, dass er auch tatsächlich der Erzeuger ist. Transgeschlechtliche Menschen müssen sich auch heute noch einer demütigenden und pathologisierenden psychologischen Zwangsbegutachtung stellen, nur damit der Rechtsstaat sie so akzeptiert, wie sie sind. Rechtliche Benachteiligungen, die die aktuelle Ampelkoalition im deutschen Bundestag bald beenden möchte. So entstehen meine Zeilen, während wir gerade über den Gesetzentwurf zum Selbstbestimmungsgesetz verhandeln. Noch bevor dieses Buch die Druckerei verlassen hat, hat der Deutsche Bundestag mit großer Mehheit das Sebstbestimmungsgesetz verabschiedet. Das entwürdigende sogenannte Transsexuellengesetz gehört damit der Vergangenheit an. Auch stehen die Reform des Abstammungsrechtes und andere Vorhaben noch aus.

Doch die Vehemenz mit denen in Teilen unserer Gesellschaft Stimmung gegen transgeschlechtliche und non-binäre Menschen gemacht, wie energisch und aufwändig gegen deren berechtigte Forderung nach einem Selbstbestimmungsgesetz vorgegangen wird, zeigt nachdrücklich, wie tief auch heute noch gesellschaftlich bedingte Stigmatisierungen und Vorurteile verankert sind.

Homosexuelle Männer wurden im Nationalsozialismus verfolgt und in Konzentrationslagern ermordet. Eine strafrechtliche Verfolgung setzte sich auch im Nachkriegsdeutschland fort. Sie wurden daher lange nicht als Verfolgte anerkannt und hatten damit auch keinen Anspruch auf Entschädigung. Gleichgeschlechtliche Liebe unter Frauen war zwar (in Deutschland) offiziell nicht strafbar, doch wir wissen heute, dass auch lesbische Frauen vom Nazi-Regime nicht verschont geblieben sind. Sie wurden mithilfe anderer Paragraphen verfolgt – aufgrund »Erregung öffentlichen Ärgernisses«, Prostitution oder als »Asoziale«, die den Behörden als Vorwand dienten, um frauenliebende Frauen ins Gefängnis oder gar KZ zu bringen. Die Verfolgung war fast immer intersektional, das heißt als Widerstandskämpferinnen, Jüdinnen oder Schwarze Frauen – und wegen Queerness. Diese Art der Verfolgung lesbischer Frauen hörte auch nach Kriegsende nicht auf. Auch in der Bundesrepublik drohte ihnen beispielsweise der Entzug des Sorgerechts. Transgeschlechtliche Menschen mussten sich bis 2011 zwangssterilisieren lassen. Daran wird deutlich, wie tief sich Vorurteile und Abwertungen von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in den Gesetzgebungen festgesetzt haben und wie schwer es ist, diese aus den Gesetzestexten zu entfernen.

Zwar nehmen gesellschaftliche Einstellungen und rechtliche Regulierungen gegenseitigen Einfluss aufeinander, dennoch ist die Arbeit auch dann nicht getan, wenn alle rechtlichen Ungerechtigkeiten beseitigt sind. Stigmatisierungen, Ausgrenzungen, Diskriminierungen, Benachteiligungen und Gewalt als Ausdruck gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, sind nicht einfach per Gesetzesbeschluss aus der Welt zu schaffen. Wir wissen aus Studien, dass Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans- & intergeschlechtliche sowie non-binäre Menschen (zusammen als queer benannt) noch immer alltäglichen Diskriminierungen ausgesetzt sind. Ebenso wissen wir, dass explizit queerfeindliche Positionen in Teilen der Gesellschaft vertreten werden. Diesbezüglich haben wir also kein Erkenntnis-, sondern ein Akzeptanzproblem.

Dabei hat sich ohne jeden Zweifel in den 55 Jahren nach Stonewall weltweit und auch bei uns in Deutschland einiges zum Guten gewendet. In vielen Ländern wurden in mühevollen und langwierigen Prozessen Rechte erstritten (wie z. B. die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare). Queere Menschen haben heute einen deutlich besseren Zugang zu Informationen und anderen queeren Personen, als das vor dem ›Internetzeitalter‹ der Fall war. Außerdem ist eine stetige Akzeptanzzunahme gegenüber sexueller und geschlechtlicher Vielfalt festzustellen. Allerdings zeigen aktuelle Erhebungen ebenfalls, dass diese Akzeptanz auch wieder verloren gehen kann.

Dennoch sind wir weit davon entfernt, in Deutschland von gleichberechtigten, diskriminierungsfreien Lebensverhältnissen zu sprechen. Bei einem Blick über den deutschen Tellerrand ist zu betonen, dass in vielen Ländern queere Menschen auch heute noch staatlich verfolgt werden. In den letzten Jahren sind darüber hinaus nicht nur rechtliche Rückschritte in Ungarn, Polen oder Russland zu verzeichnen, sondern auch in einigen Bundesstaaten der USA hat sich die Rechtslage deutlich verschlechtert. Und bei uns in Deutschland lassen Populist_innen und Rechtsextreme, Ultraorthodoxe sowie weitere radikale Kräfte keine Gelegenheit aus, um Hass zu verbreiten, der wie Gift in die Gesellschaft hineinsickert. Wenn wir also nicht aufpassen, können wir die Erfolge der rechtlichen Selbstbestimmung, die Freiheit unbehelligt lieben zu können und alle weiteren rechtlichen Fortschritte auch ganz schnell wieder verlieren.

Gewiss muss die Politik hier Haltung zeigen, Akzeptanz vorleben, für diese werben und vor allem die finanziellen und personellen Ressourcen für eine gute Akzeptanzarbeit bereitstellen. Dort, wo fehlende Akzeptanz in Hass und Gewalt umschlägt, muss sich der Rechtsstaat schützend an die Seite Betroffener stellen. Hassverbrechen müssen konsequent geahndet werden. Aber für ein gutes gesellschaftliches Miteinander ist nicht allein die Politik am Zug – vielmehr sind wir alle gefordert. Wir alle sind gefordert dafür zu sorgen, dass sich die grausame Geschichte des Nazi-Regimes nicht wiederholt.

Damit queere Menschen nicht weiterhin Gefahr laufen, Opfer faschistischer Bewegungen zu werden, ist ein differenziertes Wissen über Leid und Unrecht sowie eine angemessene Sichtbarkeit in der Geschichte Nazi-Deutschlands hilfreich. Unwissenheit und Unsichtbarkeit über die Vergangenheit sind ein Nährboden für Vorurteile und Ablehnung – beides hat bereits in den letzten Jahren wieder spürbar zugenommen.

Menschen ohne Geschichte sind Staub. Durch die Kenntnis über menschliche Schicksale werden Geschichten emotional, die sonst im Wald der Fakten bedeutungslos blieben. Wir Menschen sind zwar rationale Wesen, aber vor allem unsere Empathie-Fähigkeit ist ein wichtiges Mittel gegen den Hass. Wenn Schicksale ein menschliches Antlitz bekommen, wenn wir die Schicksale dieser Menschen in ihren Facetten erfahren, können wir auch leichter verstehen.

Ohne die bedeutende Arbeit von Dr. Anna Hájková wüssten wir kaum etwas über das Leben queerer Menschen während der Nazi-Diktatur. Mit ihrer umfangreichen und tiefschürfenden Forschung hat sie einzigartiges und wertvolles Wissen erarbeitet. Queere Menschen im Holocaust haben dadurch einen Namen und eine Geschichte erhalten. Es ist mir daher eine große Ehre, dieses Buch von Dr. Anna Hájková mit einem Vorwort einzuleiten. Ich wünsche allen eine berührende und gewinnbringende Lektüre.

Vorbemerkung der Autorin zur zweiten Auflage

Es ist ein großes Privileg, dass mein kurzes Buch über queere Holocaustgeschichte in erweiterter zweiter Auflage erscheinen kann. Zuspruch und Ermunterung vieler Kolleg_innen auf der ganzen Welt sind hierfür auch ein Grund. Mein Dank gilt vor allem meinen Freunden und Freundinnen François Guesnet, Benjamin Hett, Martin Winter, Ervin Malakaj, Laurie Marhoefer und Jennifer Evans. Sie sind mir eine Inspiration, großzügig und geduldig zu bleiben und die Dinge zu hinterfragen. »We’re all smart. Distinguish yourself by being kind«, sagt ein englisches akademisches Sprichwort: »Wir sind alle klug. Unterscheide dich, indem du freundlich bist.« Es ist eine Maxime, die wir Akademiker_innen uns öfter zu Herzen nehmen sollten. Mein Lektor bei Wallstein, Florian Welling, war eine große Hilfe, konstruktiv und verständnisvoll, ihm danke ich ihm von Herzen.

Die erste Auflage von Menschen ohne Geschichte sind Staub hatte noch einen anderen Untertitel und wurde in einem der ersten Lockdowns geschrieben. Anfang Januar 2021 brach in Großbritannien die Alpha-Variante von Covid-19 aus. Für drei Monate war alles geschlossen – für mich gerade auch die so wichtigen Bibliotheken, Schwimmbäder und Cafés. Ich verließ mich auf die Großzügigkeit von Freund_innen, Kolleg_innen und Fremden auf Twitter, die mir Literatur empfahlen, PDFs ihrer eigenen Publikationen teilten oder mir ganze Passagen abfotografierten.

Das hier nun vorliegende Buch umfasst zwei überarbeitete und erweiterte Fassungen meiner bei Wallstein publizierten Arbeiten. Sie lassen sich beide zusammen als Monografie lesen, aber auch getrennt voneinander. Das namensgebende zweite Kapitel erschien in der Reihe Hirschfeld Lectures der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld im Juni 2021 – zwei Jahre später war es ausverkauft. Für diese zweite Auflage konnte ich wieder jene Arbeit mit wissenschaftlicher Literatur wieder leisten, die mir während der Pandemie nicht möglich war. Die Fußnoten bieten punktuell Einblick in die in diesen Jahren erschienene Forschungsliteratur. Hinzugefügt habe ich zudem ein neues Kapitel, und zwar über den tschechischen Holocaustüberlebenden Jiří Vrba. William Jones’ Forschung inspirierte mich dazu, Aspekte zu sexueller Gewalt in dem Abschnitt zu Nate Leipciger neu zu interpretieren. Der konservative Backlash und Verbote in den Jugendbibliotheken in den USA gaben Anlass, eine neue Passage in dem Abschnitt zu Anne Frank aufzunehmen.

Meine Freundin Margot Heuman starb im Mai 2022. Sie mochte das Kapitel, das ich über sie schrieb, und bei meinem letzten Besuch Anfang April 2022 bei ihr in Arizona lag das »kleine gelbe Buch« prominent in ihrem Wohnzimmer. Leser_innen der ersten Ausgabe wird vielleicht auffallen, dass Margots Freundin »Emma« nun einen neuen, ihren eigentlichen Namen trägt. Als Margots Nachruf in der New York Times erschien, verwendete die Journalistin den vollen Mädchennamen von Margots Freundin: Edith (Dita) Neumann. Margots Sohn Dan stellte der Zeitung auch das Bild der beiden Frauen zur Verfügung. Warum hatte ich in der ersten Auflage den Namen geändert? Aufgrund eines Enkelkinds von Dita, das Margot unter Druck setzte, den Namen der lang verstorbenen Großmutter aus Margots Geschichte herauszuhalten. Margot war die Homophobie dieser Forderung bewusst, tat aber wie gefordert, aus Angst. Nun kann Dita bei ihrem eigentlichen Namen genannt werden, ihren Namen zurück erhalten.

Das erste Kapitel dieses Buches dient als Einführung darin, was queere Holocaustgeschichte ist, welche immensen Schwierigkeiten sie überwinden musste – und immer noch muss. Es basiert auf meinem gleichnamigen Aufsatz aus dem bei Wallstein publizierten JahrbuchSexualitäten, 2018. Es war mein erster (und der erste überhaupt) wissenschaftlicher Text zu queerer Holocaustgeschichte, und für den vorliegenden Band schrieb ich diesen mit Blick auf ein breiteres Publikum um. Einige Passagen habe ich gestrichen, andere fügte ich neu hinzu. Beispielhaft möchte ich dies am Abschnitt zu Fredy Hirsch erläutern. Über die Jahre kam ich zu dem Schluss, dass wir in der queeren Geschichte offen sein müssen für schwierige und ambivalente Geschichten. Dazu gehört auch, dass Fredy Hirsch (und manche andere queere Protagonisten) Kinder und Jugendliche sexuell missbrauchten.

Trans ist derweil wohl der spannendste Zweig queerer Geschichte. Eine Einladung aus dem New Yorker Museum of Jewish Heritage im Juni 2022 an der Seite der fantastischen Katie Sutton und Bodie Ashton sowie der Rabbinerin Marisa Elana James stellte für mich eine Herausforderung dar, denn ich hatte noch nie davor eine trans Geschichte geschrieben, auch wenn ich zu dem Thema las und unterrichtete. In diesem Buch nun setze ich mich mit Clown Hambo, einer geschlechtsnonkonformen Person, auseinander und biete somit zu diesem Thema eine Perspektive. Die Passage über Anneliese Kohlmann habe ich indes ausgelassen, da ich über sie einen gesonderten Aufsatz in der Zeitschrift German History publiziert habe und ein Buch über sie schreibe. Schließlich entfernte ich die Passage, in der ich über die homophoben Attacken auf mich selbst berichte. Ich wollte den Blickpunkt weniger auf mir selbst haben – als vielmehr auf der Geschichte selber.

Den Vertrag zu der zweiten Auflage dieses Buches unterschrieb ich im Sommer 2023. Ich glaube, ich werde mich an diesen Sommer immer mit einem Lächeln erinnern – es war der Sommer, in dem meine Frau, Albane Duvillier, und ich zweimal heirateten. Einmal standesamtlich in unserem Zuhause in London, und beim zweiten Mal feierten wir in meiner Geburtsstadt in Prag, wo unsere Ehe nicht anerkannt wird. In Tschechien gibt es keine Ehe für alle. Albanes Liebe brachte mir bei, mich auf die Gegenwart zu konzentrieren, weniger nachtragend zu sein und mich über das zu freuen, was ich habe. In dem Herbst, der auf den Hochzeitssommer folgte, dachte ich oft darüber nach, wie ungemein tragisch die Geschichten sind, die ich auf diesen Seiten erzähle, und wie glücklich ich mit Albane bin. Auch das ist ein großes Privileg, und so schließe ich mit Lächeln und Liebe.

Den Holocaust queer erzählen

Wie können wir den Holocaust queer erzählen? Diese Frage hat sich meines Wissens bisher noch niemand gestellt.[1] Das vorliegende Kapitel bietet den ersten Forschungsblick auf queere Geschichte des Holocaust, also auf gleichgeschlechtliches Verlangen, das Jüdinnen und Juden, die von den Nazis als Juden verfolgt worden sind, erlebten. Diese Geschichte zu erzählen ist schwierig: Die Gesellschaft der Holocaustopfer war durchsetzt von Homophobie; Menschen, die sich an queerer Intimität beteiligten, wurden hier zumeist als abstoßend betrachtet. Dieses Vorurteil brachte die Stigmatisierung der Queerness mit sich und diejenigen Überlebenden, die über ihre Erlebnisse der queeren Liebe hätten erzählen können, wirksam zum Schweigen. Deshalb setzt sich dieses Kapitel auch mit Homophobie in den Zeugnissen der Überlebenden auseinander, mit deren Einfluss auf die Forschungsliteratur, das Erinnern und zugleich Gedenken und die daraus resultierende Archivlücke der queeren Erfahrung. Es zeigt auch Beispiele, wie wir mit dieser Quellenlage queere Biografien aus dem Holocaust schreiben können und was die Holocaustgeschichte daraus gewinnen kann.

Diese Geschichten zu erzählen ist wahrlich nicht einfach. Die überwiegende Mehrheit der Selbstzeugnisse aus dem Holocaust, die queeres Verlangen erwähnen, sind aus einer homophoben Perspektive heraus erzählt. Zumeist erscheinen queere Personen in den Zeugnissen der Opfer und der Überlebenden als gefährlich, deviant, ja sogar als monströs – immer »anders« in den Augen der Erzählenden. Berichtet wird dabei nicht nur von nichtjüdischen Kapos, sondern oftmals auch von jüdischen Mithäftlingen.

Zeugnisgeben ist immer ein sozialer Akt, das heißt, wir erzählen unsere Leben innerhalb eines Rahmens des gesellschaftlich Möglichen. Die Stigmatisierung des queeren Verlangens führte dazu, dass so gut wie keine Holocaustüberlebenden mit diesen Erfahrungen – und diejenigen, die sich als lesbisch oder schwul verstanden – ihre Lebensgeschichte erzählten. Wenn sie es taten, verschwiegen sie ihre eigene Queerness.

Woher kam diese Homophobie?[2] Wieso fühlten sich Menschen, deren Familien ermordet wurden, die unter Hunger, Gewalt, Schmutz und Zwangsarbeit litten, dermaßen von gleichgeschlechtlichen, oftmals einvernehmlichen sexuellen Aktivitäten bedroht? Es ist bemerkenswert, dass sich Holocaustopfer von gleichgeschlechtlicher Intimität nicht nur dann gepeinigt fühlten, wenn sich jemand mit queerem Verlangen ihnen näherte, sondern auch, wenn sie Augenzeugen von queerem Verlangen anderer waren. Wanda Połtawska, die polnische Widerstandskämpferin, fragte sich gar, ob die lesbischen Mithäftlinge in ihrer Baracke überhaupt »noch Menschen« waren.[3] Die Markierung einiger Holocaustoper als Monster hatte Einfluss darauf, wie an sie erinnert, was von ihnen überhaupt erzählt und gesammelt wurde und was schließlich als »geeignete Geschichte« galt.

Das vorliegende Kapitel untersucht diese ausgeblendeten queeren Geschichten. Indem ich die Geschichten von Menschen, die als so abnorm angesehen wurden, dass man am besten nicht über sie redete, schreibe, widme ich mich zugleich dem größeren Thema, wie normativ Holocaustgeschichte geschrieben wird. Mein Ziel ist es nicht nur, queere Juden Teil der Shoahgeschichte werden zu lassen; ich möchte auch aufzeigen, aus welcher Perspektive heraus queere Erfahrung ausgeklammert wurde. Queere Holocaustgeschichte hilft uns, das Narrativ einer erlösenden Geschichte zu erkennen, eine Form, in der dieser Genozid oft erzählt wird.

Eine Geschichte der Sexualität im Holocaust, insbesondere einer queeren Sexualität, hilft die unrealistische und ahistorische Erwartung von Helden und Heiligen zu umschiffen. Viele, wohl die meisten, romantische und sexuelle Beziehungen im Holocaust – zwischen Retter_innen und geretteten Juden, Häftlingen in Konzentrationslagern und Ghettos – waren definiert durch Abhängigkeiten bis hin zu Ausbeutung. In der schrecklichen Welt der Lager hatte Sexualität viele Funktionen – Trost, Freizeitaktivität, sozialer Vertrag und auch Ressource. Sexualität war aber vor allem ein Statement zu Macht und Status. Machthierarchien waren in fast allen sexuellen und romantischen Beziehungen in den Lagern so bestimmend, dass sie uns vor allem dahingehend einen Einblick bieten, wie die Häftlingsgesellschaft Macht aushandelte. Status muss ausgeübt werden, und deswegen musste Sex offen ausgelebt werden, damit dieser als Statusmarker anerkannt werden konnte. Zugang zu Sexualität wurde ein Mittel, die eigene Machtposition zu demonstrieren.[4]

Zu dieser Konstellation gehört auch die Erkenntnis, dass viele dieser hierarchischen Beziehungen von Gewalt durchsetzt waren. Solche Beziehungen konnten zwischen Funktionshäftlingen und jungen Häftlingen stattfinden – oder zwischen Häftlingen und deutschen Bewacher_innen.[5] »Beziehung« ist im Deutschen ein Wort, das ein Einverständnis der Beteiligten nahelegt, im Gegensatz zum englischen Ausdruck »relationship«, das viel offener ist. Dieses Buch will sich ausdrücklich von dieser Annahme verabschieden. Ich glaube, dass das Konzept eines informierten Einverständnises (informed consent) im Holocaust nicht besonders hilfreich ist, denn Häftlinge brauchten fast immer dringend Schutz und Ressourcen und hatten so keine freie Wahl, die Zwangssituation ohne Nachteil zu verlassen.[6]

Was dieses Kapitel nicht bietet, ist eine komplette Übersicht der queeren Erfahrungen im Holocaust; das wäre Aufgabe einer umfassenden Monografie, oder eher mehrerer Bücher. Ich hoffe, dass ich nachfolgende Forscher_innen mit diesem Kapitel dazu inspirieren kann. Das Kapitel untersucht ebenso wenig eines der bekanntesten und vermutlich besonders häufigen Vorkommnisse der queeren Sexualität im Lager, der gewaltsamen Beziehungen zwischen Kapos und Pipeln (dem widmet sich das zweite Kapitel in dem Abschnitt zu Nate Leipciger). Weiterhin kommen in diesem Kapitel auch nicht die erzwungenen Beziehungen zwischen Aufseher_innen und Häftlingen zur Sprache.[7]

Zur Begrifflichkeit: Wie sollen wir die betroffenen Personen bezeichnen? Es wäre reduzierend und ahistorisch, sie als Schwule, Lesben oder Homosexuelle zu bezeichnen.[8] Nur ein Bruchteil derjenigen, die im Lager die intime Nähe von Personen des gleichen Geschlechts suchten, identifizierte sich davor oder danach (wenn sie das Glück hatten, zu überleben) als solche.[9] Zudem ist zu berücksichtigen, dass die meisten Konzentrationslager monosexuell organisiert waren. Wollte man sexuell aktiv sein, war neben Masturbation Sex mit Angehörigen des eigenen Geschlechts zumeist die einzige Alternative.[10] Manche der Leute, die sich an queerer Sexualität während der Verfolgung beteiligten, taten dies auch davor und danach. Viele aber nicht. Aber nur wenige dieser Personen verstanden sich als »homosexuell«, einfach aus dem Grund, weil dies eine moderne sexuelle Identität bezeichnet.[11] Wie geht man mit diesem Problem um? Die Aufgabe hier ist, zu historisieren, nämlich zu erkennen, dass die Bedeutung von Sexualität und somit auch die Entstehung einer sexuellen Identität von Zeit, Klasse, Ort und anderen Faktoren abhängt.

Deswegen ist hier von queeren Menschen die Rede, weil dieses Konzept der Offenheit und Komplexität gerecht wird, mit der die Menschen in der Geschichte ihre eigene Sexualität begreifen. Ich stimme mit Jennifer Evans darin überein, sich beim Erforschen der Sexualität in Zusammenhang mit dem Holocaust von dem Konzept Identität zu verabschieden und stattdessen von »Akten und Praktiken« zu sprechen.[12]