Menschenkette - Cäcilie Kowald - E-Book

Menschenkette E-Book

Cäcilie Kowald

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Beschreibung

Am 22. Oktober 1983 protestieren mehrere Hunderttausend Menschen gegen die geplante Stationierung von Atomraketen in Süddeutschland – in einer 108 Kilometer langen Menschenkette von der Befehlszentrale der europäischen US -Truppen in Stuttgart-Vaihingen bis zu den Wiley Barracks in Neu-Ulm. Mit ihnen machen sich auch Oliver, Marlene, Ulrike, Wilfried, Franzi und Ines auf den Weg, denn: Die Welt muss gerettet werden vor dem Atomkrieg. Doch was von außen aussieht wie eine einzige große Bewegung, ist ein Gemisch aus unterschiedlichsten Motivationen und Überzeugungen, die umso heftiger aufeinanderprallen, als alle nur das Beste wollen. »Wer die Hoffnung aufgibt, hat schon verloren. Das gilt für Menschenketten genauso wie für den Weltfrieden.«

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Cäcilie Kowald

Menschenkette

Cäcilie Kowald

MENSCHENKETTE

Roman

1. Auflage 2022

© 2022, 8 grad verlag GmbH & Co. KG

Sonnhalde 73 | 79104 Freiburg

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Julie August

Umschlagmotiv: Menschenkette am 22.10.1983 in Neu-Ulm

© Karin Hill/picture-alliance/dpa

Layout und Satz: Julie August

Lektorat: Marion Voigt, Zirndorf

Gesetzt aus der Adobe Caslon und der Brown

Papier: Munken Print cream 90 g/m2 1,5-fach

Einbandmaterial: Peyprint honan 130 G/M2

Herstellung: folio · print & more, Zirndorf

ISBN 978-3-910228-05-4

eISBN 978-3-910228-13-9

Für meine Elternund alle anderen, die nicht aufgeben,für eine bessere Welt zu kämpfen.

Inhalt

22. Oktober 1983

Halb sieben

Sieben Uhr

Halb acht

Acht Uhr

Halb neun

Neun Uhr

Halb zehn

Zehn Uhr

Viertel nach zehn

Halb elf

Viertel vor elf

Elf Uhr

Viertel nach elf

Halb zwölf

Viertel vor zwölf

Zwölf Uhr

Viertel nach zwölf

Halb eins

Viertel vor eins

Personen

Quellen

22. Oktober 1983

Das Neckartal und die Fils entlang, über die Schwäbische Alb bis hinunter zur Donau zieht sich ein langes Band von Menschen. Niemand weiß genau, wie viele es sind, dreihunderttausend, vielleicht auch vierhunderttausend, auf jeden Fall sind es viele, viel mehr, als jeder und jede Einzelne von ihnen zu hoffen gewagt hat. Hand in Hand stehen sie, Schulter an Schulter, von Stuttgart bis Ulm, ein 108 Kilometer langes, dichtes Band von Menschen, mancherorts in engen Schlangenlinien, an anderen Stellen in doppelten, dreifachen, vierfachen Reihen.

Aus ganz Süddeutschland sind sie gekommen, einer groß angelegten Choreografie folgend: aus dem Remstal nach Stuttgart; von den Fildern und aus dem fernen Saarland nach Esslingen; aus Freiburg, Lörrach und vom Hochrhein in die Neckarhafenstadt Plochingen; aus Karlsruhe, dem Kraichgau und der Südpfalz in das beschauliche Reichenbach; aus Nordbayern in die Industriestädtchen Ebersbach und Uhingen; aus Pforzheim nach Faurndau; aus Mannheim und Ludwigshafen nach Göppingen; aus dem entlegenen Nordosten Baden-Württembergs und den Tälern von Jagst, Kocher und Brenz in die Orte mit den verlockenden Namen Süßen und Kuchen; von den Hängen und Höhen des Schwarzwalds in das tausend Jahre alte Gingen; vom Odenwald und von der Bergstraße nach Geislingen an der Steige, wo es aus dem Filstal steil die Schwäbische Alb hinaufgeht; aus Südhessen in die abgeschiedenen Bauerndörfer Urspring und Lonsee; vom Bodensee und aus Oberschwaben nach Westerstetten; und die Ulmer und Neu-Ulmer schließlich bilden zusammen mit den vom langen Lauf der Donau Angereisten das südöstliche Ende der Kette, über die Donaubrücke hinüber nach Bayern. Österreicher sind gekommen, eine Gruppe Frauen aus Dänemark, aus der DDR ausgewiesene Bürgerrechtler, Befreiungstheologen aus Lateinamerika, schwarze Geistliche aus Südafrika, Mütter aus Hiroshima, buddhistische Mönche. So unterschiedlich sie sind, woher sie auch kommen, in einem sind sie sich einig: Atomraketen wollen sie nicht. Nirgends auf der Welt, und auch nicht hier, auf diesen friedlichen grünen Hügeln, sie sollen nicht zur Zielscheibe werden und nicht zum Waffenlager.

Da steht Ines, zweiundzwanzig Jahre alt, Studentin. Süddeutschland ist ihre Heimat, sie soll nicht dem Erdboden gleichgemacht werden, sagt sie. Und: Wir lassen uns nicht zu Geiseln der Weltpolitik machen. Zornig klingt sie, auf dem Ärmel ihrer Jacke prangt ein Aufnäher mit dem Konterfei Che Guevaras. Die USA sind Imperialisten, sagt sie, wir ergeben uns nicht.

Ein Stück weiter steht Marlene, siebenundzwanzig ist sie und sieht doch kaum älter aus als Ines. Ein schüchternes Lächeln liegt auf ihrem Gesicht, aber ihr Blick ist entschlossen. Ich will leben, sagt sie, wir alle wollen das, oder nicht? Es geht nicht nur um uns, nicht nur um Deutschland, es geht um die Welt. Und dann singt sie: Nach dieser Erde wäre da keine, die eines Menschen Wohnung wär … Darum, Menschen, achtet, dass sie es bleibt!

Marlenes Hand liegt auf der Schulter eines älteren Mannes. Die Hand, die sie fassen müsste, fehlt, der leere Ärmel ist sorgsam in die Manteltasche gesteckt. Ich habe einen Krieg erlebt, sagt Werner, das genügt.

Seine verbliebene Hand hält die einer jungen Frau mit wilder Strubbelfrisur und dicken dunklen Kajalstrichen unter den Augen. Erst auf den zweiten Blick sieht man, wie jung sie ist, noch nicht einmal volljährig. In was für einer Welt sollen meine Kinder einmal leben?, fragt Franziska; es klingt trotzig.

Neben ihr steht Oliver, ein dünner Achtzehnjähriger mit verschlossenem Gesichtsausdruck, in seinem Blick liegt tiefer Ernst. Krieg geht gar nicht, sagt er, und jeder, der einen Beitrag dazu leistet, macht sich schuldig, ob er will oder nicht.

Bei diesen Worten huscht ein Schatten über Werners Gesicht. Ja, sagt er, ob man will oder nicht, aber manchmal will man nicht und hat doch keine Wahl.

Oliver schaut beschämt. Ich habe nicht Sie gemeint.

Doch, natürlich hast du auch mich gemeint, aber du hast ganz recht. Glücklich, wer ohne Schuld durchs Leben kommt.

Geht das überhaupt?, sinniert Marlene.

Wahrscheinlich nicht. Aber wer so jung ist wie ihr, kann noch hoffen.

Um sie herum wird gesungen, der von Marlene begonnene Kanon ist aufgegriffen worden, hat sich in beide Richtungen ausgebreitet, so weit, dass das, was von links und von rechts zu hören ist, nicht mehr so recht zusammenpassen will. Irgendwo in der Kette löst sich ein Luftballon und steigt in den blauen Himmel auf.

Es ist zwanzig vor eins.

Nach intensiven Beratungen […] kamen die Minister überein, daß dem Gesamtinteresse der Allianz am besten dadurch entsprochen wird, daß die zwei parallelen und sich ergänzenden Ansätze: LRTNF-Modernisierung und -Rüstungskontrolle verfolgt werden.

Die Minister haben daher beschlossen, das LRTNF-Potential der NATO durch die Dislozierung von amerikanischen bodengestützten Systemen in Europa zu modernisieren. Diese Systeme umfassen 108 Abschußvorrichtungen für Pershing II, welche die derzeitigen amerikanischen »Pershing Ia« ersetzen werden, und 464 bodengestützte Marschflugkörper (GLCM).

Kommuniqué der Sondersitzung der Außen- und Verteidigungsminister der NATO in Brüssel (»NATO-Doppelbeschluss«), 12. Dezember 1979

Halb sieben

OLIVERES IST FÜNF VOR ZWÖLF!!!

Oliver verzieht das Gesicht, als er Knolles Plakat sieht. Er kann es nicht leiden, wenn ihn ein Satz anschreit. Großbuchstaben und Ausrufezeichen und so. Erst recht nicht so früh am Morgen, wenn sein Hirn am liebsten noch im Tiefschlaf wäre. Vor sieben in Dunkelheit und Kälte auf einem Parkplatz herumzustehen und auf einen Bus zu warten ist schlimm genug, auch ohne Schreisätze, egal, wie richtig sie sein mögen.

Aber was tut man nicht alles für eine gute Sache.

Das hat sich Knolle wahrscheinlich auch gedacht. Und es ganz besonders gut gemeint. Als ob Großbuchstaben und Ausrufezeichen nicht genügen würden, hat er auch noch extra fett geschrieben, und in Grellrot. Darunter die Zeichnung einer Uhr, sicherheitshalber, falls einer nicht lesen kann. Und das alles über dem Bild eines gigantischen Atompilzes. Nur ist leider das Plakat damit so vollgestopft, dass man schon aus wenigen Metern Entfernung überhaupt nichts mehr erkennen kann. Außer vielleicht dem Atompilz.

Gestaltung ist nun mal nicht Knolles Stärke. Knolle ist ein Wortmensch, so wie er, Oliver, auch. Kann ja nicht jeder so viel Talent wie Franzi haben.

Knolle hängt sich die Hartfaserplatte mit dem Plakat wie einen Rucksack auf den Rücken und nestelt an den Schnüren, die als Träger dienen.

Was soll denn das, sagt Oliver genervt, willst du etwa so in den Bus?

Knolle grunzt etwas, was entfernt wie nur mal schauen klingt, und lässt sich nicht stören.

Immerhin hat Knolle überhaupt ein Plakat, denkt Oliver. Im Gegensatz zu ihm selbst. Nicht, dass er nicht gewollt hätte. Aber ihm fiel nichts Ordentliches ein. Er dachte kurz an diesen Spruch von John F. Kennedy: Die Menschheit muss dem Krieg ein Ende setzen, oder der Krieg wird der Menschheit ein Ende setzen – doch das war nichts. Zu lang, zu lange Wörter. Ein Plakatspruch musste kurz und knackig sein. Gleichzeitig nicht zu abgedroschen. Was fast noch schwieriger war. Auf jeder Demo sah man unter Garantie irgendwo ein Plakat mit dem Foto des fallenden Soldaten aus dem Spanischen Bürgerkrieg und einem anklagenden WHY? daneben – fast immer in Großbuchstaben, übrigens. Hundertmal da gewesen und würde auch heute da sein. So wie die Atompilze. Dazu brauchte es ihn nicht auch noch.

Oliver schaut sich um, soweit das geht, so dunkel wie es noch ist. Nicht weit von ihnen hat sich eine Truppe Gewerkschafter mit Trillerpfeifen und Transparenten versammelt, daneben irgendwelche Roten, DKP oder MLPD oder so, die sich an ihren Fahnen festhalten und noch schnell eine rauchen. Ein Stück weiter stehen zwei echte Klischee-Grüne, langbärtig und mit Sonnenblumen in der Hand. Außerdem erkennt Oliver eine Familie aus ihrer Straße, die mit sämtlichen vier Kindern und zwei Bollerwagen angerückt ist, zwei Frauen aus der Kirchengemeinde, den türkischen Kioskbesitzer, bei dem die halbe Schule Gummibärchen kauft, und, nur wenige Meter neben ihm, Hartmut Link, den Inhaber der links buchhandlung. Auch er hat ein Plakat dabei, ein Sandwich aus zwei Platten, das er neben sich abgestellt hat, eine Hand locker daraufgelegt, damit es nicht umfällt. Es ist das ziemliche Gegenteil zu Knolles Plakat, obwohl es auch Großbuchstaben, Ausrufezeichen und fette Schrift verwendet. Doch die Schrift ist schwarz, und es sind genau zwei Wörter, die das Plakat vollständig ausfüllen: Sag NEIN! Zwei Wörter, bei denen jeder weiß, was gemeint ist. Zwei Wörter, mit denen alles gesagt ist.

Genial, denkt Oliver. Darauf wäre er nicht gekommen.

Aber wenn er ganz ehrlich ist: Mit ein bisschen mehr Zeit und Mühe wäre ihm sicher zumindest etwas Brauchbares eingefallen. Das eigentliche Problem war nicht, ein Plakat zu entwerfen, sondern das Danach. Ein Plakat lässt sich nämlich schlecht verstecken. Und sobald Mr. Big es sähe, würde er Fragen stellen. Und wenn Oliver etwas nicht brauchen kann, dann das. Besser also, gar kein Plakat zu haben. Besser auch, nicht zu verraten, wohin er heute fährt. Und bei Knolle zu übernachten, sodass niemand sich wundert, warum er – er, der sonst am Wochenende nicht freiwillig vor zehn aus der Falle kommt! – so früh aufsteht.

Mr. Big hat schon recht, er ist ein Feigling. Wie gerne hätte er Franzis Mut! Schon wie sie bei den Konzerten mit ihrer Band, den Maniac Mushrooms, ganz vorne auf der Bühne stand, sich die Seele aus dem Leib schrie, stampfte, die Faust in die Luft stieß, den Oberkörper im Rhythmus nach vorne und hinten warf, voller Power, wie sie sich überhaupt nicht darum scherte, dass der U-Boot-Ausschnitt ihres Shirts zur Seite rutschte, die Schulter freigab, den Ansatz ihres Busens, der im Rhythmus mittanzte, sodass Oliver gar nicht anders konnte, als ihn anzustarren, bis es ihm bewusst wurde und er sich mit einem schnellen verlegenen Blick durch den Raum vergewisserte, dass niemand es bemerkt hatte. Er würde so etwas nie bringen. Er mit seiner scheiß Unsicherheit, seinen ständigen Zweifeln. Sich auf eine Bühne stellen und seine Meinung und seine ganze Wut auf diese Welt hinausschreien? Undenkbar. Wo ihm schon bei dem Gedanken, Mr. Big zu sagen: ich fahre zur Menschenkette, oder, noch schlimmer: hör zu, ich werde verweigern, der kalte Schweiß ausbricht.

Kein Wunder, dass Franzi lieber mit Bassman rumhängt. Der ist zwar eine echte Flachzange – glaubt, er sei progressiv, nur weil er Joints bauen kann –, aber Selbstvertrauen hat er für zwei. Haut den größten Quatsch mit größter Überzeugtheit raus, wenn er denn überhaupt mal etwas sagt und nicht nur gelangweilt in die Gegend glotzt, als sei das, was um ihn herum passiert, nicht der Mühe wert, dass er sein Maul auch nur aufmacht. Und es funktioniert: Alle finden ihn cool. Sogar Franzi, die doch sonst nicht so leicht zu beeindrucken ist.

Da!, sagt Knolle plötzlich, lässt die Schnüre los, sodass die Ecke seines Plakatträgers hart an Olivers Parka entlangschrappt.

Pass doch auf, sagt Oliver ärgerlich, aber Knolle drängt sich schon durch eine Gruppe Frauen mit lila Halstüchern hindurch, die ihm kopfschüttelnd hinterherschauen, ob missmutig oder amüsiert, kann Oliver nicht erkennen, aber eigentlich will er es auch gar nicht wissen. Als sie die roten Fahnen hinter sich haben, sieht Oliver, wohin Knolle unterwegs ist. Am hinteren Ende des Parkplatzes stehen Katta und Sven – und Bassman. Mist, aber was will er machen. Der Bus zur Menschenkette ist für alle da, und man kann niemandem verbieten mitzufahren. Auch wenn Oliver sich kaum vorstellen kann, dass Bassman wirklich weiß, worum es geht. Wahrscheinlich kommt er nur wegen Franzi mit.

Nur ist von Franzi noch nichts zu sehen. Wo steckt sie?

MARLENEHerrje, ist das kalt. Marlene haucht ihre Finger an, die trotz der Handschuhe beim Radfahren klamm und steif geworden sind. Einen Augenblick lang steht ihr der eigene Atem als milchige Wolke vor dem Gesicht. Unter null, definitiv. Gut, dass sie den dicken Norwegerpulli angezogen hat und darüber die Winterjacke. Und die langen Skiunterhosen unter die Jeans. Wenn sie erst einmal auf der Schwäbischen Alb angekommen und aus dem Bus ausgestiegen sind, wird es wenig Gelegenheit geben, sich aufzuwärmen. Und so ein Tag kann lang sein, wenn es kalt ist.

Immerhin regnet es nicht. Und die Luft riecht eisig und klar; man kann auf einen trockenen Tag hoffen, vielleicht sogar auf Sonne.

Marlene schlingt die Kette ihres Fahrradschlosses um einen Baum und lässt das Schloss einschnappen. Auf dem Parkplatz ist schon einiges los, sicher vierzig, fünfzig Leute, schätzt sie, soweit sie das im spärlichen Dämmerlicht sehen kann. Klar, man muss pünktlich sein, der Bus wird nicht warten. Marlene lässt den Blick schweifen auf der Suche nach bekannten Gesichtern, aber es ist zu dunkel, um viel zu erkennen. Nur eine Gruppe Schüler entdeckt sie, Oliver Vogel aus der Zwölf mit ein paar anderen, wahrscheinlich aus der Kaktus-Redaktion.

Vom Schweigen für den Frieden entdeckt sie niemanden. Ihr fällt auf, dass ihr nicht einmal klar ist, wer überhaupt mit dem Bus mitfährt. Renate nicht, so viel weiß sie – Renate ist gestern mit den Kindern nach Nürtingen gefahren zu ihrer Mutter, damit sie es heute nicht so weit hat. Über die Pläne der anderen aus der Gruppe ist sie nicht informiert.

Sie kennt sie ja auch noch nicht lange, sagt sich Marlene, gerade einmal ein halbes Jahr. Aber sie fühlt sich mit einem Mal schrecklich einsam. Wie anders hatte sie sich diesen Tag ausgemalt, als sie das erste Mal von der Menschenkette hörte! Sie stellte sich vor, dass sie mit Boris und der alten Clique fahren würde, sie würden Picknick mitnehmen und vielleicht eine Gitarre, und sie hätten unterwegs viel Spaß miteinander. So ähnlich wie bei den Wochenendfreizeiten früher oder bei der Fahrt zum Kirchentag. Als ob die Zeit bereit sein könnte, einen Sprung zurück zu machen. Als ob die Clique nicht inzwischen verstreut wäre, einer nach dem anderen weggegangen aus Heidelberg, dorthin, wo es Arbeit gab. Genau wie sie selbst, die das Referendariat an den hintersten Rand des Schwarzwalds verschlagen hat. Fast vier Stunden Zugfahrt entfernt von Heidelberg, vier Stunden von Boris, dem Einzigen, der noch in Heidelberg war – der Glückliche! – und der keine Anstalten machte, mit seinem Studium fertig zu werden. Wozu soll ich mir Stress machen, sagte er immer, nur um dann länger zu arbeiten bis zur Rente – oder, im schlimmsten Fall, länger arbeitslos zu sein?

Weil dann das Leben wieder Konturen bekäme, denkt Marlene, und einen Anker. Weil sie dann wüssten, wie sie sich wieder aufeinander zubewegen könnten. Doch das sagte sie ihm nicht, denn sie weiß, er würde es nicht gelten lassen. Und so blieben sie getrennt an zwei verschiedenen Orten, von denen keiner eine Zukunft für sie barg – ihrer nicht, weil sie nicht bleiben wollte, seiner nicht, weil er auf Dauer nicht würde bleiben können.

Umso mehr hatte sie gehofft, den heutigen Tag zumindest teilweise mit ihm zu verbringen. Wenn sie schon nicht gemeinsam anreisen konnten, hätten sie sich wenigstens auf der Schwäbischen Alb treffen können, quasi auf halber Strecke. Boris hatte ein Auto, er musste sich nicht an die Zuweisung zu den verschiedenen Orten an der Strecke halten, er konnte einfach dorthin kommen, wo sie war.

Aber Boris meinte, das ginge nicht. Es sei wichtig für das Gelingen der Kette, dass jeder dorthin fahre, wo er eingeteilt sei. Und die Heidelberger stünden eben woanders als die aus dem Ostschwarzwald.

Grundsätzlich hatte er recht, aber es traf sie. Hätte sie nicht, bei allen Grundsätzen, eine Ausnahme verdient? Hätte er nicht einfach Sehnsucht haben können, sie zu sehen? Hätte er nicht Lust haben können, mit ihr zusammen in der Kette zu stehen, Hand in Hand für eine bessere Welt, die sie gemeinsam erkämpfen, gemeinsam aufbauen wollten?

Doch diesen Gedanken schiebt Marlene schnell beiseite, bevor die nächste Welle aus Sehnsucht und Einsamkeit über ihr zusammenschlägt. Immerhin kämpfen sie gemeinsam. Es ist nicht wichtig, ob sie im gleichen Ort oder sogar nebeneinanderstehen. Das Wichtigste ist, dass die Kette zustande kommt. Da hat Boris schon recht.

Ohnehin ein Wahnsinn, wenn man sich das überlegt. Eine Menschenkette von über hundert Kilometern. Kaum zu glauben, dass das gelingen kann. Kaum zu hoffen. Andererseits: Wer die Hoffnung aufgibt, hat schon verloren. Das gilt für Menschenketten genauso wie für den Weltfrieden – und für die Liebe auch.

Energisch nimmt Marlene den Rucksack aus dem Fahrradkorb und mustert noch einmal die Menschenmenge. Irgendwo ist bestimmt jemand, den sie kennt. Und wenn nicht, muss sie eben jemanden kennenlernen. Ganz gleich, ob ihr danach zumute ist oder nicht.

Marlene atmet tief durch, schultert ihren Rucksack und geht auf den Parkplatz.

OLIVERSieh an, die Boenisch, denkt Oliver. Hätte er sich denken können, dass sie auch kommt. Wenn er denn darüber nachgedacht hätte.

Sie war schon cool, die Boenisch, auf ihre Art. Dabei wirkte sie gar nicht so. Wenn man sie im Unterricht erlebte … wenn sie Schülerin wäre, würde man sie eine Streberin nennen. Immer extrasupergut vorbereitet, machte nie einen Fehler, und wenn, dann war es ihr ultrapeinlich. Sie gab sich mehr Mühe als alle anderen Pauker zusammen, und anscheinend nicht nur weil sie die guten Noten brauchte, als Referendarin, sondern auch weil sie wirklich wollte, dass alle in der Klasse etwas mitbekamen. Nur durchsetzen konnte sie sich nicht. Natürlich nicht, die Netten, Bemühten, die konnten das nie. Wenn Chaos ausbrach, dann schaute sie hilflos und sagte nur, viel zu nett und viel zu leise: Hört auf, seid doch mal ruhig; was natürlich gar nichts brachte.

Also, lieb und nett war sie, aber keine, die Kante zeigte.

Dachte er so.

Bis zu dem Abend, als er sie zufällig in der Stadt traf. Oder vielleicht sollte er eher sagen: in der Stadt sah. Sie sah ihn nicht, sie schien überhaupt niemanden zu sehen außerhalb des Kreises, in dem sie stand, mit etwa zwanzig anderen, Hand in Hand, neben einem großen Transparent mit der Aufschrift Schweigen für den Frieden.

Es war nicht das erste Mal, dass er die Gruppe sah. Um ehrlich zu sein, kam er sogar öfter mal extra freitags zur Schweigezeit in die Stadt. Nie hätte er sich getraut, sich dazuzustellen, alter Feigling, der er war – diese sogenannte Stadt war klein genug und die Wahrscheinlichkeit zu groß, dass ihn jemand sehen und erkennen würde, so wie er ja auch die Boenisch gesehen und erkannt hatte. Und es gab kaum jemanden, der Mr. Big nicht kannte und nicht wusste, dass er, Oliver, sein Sohn war. Wenn er hier gesehen würde, wäre es also nur eine Frage der Zeit, bis Mr. Big es erfuhr – und was dann passieren würde, war klar, und darauf hatte er echt keinen Bock.

Aber es zog ihn hin zu diesen Leuten und ihrem Schweigen. Eigentlich ist Oliver überzeugt, dass die stärkste Waffe das Wort ist. Dass, wer die richtigen Worte findet, am meisten bewegen kann. Ein Grund, weshalb er in der Redaktion des Kaktus ist – zumal er offenbar Talent hat zum Schreiben, erstaunlicherweise, findet er. Gut, schreiben ist leichter als reden, denn man hat Zeit nachzudenken, man kann hundert Formulierungen ausprobieren, bis man sich für eine entscheidet; das ist beim Reden anders, da muss man nehmen, was kommt. Irgendwann, hofft er, wenn er lange genug geübt, lange genug geschrieben hat, wird es ihm leichter fallen, auch mündlich die richtigen Worte zu finden. Worte, mit denen er sogar Mr. Big wenn schon nicht überzeugen, dann zumindest ruhigstellen kann.

Doch da waren diese Leute, die auf alle Worte verzichteten, einfach nur dastanden, mitten in der Stadt. Als reiche es aus, da zu sein, nichts aufzubieten als die eigene Person, das eigene Gesicht, als sei jedes Wort überflüssig. Und in der Tat kam es ihm vor, als würden sie die Kraft um sich herum bündeln wie ein Magnetfeld. Die beste Diskussion, der durchdachteste Artikel, selbst der perfekt formulierte Satz erschienen im Vergleich dazu zerfranst, zerfleddert, als würden die Worte einen Teil der Kraft mitnehmen und nach außen tragen, wo sie vielleicht wirken kann, vielleicht aber auch einfach verpufft.

Das war ein Gedanke, der Oliver gleichermaßen befremdete wie faszinierte, und so lieb ihm Worte auch waren, so sehr wünschte er sich, mit diesen schweigenden Leuten dort stehen zu können. Doch das Einzige, was er schaffte, war, in ihrer Nähe herumzulungern, wie ein zufälliger Passant, ein unbeteiligter Gaffer. Er kam stets, wenn sie schon angefangen hatten, und stellte sich etwas abseits unter das Vordach von Elektro Wagner, wo er sich im Zweifelsfall schnell umdrehen und so tun könnte, als stünde er nur dort, weil irgendetwas im Schaufenster ihn interessierte. Ein paar Minuten stand er so, fünf vielleicht, höchstens zehn, dann ging er weiter, bevor der Schweigekreis sich auflöste, aber er redete sich ein, zumindest ein bisschen wäre er dabei gewesen.

Natürlich weiß er, dass das Unsinn ist. Es geht schließlich darum, sich zu zeigen, zu zeigen: Wir sind viele – und solange er nur verstohlen am Rand steht, trägt er genau dazu kein bisschen bei. Der Einzige, der sein heimliches Mitmachen bemerken könnte, wäre der liebe Gott, und an den glaubt Oliver noch weniger als an den Weihnachtsmann.

An einem dieser Abende sah er plötzlich die Boenisch. Mitten im Kreis derer, die sich da schweigend an den Händen hielten, rechts von ihr eine Frau mit langen dunklen Haaren, die Oliver schon ein paarmal gesehen hatte, links von ihr der dicke Tobi aus Jörgs Abiklasse, der jetzt Zivi machte bei der Bahnhofsmission.

Gut möglich, dass sie nicht zum ersten Mal dabei war; gut möglich, dass er sie die Male davor einfach übersehen hatte. Sie war schließlich keine auffällige Person, im Gegensatz zu der Dunkelhaarigen neben ihr, die ein bisschen aussah wie eine Indianersquaw, oder dem dicken Tobi, der schon aufgrund seiner Körperfülle und Größe kaum zu übersehen war. Sie fiel ihm auch nur auf, weil sie kurz die Hand der Dunkelhaarigen losließ, sich die Haare aus dem Gesicht strich und dabei nach oben schaute, und dann, mit einem schnellen, verlegenen Lächeln zur Seite, die Hand der Dunkelhaarigen wieder fasste. Dank dieser Geste bemerkte und erkannte er sie, das machte sie auch im Unterricht, wenn sie nicht mehr weiterwusste, und wenn sie nach oben schaute, als hinge an der Decke oder am Himmel ein Spickzettel, auf dem stand, was sie tun solle, schaute er manchmal unwillkürlich hinterher.

Wenn man sie nur aus dem Unterricht kannte, würde man nie vermuten, dass diese Boenisch auch nur ein bisschen echten Mumm hat. Denkste. Sie brachte es sogar fertig, ihm einen Infozettel von der KDV-Beratung zuzustecken, verstohlen zwar, wahrscheinlich durfte sie das gar nicht, von wegen Indoktrination und Neutralitätsgebot der Schule und so, aber sie tat es. Während er sich schon bei dem Gedanken, sein Recht auf Verweigerung in Anspruch zu nehmen, schier in die Hose macht.

Nee, nee, die Boenisch hat mindestens zehnmal so viel Mumm wie er. Fast so viel wie Franzi.

Schon wieder denkt er an Franzi. Sie ist immer noch nicht da. Wo in aller Welt bleibt sie?

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,

wir geben Ihnen davon Kenntnis, daß der Krefelder Appell, der die Bundesregierung seit November 1980 auffordert, »die Zustimmung zur Stationierung von Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern in Mitteleuropa zurückzuziehen«, bis zum 1. September 1983 von rund 4 700 000 Bürgern der Bundesrepublik unterzeichnet worden ist.

Gestützt auf dieses Mandat und auf die jüngsten Ergebnisse von Umfragen, wonach 75 Prozent der Bevölkerung der Bundesrepublik die Raketenstationierung ablehnen, fordern wir Sie auf, sich der lebensbedrohenden Aufstellung von neuartigen amerikanischen Nuklearwaffen auf deutschem Boden, völlig unabhängig vom Ausgang der Genfer Verhandlungen, zu verweigern.

Brief der Krefelder Initiative an Bundeskanzler Helmut Kohl, 8. September 1983

WERNERDie Zahnbürste verdrießt Werner. Wie sie da an Franziskas Rucksack hängt und mit ihrem Baumeln seinen Blick anzieht, wider seinen Willen.

Was soll denn die Zahnbürste?, hatte er gefragt.

Ein Symbol der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, war Franziskas Antwort. Es bedeutet, dass ich bereit bin, für meine Überzeugung ins Gefängnis zu gehen. Ihre Stimme hatte diesen schnippischen Unterton, den sie in letzter Zeit kaum noch ablegte, zumindest ihm gegenüber nicht, und er erwiderte nichts. Wenn sie mit diesem Unterton sprach, führte jede Erwiderung zu Streit, und das war die Sache nicht wert. Auch wenn er es lächerlich fand. Nein, mehr noch: ungehörig, anmaßend. Als ob Franziska irgendetwas mit den Leuten gemein hätte, von denen sie dieses Symbol übernommen hatte. Als ob sie wüsste, was es bedeutete, für eine Überzeugung ins Gefängnis zu gehen. Nur aus der Perspektive eines unerfahrenen, schwärmerischen Teenagers, der noch nie erlebt hat, wie Menschen Menschen demütigen können, klang das romantisch, herrlich idealistisch. Bleibt bei dem, was ihr kennt, würde er seiner Tochter gern sagen, ihr und ihren hochtrabend trotzigen Freunden. Aber vielleicht war genau das der Punkt: Diese Jugendlichen kannten nicht viel. Sie waren behütet, in Frieden und Wohlstand aufgewachsen, in einer Welt, deren größte Probleme falsch parkende Autos und die Wahl der Eissorte zum Nachtisch waren. Und nun, an der Schwelle zum Erwachsenwerden, stellten diese Jugendlichen fest, dass die Welt nicht so heil war, wie sie die ersten seligen sechzehn, siebzehn, achtzehn Jahre ihres Lebens geglaubt hatten. Und wappneten sich gegen das Beängstigende und Bedrohliche mit Zahnbürsten, als könnte ein Symbol sie retten.

Er sollte nicht ungerecht sein. Die Jugend hat schon immer Symbole gebraucht. Und lieber Zahnbürsten als die Symbole seiner Jugend.

Franziska läuft schweigend einen halben Schritt vor ihm her. Die Schultern hat sie hochgezogen, die Hände in den Manteltaschen vergraben, aber er hat ohnehin nicht vor, sie in ein Gespräch zu verwickeln. Er ist sich vollkommen darüber im Klaren, dass es ihr nicht recht ist, dass er darauf bestanden hat, sie zu begleiten. Dass es sie ankotzt, wie sie sagen würde, in ihrer ungezügelten Sprache, und dass er sie nicht behandeln soll, als wäre sie ein kleines Kind.

Merkwürdig, dass sie es nicht tatsächlich gesagt hat. Nun, sie ist nicht mehr ganz so unbeherrscht in diesen Tagen wie früher. Stattdessen hat sie sich diesen schnippischen Unterton zugelegt.

Werner ist sich selbst nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, dass er mitkommt. Im Grunde genommen findet er es unangemessen, fast schon obszön, auf die Straße zu gehen, seine Meinung hinauszuschreien oder auf einem Plakat vor sich herzutragen. Es ist so leicht, in der Politik alles besser zu wissen. Ähnlich wie beim Fußball. Da schwadronieren Millionen selbst ernannte Experten frei von der Leber weg, ledig aller Sachzwänge und politischen Realitäten, wie man alles ganz einfach viel besser machen könnte. Will er sich wirklich einreihen in die Schar der Schreihälse und Schwadronierer und Besserwisser?

Nein, will er nicht. Aber er kann auch nicht mehr danebenstehen. Zu viel Unruhe hat sich in letzter Zeit in ihm breitgemacht, eine Art schlechtes Gewissen, ein Drang, etwas zu tun, dem er nicht länger ausweichen kann.

Heute fragen sich alle, wie 1933 passieren konnte, warum man, als sich die Katastrophe anbahnte, nicht mehr Widerstand aufgebracht hat, bevor es zu spät war. Werner fürchtet: Weil man es nicht gemerkt hat. Weil man zu lange dachte, es sei nur eine Episode, es werde sich legen. Und als dann nicht mehr zu leugnen war, dass es sich nicht legen würde, dass vielmehr schon viel zu viel in die falsche Richtung gegangen war, wusste man nicht mehr, was man tun sollte. Aus Hilflosigkeit, aus Überforderung, sicherlich auch schon aus Furcht.

Im Rückblick lässt sich leicht sagen, wann man was hätte tun müssen. Doch in der Gegenwart gelingt das nicht. In der Gegenwart gibt es nur die Zeit, wie sie ist; das Davor und Danach entsteht erst im Rückblick. Deshalb kann heute genauso gut wie damals passieren, dass man den richtigen Zeitpunkt verpasst. Oder vielleicht sogar schon verpasst hat.

Werner spürt, wie seine Finger kalt werden; die Kälte dringt durch den Stoff seines Mantels bis in die Tasche. Vielleicht hätte er doch einen Handschuh anziehen sollen. Nun, es gibt Schlimmeres als kalte Finger. Er bewegt die Finger in der Manteltasche, um die Durchblutung anzuregen.

Als habe Franziska seine Bewegung gespürt, schiebt auch sie die Hände tiefer in ihre Taschen, den Blick starr nach vorn gerichtet.

Was geht in ihr vor? Eine Frage, die ihn seit zwei Wochen kaum noch verlässt, die er sich früher nie gestellt hat. Vielleicht war das der Fehler. Auch so ein verpasster Zeitpunkt. Oder viele verpasste Zeitpunkte. Er weiß so wenig von seiner Tochter. Ein Rätsel ist sie ihm, ein wundervolles, verwirrendes, verstörendes Rätsel.

Mit seinem Erstgeborenen geht es ihm anders. Vielleicht bildet er es sich nur ein, aber er glaubt, immer ziemlich genau zu wissen, was in Jörg vorgeht, manchmal, scheint ihm, besser als Jörg selbst – vielleicht, weil er selbst ähnlich war als junger Mann. Angefüllt mit geistigem Tatendrang und Idealismus, in einem solchen Ausmaß, dass die Verblendung nur ein Haarbreit entfernt war. Für ihn gab es in seiner Jugend nur Kameraden und Verräter; für Jörg gibt es nur Linke und Nazis. Und er, Werner, ist einer der Letzteren, natürlich, denn wer im Krieg an der Front war, kann in Jörgs Weltbild nur ein Nazi gewesen sein.

Werner hat nie versucht, ihm zu widersprechen. Vielleicht, weil er sich selbst nicht sicher ist, ob er Nazi war oder nicht. Kann man mit achtzehn Nazi sein? Natürlich, würde Jörg sagen, mit jugendlicher Selbstgewissheit, Jörg hat sich schließlich schon mit sechzehn ganz als waschechter Linker gefühlt, und wer wollte ihm das abstreiten? Werner hingegen würde sagen: Ich war jung, ich kannte nichts anderes, ich hatte keine Wahl. Und darüber hinaus irrsinniges Glück, dass der Krieg ihn so schnell wieder ausspuckte. Wer weiß, was sonst noch aus ihm geworden wäre, welche Schuld er noch auf sich geladen hätte.

Vielleicht ist das der Grund, weshalb er heute hinter Franziska her zu diesem Parkplatz geht, um das erste Mal in seinem Leben auf eine Demonstration zu fahren. Man kann sich nicht immer auf sein Glück verlassen. Und er ist alt genug, eine Wahl zu treffen, die Wahl, den Zeitpunkt unerkannt verstreichen zu lassen oder vorher aufzustehen, die Wahl zwischen stillschweigendem Zulassen und vorbeugendem Protest. Denn wenn sein Enkelkind ihn eines Tages fragt, was er getan hat, um den nächsten Krieg zu verhindern – er will eine Antwort haben.

MARLENEEr ist tatsächlich gekommen!

Marlene schaut zweimal hin, um sicher zu sein, doch sie hat richtig gesehen: Da tritt Werner Semrau von der Straße her auf den Parkplatz.

Sie hat nicht damit gerechnet, dass er kommen würde. Obwohl er, als sie ihm das Flugblatt mit den Abfahrtzeiten des Busses mitbrachte, freundlich nickte und es ohne weiteren Kommentar einsteckte. Ein freundliches Nicken war schon viel für Werner Semrau, der sich mit Kommentaren stets zurückhielt, mit Lob oder Zustimmung erst recht, ganz nach dem Motto: nicht kritisiert ist genug gelobt. Dabei kritisierte er selten, zumindest nicht direkt, er fragte nur ruhig und unerbittlich nach, bis er einen an die Stelle geführt hatte, wo man selbst die Schwachstelle, die Lücke in der eigenen Argumentation sah. Er forderte einen heraus, deshalb galt er als schwieriger Mentor – und vielleicht auch, weil er so wenig von sich selbst preisgab. Eigentlich gar nichts. Er könnte ein Abkömmling der Familie Buddenbrook sein, wenn sein unüberhörbares Schwäbeln nicht wäre, denkt Marlene manchmal, er hat diese hanseatische Kühle, diese fast aristokratische Zurückhaltung. Und doch mag sie ihn.

Natürlich sagte er zunächst nichts, als sie ihm von der geplanten Menschenkette erzählte, von dem Bus, der sie auf die Schwäbische Alb bringen würde, sein Gesicht war von undurchdringlicher Freundlichkeit gewesen, wie immer.

Zu guter Letzt sagte sie – nicht ohne Zögern, aber sie hatte es sich lange genug vorgenommen, oft genug diesen Moment in ihren Gedanken durchgespielt, und so kostete es sie nur einen kleinen Ruck: Möchten Sie nicht mitfahren?

Warum, meinen Sie, sollte ich?, war seine Rückfrage, die sie einen Moment lang verstummen ließ, bis sie merkte, dass er ernsthaft auf eine Antwort wartete.

Weil … es das ist, was wir tun können, sagte sie schließlich. Was sonst können wir denn tun, als zu zeigen, dass wir nicht einverstanden sind mit dem, was passiert? Einfach nur abzuwarten und zu hoffen, dass es schon gut gehen wird, ist keine Alternative, oder?

Sie scheinen mehr Fragen als Antworten zu haben, stellte er fest.

Marlene spürte, wie sie rot wurde. Das ist keine Schande, erwiderte sie.

Nein, das ist es nicht.

Damit war das Gespräch zu Ende gewesen, und sie waren nicht wieder darauf zurückgekommen.

Doch nun ist er da. Er ist nicht allein, sondern in Begleitung seiner Tochter. Ein ungleiches Paar sind sie, wie sie da über den Parkplatz gehen, der ältere Mann in Hut und dunklem Lodenmantel, der vom Scheitel bis zur Sohle Korrektheit ausstrahlt, und die kleine strubbelige Punkerin, deren ganzes Outfit demonstriert, wie sehr sie auf Korrektheit pfeift. Sie geht vorneweg, er folgt ihr, etwas steif, als sei ihm bewusst, dass er, der sonst alles tut, um nicht aufzufallen, hier gerade dadurch auffällt, mehr zumindest als seine exzentrische Tochter. Der linke Ärmel seines Mantels ist sorgfältig in die Manteltasche gesteckt; die rechte Hand ruht auf der Tasche, die er auch in der Schule stets dabei hat, der lange Riemen diagonal über die linke Schulter zur rechten Seite gelegt, sodass sie nicht verrutschen kann. Worauf man alles achten muss als Einarmiger, denkt Marlene, auf die richtige Tasche und ihre Position, dass man sie mit einer Hand erreichen und öffnen kann. Ein Rucksack wäre wahrscheinlich nichts für Werner Semrau.

Marlene hätte gerne gewusst, was er im Krieg erlebt hatte, aber das zu fragen war undenkbar. Er sei in Russland gewesen, raunte ihr einmal ein Kollege hinter vorgehaltener Hand zu, als wäre damit alles gesagt. Nun, das war ihr Vater auch, doch der war mit beiden Armen zurückgekommen. Und selbst der erzählte so gut wie nichts. Wenn, dann von den Jahren vor und nach dem Krieg, von dem schönen Haus in Masuren, das in seinen Erzählungen erschien wie das verlorene Paradies, von der Flucht aus der Kriegsgefangenschaft und davon, wie er sich im Nachkriegstübingen durchbiss, wie ihm ein mageres Stipendium das Studium ermöglichte, von der ersten Pfarrstelle, die er antrat, als andere seines Alters gerade erst aus den Lagern zurückkehrten. Das Leid kam in seinen Erzählungen nur abstrakt vor, als unentrinnbare Kategorie menschlicher Existenz, als immerwährender Unterton in der Musik des Lebens. Kaum einmal klang seine eigene Erfahrung auf, sein eigenes Erleben, obwohl es das, denkt Marlene, doch gegeben haben muss. Aber nachzufragen war ebenso undenkbar wie bei Werner Semrau.

Ulrike brach das Tabu einmal, ohne zu wissen, was sie tat. Es muss kurz nach ihrer Krankheit gewesen sein, denn ihre Hörgeräte hatte sie schon, aber in der Schule war sie noch nicht, fünf war sie wohl. Es war bei einem Geburtstag der Oma, Marlene erinnert sich, dass die Oma sich schön gemacht hatte, mit der langen Perlenkette, die sie nur an besonderen Tagen trug. Wie so oft beim Kaffee kam die Sprache auf damals, als der Josef aus der Gefangenschaft zurückkehrte, ganz abgemagert sei er gewesen, sagte die Oma, und lud ihm noch ein Stück Torte auf den Teller.

Da fragte Ulrike: Warum war der Papa im Gefängnis?

Nicht im Gefängnis, sagte die Oma. Aber nach dem Krieg, da wurden die deutschen Soldaten alle gefangen genommen, weil sie den Krieg verloren hatten. Und dein Papa war Soldat.

Papa Salat?, wiederholte Ulrike verständnislos.

Solll-dat, sagte die Oma. So nennt man die Männer, die im Krieg kämpfen.

Krieg ist böse, sagte Ulrike mit Nachdruck. Da schießen sie sich gegenseitig tot.

Nur wenn es nicht anders geht, sagte die Oma. Keiner will einen anderen totschießen, auch im Krieg nicht.

Hat denn der Papa jemanden totgeschossen?, fragte Ulrike arglos.

Marlene erinnert sich noch gut, wie in diesem Moment Omas Hand mit dem Tortenheber in der Luft stehen blieb und nicht nur die Oma, sondern alle im Raum erstarrten, wie das Klappern der Tassen und Kuchengabeln verstummte und die Luft im Raum so schwer und stickig schien, dass man kaum atmen mochte. Nur Ulrike war unbeeindruckt und schon wieder ganz mit dem Kakao in ihrer Tasse beschäftigt, auf dem sich Haut gebildet hatte, die sie mit dem Finger anpiekste, um sie herauszuziehen.

Ulrike, hör auf mit dem Gepantsche, sagte die Mama scharf, sonst bekommst du keinen Kakao mehr.

Der Zauber war gebrochen, die Oma beeilte sich, weitere Tortenstücke zu verteilen, während alle ihre Kuchengabeln wieder aufnahmen und schnell von etwas anderem sprachen. Und weil Ulrike sich für Kakao mehr interessierte als für Soldaten, hatte sie ihre Frage sofort wieder vergessen.

Aber Marlene vergaß sie nicht. Auch wenn sie weiß, dass sie nie eine Antwort bekommen wird. Oder vielleicht gerade deshalb.

Und wenn selbst ihr beredter, temperamentvoller Vater, der sonst für alles schöne und überzeugende Worte fand, über den Krieg nicht redete, wieso sollte es dann Werner Semrau tun.

Die beiden sind bei der Schülergruppe angekommen, Franziska wird mit großem Hallo in Empfang genommen. Ihren Vater würdigt sie keines Blickes mehr, als würde sie ihn nicht kennen, als hätte sie nie etwas mit ihm zu tun gehabt. Für einen Moment steht er wie verloren.

Auch er gehört nicht ganz hierher, denkt Marlene, wenn auch auf andere Weise als ich. Sie geht auf ihn zu.

Guten Morgen. Schön, Sie zu sehen.

Sie hatten mich doch eingeladen, antwortet er mit diesem Lächeln, von dem sie immer noch nicht weiß, ob es Ironie enthält oder nicht, obwohl sie es schon so oft gesehen hat.

Marlene weiß keine Entgegnung.

In diesem Moment biegen zwei Reisebusse auf den Parkplatz ein und werden von den Wartenden mit Johlen und Winken begrüßt, die Gewerkschafter schwenken ihre Fahnen und blasen in ihre Trillerpfeifen.

Nun, sagt Werner Semrau, dann wollen wir mal.

Sieben Uhr

INESAls die Sirene losheult, ist Ines mit einem Schlag hellwach. Jetzt ist es so weit, denkt sie, gleich ist alles vorbei. Sie kennt die Aufnahmen aus Hiroshima, mit geschlossenen Augen wartet sie auf den Lichtblitz, während in ihren Ohren ihr Herzschlag dröhnt. Es muss eine technische Panne gewesen sein, denkt sie, ein Fehlalarm, der einen Alarm ausgelöst hat und damit den Atomschlag, der nur vermeintlich ein Gegenschlag, in Wirklichkeit aber ein Erstschlag wäre, auf den die andere Seite wiederum mit einem Gegenschlag reagiert. Das Inferno aus Versehen. Alles andere als eine Panne wäre nicht so überraschend gekommen, hätte sich angebahnt, angedeutet in den Nachrichten der letzten Tage, in sich verschärfenden Tonfällen, immer offener ausgesprochenen Drohungen.

Oder nicht? Konnten die Bewohner von Hiroshima ahnen, was kommt?

Ines hat automatisch ihre Herzschläge gezählt, als würde das etwas nützen: zu wissen, wie viele letzte Herzschläge sie noch hatte. Bei sechsundneunzig verstummt die Sirene. Bei zweihundert blinzelt Ines zum Radiowecker: Die roten Leuchtziffern zeigen sieben Uhr vier. Sie tastet nach dem Schalter. Der Verkehrsservice berichtet ein paar Glatteisunfälle und kleinere Staus. Dann kommt Musik.

Allmählich ist Ines wieder ruhiger, ruhig genug zumindest, um zu begreifen: Das war kein Raketenalarm. Er muss aus dem Industriegebiet gekommen sein, irgendeine dumme Werkssirene, warum auch immer. Was für eine Gemeinheit, so früh am Morgen, und ausgerechnet heute, wo die Atomkriegsgefahr noch mehr als sonst in allen Köpfen ist.

Sieben Uhr zwölf. Ines’ Herzschlag geht inzwischen wieder normal, doch ihre Hände und ihr Oberkörper sind feucht vom Schweiß, und ihre Gedanken kreisen weiter. Was wäre passiert, wenn es ein echter Alarm gewesen wäre? Wie lange ist die Vorwarnzeit? Ein paar Minuten, so viel weiß sie. Wie viele genau? Drei, fünf, zehn?

Sieben Uhr achtzehn. Ines schaltet noch einmal das Radio ein. Ein aufgekratzter Moderator erzählt von Catherine Deneuve, die heute Geburtstag hat, und von ihrem neuesten Film, von dem Ines noch nie gehört hat und der sie auch nicht interessiert, schon gar nicht jetzt. Wenn eine Rakete aus Moskau unterwegs wäre nach Deutschland, müsste sie inzwischen angekommen sein. Wenn nicht hier, dann woanders. In jedem Fall gäbe es Wichtigeres zu berichten als den Geburtstag einer Schauspielerin. Also ist alles gut. Außer, dass sie jetzt bestimmt nicht mehr einschläft, obwohl sie noch anderthalb Stunden Zeit hat, bis sie aufstehen muss.

Ines dreht sich zur Wand und zieht die Decke über den Kopf. Kurz darauf schläft sie doch.

Ein Atomkrieg ist möglich. […]

Die Erkenntnis, daß Krieg auf jeder Ebene der Auseinandersetzung gewonnen oder verloren werden kann und daß der Unterschied zwischen Gewinnern und Verlierern nicht bedeutungslos wäre, ist für eine intelligente Verteidigungsplanung essentiell […].

Die Vereinigten Staaten sollten planen, die Sowjetunion zu besiegen, und dies zu einem Preis, der eine Erholung der USA erlauben würde. Washington sollte Kriegsziele festlegen, die letztendlich die Zerstörung der politischen Macht der Sowjets und das Entstehen einer Nachkriegs-Weltordnung, die westlichen Wertvorstellungen entspricht, in Betracht ziehen.

US-Abrüstungsberater Colin S. Gray in der Zeitschrift Foreign Policy, Sommer 1980

Es scheint eine Tragik menschlicher Auffassungsgabe zu sein, daß wir als Kollektive allenfalls imstande sind, die Katastrophen der Vergangenheit zu bewältigen. Heute wären wir als Deutsche vielleicht so weit, die Naziherrschaft abzuwenden und einen Zweiten Weltkrieg zu verhindern. Aber es ist sehr fraglich, ob wir kollektiv in der Lage sind, den Dritten Weltkrieg abzuwenden. Man ist immer eine Katastrophe im Rückstand.

Roland Vogt, Vorsitzender des Bundesverbands Bürgerinitiativen Umweltschutz, auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Loccum, Januar 1982

WILFRIEDAuf die Minute pünktlich fährt der Zug ein. Er ist fast zu lang für den kleinen Bahnhof; die Lokomotive fährt einige Meter über das weiße Schild mit dem schwarzen H hinaus, damit auch der letzte Wagen noch vom Bahnsteig aus zu erreichen ist. Trotz der frühen Stunde und der Kälte stehen etliche Fenster offen, Leute lehnen sich heraus, winken denen zu, die auf dem Bahnsteig warten. An den Türen hängen Plakate mit dem Aufruf zur Menschenkette, in einem Fenster hängt eine große Friedenstaubenfahne, in einem anderen ein Transparent: Frieden schaffen ohne Waffen, und aus einem der Wagen schallt Hopp, hopp, hopp, Atomraketen stopp! über den Bahnsteig.

Kaum kommt der Zug zum Stehen, drängen alle zu den Türen. Wilfried hat Mühe, seine Gruppe im Auge zu behalten. Hat jemand noch keinen Infozettel?, ruft er und schwenkt die Flugblätter in seiner Hand über dem Kopf. Doch niemand achtet auf ihn, zumal der Ordner an der Tür zur Eile mahnt: Einsteigen, einsteigen! ruft er ungeduldig. Was gar nicht so einfach ist, wenn rund sechzig Leute gleichzeitig in einen schon ziemlich vollen Zug drängen.

Wilfried steckt die Zettel in seine Tasche. Es wird schon alles klappen. Es sind genügend Zettel im Umlauf, dass alle mitbekommen haben müssten, wann und wo sie aussteigen. Und spätestens bei der Kundgebung werden sie sich alle wieder treffen. Außerdem haben die Damen alles gut im Griff.