Menschenschutzgebiet - Uli Burchardt - E-Book

Menschenschutzgebiet E-Book

Uli Burchardt

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Beschreibung

Warum Naturschutz auch Menschutz sein muss

Der Konstanzer Oberbürgermeister, Förster und gelernte Landwirt Uli Burchardt wirft einen frischen, unideologischen und hoffnungsvollen Blick auf die brennenden Themen unserer Zeit – von Ernährung über Landwirtschaft bis hin zu Digitalisierung und Klimaschutz.

Ein unterhaltsames und konstruktives, manchmal provokantes, vielschichtiges Buch über Dörfer und Städte, über Menschen und Tiere, über Ökologie, Bürokratie und Ökonomie, über Wälder, Architektur und Stadtentwicklung – und über unsere Demokratie, die ganz dringend mehr Engagement von uns allen braucht.

Uli Burchardt macht Lust auf das Leben von morgen. Er hebt den vermeintlichen Widerspruch zwischen »Schädling Mensch« und »schützenswerter Natur« auf und verbindet autobiographische Eindrücke und Beispiele aus seiner beruflichen Praxis mit den großen Umweltthemen unserer Zeit, um schließlich eine klimaneutrale und lebenswerte Stadt der Zukunft zu skizzieren: ein Menschenschutzgebiet – den besten Lebensraum, den es für uns Menschen je gab.

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Seitenzahl: 366

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Buch

Der Konstanzer Oberbürgermeister, Förster und gelernte Landwirt Uli Burchardt wirft einen frischen, unideologischen und hoffnungsvollen Blick auf die brennenden Themen unserer Zeit – von Ernährung über Landwirtschaft bis hin zu Digitalisierung und Klimaschutz. Entgegen dem traditionellen Verständnis von Umweltschutz hebt er den vermeintlichen Gegensatz zwischen »Schädling Mensch« und »schützenswerter Natur« auf. Virtuos verbindet er autobiografische Eindrücke und Beispiele aus seiner beruflichen Praxis mit den großen Umweltthemen unserer Zeit, um schließlich eine klimaneutrale und lebenswerte Stadt der Zukunft zu skizzieren: ein Menschenschutzgebiet – den besten Lebensraum, den es für uns Menschen je gab.

Autor

Uli Burchardt, geboren 1971, ist Nachhaltigkeits-Protagonist: Er hat Landwirtschaft gelernt, Forstwirtschaft studiert, war Manager bei Manufactum und Unternehmensberater, ist ein gefragter Redner und seit 2012 Oberbürgermeister der Stadt Konstanz, der ersten Stadt Deutschlands, die den Klimanotstand ausgerufen hat, um bis 2035 eine klimaneutrale Stadt zu werden. Er ist Gründungspate der Klimaunion und Mitglied im Präsidium des Deutschen Städtetages. 2011 erschien von ihm der Bestseller Ausgegeizt – Das Manufactum-Prinzip.

ULI BURCHARDT

MENSCHEN-SCHUTZGEBIET

Wie die Stadt der Zukunft ein Teil der Natur wird

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall aufgrund der schlechten Quellenlage bedauerlicherweise einmal nicht möglich gewesen sein, werden wir begründete Ansprüche selbstverständlich erfüllen.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Um eine gute Lesbarkeit mit einem inklusiven, geschlechtersensiblen Sprachgebrauch zu vereinbaren, haben sich Autor und Verlag bewusst für die flexible Verwendung von Genderzeichen entschieden. Mehr dazu im Buch ab hier.Cradle to Cradle Certified® ist eine eingetragene Markedes Cradle to Cradle Products Innovation Institute.

Originalausgabe September 2024

Copyright © 2024: Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Doreen Fröhlich

Umschlag: Uno Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: © FinePic®, München

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

EB ∙ CF

ISBN 978-3-641-31899-4V001

www.goldmann-verlag.de

Wir ernten, was wir säen

Inhalt

I – DORF

Mein Dorf

Rübenkeller, Schmiede und Schlachtfest

Wiederkäuer

Ökosystem Dorf

Helmut Müller

No Future

Arbeit im Kulturschutzgebiet

Klimakiller Nummer 1

Kreislaufwirtschaft

Unkraut

Pflanzenschutzsaison

II – NATUR

Deutschlands coolste Zivistelle

Fliegende Eiswürfel und zynisches Learning

Förster werden

Der Mensch ist auch nur ein Tier. Und die Stadt ist auch nur ein Ökosystem

Ökologie

August Bier und der Wald in Sauen

Der Siegeszug der Vielfalt

Ein Raumschiff im Fichtenacker

Holz wächst an Holz

Jagd

Vegane Autoreifen

Gefesselte Riesen

Naturmäßige Anweisung zur wilden Baumzucht

III – MARKT

Forstreform

Es gibt sie noch, die guten Dinge

Ein Araberdorf

Alte Sorten

Bier und Dachrinnen

Null Grenzkosten. Dritte industrielle Revolution

CO2 muss teuer sein

Kein Zurück zu irgendwas

IV – STADT

Meine Stadt

Die Menschheit zieht um

Ein Schwarzes Loch der Stadtentwicklung

Die kleinen Dinge

Alleinerziehende LinkshänderInnen mit Migrationshintergrund

Es ist einfach nur Arbeit

Parteien?

Transparenz und Zufallsbürger

Eine Delle im Universum

Rationalität statt Panik

Menschi muss leben!

Dienst für das gemeine Beste

Die Blackbox der Komplexität

Smart City: Kann das weg?

Die Stadt ist ein Wald

V – EINMENSCHENSCHUTZGEBIET

Der Mensch ist kein Schädling

Naturschutz muss Menschenschutz sein

Aber bitte nachhaltig!

Die Neue Leipzig-Charta

Die grüne Stadt

Die produktive Stadt

Die gerechte Stadt

The human scale. Den Menschen zum Maßstab machen

Deine Stadt 2050. Skizze einer guten Stadt für alle

Über dieses Buch

Danke

Anmerkungen, Quellen und Literatur

I DORF

Mein Dorf

Mein Dorf ist viele Hundert Jahre alt. Es liegt 450 Meter über dem Meer, ein paar Kilometer vom Bodensee entfernt, in einer klimatisch bevorzugten Lage mitten in Europa. Da bin ich aufgewachsen, von dort stammen meine ersten Erinnerungen. Mein Dorf hat heute circa 750 Einwohner und in etwa die Form eines Quadrates, und wenn man sich dieses Quadrat aus der Nähe anschaut, dann erkennt man, dass es ursprünglich ein T war. Dieses T, das waren zwei Straßen, an denen entlang kleine Bauernhöfe standen. Zu Beginn der Siebzigerjahre, als ich geboren wurde, wurde mein Dorf in das größere Nachbardorf eingemeindet, und es entstand unter dem Siedlungsdruck der Stadt Konstanz mit der Neugründung der Universität ein kleines Neubaugebiet mit zwei neuen Straßen, fertig war das Quadrat.

Aber zurück zum T: An dessen zwei Straßen siedelten sich im Laufe von Jahrhunderten Bauern an. Die Bauernhöfe in unserer Region waren meist lang gestreckte Gebäude, ein Drittel Wohnhaus und zwei Drittel »Ökonomie« – der Teil also, in dem die Tiere, das Futter, die Gerätschaften untergebracht waren. Neben oder hinter dem Haus ein Bauerngarten, wo ein Großteil des eigenen Bedarfs an Obst und Gemüse angebaut wurde, vor dem Haus ein Misthaufen, der Dünger für die Felder und Wiesen. Dort wurde Futter vor allem für das Milchvieh produziert, in meiner Kindheit waren das Grünfutter (also frisch gemähtes Gras), Heu (also getrocknetes Gras) und Futterrüben. Mit diesem kleinen System produzierte man Milch sowohl für den eigenen Bedarf als auch zum Verkaufen: Als ich ein Kind war, brachten die Bauern jeden Abend die Milch, die sie übrig hatten, also verkaufen konnten, mit dem Handwagen zum »Milchhäusle« in der Mitte des Dorfes. Dort wurde die Milch abgegeben, gewogen und notiert. Irgendwann kam ein Lastwagen von der Molkerei und holte alles ab.

Zum Hof gehörten Hühner, manchmal ein paar Ziegen oder Schafe und nicht zu vergessen Schweine, denen man die Reste aus der Küche zum Fressen gab. Jeder Hof ernährte die dort lebenden Generationen einer Familie und vielleicht noch ein paar Arbeitskräfte. Produziert wurden Milch und meist noch etwas Getreide, das nicht auf dem Hof gebraucht wurde und verkauft werden konnte. Außerdem Eier, eventuell etwas Obst, viele brannten auch Schnaps selbst. Und was natürlich auch produziert wurde: Fleisch.

Rübenkeller, Schmiede und Schlachtfest

Wir hatten zu Hause keine Landwirtschaft, mein Vater arbeitete als Professor an der Universität Konstanz, und meine Brüder und ich waren drei Jungs, die ständig unterwegs waren. Der Hof, auf dem wir als Kinder am meisten Zeit verbrachten, lag genau in der Mitte des Dorfes, an der Kreuzung des T. Die Kinder der Familie, die dort lebte, waren damals schon fast erwachsen, wir waren also die einzigen Kinder dort, waren gern gesehen und nahmen jahrein, jahraus am Leben auf dem kleinen Hof teil.

Dazu gehörte zum Beispiel die Rübenernte: Die schweren Futterrüben wurden mit einem einfachen kleinen Roder aus der Erde gezogen, von Hand grob gereinigt, aufgehoben und auf einen Wagen geladen. Eingelagert wurden sie im Rübenkeller – für jede Art der Lagerung gab es auf dem Hof den richtigen Raum: den trockenen Heustock fürs Heu, den Erdkeller für Kartoffeln oder Äpfel und eben den kühlen, feuchten Rübenkeller für die Rüben. Die Rüben wurden nach der Ernte von außen durch eine Öffnung in der Wand direkt in den Keller geschüttet. Von dort holte man sich im Lauf des Winters die Rüben, die man zerkleinerte und dem Milchvieh fütterte. Für unsere Mitarbeit bei der Rübenernte bekamen wir jedes Jahr je eine Rübe geschenkt. Daraus schnitzten wir uns Rübengeister, die in unserer Gegend zu dieser Jahreszeit gehörten. Es war Herbst, es war früh dunkel, es war neblig, es roch nach feuchter Erde. Alles schmeckte nach schwerer, aber befriedigender Arbeit.

»Nur Narren haben es eilig« stand in großen Lettern an die Wand geschrieben in der Schmiede, die sich ebenfalls in der Mitte des Dorfes befand. Die Werkstatt lag an der Straße und war immer offen, oft wurde an großen Werkstücken, wie zum Beispiel Treppengeländern, direkt am Straßenrand gearbeitet. In der Schmiede brannte das Schmiedefeuer unter einer großen Esse, der Schmied hantierte mit mächtigen Hämmern und Zangen, legte Eisen ins Feuer, zog glühende Eisen heraus und bearbeitete sie unter lautem, klingendem Hämmern auf dem schweren Amboss, dass die Funken flogen. Die Schmiede gehörte im Dorf dazu, dort wurde das hergestellt oder repariert, was der Bauer nicht selbst herstellen oder reparieren konnte. Und natürlich wurden Hufeisen geschmiedet und Pferde beschlagen.

Fast alles, was ein Mensch zum täglichen Leben braucht, wurde in meinem Dorf produziert: Kartoffeln, Gemüse, Getreide, Milch, Eier, Obst, Saft, Most, Schnaps. Kohlenhydrate und Proteine also, Ballaststoffe und Vitamine, Spurenelemente und Genussmittel. Und natürlich Geflügel und Fleisch. Die Hühner schlachtete unser Bauer selbst, wir schauten zu. Das Huhn wurde aufgegriffen, zum Hackklotz gebracht und mit einem leichten Beil wurde ihm der Kopf abgeschlagen. Das Tier zuckte noch kurz, dann rupfte es die Bäuerin und bereitete es zu – Frauenarbeit. Ähnlich erging es den Stallhasen, auch das machte der Bauer selbst. Anders bei Schwein und Rind: Schweine wurden vom Metzger, der von Zeit zu Zeit auf den Hof kam, geschlachtet und unter Mithilfe der Familie weiterverarbeitet, zu Fleisch und Wurst, Blutwurst, Leberwurst. Dampf und Schlachtgeruch erfüllten die Luft und und dann war Schlachtfest – es gab Fleisch und Wurst satt für alle, die mitgearbeitet hatten. Der Großteil der Produkte ging in die Speisekammer und wurde eingelagert.

Vorratshaltung war eine wichtige Kompetenz, die man insbesondere als Hauswirtschafterin oder Bäuerin lernte. Wer je Obst, Gemüse oder gar Fleisch selbst haltbar gemacht und eingelagert hat, der weiß, dass es viele Kulturtechniken, Werkzeuge, viel Wissen, Können und ein kluges Management braucht, wenn man die richtige Menge der richtigen Lebensmittel in der richtigen Qualität selbst gemacht das ganze Jahr für eine vielköpfige Familie vorhalten möchte.

Rinder wurden noch seltener als Schweine geschlachtet. Dafür gab es einen Schlachtraum der Gemeinde, neben dem Feuerwehrhaus, dorthin wurden die Tiere gebracht und vom Metzger geschlachtet und zerlegt. Mit einem Bolzenschussgerät wurde zwischen den Augen der Betäubungsschuss angesetzt, das Rind brach schlagartig zusammen, die Kehle wurde durchgeschnitten und das Tier mit einer Kette an den Hinterbeinen emporgehoben zum Ausbluten.

Wiederkäuer

Rinder sind Wiederkäuer, sie haben vier unterschiedliche Mägen (Pansen, Blättermagen, Netzmagen und Labmagen) und fressen völlig andere Nahrung als wir Menschen, zum Beispiel Gras oder Heu, beides ist für uns gar nicht verwertbar. Haben Sie schon mal versucht, einen Grashalm zu essen? Ein Rind verwandelt also für uns nicht verwertbare Pflanzen in wertvolle Lebensmittel, nämlich Milch und Fleisch. Beim Schwein ist das anders. Ein Schwein ist ein Allesfresser. Schweine ernähren sich sehr ähnlich wie wir Menschen, eigentlich sind sie unsere Nahrungskonkurrenten. Ein Schwein füttert man deshalb entweder – so wie früher auf dem Dorf – mit Resten, die der Mensch nicht mehr essen kann oder mag. Oder man füttert es – so wie heutzutage – mit Lebensmitteln, die wir Menschen nicht brauchen, weil sie im Überfluss vorhanden sind. Getreide zum Beispiel. Schweinefleisch ist deshalb ein Luxusgut, ein sogenanntes Veredelungsprodukt. Ein Schwein macht aus zehn Kilojoule Menschennahrung, zum Beispiel Getreideschrot, etwa ein Kilojoule Schweinefleisch. Anders gesagt: Würde man statt des Schweinefleischs das Getreide essen, das an das Schwein verfüttert wurde, wäre man zehnmal so lange satt. Deshalb gab es in Zeiten, in denen Lebensmittel knapp waren, zum Beispiel im Krieg, eines nicht: Schweinefleisch. Und deshalb ist Schweinefleisch das Merkmal von Wirtschaftswunder und Aufschwung schlechthin.

Zurück zur Kuh: Wenn man Milch einerseits und vegane Alternativen andererseits mit Blick auf ihre Energiebilanz vergleicht, ist zu bedenken, dass die Energie für die veganen Produkte aus Hafer oder Soja kommt, diejenige für die Kuhmilch aber zu einem guten Teil eben aus Gras. Aus Gras können wir ohne die Hilfe einer Kuh keine Energie herstellen. Aus Hafer oder Soja natürlich schon, zum Beispiel Müsli oder Tofu. Anders gesagt: In unfruchtbaren Regionen, wo Ackerbau, also eben zum Beispiel der Anbau von Hafer oder Soja, gar nicht möglich wäre, da ist aber die Haltung von Kühen möglich. Das ist übrigens der Grund, warum sich Bergland ganz anders anfühlt als Flachland: Wer von München nach Garmisch fährt, kann sehen, wie der Ackerbau irgendwo bei Murnau langsam endet; die Böden werden, je näher man den Bergen kommt, flachgründiger und unfruchtbarer und das Klima kälter, es gibt nur noch Grünland. Und in diesen Regionen gab es entsprechend nur einen wesentlichen Wirtschaftszweig: Milchviehhaltung. Produziert wurden also hauptsächlich Milch und Käse, was bis heute die Bergregionen, ihre Kultur und ihre Küche prägt. Notgedrungen. Denn etwas anderes als Milch hätte man dort, erst recht weiter oben in den Bergen, überhaupt nicht produzieren können. Und auch nicht ernten. Die Kühe können natürlich an Stellen fressen, wo Maschinen gar nicht mehr und Menschen kaum noch arbeiten können.

Kurz gesagt: Aus Soja und aus Hafer könnten wir eine Menge anderer nützlicher Dinge herstellen als Milchalternativen, aus Gras ohne die Hilfe der Wiederkäuer gar nichts. Die Kühe haben in unserem Ökosystem deshalb eine gänzlich andere Bedeutung als die Schweine: Sie erschließen Energie und Nährstoffe, die der Mensch ohne ihre Hilfe nicht erschließen könnte. Deshalb sollten wir die Kühe nicht einfach so infrage stellen, wie manche selbst ernannten Hardcore-Klimaschützer das zuweilen fordern.

Ökosystem Dorf

Mein Dorf mit seiner kleinstrukturierten Landwirtschaft war also ein typisches Bauerndorf, ein ausgeklügeltes Ökosystem, das sich weitgehend selbst versorgte, sprich: Es gab viele geschlossene Nährstoffkreisläufe. Es war also ein relativ nachhaltiges, effizientes Habitat für Mensch und Tier, aber es wäre damals schon seit Jahrzehnten ohne fossile Brennstoffe für Heizungen und Maschinen nicht mehr funktionsfähig gewesen.

Damals, in den Siebzigerjahren, waren über mein Dorf bereits viele Modernisierungswellen hinweggegangen. Die Technisierung der Landwirtschaft, der Wandel vom Arbeitsochsen (oder gar der Kuh) zum Pferd, später zum Traktor. Der Wandel der Getreideernte von der unglaublich schweren Arbeit des Sensens und Dreschens über die Dreschmaschine, die dann später zentral in den Dörfern stand und einen Teil dieser schweren Arbeit, nämlich das Dreschen, das zuvor den ganzen Winter hindurch dauerte, in kurzer Zeit erledigte und die Handarbeit mit dem Dreschflegel für immer überflüssig machte – bis hin schließlich zum Mähdrescher, der die Ernte ab Mitte des 20. Jahrhunderts schon fast alleine übernahm.

Und in diesen Jahren wurden die ersten Auswirkungen von Urbanisierung in meinem Dorf sichtbar: Menschen, die in der Stadt arbeiteten, zogen zum Leben aufs Land, dorthin, wo Platz war. Wir zum Beispiel. Und die Menschen im Dorf, die bisher Landwirte gewesen und daran gewöhnt waren, das ganze Jahr und sieben Tage die Woche auf ihrem Hof zu arbeiten, die suchten sich jetzt Arbeit in der Stadt. Arbeit, die besser bezahlt war als die auf dem Hof und die vor allem regelmäßig war: mit Feierabend an jedem Tag und mit einem freien Wochenende. So wurden ihre Bauernhöfe erst zu Nebenerwerbsbetrieben, später wurden die meisten ganz aufgegeben. Heute gibt es in meinem Dorf nur noch einen Haupterwerbslandwirt: den Müllerhof.

Helmut Müller

Anfang der Achtzigerjahre stellte Helmut seine Landwirtschaft auf biologische Wirtschaftsweise um, er kehrte der schulmäßigen Landwirtschaft also den Rücken und behauptete, dass Landwirtschaft anders besser ginge, und zwar natürlicher und gesünder – ohne Chemie. Das war unerhört, das hatte weit und breit noch keiner gemacht, es war ein Affront. Die anderen Landwirte genossen nach den Entbehrungen der Nachkriegszeit die Segnungen der modernen Landwirtschaft: Traktoren, Kunstdünger, Pflanzenschutzmittel, alles Dinge, die die Arbeit enorm erleichterten und das Risiko von Ernteausfällen dramatisch reduzierten. Ausgebildet waren die meisten Landwirte für die Anwendung dieser Agrarchemie natürlich nicht, schließlich waren sie einfach in die Landwirtschaft hineingeboren worden. Schon in den Sechzigerjahren war klar, dass man von einem kleinen Hof mit wenigen Hektar Land künftig keine Familie mehr ernähren können würde, also betrieb man die Landwirtschaft nebenher und lernte einen anderen Beruf: Schlosser, Maler, Metzger, Maurer, Koch und so weiter. In den großen Betrieben in der nahen Stadt gab es Arbeit genug. Und zwar moderne Arbeit: geregelt mit Fünftagewoche, Feierabend und Urlaub. Ein Riesenfortschritt für jemanden, dessen ganzes Leben bisher von der Landwirtschaft diktiert worden war: Arbeiten im Rhythmus der Natur, der Jahreszeiten, der Tiere. Wenn der Regen droht, muss das Heu reingeholt werden. Wenn das Vieh Hunger hat, muss es gefüttert werden. Und wenn die Kuh kalbt, musst du halt raus, auch wenn es nachts um zwei ist. Der Landwirt muss sich dem fügen. Die meisten Nachfolger der Kriegsgeneration, also meine Generation, die wollten das nicht mehr. Sie betrachteten die Landwirtschaft als Auslaufmodell, als zu sauer verdientes Geld.

Nicht so Helmut: Sein Vater war Landwirtschaftsmeister, hatte sich für Landwirtschaft als Hauptberuf entschieden und früh einen Aussiedlerhof gegründet. Wachsen oder weichen, hieß es. Helmuts Vater entschied sich für Wachsen, zog mit Mann und Maus aus dem Dorf und baute in ein paar Hundert Metern Entfernung auf der grünen Wiese neu. Ein modernes Haus und einen modernen Stall und weithin sichtbare, hoch aufragende Silos für Tierfutter. Ein moderner Kuhstall, das hieß damals: Die Tiere waren zwar noch angebunden (das sind sie heute nicht mehr), aber sie fraßen aus einer bodenebenen Futterkrippe – genug Platz, um mit einem Traktor hindurchzufahren und das Futter direkt vor ihnen abzuladen. Hinter den Tieren war ein Förderband, das den Mist von der Kuh direkt nach draußen auf den Misthaufen schaffte. Schluss mit der anstrengenden Handarbeit – was für eine Innovation!

Auf dem Müllerhof gab es auch genug Platz um die Gebäude außen rum, sodass man mit Maschinen arbeiten konnte. Große Traktoren und große Anhänger brauchen Platz zum Manövrieren, mitten im alten Dorf ging das meist kaum oder gar nicht. Dieser Hof hier war zukunftsfähig aufgestellt. Helmut machte seine Lehre auf dem elterlichen Betrieb und später seinen Meister. Dann übernahm er den Hof.

Fast jeden Abend ging ich als Kind zu den Müllers, um frische Milch zu holen. Wir verbrauchten damals rund drei Liter davon am Tag, und einer von uns Jungs war täglich dran mit Milchholen: mit ein paar Mark und einer roten Plastikkanne zum Hof laufen, die Milch dort selber aus dem Tank zapfen, Geld hinlegen und die Milch heimbringen. Und, wenn ich Glück hatte, Helmut treffen und mit ihm reden. Für mich war Helmut eine Lichtgestalt, ein Vorbild und ein Universalgelehrter.

Dass Helmut seinen Betrieb auf biologische Wirtschaftsweise umstellte, war unter seinen Kollegen alles andere als populär: Die anderen Landwirte im Dorf schnitten ihn wie einen Verräter. So kam er eines Tages in die Dorfwirtschaft, ging zu seinen Kollegen an den Stammtisch, und alle anderen standen auf und setzten sich an einen anderen Tisch. Er blieb alleine sitzen. Bio war grün und grün war so etwas Ähnliches wie linksradikal, und das zu RAF-Zeiten. Autsch. Helmut wurde vom Vorbild, vom bestausgebildeten und angesehensten Landwirt im Dorf zum Außenseiter, zum Spinner, über den man den Kopf schüttelte.

Und wenn ich zum Milchholen ging, dann sah ich dort immer öfter Leute, die nicht aus unserem Dorf kamen: langhaarige Männer mit Latzhosen und Batik-T-Shirts, die mit einem klapprigen R4 (natürlich mit einem Aufkleber: »ATOMKRAFT? NEINDANKE«) und kistenweise leeren Milchflaschen auf dem Hof vorfuhren. Sie importierten die wertvolle, frische, unbehandelte Biomilch in die alternative Szene der Universitätsstadt Konstanz. Die Direktvermarktung ab Hof war geboren.

In der kleinen Dorfschule, die meine Grundschule war, war ich einer der Besten in der Klasse. Mit dem Wechsel in das humanistische Gymnasium in der Stadt, damals für mich eine Furcht einflößende, riesige Schule, begann sich das zu ändern. Zum Beispiel wurden auf dieser großen Schule in der Grammatik Wörter benutzt, die es in meiner Grundschule gar nicht gab: Nominativ, Genitiv, Dativ, Akkusativ. Bisher hatte das geheißen: Wer-Fall, Wes-Fall, Wem-Fall, Wen-Fall, Siebzigerjahrepädagogik auf dem Dorf. Ich war ein schüchterner Junge, genierte mich und traute mich nicht zu fragen. Ich hoffte, dass es irgendwie von selbst vorbeiging. Es ging aber nicht vorbei, sondern die Klasse zog an mir leistungsmäßig auf und davon, und ich schrieb mittelmäßige und schlechte Noten. Und je öfter ich schlechte Noten schrieb, desto weniger Freude hatte ich an der Schule. Und je weniger Freude ich hatte, desto schlechter wurden meine Noten. Ich ging nicht gerne in die Schule, fühlte mich dort ausgegrenzt und unverstanden. Eines Abends, ich war wohl 15 Jahre alt, saß ich mit der Familie beim Abendessen, es war Herbst und draußen war es schon dunkel. An unseren Garten grenzte ein großer Acker, den Helmut bewirtschaftete. Und an diesem Abend säte er dort: Ich beobachtete den Traktor, der mit Scheinwerfern hinten und vorne hell erleuchtet auf dem Acker im Dunkeln alleine und ruhig seine Bahnen zog. Das faszinierte mich. Das wollte ich auch machen.

Ich erzählte Helmut von meinem Entschluss. Er sagte, dass ich natürlich bei ihm arbeiten und auch Traktor fahren dürfe. Er würde mir sogar den Traktorführerschein bezahlen. Gesagt, getan, im kommenden Frühjahr konnte ich Traktor fahren, ich machte meine Führerscheinprüfung und wurde ein bisschen ein richtiger Landwirt. Fast jeden Tag nach der Schule schlüpfte ich in meinen Overall und ging auf den Hof. Am glücklichsten war ich auf dem Traktor, aber ich lernte vieles mehr. An den meisten Abenden fütterte ich alleine im großen neuen Laufstall Milchkühe, Jungrinder und Bullen, zusammen gut 100 Tiere. Mehrere Tonnen Futter mussten vorgelegt werden: erst Maissilage, dann Grassilage, zum Schluss Heu.

Noch vor 60 Jahren wurde Milchvieh hauptsächlich mit Heu gefüttert, denn frisches Futter haltbar zu machen, wäre extrem aufwendig gewesen. Also trockneten die Bauern das Gras, das wichtigste Futtermittel, zu Heu. Es wurde durch die Trocknung leicht, transportabel und haltbar. Allerdings ging durch das Trocknen und das häufige Wenden auch einiges an wertvollen Pflanzenbestandteilen verloren, fiel einfach zu Boden, bevor das Heu fertig war. Heute werden Rinder hauptsächlich mit Silage gefüttert, verbreitet sind vor allem die Mais- und die Grassilage. Silage entsteht durch die Fermentation frischer Pflanzen unter Sauerstoffabschluss, also in einem luftdichten Behälter. Eingemachte grüne Pflanzen sozusagen, eine Sauerkonserve. Dazu gibt es im Wesentlichen zwei Methoden: Entweder man wickelt das Material als Ballen in Folien, Sie kennen bestimmt die großen weißen walzenförmigen Rollen auf den Wiesen (die Kinder nannten sie immer Elefanten-Klorollen). Oder man vergärt die Silage in sogenannten Fahrsilos: riesige rechteckige Betonbehälter, die oben und vorne offen sind und mit Traktoren befahren werden können. Heute gibt es sie auf fast jedem Hof. Mais oder Gras werden frisch geerntet, klein gehäckselt, ins Silo gekippt, verteilt und dann mit Schleppern oder Walzen so lange gewalzt, bis keine Luft mehr drin ist (eine Arbeit, die übrigens viel Spaß macht). Dann wird das Ganze mit Folie und Autoreifen zugedeckt. Und das ist auch der Grund, warum Silage ein relativ modernes Futtermittel ist: Man braucht dazu – egal ob man in Ballen oder in Fahrsilos siliert – große Kunststofffolien. Und die gibt es, jedenfalls »in bezahlbar«, erst seit den Siebzigerjahren. Genau wie Sauerkraut gärt das Material jetzt im eigenen Saft, es entsteht Milchsäure und ein wenig Essigsäure. Nach einigen Wochen ist die Silage fertig. Gute Silage ist appetitlich und riecht angenehm nach frischem Brot. Die Tiere mögen gute, frische Silage ausgesprochen gern.

Das Füttern dauerte rund zwei Stunden, parallel wurde gemolken, und wenn alle Kühe nach dem Melken zum Fressen da waren, fegte ich den Futtergang sauber, machte das Licht aus, hängte die Heugabel an die Wand, Feierabend. Eine große Herde zufriedener, satter Tiere hat etwas sehr Friedliches.

No Future

Ich kümmerte mich gerne um das Vieh, ich fuhr vor allem gerne Traktor und ich arbeitete gerne auf dem Feld. Aber auch die Direktvermarktung faszinierte mich: Ein Produkt ganz alleine herstellen zu können, von der Aussaat über die Ernte und Aufbereitung bis hin zur Verpackung, Etikettierung und zum Verkauf, das fand ich toll. Helmut gehörte zu den Ersten, die in Deutschland Dinkel anbauten. Er erkannte früh das Potenzial des alten Getreides, und so lernte er alles über Dinkel, beriet sich mit Kollegen in ganz Deutschland, Saatgut wurde ausgetauscht, Geräte zur Getreidereinigung wurden ausprobiert, entwickelt, ausgetauscht. Ich verbrachte ganze Wochenenden beim Reinigen und Entspelzen von Dinkel in staubigen Scheunen. (Anders als Weizen hat Dinkel auch nach dem Dreschen immer noch einen Spelz, also eine Schale. Solange das Korn in dieser Schale steckt, kann es nicht weiterverarbeitet werden. Deshalb muss Dinkel als einziges heimisches Getreide entspelzt werden.) Mir machte das Spaß. Ich fand das gut. Es war ein Kreislauf. Es war bio. Erst kurz zuvor hatten wir Jugendlichen Tschernobyl erlebt, die Ungewissheit, die sowjetischen Lügen, den Fallout, die Ratlosigkeit unserer Eltern. Landkarten in der Zeitung, die die vermuteten Wege der radioaktiven Wolken in der Atmosphäre vorherzusagen versuchten. Wir wussten vom sauren Regen, vom Waldsterben, von Chemierückständen in Böden und Lebensmitteln und von Antibiotika und Wachstumshormonen im Fleisch.

Wir verfolgten die unglaubliche Geschichte der verschwundenen Seveso-Giftfässer 1983, eine Spätfolge des Dioxinunfalls 1976. Wir hatten in der Schule gehört, dass Tausende Menschen getötet und Hunderttausende verletzt worden waren, als im indischen Bhopal am 3. Dezember 1984 mehrere Tonnen hochgiftige Substanzen aus der Produktion des Schädlingsbekämpfungsmittels Sevin in die Atmosphäre gelangten. 1986 arbeitete ich schon bei Helmut auf dem Hof, als am 1. November in Basel bei Sandoz eine Lagerhalle mit Chemikalien in Brand geriet. Tausende Kubikmeter abfließendes Löschwasser brachten rund 30 Tonnen hochgiftige Insektizide in den Rhein. Der Rhein färbte sich rot. Ein gigantisches Fischsterben setzte ein, auf einer Länge von 400 Kilometern wurde die gesamte Aalpopulation ausgelöscht. Der SPIEGEL berichtete damals, dass die benachbarte Firma Ciba-Geigy die Chance genutzt habe, während der Löscharbeiten heimlich 400 Liter des ebenfalls hochgiftigen Pflanzenschutzmittels Atrazin in den Rhein einzuleiten.

Aus unserer jugendlichen Sicht hatten alle diese Umweltkatastrophen etwas gemeinsam, das noch schlimmer war als die Schäden selbst: Bis hinauf in die höchsten Managementebenen und Regierungskreise der betroffenen Firmen und Staaten wurde anscheinend vertuscht, gelogen, bestochen. Wikipedia zitiert Hans Fehr, den damaligen Pressesprecher der Firma Roche, der in seiner Autobiografie mit dem Titel Eindrücke die erste Krisensitzung nach dem Dioxinaustritt im italienischen Seveso am 15. Juli 1976 beschreibt: »Dr. Hartmann (Vizedirektor der Roche, Red.), ganz Oberst an der Front, stürmte den Ort der Handlung, gefolgt vom Chefchemiker von Givaudan, Dr. Sambeth. ›Gut, dass Sie da sind. Also erstens: Die Sache wird im engsten Kreise der Icmesa gehalten; Givaudan und Roche werden nicht erwähnt. Zweitens: Dass es bei der Herstellung von Hexachlorophen passiert ist, wird […] nicht erwähnt. Drittens: Dass TCDD gebildet wurde, wird nicht erwähnt. Alles klar?‹«

Mein Gefühl und das meiner Freunde war, dass unsere Umwelt, unsere Gesundheit und unsere Zukunft der Macht von Staatenlenkern und der Geldgier von Firmenchefs skrupellos geopfert werden. Die atomare Aufrüstung, die Pershings, die Abschreckungspolitik und der x-fache »Overkill« kamen noch on top. »No Future« hieß das Motto. Unsere Verzweiflung und unsere Hoffnungslosigkeit, die uns mutlos und wütend machten, die sehe ich heute manchmal wieder – in den Augen der Jugendlichen von Fridays for Future.

Für mich war damals klar: Ich will etwas anderes. Etwas Neues, etwas Ökologisches. Und das hier, Helmuts Biohof, das war etwas anderes. Das war, was ich suchte. Das war eine Perspektive. Ich träumte davon, eines Tages meinen eigenen Biohof zu haben.

Arbeit im Kulturschutzgebiet

Helmuts Betrieb war einer der technisch am besten ausgerüsteten Bauernhöfe in der Region, und das war eine der Voraussetzungen dafür, dass er große Aufträge für die Riedpflege bekam. Bis heute nimmt der Staat viel Geld in die Hand, um die unter Naturschutz stehenden Riede, also die Schilfbereiche am Rand des Bodensees zum Beispiel, zu pflegen – das heißt, sie werden gemäht, und zwar am besten im Winter, wenn der Boden gefroren ist und die Traktoren nicht einsinken. Aber warum pflegen wir Riede, warum mähen wir Naturschutzgebiete eigentlich? Das ist doch Natur pur, wofür braucht es dort menschliche Unterstützung? Die Wahrheit ist: Es ist eben nicht Natur pur. Sondern wir erhalten diese Gebiete dadurch künstlich in einem Status, der eigentlich vollkommen instabil ist. Ökologisch betrachtet sind das verlandende Flachwasserzonen – und würde man sie nicht mähen, dann würde es dort wuchern. Dornengestrüpp würde sich ansiedeln, immer mehr organische Substanz würde mit Laub und verrottendem Totholz auf den Boden fallen, Humus würde entstehen, der Boden würde sich immer höher über den Grundwasserspiegel aufbauen. Verlandung eben. Deshalb würde es immer trockener und erdiger werden und am Ende stünde dort – ein Wald.

Mit der Riedpflege verhindern wir also, dass Wald entsteht. Wir wollen diese Gebiete »offen halten«. Warum? Wegen des Artenschutzes. Die Riedpflege ersetzt heute das, was früher dort Landwirtschaft war: Jedes Jahr zog man ins Ried und erntete Schilf für die Einstreu im Stall. Flurnamen wie Streuhau zeugen noch heute davon. Und so entstanden die offenen Riede, sie sind das Ergebnis von Bewirtschaftung durch den Menschen. Würden wir der Natur ihren Lauf lassen, dann würden die Arten, die heute im Ried leben, schnell verdrängt werden. Enziane, Orchideen und Brachvögel würden verschwinden, stattdessen würden dort Buchen, Waldmeister und Schwarzspecht einziehen.

Unsere Riede sind also das Ergebnis von Kultivierung. Sie sind Kultur. Und die Kultur, von der sie heute noch zeugen, ist die landwirtschaftliche Kultur einer bestimmten Region einer vergangenen Zeit. Und so verhält es sich nicht nur mit den Rieden am Bodensee, so ist es auch mit den Trockenrasen, die einst durch die Beweidung mit Schafen entstanden, mit Niederwäldern, die durch die Beweidung der Wälder mit Schweinen entstanden, so ist es mit Hecken, die die Felder beschützten und begrenzten, und so ist es mit Baggerseen, die durch das Ausbaggern von Kies entstanden und zu völlig neuen Ökosystemen führten: Wir nennen solche Lebensräume Naturschutzgebiete, aber eigentlich sind sie – Kulturschutzgebiete.

Klimakiller Nummer 1

Seit einem Referat, das ich Mitte der Achtzigerjahre im Fach Erdkunde zum Thema »globale Futtermittel- und Tierproduktion« hielt, und seit der Lektüre des Buches Die Fleischmafia etwas später habe ich viel über Fleischproduktion und Fleischkonsum geschrieben und gesprochen. In Ausgegeizt, meinem ersten Buch, schrieb ich 2011: »Das Fleischbusiness ist im Ganzen betrachtet wirklich das Letzte.« Der Fleischkonsum von uns Deutschen ist für mich bis heute das erstaunlichste Beispiel für unsere Widersprüchlichkeit: Wir halten einerseits den Tierschutz hoch, wir spenden an den Tierschutzverein, wir lieben die Tiere. Wenn sich bei uns in Konstanz wieder mal ein Schwan auf die Rheinbrücke verirrt, dann stoppen der Auto- und der Zugverkehr, es kommen Feuerwehr und Polizei und vielleicht weitere helfende Hände und die Presse, und es geht erst wieder weiter, wenn der Schwan – oder die Schwänin – sicher im Wasser ist. Andererseits finden wir offenbar immer noch nichts dabei, Fleisch zu Schleuderpreisen zu kaufen und in riesigen Mengen – im Jahr 2018 etwa 60 Kilo pro Kopf und Jahr – zu konsumieren. Und wir wundern uns dann, wenn wir wie zuletzt aufgrund von massenhaften Coronaausbrüchen in verschiedenen Fleischwerken in Deutschland sehen, unter welchen Bedingungen dort immer noch geschlachtet, aber auch gelebt und gearbeitet wird.[1] Tierunwürdig und menschenunwürdig, unserer Zivilisation unwürdig! Aber mir geht es jetzt nicht um Moral: Heute wissen wir (na ja, eigentlich wissen wir es seit Jahrzehnten), dass die globale Landwirtschaft völlig neu erfunden werden muss, weil sie nicht in der Lage ist, uns inzwischen acht Milliarden Menschen zu ernähren, ohne gleichzeitig unsere Lebensgrundlagen zu zerstören. Die globale Landwirtschaft hat mit den Städten auf der Welt etwas gemeinsam: Beide gehören zu den Hauptverursachern des Klimawandels – und beide gehören zu den Hauptleidtragenden des Klimawandels.

Die Landwirtschaft ist verantwortlich für rund 8 Prozent der Treibhausgasemissionen in Deutschland, für 10,5 Prozent der Treibhausgasemissionen in der EU, weltweit nach Angaben des WWF sogar für weit über 20 Prozent.[2] Das Umweltbundesamt gibt für Deutschland 2020 an, dass diese Emissionen zu rund 50 Prozent[3] aus Methan bestehen, das vor allem durch tierische Verdauung und Düngung entsteht, und zu weiteren 46 Prozent aus Lachgas, das – vereinfacht gesagt – aus der Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Böden resultiert. Beide Gase werden in CO2-Äquivalente umgerechnet, in Summe sind das mit leicht sinkender Tendenz rund 60 Millionen Tonnen CO2, die aus der Landwirtschaft emittiert werden. Und davon wiederum rund 60 Prozent oder 38 Millionen Tonnen allein aus der Tierhaltung.[4] Die Produktion von Treibhausgasen ist allerdings nicht das einzige Problem der modernen, hochproduktiven globalen Landwirtschaft: Rodung von Regenwäldern zur Gewinnung von Ackerfläche, Eintrag von Nährstoffen und Schadstoffen ins Grundwasser, Pestizidrückstände in der Umwelt, der Verlust der Biodiversität, insbesondere der Insekten, sind Schlagworte, die wir mit der modernen Landwirtschaft verbinden. Und ein wesentlicher Faktor ist die Erosion, also der Verlust der Fruchtbarkeit von Böden durch den Verlust der Humusschicht.

Das ist interessant: Humus und Böden spielen im globalen Maßstab eine riesige Rolle im Kohlenstoffkreislauf. Vereinfacht gesagt funktioniert das so: Böden entstehen aus der Verwitterung von Gestein. Stellen wir uns einen nackten Felsen vor, es regnet, ein bisschen Wasser bleibt in einer Vertiefung stehen, es sammelt sich organische Substanz aus fallendem Laub an, Staub aus der Atmosphäre, Vogelkot und anderes Material bleiben liegen, bei Frost gefriert zudem das Wasser, der Stein wird langsam mürbe und beginnt aufzubrechen. Es entstehen Risse, organische Substanz dringt ein, Pflanzen samen sich an, finden auf der Oberfläche Halt, und ihre Wurzeln füllen jeden sich bietenden Raum. Ein Prozess, den man an verfallenden Häusern übrigens schön beobachten kann. Und es geht weiter: Unter dem Blätterdach der ersten Pflanzen entsteht eine kleine, geschützte Atmosphäre mit weniger Wind, dafür mit mehr Schutz und Feuchtigkeit, Mikroorganismen und Würmer machen sich an die Arbeit. Das Gestein verwittert über Jahrtausende und liefert von unten Nachschub, oben entziehen die Pflanzen via Photosynthese Kohlenstoff (das C aus dem CO2) aus der Atmosphäre, produzieren daraus organische Substanz wie Blätter oder Holz. Die Pflanze stirbt irgendwann ab, all das organische Material liegt auf dem Boden. Wir nennen dieses Material Humus. Würmer und Mikroorganismen arbeiten den Humus in den Boden ein. Ein fruchtbarer, humoser Boden entsteht, in dem die Pflanzenwurzel fast alles findet, was sie zum Leben braucht: Nährstoffe und Wasser. Dann fehlt der Pflanze zum Wachsen nur noch eines, nämlich Energie. Und die gewinnt sie aus der Sonne mithilfe ihrer Blätter. Die Pflanze lebt, wächst, stirbt, wird zu Humus, wird so Teil des Nährstoffkreislaufes, und alles beginnt von vorn.

Fruchtbare Böden enthalten also organische Substanz, Kohlenstoff. Dieser Kohlenstoff stammt aus der Atmosphäre: Schließlich ist CO2 nicht nur unser berühmtestes »Klimagas«, sondern es ist auch der wichtigste Nährstoff für Pflanzen. Im Zuge der Photosynthese entzieht die Pflanze der Atmosphäre CO2, sie behält das C und bildet daraus Pflanzenmasse. Das O gibt sie wieder an die Atmosphäre ab. Das O ist natürlich Sauerstoff, das Gas, das Mensch und Tier zum Leben brauchen. Kurz: Es gibt Kohlenstoff in der Atmosphäre in Form von CO2, und es gibt Kohlenstoff in den Böden in Form von Humus. Die hier gespeicherte Menge ist gigantisch: In der gesamten Atmosphäre unseres Globus gibt es derzeit rund 860 Gigatonnen Kohlenstoff in Form von CO2, unserem Treibhausgas. Im Humus gibt es circa 2000 Gigatonnen Kohlenstoff, also rund das Zweieinhalbfache! Deshalb spielen die Böden beim Klimawandel eine enorme Rolle. Die Erosion in der modernen Landwirtschaft[5] verstärkt also einerseits noch den Ausstoß von CO2, weil diese Speicher sich eben regelrecht auflösen. Andererseits besteht da aber auch die Chance, durch den Aufbau von Humus und die Wiedervernässung von Mooren der Atmosphäre riesige Mengen CO2 wieder zu entziehen. Dazu gibt es inzwischen Projekte in ganz Europa und seit Ende 2022 auch eine »Nationale Moorschutzstrategie« der Bundesregierung, die genau dies zum Ziel hat. Eine Zahl verdeutlicht die Dimension: Der WWF rechnet vor, dass die Entwässerung von Moorböden zugunsten landwirtschaftlicher Nutzung weltweit für 5 Prozent aller menschengemachten CO2-Emissionen verantwortlich ist; in Deutschland sogar 7,5 Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen. Allein die Entwässerung von Moorböden! Im Vergleich dazu: Der weltweite Luftverkehr beträgt nur 3 Prozent.

Tierhaltung, Rodungen, Ackerbau, Moore – klar ist: Der Landwirtschaft auf der ganzen Welt stehen riesige Veränderungen bevor. Denn sie ist ohne Zweifel ein erheblicher Teil des Problems Klimawandel – kann aber genauso ein riesiger Teil der Lösung sein.

Kreislaufwirtschaft

Zurück zu den Stoffkreisläufen: Die Erde liefert also Nährstoffe und Wasser. Die Atmosphäre liefert CO2. Und die Sonne liefert Energie. Daraus entsteht durch Photosynthese Pflanzenmaterial, organische Substanz. Dieses Pflanzenmaterial ist Nahrung für Mensch und Tier. Mensch und Tier verdauen ihre Nahrung und scheiden Dünger für Pflanzen aus. Ein Kreislauf entsteht. Dabei kommt es auf das Maß an. Nehmen wir zum Beispiel die Gülle: Rinder und Schweine stehen in Ställen, sie werden gefüttert, ihre Ausscheidungen (feste und flüssige) werden durch Spaltenböden gesammelt und als Gülle auf dem Acker ausgebracht. Gülle enthält lebenswichtige Nährstoffe, der wichtigste ist der Stickstoff. Unsere Atmosphäre, unsere Atemluft besteht im Wesentlichen aus Stickstoff. Stickstoff ist ein Element mit dem Namen N und der Ordnungszahl 7 im Periodensystem der Elemente, oben rechts zwischen Kohlenstoff (C) und Sauerstoff (O) – der wichtigste aller Pflanzennährstoffe. Damit eine Pflanze Stickstoff aufnehmen kann, muss er aber nicht als reines N, sondern in einer pflanzenverfügbaren, wasserlöslichen Form vorliegen. Diese Form ist ein Molekül, in dem ein Stickstoffatom mit drei Sauerstoffatomen verbunden ist. NO3 also. Sein Name: Nitrat. Jeder von uns hat schon von Nitrat gehört. Zu viel Nitrat im Trinkwasser und so weiter. Wie kommt Nitrat ins Trinkwasser? Mit der Gülle.

Die Tiere produzieren Gülle, die rund um den Hof auf den Acker ausgebracht wird. Das ist zum einen ein Akt der Düngung, es ist aber ebenso ein Akt der Entsorgung. Sonst läuft ja irgendwann der Stall über. Wenn ein Hof wenig Fläche, aber viele Tiere hat, muss er sehen, wo er seine viele Gülle loskriegt. Das ist ein echtes Entsorgungsproblem: Gülle besteht zu über 90 Prozent aus Wasser. Will man sie weiter weg fahren, hat man zwei Probleme: Erstens kostet das ein Vermögen, und zweitens gibt es keine Abnehmer. Wer will schon fremde Gülle auf seinen Feldern ausbringen, ohne genau zu wissen, was da drinsteckt? Bringt man aber zu viel davon auf den eigenen Acker, wird ein Teil des Nitrats mit dem Regen ins Grundwasser ausgewaschen, denn die Pflanzen können das mobile und leicht auswaschbare Nitrat gar nicht schnell genug aufnehmen, weil es einfach zu viel ist. Aus diesem Grund gibt es in Regionen mit sehr intensiver Fleischproduktion, insbesondere der von Schweinefleisch, häufig ein Problem mit dem Nitrat im Trinkwasser: Es gibt zu viele Tiere auf zu wenig Fläche.

Drehen wir das Ganze um: Eine Landwirtschaft ohne Tiere, also ohne Gülle, müsste ihren Dünger woanders zukaufen. Das ist allerdings weder ökologisch noch ökonomisch sinnvoll.

Daraus folgt logisch, dass es zwischen der Anzahl von Lebewesen einerseits und der zur Verfügung stehenden Fläche andererseits eine Beziehung, einen sinnvollen Zusammenhang, ein stimmiges Verhältnis geben muss. Und das gibt es auch. Die Landwirte haben dafür eine einfache Formel gefunden: »Großvieheinheiten pro Hektar«. Eine Großvieheinheit (GV), das sind 500 Kilo Lebendgewicht, etwa ein Rind. Ein Kalb sind also 0,4 GV, ein Mastschwein 0,12 GV, ein Schaf 0,1 GV. Man kann auch ganz leichte Tiere addieren: 320 Legehennen sind ebenfalls eine Großvieheinheit.

Der Begriff Großvieheinheit dient dazu, einerseits den Bedarf an Futter, andererseits die Menge von natürlich anfallendem Dünger auf einem Hof zu quantifizieren. Das ist die Seite der Düngerproduktion. Schauen wir auf die Seite des Düngerbedarfs: Eine Kultur, egal ob Grünland, Obst oder Ackerbau, braucht Nährstoffe in ähnlicher Menge und ähnlicher Zusammensetzung. Jedenfalls reicht die Ähnlichkeit für eine Faustregel. Man kann also über den Daumen sagen, wie viele Großvieheinheiten pro Hektar ein Betrieb sinnvollerweise halten sollte, damit die produzierte Düngermenge im Stall mit der benötigten Düngermenge auf dem Acker und der Wiese zusammenpasst. Im biologischen Landbau hat man früh festgelegt, dass dieses Verhältnis maximal 2:1 betragen soll: maximal 2 Großvieheinheiten (oder 640 Legehennen oder 20 Schafe und so weiter, Sie wissen schon) pro Hektar Land, den der Hof bewirtschaftet, sind die Obergrenze. Die selbst produzierten Nährstoffe reichen dann für eine vernünftige Bewirtschaftung der Felder und Wiesen aus, andererseits ist die Menge nicht übermäßig belastend für das Grundwasser. So hat man dann ein System, das produktiv und ertragreich ist, aber dabei die Umwelt nicht überlastet – ein nachhaltig wirtschaftendes System also.

Unkraut

Meine Hingabe zur Landwirtschaft begann Spuren in meinem Lebenslauf zu hinterlassen. Meine Zeit und meine Energie investierte ich in die Landwirtschaft und in die Arbeit auf dem Hof. In die Schule investierte ich weder Zeit noch Energie und meine schulischen Leistungen entsprachen dem. Nach der elften Klasse endete deshalb meine Zeit auf dem humanistischen Gymnasium. Ich war gerade 18 und zog nach Tübingen, um dort meine Lehre auf einem Hof im Neckartal zu beginnen, der in dieser Zeit auf biologische Landwirtschaft umzustellen begann. Landwirtschaft war neben Mädchen das Einzige, das mich interessierte, also hatte ich mich ohne lange nachzudenken zu einer Lehre als Landwirt entschlossen. Meine ehemaligen Klassenkameraden paukten weiter Altgriechisch, Latein und Deutsch, ich saß auf dem Traktor, versorgte Schweine und Pferde, fuhr Gülle aus und ging in Münsingen auf der Schwäbischen Alb in die Berufsschule.

Mein Chef in Tübingen war ein Choleriker und Hektiker. Jemanden, der so führt und auftritt, würde man heute sofort aus dem Umgang mit Auszubildenden entfernen. Ich musste mich mit ihm abfinden, denn so früh aufzugeben, kam nicht infrage – und so wurde mein Jahr in Tübingen eines, das mich geprägt hat und in dem ich vor allem eines lernte: wie es ganz bestimmt nicht geht. Und zwar weder in der Betriebs- noch in der Menschenführung. Dieses erste Lehrjahr wurde ein Schlüssel zu meinem weiteren Leben.

Unter dem ständigen Druck, der knochenharten Arbeit, den übellaunigen Zurechtweisungen und der oftmals ungerechtfertigten Kritik meines Chefs fiel mir nur noch eine Möglichkeit ein, mir zu helfen: Ich musste mir ein eigenes Urteil bilden. War sein ständiges Nörgeln gerechtfertigt? Machte ich meine Arbeit schlecht? Das wollte ich auf keinen Fall. Ich hatte Ehrgeiz. Ich wollte gut sein. Wie könnte ich mir ein eigenes Urteil bilden? Nun, schließlich war ich in der Ausbildung, ich hatte Fachbücher, ging zur Berufsschule. Dann müsste es doch möglich sein, das Ergebnis meiner Arbeit mithilfe meines eigenen Wissens selbst zu bewerten und herauszufinden, ob seine Kritik nachvollziehbar und somit legitim wäre.

Abends nach der Arbeit und an den Wochenenden, an denen ich nur morgens und abends arbeiten musste, ging ich raus auf die Felder. Mit dem Zollstock maß ich Abstände und Pflanzenzahlen, die ich gesät hatte, pro Quadratmeter nach, mit dem Schäufelchen kontrollierte ich meine eigenen Arbeitstiefen. Und dann verglich ich mit den Vorgaben aus meinen Fachbüchern. Manchmal war es so, dass mein Chef womöglich recht hatte. Vielleicht war etwas zu unsauber gearbeitet, zu tief gesät, zu viel oder zu wenig von irgendetwas ausgebracht. Oft genug war es aber eben so, dass er nicht recht hatte: Das Ergebnis meiner Arbeit entsprach allen fachlichen Anforderungen. Und er hatte offenbar bloß schlechte Laune. Und da kam ihm »der Stift«, also ich, gerade recht. Ich lernte in diesem prägenden Lebensjahr, mir ein eigenes Urteil zu bilden und für meine Arbeit geradezustehen.

Landwirtschaft im Neckartal bedeutete die ständige Gefahr von Hochwasser. Zu den Herausforderungen in der Biolandwirtschaft gehört das Unkraut: Wer nicht spritzen kann, muss jäten. Man kann das inzwischen recht gut maschinell, aber gerade in den Jahren der Umstellung, also sozusagen des Entzugs von Spritzmitteln, ist oft viel Handarbeit angesagt, denn die Felder müssen erst einmal mehrere Jahre lang halbwegs unkrautfrei gemacht werden. Bei uns im Neckartal waren es vor allem die Distel und der Ampfer, die uns zu schaffen machten. Beide sind Wurzelunkräuter, das heißt, sie können aus einem kleinen Stück ihrer Wurzel erneut austreiben. Es muss bei der Unkrautbekämpfung also darum gehen, die Pflanze restlos aus dem Boden zu bekommen. Wenn einerseits die Pflanze die richtige Größe erreicht hat und andererseits der Boden aber gerade sehr trocken ist, braucht es manchmal rohe Gewalt, gelegentlich sogar einen Pickel. Und so zog ich wochenlang oft alleine oder zu zweit mit dicken Arbeitshandschuhen, mit Schaufel, Pickel und einem Jutesack in der sengenden Sonne über die riesigen, rechteckigen Felder, die meist mehrere Hektar groß waren. Wie schön wäre es, könnte man hier einfach Glyphosat spritzen, konnte ich mir manchmal nicht verkneifen zu denken.



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