Menschenwürde weggesperrt - Guntram Erbe - E-Book

Menschenwürde weggesperrt E-Book

Guntram Erbe

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Der Autor erzählt spannend und ergreifend über die aufgezwungene und hoffnungslose Zeit der sozialistischen Diktatur in einem Teil von Deutschland. Aus simplen Wohnrechtsfragen der Familie eskaliert ein aufgenötigter Kampf gegen Behörden und Partei, von zäher Unnachgiebigkeit getragen. So wächst erst zaghaft, dann massiv der unumstößliche Wille, bis hin zum aufopfernden Handeln, ungeachtet der zahllosen Spitzel, mit einem selbstgebauten Flugzeug diesen Staat den Rücken zu kehren. Trotz scheinbar unüberwindlicher Engpässe in der Wirtschaft wächst ein Projekt für das Unternehmen „Flug in die Freiheit“. Doch der bestimmende Kampf für das große Ziel geht weiter. Die geforderte Hilfe, an christliche Vertreter gerichtet, ist vom übelsten Verrat begleitet. Damit hat das verkrampfte Leben unter der Stasimacht seine Grenzen gefunden. Der kleine Hoffnungsschimmer am politischen Horizont, wird er die Tragödie beenden?

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Seitenzahl: 249

Veröffentlichungsjahr: 2014

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An meinen inzwischen verstorbenen Freund und mutigen Helfer Helmut Dille möchte ich erinnern.

Inhaltverzeichnis

Vorwort

Auf der falschen Seite geboren

Die Diktatur greift nach der Familie

Das große Wagnis beginnt

Erholungsreise vor der Flucht

Das Flugzeug wird vollendet

Hilfe in der Aussichtslosigkeit

Unternehmen „Flug in die Freiheit“

Von der Diktatur beherrscht

Die unausweichliche Tragödie

Die Mächtigen reagieren

Endgültig zu Verbrechern gemacht

Hinter Schloss und Riegel

Der Weg ist frei

Die Stasi gibt Johanna frei

Vorwort

Leichte Beklemmung befällt mich bei den Gedanken, dass die „sozialistische“ Epoche, in einem Teil von Deutschland als Diktatur erlebt, eines Tages aus den Köpfen der Menschen verschwindet. Die menschenentwürdigenden Mittel zur Erhaltung der Macht des Regimes sind dann vergessen und die politisch wirksamen Errungenschaften, der menschlichen Natur entsprechend, erfüllen täuschend ihre Köpfe.

Besonders die politischen Verhältnisse in der damaligen DDR oder die verwerfliche Politik an sich, nicht wie sie gemeint waren, sondern wie sie die Menschen erlebten, wie sie reagierten und fast daran zerbrachen.

Die einen besannen sich auf die wirklichen Werte des Lebens gegen die politischen Mächte und wählten, trotz aller Repressalien, den Weg in die Freiheit. Die anderen verstärkten dagegen hilflos die eingeschüchterten Massen.

Natürlich verändern sich die dringenden Fragestellungen zum Verlauf des Lebens in der Gesellschaft, doch das bestimmende Wesen der Inhalte ist zeitlos und durch keine noch so verlockende Ideologie zu beugen. In Bedrängnis nach gutem Rat suchen, um das Richtige und Effektivste zu tun, geschieht nur sehr selten in einem Leben.

Die oft missverständlichen Handlungen der Kirche, aber auch deren unterstützende Einflüsse in der Not und der Glaube an Gott gingen in einer Diktatur an vielen Menschen nicht spurlos vorüber. Sowie mich dieses vorgegebene Leben über Jahrzehnte beeinflusste und formte oder besser, zu formen versuchte, war und ist das Ergebnis ein stets politisch denkender Mensch, ohne einer Philosophie anhängig geworden zu sein. Der erschwerte Weg durch dieses Leben, von den vielen kleinen Denunzianten und Spitzeln begleitet, gab mir die klaren Antworten, die mich schließlich zum Handeln zwangen.

Guntram Erbe

Neudietendorf, September 2013

Auf der falschen Seite geboren

Die großen Räume mit den schönen Stuckmustern an den Decken, der weitläufige Garten, die Wiesen, im englischen Stil angelegt und der Balkon, von dem man das Grün aus einer ganz anderen Perspektive herrlich überblicken kann, ein elterlich behütetes Zuhause für meine Geschwister und mich.

Unsere Mutter, sehr zierlich von Statur, war ein ungewöhnlich gütiger Mensch. Ihre ständige Aufopferung und Hingabe über Jahre für die Familie zehrten sie praktisch auf, ohne dass wir spürten, wie ihre Kräfte schwanden. So sehe ich es durch ihren frühen Tod leider bestätigt.

Wie mein Vater in der Nachkriegszeit als Goldschmied seine fünfköpfige Familie sicher durch diese schwere Zeit bringt, ist mir heute noch ein kleines Rätsel. Merkwürdig: Die Wünsche der gut Betuchten sorgen für reichlich Arbeit, so dass mein Vater, besonders vor Festtagen, vierzehn bis sechzehn Stunden täglich in seiner Werkstatt sitzt.

Mit der Entstehung und der unvermeidlich politischen Festigung des ostdeutschen Regimes, von der sowjetischen Besatzungsmacht bestimmt und gestützt, wachsen die Reglementierungen für alle Menschen im Land. Betroffen sind besonders die Landwirtschaft, das Handwerk und bestehende Unternehmen. Goldschmieden untersagt der Staat den Ankauf von Gold und Edelsteinen. Die verbleibende staatliche Goldzuteilung wird schnell in wenige Schmuckstücke verwandelt. Die begrenzten Einnahmen können in keinem Fall die große Familie ernähren. Zwangsläufig wird das fehlende Gold aus privater Hand und anfangs in Westdeutschland eingekauft. Ich weiß noch genau, wie mir mein Vater voller Stolz seine Einkäufe von diesen Reisen präsentiert, sich durchaus der großen Gefahr vor Zuchthaus und staatlichen Repressalien bewusst. Das rechtzeitige Benachrichtigen durch Goldschmiede aus der Stadt über plötzlich in ihren Werkstätten aufgetauchte staatliche Kontrolleure, sorgt kaum für die nötige Sicherheit.

Deshalb ändert sich im Lauf der Zeit sein ursprünglicher Wunsch, dass ich irgendwann seine Werkstatt übernehme, natürlich mein Interesse an diesem kreativen Beruf vorausgesetzt. Die vielen staatlichen Schikanen lassen meinen Vater auf den verständlichen Wunsch endgültig verzichten. Mein fehlendes Sitzfleisch scheint ohnehin ungeeignet für diesen Beruf.

*

Nach beneidenswerter Kindheit mit viel Aufregendem und Wunderbarem, aber auch traurigen Erlebnissen, verschont von Hunger und schwerer Krankheit, beginnt in dieser entbehrungsreichen Zeit, im Jahre 1949, eine neue grundlegende Änderung in meinem Leben, die Schulzeit. Plötzlich gibt es Pflichten, die Uhrzeit spielt eine große Rolle, noch mehr Leute sagen mir, was richtig und falsch ist oder dieses und jenes tut man plötzlich nicht mehr. Eigene Wünsche und Ideen sind dennoch reichlich vorhanden, denn meinen eigenen Kopf bewahre ich mir stets.

Die Berufsgruppe der Lehrer erfährt schon frühzeitig durch staatliche Säuberungsaktionen die Ausdünnung ihres Berufstandes. Eine pauschale Beurteilung über die vermeintliche Nazivergangenheit verweigert vielen Lehrern ohne die Möglichkeit des Widerspruchs die Erziehung des neuen „sozialistischen“ Menschen, wie es diktatorisch heißt.

An meinem ersten Schultag begrüßt uns Schüler deshalb einer der neuen Junglehrer. In Lehrgängen schnell fit gemacht, unterrichten sie zukünftig als Ersatz für erfahrenes Lehrpersonal. Sein Gesicht sehe ich noch heute vor mir, blass und schmal, mit betonter Nase und glatt nach hinten gekämmtem, mittelblondem Haar.

„Proletarier kämmen so ihre Haare“, meint mein Vater stets, was seine bürgerliche Denkweise unterstreicht.

Meine Schulzeit ist oft von einem beklemmenden Gefühl begleitet. Die wenigen Unterrichtsfächer, die mir wirklich Spaß machen, ändern diesen Zustand kaum. Die Ursache liegt wohl in meiner mangelhaften Einsicht, die Notwendigkeit des vorgegebenen Lernens dem vielseitigen Interesse an Natur und Technik vorzuziehen, von den Erziehenden leider unbemerkt. Stattdessen erfreut man sich an meinen punktweisen Erfolgen. Der Ausspruch, du könntest einer der Besten sein, als Belohnung und Ansporn gedacht, hinterlässt den gewollten Eindruck nur von kurzer Dauer.

Da sitze ich nun auf meiner Schulbank, von einem heillosen Dilemma beherrscht. Den Blick durchs Klassenfenster in die aufregende Natur gerichtet, wandern die Gedanken durch das Grün und die wohlgemeinten Worte, aus einer Richtung kommend, ziehen wirkungslos an mir vorüber. Der hoffnungslose Traum von grenzenloser Freiheit überwältigt mich sehr oft.

Unsere alte Mathematiklehrerin überstand gütlich die Nazisäuberung. Ihre Erfahrung ließ im Unterricht derartigen Träumern keine Chance. Also geht es auch anders. Die Lehrer unterrichten aus Überzeugung, mit großem Interesse an ihren Schülern, das Erreichbare erfolgreich zu vermitteln. Zu meinem Leidwesen besteht ein enger Kontakt zwischen Lehrer und Eltern, so dass schulische Versäumnisse oder Fehlverhalten im Betragen schnell das elterliche Haus erreichen. In solch einem Fall zitiert mich mein Vater kurzer Hand in die Werkstatt an einen kleinen Tisch, neben seiner Werkbank stehend, um unter seiner Aufsicht das Angemahnte nachzuholen.

Die russische Sprache und das Vokabeln pauken fallen mir sehr schwer. Meinem Vater dagegen, als Sprachtalent, ist alles schon längst bekannt. Locker folgt er den sprachlichen Ausführungen seines Sohnes. Ausflüchte oder sonstige Entschuldigungen für mangelhaftes Wissen machen wenig Sinn, mit der Folge gezielter Korrektur. Oft bewundere ich das Wissen meines Vaters, ob im Beherrschen unterschiedlicher Sprachen, der Mathematik oder der vielseitigen Kunst. Nur die Politik als Unterrichtsfach und die geforderten Hausaufgaben führen oft zu verständnislosen Reaktionen.

Fest steht, nach derartigen Lernorgien wird selbst die Gartenarbeit zur wunderbaren Erlösung für mich. Abwechslungsreich nutze ich meine Freizeit. Ob in den höchsten Wipfeln der Bäume, unterwegs auf Wiesen und Feldern oder im verbotenen Reichsbahngelände, mit oder ohne Freunde, eine Zeit für glückliche Stunden. Allerdings begrenzen hin und wieder einschränkende Bestrafungen meine gewonnene Freiheit ein.

Langweiliges Herumsitzen, so als Clique, wie man heute sagt, kennen wir kaum. Neue Ideen sind schnell geboren, keineswegs für elterliche Ohren bestimmt, was aber die Unternehmungen so herrlich spannend machen. Mit Freunden im Ideenrausch sind die Verbote längst vergessen. Die Drehscheibe für Lokomotiven, der Lokomotivenschuppen, die vielen Abstellgleise, auf denen unterschiedlichste Waggons stehen und das riesige Oberbauwerkgelände; ein Reparaturbetrieb der Reichsbahn, dem kein Junge widerstehen kann.

Was sollen nur die Eltern tun? An die kindliche Vernunft appellieren, von Gefahren berichten und immer härter Strafen androhen, bis hin zur Züchtigung?

Die Glocke der Brüdergemeinkirche unseres Ortes ruft uns jeden Abend um achtzehn Uhr nach Hause, von den Eltern so gewünscht. Bewusst oder unbewusst überhören wir gelegentlich das Läuten. Wenn es aber wirklich geschieht, fällt prompt die verspätete Ankunft mit einer unerfreulichen Nachricht aus der Schule zusammen. Nun ist Schlimmes zu erwarten.

In solch einem Fall zitiert mich mein Vater nach kurzem Wortwechsel zum sofortigen Lernen in den kalten Werkstattraum. Der tatsächliche Grund wird nicht offenbart, dafür fällt mir eine wild gewachsene Rute auf, die hinter der Tür in der Ecke des Raumes steht. Die unvermeidliche Tracht Prügel folgt auf mein Gesäß. Kräftig schlägt mein Vater zu. Die Wut ist es, die seine Tat so derb veranlasst. Merkwürdig, Gewalt lehnt mein Vater sonst grundsätzlich ab. Für die Erziehung seines Sohnes gelten andere, wirksamere Regeln. So widersprüchlich das Ergebnis der Bestrafung klingen mag, kein Hass, sondern deutliche Erleichterung überwältigt mich. Ausgesprochene Hausarreste und andere Strafen erscheinen mir dagegen endlos lang und hart.

Die anfangs meiner Schulzeit gegründeten Schulhorte, eine neue Errungenschaft des „sozialistischen“ Staates, sind zur Entlastung berufstätiger Eltern gedacht. Ohne Gebühren, doch mit erfolglos versuchten Einflüssen der Partei. Die teilweise in den Familien noch bestehende bürgerliche Ordnung kann auf diese staatlichen Hilfsangebote leicht verzichten. Merkwürdigerweise finden wir in der heutigen Zeit die einst verpönten Modelle wieder, dafür gegen Bezahlung und ohne die Einflüsse von Parteien.

Schon 1948 gründeten die regierenden Genossen die Pionierorganisation als zwingendes Auffangbecken für alle Schüler. An den Schulen und in der Freizeit soll gezielt politisch Einfluss genommen werden. Wie allerdings die Realität an den Schulen zeigt, wohl mehr ein Wunschdenken der Partei. Wir Schüler nutzen die kostenfreien Freizeitangebote als willkommene Abwechslung. Sport und Spiel, Wandern, unterschiedlichste Arbeitsgemeinschaften und in den Sommerferien die beliebten Ferienspiele, ein Traum für uns Kinder, ohne politische Zwänge.

Von der abstoßenden Pionieruniform tragen wir nur das Halstuch jeden Montagmorgen auf dem Schulhof zum Fahnenappell. Diese Kleidung bleibt staatlichen Großveranstaltungen vorbehalten.

So genannte Pionierleiter, hauptamtlich in die Lehrerschaft integriert, sollen für die Umsetzung der „sozialistischen“ Idee an den Pioniernachmittagen sorgen. Alles schrumpft zu einem Traum der Partei, denn den Nachmittag nutzen wir Kinder spielend zu unserem ausgiebigen Vergnügen.

Die Bastion der christlichen Glaubenswelt will die Partei im März 1954 durch eine wichtige „sozialistische“ Maßnahme schwächen. Eine typische Formulierung der herrschenden Partei in dieser Zeit. Die Jugendweihe, als Gegenpol zur Konfirmation gedacht, führen die Genossen ein. Natürlich wirken einige materielle Verlockungen auf die schwankenden Gemüter. Endlich gibt es einen Höhepunkt für all die Neutralen und Atheisten. Zukünftig wird ihre Kindheit durch die Jugendweihe feierlich besiegelt. Das Gelöbnis auf den „sozialistischen“ Staat nimmt man dafür gern in Kauf.

Die christliche Erziehung der Brüdergemeine, seit Jahrzehnten vollzogen, muss schon als friedliches Gegenstück zur marxistischen Philosophie weiter bestehen. Ein unpopulärerer und dennoch viel genutzter Weg, wie man unschwer erkennt. Eine der Möglichkeiten besonders für die Jugend, dem zeitweisen Einfluss der „sozialistischen“ Diktatur zu entfliehen. Deshalb soll jedes Kind den christlichen Glauben als geistiges Fundament für das spätere Leben gewinnen. Dann irgendwann im Laufe des Lebens kann es eines Tages entscheiden, ob mit oder ohne Gott. Keine leichte Entscheidung in einer sozialistischen und materialistischen Welt, beeinflusst vom gepriesenen technischen Fortschritt und Wissenschaftsgläubigkeit.

In eine christliche Familie hineingeboren, christlich erzogen, gemeinsam mit den Klassenkameraden den Christenlehreunterricht erlebt, im Einklang mit dem Elternhaus und alle finden es normal. Der Staat schaut missmutig zu, bei dieser so ganz anderen Lehre, durch Verträge in kirchlichen Räumen vor staatlichen Eingriffen geschützt.

Trotz allem schickt die Staatssicherheit ihre IM’s auf die Suche nach feindlichen Brüdern, von den Gliedern während der Predigt schnell entdeckt. Wir nehmen sie schmunzelnd zur Kenntnis. Hier geht es um Gott und um keine Partei. Diskussionen über den Sinn kirchlicher Veranstaltungen gibt es nicht, sie gehören einfach in unser Leben. Ein Verdienst damals von Pfarrer Baudert aus dem gleichen Ort. Seine offene Art, so mit uns Jugendlichen umzugehen, weckt Vertrauen in seinem mitreißenden Unterricht.

Schwierige Themen aus der Bibel, trocken und einfallslos vermittelt, erlebe ich später, sehnlichst das Ende der Ausführungen erwartend. Der sonntägliche Kindergottesdienst verführt hin und wieder zu einem derartigen Absitzen auf der harten Kirchenbank. Mitreißendes Predigen gelingt wohl nicht jedem Kirchenmann.

Der Grundstock des Glaubens findet mit der Konfirmation seinen vorläufigen Abschluss, im Grunde noch unbewusst für mich. Im späteren Leben, von Höhen und Tiefen geprägt, bin ich den Menschen dankbar, die mir den Glauben lehrten, der jederzeit als Stütze und Kraftreserve dient.

Noch vor dem Schulabschluss wählt mein Vater, beeinflusst durch meine Freizeitbeschäftigungen, die zukünftig passende Lehrstelle aus. Nicht ganz einfach bei meiner vielseitigen Bastelleidenschaft. Durch den Bau von Flugmodellen überzeugt, fällt die Entscheidung auf den Modelltischlerberuf. Schnell stellt sich heraus, der Beruf bringt keine Flugmodelle hervor, sondern diese Modelle werden in Gießereien verwendet.

Viel Ausdauer kostet auch in dieser Zeit die Lehrstellensuche, besonders bei fehlenden Verbindungen zu Handwerksbetrieben und der mittelständigen Industrie, die bereits unter halbstaatlichen Einflüssen leiden. Eine sinnvolle Lehrstelle ist das Problem aller Generationen, auch unter einer „sozialistischen“ Diktatur.

Nach dem Grundschulabschluss beginnt meine Lehre in einer Modelltischlerei der Firma Gebr. Haller in Erfurt. Der achtundsiebzigjährige Meister, knorrig wie ein alter Baum, so sagt man, übernimmt noch die Ausbildung eines weiteren Lehrlings. Den privaten Betrieb führen zwei ältere Brüder, die keine Probleme in der altersmäßigen Konstellation ihres erfahrenen Meisters gegenüber den Lehrlingen sehen. In den ersten Tagen unserer Ausbildung im Jahre 1959 staunen wir über unseren resoluten Meister, wie er die rauen, sehr kräftigen und oft lautstarken Kollegen aus der Gießerei zur Zurückhaltung und höflichen Gesten zwingt. Wer nicht anständig nach Holzkeilen fragt, der bekommt keine Keile. Nun hat der Former ein Problem. Wie soll er seine Formen für den Guss verkeilen? Beschwerden an die Chefs gerichtet, ein sinnloses Unterfangen. Nur Respekt half weiter. Die Lektion kommt bei den Neulingen an, ein Fehlverhalten wird künftig ausgeschlossen.

Der private Betriebsstatus passt nach Auffassung von Partei und Regierung nicht mehr in die Zeit der sozialistischen Aufbauphase. Die zwangsweise einsetzende staatliche Beteiligung oder die generelle Verstaatlichung von Unternehmen soll die Wirtschaftsmacht des ohnehin angeschlagenen Mittelstandes endgültig brechen. Ein fataler Fehler, wie bald die wirtschaftlichen Veränderungen im Land zeigen werden.

Nur nach staatlichen Vorgaben wird das Produkt in Art und Menge, als Plan deklariert, produziert. Die Gesetze des Marktes sind ersatzlos gestrichen. Die gesamte Wirtschaftsführung liegt jetzt in den Händen der Ministerien und nehmen letztlich Einfluss auf das Produkt in den Betrieben. Eine unlösbare Mammutaufgabe durch den all gegenwärtigen Materialmangel noch verstärkt. Man sagt, das Material wird bilanziert. Die bilanzierte Materialmenge bestimmt praktisch die zu produzierte Menge von Waren, ein Schwerpunkt der Planwirtschaft. Fehlendes Material führt zwangsläufig zu den gewohnten Engpässen für die Industrie. So kann es passieren, dass ein Großbetrieb seine Produktion stoppt, weil das benötigte Walzblech erst in einer Woche eintreffen soll. Die gewollten Eigeninitiativen durch den Betriebsdirektor scheitern immer wieder an den Grenzen der Ministerien. Noch schwieriger wird es für die Entwicklung neuer Produkte. Hier bestimmen praktisch der Stand der Technik, das zur Verfügung stehende Material und die benötigten Zulieferteile, beispielsweise aus der Bundesrepublik, den Entwicklungsfortgang. Der Kreativität des Entwicklers sind damit klare Grenzen gesetzt. Ein trauriges Ergebnis der Entwicklungsinitiative.

Den noch bestehenden privaten und teilverstaatlichten Betrieben ergeht es nicht anders. Natürlich wehren sich besonders die Unternehmer der Privatbetriebe gegen die anbahnende Teilverstaatlichung, die damit ihre ohnehin geringen Spielräume in der Wirtschaft aufgeben müssten. Eine Teilverstaatlichung steht auch der privaten Gießerei gegen Ende der fünfziger Jahre bevor.

Eines Tages führt mich mein Weg durch die Gießerei an gähnend leeren Sandbunkern vorbei. Die Graugussmassellager wirken wie ausgeplündert. Auf meine vorsichtige Frage, was hier passiert sei, antwortete der Gießereimeister mürrisch:

„Das haben wir den Kommunisten zu verdanken.“

Was ist wirklich geschehen? Die monatelangen Verhandlungen zwischen der Parteikommission und den Unternehmerbrüdern führen zu keinem Ergebnis. Verzweifelt wehren sich die Besitzer gegen die drohende Übernahme durch staatliche Beteiligung. Die anhaltende Unnachgiebigkeit hat Folgen. Kurzerhand stoppen die Genossen ohne Ankündigung die Hilfsmateriallieferungen für die Gießerei. Alles läuft auf eine schändliche Erpressung hinaus. Wenige Tage läuft noch die Produktion, dann kehrt erzwungene Ruhe in der Werkhalle ein. Ein schwerer Schlag gegen das Unternehmen. Nun halten die Unternehmerbrüder ihrerseits die Lieferung von dringend benötigten Gussteilen an den Nachbarbetrieb, dem VEB Umformtechnik Erfurt, zurück. Der mutige Schritt beeindruckt die Genossen nur wenig. Im Gegenteil, die Aktion der Inhaber gilt als Verstoß gegen Gesetze, natürlich gegen „sozialistisches“ Recht. Die Unternehmerbrüder haben keine Wahl und stimmen schließlich der staatlichen Beteiligung zu.

Die Arbeitsweisen derartiger Kommissionen zeigen teilweise in der Landwirtschaft noch radikalere Methoden. Kein Wunder, denn viele Gesetze dienen nur als Steigbügel der „sozialistischen“ Diktatur, weit entfernt von heutigen Rechtsbegriffen. Für mich ein Ausgangspunkt erster Protestgedanken gegen das Regime.

Vielseitige Ideen verschaffen mir gerade jetzt in meiner Freizeit Ablenkung von dieser bedrückenden Erkenntnis. Natürlich fehlt mir das nötige Geld für größere Projekte. Bevor Kleinflugzeuge und deren Bau mich ganz in Anspruch nehmen, schwebt mir die Idee eines neuen Wasserfahrzeuges vor. Es soll in einer Höhe bis zu fünf Metern über dem Wasser schweben, fast einem Flugzeug gleich, von einem Strömungsluftkissen getragen, aber vom Wasser nicht losgelöst. Leicht verkraftet dieses Wasserfahrzeug hohe Wellen. Ein tolles Projekt, eigentlich eine Mischung aus Flugzeug und Tragflächenboot, für Bastelstunden leider viel zu groß.

Nach vielen weiteren, teilweise faszinierenden Ideen, finden endgültig Leichtbauflugzeuge meine uneingeschränkte Begeisterung. Ihr geringes Eigengewicht und schwache Flugmotoren bieten trotz alledem ansprechende Flugleistungen, viel Raum für spätere, reizvolle Flugprojekte.

Eine überraschende Nachricht verbreitet ein Radiosender im Sommer 1961 aus Berlin und ruft mich gnadenlos ins reale Leben zurück. Die täglich steigenden Flüchtlingszahlen zwingt die Parteiclique früher oder später zur Schließung des letzten Schlupflochs Westberlin. Gedanklich völlig unvorbereitet muss ich zum ersten Mal in meinem Leben während meiner Lehrzeit selbstständig eine lebenswichtige Entscheidung treffen. Bis zu diesem Zeitpunkt interessierte mich natürlich nur die Politik, die meine Freiheit begrenzte, Mangelware verursachte und mir eine eintönige Jugend aufzwang. Die wichtige Berufsausbildung und die kreative Freizeitgestaltung dämpften ohne Zweifel die Auswirkung dieser Mängel und machen mir die Entscheidung hoffnungslos schwer.

Die alles beherrschende Frage verlangt eine schnelle Antwort, denn die Zeit zum Handeln ist wirklich knapp. Soll ich Hals über Kopf in den Westen fliehen? Ohne die abgeschlossene Ausbildung als Konsequenz! Oder bleibe ich im Land, um die Lehre erfolgreich abzuschließen und den Schritt in die Freiheit möglicherweise für Jahrzehnte zu vergeben, ohne den Zeitpunkt einer erneuten Chance zu erkennen? Wie reagiert ein gut erzogener junger Mann auf diese überwältigende Frage, die das Leben stellt? Besteht schon Einklang zwischen mir und dem typisch bürgerlichen Leben, geprägt von Ordnung und der Vorgabe, nicht mit dem Leben zu experimentieren. Haben mich mein Elternhaus und die Schule auf diese erste große Herausforderung des Lebens richtig vorbereitet? Obwohl mir der Weg in die Freiheit sehr am Herzen liegt und eine reizvolle Zukunft bedeutet, fällt die Entscheidung, meine Ausbildung fortzuführen. Die Erziehung zum Risiko passt nicht in unsere Familie und den verbleibenden Verwandten. Man ist ja froh, dass alles in einem gewissen Rahmen im täglichen Leben ausreichend erträglich läuft.

Der gefasste falsche Entschluss im Alter von siebzehn Jahren wird mir viel Kraft und Lebensmut in meinem zukünftigen Leben kosten. Noch verschleiert mir die Zukunft die belastende, dunkle Prognose.

So verhindert mir der Mauerbau am 13. August 1961 in Berlin, die verminten Grenzen und die Selbstschussanlagen an den Grenzzäunen den eigentlich gewollten Weg in den Westen.

Die ersten jungen Damen interessieren mich gerade in dieser entscheidenden Zeit. Sie wirken sehr adrett. Es steht ihnen gut, das typisch Weibliche, ihre weiten und bunten Röcke, dazu die gestärkten Petticoats und Blusen. Schon die ersten Bekanntschaften führen zu einer bestimmten Einstellung gegenüber den jungen Damen. Nur ernst gemeinte Beziehungen kommen für mich in Frage, die meiner Vorstellung von einer festen Bindung entsprechen. Das Defizit an Zuneigung aus zurückliegender Jugendzeit, ohne Mutter im nüchternen Vater-Sohn-Verhältnis begründet, ist wohl die Ursache meiner Verhaltensweise. So kann die fehlende Zuneigung auch die neue Stiefmutter nicht ergänzen, aus welchem Grund auch immer. Eventuell ein möglicher Grund für fehlende Wünsche nach wechselnden weiblichen Bekanntschaften. Zum Gegenteil meiner vielen Freunde, die von Blüte zu Blüte eilen und voller Stolz ihrem Freund von tollen Eroberungen berichten.

Meine große Liebe Johanna finde ich schnell im städtischen Getümmel. Wir erleben eine abwechslungsreiche und glückliche Zeit. Der heimlichen Verlobung auf einer Parkbank folgt wenig später die Eheschließung in sehr jungen Jahren. Leider stößt die Heirat nur auf Unverständnis in der väterlichen Welt. Ein trauriger Fehler, der meinem Vater da unterläuft. Wir sind jung und möchten fest entschlossen unser Leben gemeinsam verbringen. Dennoch akzeptiert mein Vater diese Bindung nicht. Seine berechtigten oder unberechtigten Bedenken, gut gemeint, die seinen Sohn vor Fehltritten schützen sollen, geben keinen Spielraum für sinnvolle Toleranz. Unsere große Liebe hat keinen Vorrang. Mein Vater akzeptiert nur scheinbar später das junge Glück.

*

Noch heute sind wir Stolz auf unsere Entscheidung, nur von Liebe getragen, ein unerschöpflicher Halt im Auf und Ab des Lebens.

*

Als junge Facharbeiter beginnen wir unser Leben unter einer „sozialistischen“ Diktatur und der bedrückenden Mangelwirtschaft aufzubauen, die uns noch mehr zusammenschweißt und glückliche Zeiten beschert, wie die Geburt unserer einzigen Tochter. Die deutlich spürbare Vormundschaft des Parteistaates schränkt die vielseitigen Vorstellungen über die eigene Gestaltung des Lebens erheblich ein und lässt wiederholt Unzufriedenheit aufkommen.

Für etwas Unruhe sorgt im Leben junger Männer der achtzehn Monate dauernde Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee. Eine unvermeidbare und nutzlose Zeit, die ich sinnvoll durch ein Studium zum technischen Offizier für Flugzeugtechnik nutzen will, sozusagen aus der Not eine Tugend machen.

Als 1961 der Flugzeugbau in der DDR durch die Tragödien des ersten entwickelten und gebauten Verkehrsflugzeuges 151 eingestellt wurde, verschwinden auch die zivilen Studienplätze. Wer also Flugzeugtechnik studieren will, der muss die Offiziersausbildung zwangsläufig akzeptieren. Eine schwere Entscheidung, denn von der Armee bin ich zukünftig beherrscht. Doch die zweite Liebe, die Flugzeugtechnik, ist einfach zu groß. Zu meinem Erstaunen und unerwartetem Glück entfällt der unumgängliche Parteieintritt als letzte unüberwindliche Hürde. Eine Merkwürdigkeit, die ich gern ertrage.

Was ich meiner jungen Frau und Tochter in der kommenden Studienzeit wirklich aufbürde, wird mir erst klar, als ich monatlich ein Stipendium von einhundertvierzig Mark für den Lebensunterhalt meiner Familie erhalte. Geringste Ansprüche an das Leben und absolute Sparsamkeit, die Johanna perfekt beherrscht, so überbrücken wir die angespannte Zeit.

Hilfe von der Verwandtschaft aus dem Westen trifft manchmal ein. Vielleicht einmal im Jahr zehn DM-West für den Intershop, schon fast eine Sensation. Und nun folgt die aufregende Qual der Wahl, was können wir alles kaufen?

Schon beim Betreten des Ladens genießen wir die gemischten Düfte der westlichen Welt. Da stehen die Waren in den Regalen, die das Herz höher schlagen lassen. Bei allen Höhenflügen besinnen wir uns schnell auf das bisschen Geld im Portemonnaie. Johanna rechnet ununterbrochen. Nach einigen Diskussionen und nochmaligem Nachrechnen steht das Ergebnis fest. Ein Stück Seife, ein Päckchen Kaffee und etwas Schokolade. Als alles bereit auf dem Ladentisch steht, überfällt uns für einen Moment ein glückliches Gefühl.

Auch demütigende Geschenke erreichen uns von der westlichen Verwandtschaft. Verschmutzte Kleidung, die geben wir freundlich zurück. Was denken die Leute über uns, Kultur und Würde haben doch nicht mit geringerem Wohlstand zu tun.

Nach zweijährigem Studium stellt unerwartet eine neue Forderung der Armeeführung meine berufliche Zukunft in Frage. Die neue Verpflichtung lautet: Alle Studierenden dienen auf Lebenszeit in der Armee. Wir sind total überrascht. Ein möglicher Verhandlungsspielraum ist ausgeschlossen, wie üblich in einer Armee.

„Entweder sie unterschreiben die Verpflichtung oder sie beenden ihr Studium“, so heißt es unmissverständlich.

Von einunddreißig Studierenden eines Studienjahres unterschreiben nur elf die neue Verpflichtung. Unvorstellbar ein derart negatives Ergebnis, denn zwanzig Studenten verlassen die „sozialistische“ Armee! Die im Laufe der Studienzeit von den Studierenden wiederholt geführte harte Kritik an den veralteten Strukturen der Offiziersausbildung schlägt also ins Gegenteil um. Das deutlich verunsicherte Offizierskorps übergeht reaktionslos die neuen vorgeschlagenen Wege. Mir scheint, die Herren sind von ihrer gewohnten Denkweise nur schwer abzubringen.

Mit anerkannter Studienzeit und abgegoltener Wehrpflicht verlasse ich nach zwei Jahren die Armee und kehre ins Berufsleben zurück.

„Alles noch einmal gut gegangen“, würde mein Vater sagen.

Im folgenden Ingenieur-Abendstudium über vier Jahre, einschließlich der bereits geleisteten Studienzeit, erreiche ich den Berufsabschluss zum Ingenieur. Natürlich ohne Studiengebühren und weiteren Kosten, ein großer Vorteil für alle Studierenden in diesem Land.

Neue technische Entwicklungen in unterschied lichen Betrieben durchgesetzt, führen zu meiner fachlichen Anerkennung, nur das Weiterkommen als Vorgesetzter bleibt mir versagt. Die strikte Ablehnung der Parteizugehörigkeit und offene, kritische Diskussionen gegen Mangelwirtschaft und Parteipolitik entsprechen nicht den Vorstellungen eines „sozialistischen“ Leiters. So oder ähnlich das Vokabular in dieser Zeit. Meine zukünftige Strategie im Betriebsgeschehen: Die leitenden Genossen sollen meine hohe Fachkompetenz respektieren. Was gleichzeitig einen sicheren Schutz vor politischen Zwängen bedeutet, denn technische Neuerungen brauchen die Genossen, besonders zur positiven Berichterstattung an die höheren Parteiinstanzen.

Einen ganz ungewöhnlichen Weg bietet noch die „sozialistische“ Planwirtschaft für private Initiativen, die so genannte „Feierabendtätigkeit“. Aus einem Neurervorschlag (Vorschlagswesen) wird eine Neurervereinbarung abgeleitet. Diese wiederum ermöglicht eine genehmigte Feierabendtätigkeit, von einer Gruppe Kollegen ausgeführt und vertraglich mit einem Betrieb oder sonstigen Institutionen über das gewünschte Projekt vereinbart. Der besondere Vorteil der vertraglichen Reglung verhilft mir eigene Entwicklungsprojekte durchzusetzen. Wir entwickeln und bauen, auch für Fremdbetriebe, was gewünscht wird:

Küchenentlüftungen, Produktionseinrichtungen bis hin zu unterschiedlichsten Verarbeitungsmaschinen. Alles geschieht nach der regulären Arbeitszeit, ohne den Einfluss von betrieblichen Vorgesetzten. Die Montage erfolgt in einer Scheune meines Neudietendorfer Grundstückes, das später auch dem Flugzeugbau dienen wird. Die ausgesuchten, qualifizierten Arbeiter für die Projekte stammen aus dem Sondermaschinenbau des Großbetriebes Optima Büromaschinenwerk Erfurt. Der Stundenlohn von 5,50 Mark ist gesetzlich festgelegt. Natürlich sind die geleisteten Stunden auf den Feierabend und die Wochenenden begrenzt, so dass die gewonnene Routine bedenkenlos den überraschenden Stasiüberprüfungen standhalten kann.

Übrigens, hier erlebe ich meine ersten Stasiverhöre, eigentlich wohl mehr hinterfragende Gespräche.

Der Bau einer Vakuumziehanlage für Kunststoffmöbelteile funktioniert schon fast wie ein kleines Unternehmen. Ein Polstermöbelbetrieb aus Güstrow akzeptiert meine Konstruktion und erteilt mir völlig freie Hand bei der Beschaffung von Materialien und sonstigen Maschinenteilen. Ein Traum wird mir erfüllt, denn nun handelt der vermeintliche Unternehmer Erbe mit aller Verantwortung und Konsequenz. Das vielseitige Team, bestehend aus dem Meister des Sondermaschinenbaues und anderen wichtigen Kollegen, will diese herausfordernde Aufgabe souverän erfüllen. Monatlich werden die geleisteten Stunden abgerechnet. Die pünktliche Abrechnung und Auszahlung verfolgen einen wichtigen Zweck. Der Meister des Sondermaschinenbaues soll schnell auf entsprechende Aufträge reagieren, was hervorragend funktioniert. Betriebliche Aufträge müssen warten.

Wie gelangen aber die gefertigten Teile in die neu gewählte Montagestätte, „Neue Mühle“, mitten im Zentrum von Erfurt gelegen? Zum Beispiel sollen acht angefertigte Führungssäulen und andere Teile auf einem Einachshandwagen vom Büromaschinenwerk zur Montagestätte transportiert werden. Freundlich die Pförtner am Tor 1 grüßend, gelangen wir unbehelligt aus dem betrieblichen Gelände. Allerdings führt unser Weg nicht wie üblich zum separaten Eingang des Entwicklungsbereiches, sondern wir biegen ab in die Stadt, Richtung „Neue Mühle“. Die vielen Transporte machen uns dem Wachpersonal bekannt, da gibt es keine lästigen Fragen. Normalerweise gelangt niemand ohne besondere Genehmigung mit irgendwelchen Bauteilen aus dem Werk. Alles ist eben nur relativ mit den Kontrollen, undenkbar für die ahnungslosen und verantwortlichen Genossen.

*

Die „Neue Mühle“ produzierte tatsächlich noch in den achtziger Jahren Mehl und Futtermittel. Teilweise wurde eine Schachtturbine zur Stromerzeugung genutzt. Im Mühlenmuseum kann die alte Technik noch heute besichtigt werden.

*

Derartige Projekte steigern natürlich das Selbstbewußtsein der Kollegen. Jeder kann in der Gruppe seine Fähigkeiten sinnvoll in den Bau der Maschine einbringen, zusätzlich lenkt die Arbeit vom betrieblichen Gleichlauf ab.

Das verdiente Geld ermöglicht mir schließlich den Kauf eines Autos vom Typ Lada, eine italienische Fiat-Lizenz, in der UdSSR produziert, wenn da nicht die endlose Wartezeit wäre. Durch gute Kontakte wird diese Zeit von zehn auf sechs Jahre gesenkt. Die Vorfreude ist grenzenlos, dann können wir fast unabhängig zwei bis drei Wochen in den Urlaub reisen, die Unzulänglichkeiten des täglichen Lebens vergessen und die ausgewählten Feriengebiete des Ostens genießen. Damit steht ganz unerwartet ein neuer und erheblicher Kraftakt bevor, denn die wenigen Urlaubsplätze werden nur im einzigen staatlichen Reisebüro in der Stadt vergeben.

Einmal im Frühjahr, an einem vorgegebenen Tag, stehe ich ab vier Uhr früh vor dem Eingang des Reisebüros. Die Ersten stehen bereits seit ein Uhr hier. Die Stunden ziehen dahin, ungeschützt vor Regen oder Kälte. Die verschworene Gemeinschaft erträgt geduldig die Strapazen, denn niemand könnte an dem Vergabesystem etwas ändern. Dann, so gegen neun Uhr, von den Massen in die Halle geschoben, kann der Kampf um den Ferienplatz beginnen.

Die wenigen teuren Auslandsangebote, eine Woche in Bulgarien im Hotel am Goldenen Strand, nehme ich erst gar nicht zur Kenntnis. Meinen sehnlichen Wunsch nach einem Inlandsplatz an die Ostsee erfüllt mir die Dame hinter dem Schreibtisch. Alle vor Stunden erlittenen Strapazen sind damit vergessen.

*

Schon lange überlege ich mir, welchen unabhängigen Ersatz kann ich in der Zukunft für die Ferienplatz-Vergabeschlacht finden. Der Wohnwagen scheint die einzig sinnvolle Alternative. Leider bietet der Markt nur zwei Wohnwagentypen an. Einen Winzling, für lange Reisen kein besonderer Genuss oder eine schwere Kiste, wie üblich, zu hohem Preis und endlos langen Wartezeiten. Eine gelungene Abschreckung für den möglichen Kunden.

Verbleibt nur die einzige Alternative: Der Bau eines Wohnwagens, aus eigenen Mitteln geschaffen. Nach einigen Erkundigungen im Kollegenkreis wird mir bewusst: Da gibt es noch Leute, die das gleiche Ziel verfolgen. Schnell stellt sich heraus, es sind alles improvisationsgeübte Fachleute, die zukünftig eine verschworene Gemeinschaft bilden, mit besten Beziehungen zu Betrieben und Behörden. Jeder übernimmt die Aufgabe, die er fachlich gut beherrscht. Die einen fertigen die Fahrgestelle an und lösen das Problem der behördlichen Zulassung. Andere bauen eine riesige Holzform, als Voraussetzung zur Herstellung der Wohnwagenkunststoffhülle aus einem Stück. Weitere Enthusiasten lösen die Probleme der Materialbeschaffung. Man wird es kaum glauben, nach reichlich einem Jahr steht einer von acht Wohnwagen, nach westlichem Vorbild gebaut, zu Hause auf dem Garagenplatz. Wir sind sehr stolz auf das gelungene Werk.

Der normale, unbefriedigende Arbeitstag im Betrieb hat mich längst wieder eingeholt. Die über Monate gelungene Ablenkung gehört nun der Vergangenheit an.

Den vielen Ideen und dem Willen, ein Stück technischen Fortschritt umzusetzen, der Berufskollegen aufhorchen lässt, steht die zunehmende Mangelwirtschaft und das Unverständnis der Vorgesetzten Genossen unversöhnlich entgegen. Selbst den einfachsten Wirtschaftsgesetzen begegnen sie mit missachtender Naivität und Parteidisziplin. So wirtschaften die Genossen ihr Land in Grund und Boden und niemand kann sie daran hindern.

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Um jeden Preis wollen wir dem persönlichkeitszerstörenden Lebensstil in dieser Gesellschaft entfliehen, dieses Ziel haben wir uns schon lange gesetzt. Endlich wollen wir etwas gegen die unerträglichen politischen Zustände tun und unser Leben in die eigenen Hände nehmen. Die vielen Gedanken bestärken unseren Willen, vielleicht mit einem Flugzeug diesem Regime zu entfliehen.