Im Schutz der Hölle - Guntram Erbe - E-Book

Im Schutz der Hölle E-Book

Guntram Erbe

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Beschreibung

In Nord-Schleswig begann Friedrich Degenhart sein wechselvolles Leben, von christlicher Erziehung geprägt. Die unausweichliche Goldschmiedelehre wurde im Alter von siebzehn Jahren abrupt durch den Beginn des Ersten Weltkrieges abgebrochen. Eine Art Befreiung von den furchtbaren Kriegserlebnissen, Verdun, sollten die erlebnisreichen Wanderungen durch Südfrankreich, Paris und London bewirken. Der Zweite Weltkrieg unterbrach wiederum sein teilweise verwirrendes Berufsleben. Trotz der kaum zu umgehende Einberufung fand Friedrich Degenhart eine zwangsläufige Lösung, geprägt durch die eingebrannten Kriegserlebnisse des Ersten Weltkrieges. Der Einstieg in das damalige Forschungsamt, die geheimste Abhör- und Agentenzentrale des Sicherheitshauptamtes, unter Himmler, ergab im Jahr 1943 die gesuchte Lösung, mit all seinen verwerflichen Konsequenzen.

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Seitenzahl: 306

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die Entscheidung wird getroffen

Die Welt der Familie Degenhard

Umzug in die Zentrale der Brüder und Schwestern

Verantwortung tragen beginnt

Mit siebzehn in den Krieg

Das Leben muss weitergehen

Fluchtpunkt Paris

Im Club Zug nach London

Umweg nach Marseille

Cannes muss sein

Nizza sehen

Einmal Monte Carlo erleben

Im Schatten des Krieges

Auf dem Weg in die Hölle

Eintritt in die Hölle

Die Flucht nach Hause

Weiter zur Familie

Die neue Zeit bewältigen

Vorwort

Als Vater Friedrich Degenhart seinen erwachsenen Kindern in den siebziger Jahren mehr wortkarg seinen Lebenslauf überrechte, überflog sein jüngster Sohn, nur kurz das Stück Papier. Er erwartete keine besonderen Ereignisse.

Nach dem Tod von Vaters Degenhart stieß er mehr durch Zufall wieder auf dessen Lebenslauf. Neben den Berichten über interessante Tippeltouren entlang der französischen Riviera, Paris und London, weckten die Darlegungen über die Anstellung im damaligen „Forschungsamt“ während der Nazi-Zeit sein Interesse.

Die weniger nachvollziehbaren Ausführungen aus dem Lebenslauf führten letztlich zu eigenen Recherchen. Die Inhalte der Bücher vom Holocaust-Leugner David Irving, „Das Reich hört mit“, sowie von Günther W. Kellermann, „…und lauschten für Hitler“, veranlassten ihn einerseits, unter dem Blickwinkel der möglichen verdeckten Verherrlichung des NS-Regimes, zur Vorsicht seiner Bewertungen. Anderseits gaben die deckungsgleichen Schilderungen, im Vergleich zum Inhalt des Lebenslaufes, wichtige Anhaltspunkte.

Schon die ersten Recherchen-Ergebnisse machten schnell klar, dass Friedrich Degenhart damals eine fragwürdige Tätigkeit im Forschungsamt ausübte, denn 1943, übernahm das Reichssicherheitshauptamt unter Himmler das Forschungsamt bis zum Ende der Naziherrschaft. Die verwerflichen Arbeitsweisen des Reichssicherheitshaupt-amtes wurden somit in die Abteilungen des Forschungsamtes übertragen.

Die entstandenen Bedenken wurden bestärkt, als nach Jahren ein Familienmitglied kurz erzählte, dass Friedrich Degenhart in einem Gespräch von großer Schuld aus der Vergangenheit berichtete, die er auf sich geladen habe. Über sein schändliches Tun sprach Friedrich Degenhart bis zu seinem Tode nicht mit seiner Familie oder im Verwandtenkreis. Hoffte er, dass seine schändlichen Taten nach und nach im Nebel der Vergangenheit versinken würden?

Die Entscheidung wird getroffen

Andreas Degenhart und Christine, seine Ehefrau, schlenderten voller Kauflust durch das Zentrum von Erfurt. Ein neues Sakko hatte bereits von Andreas das Portmonee strapaziert. Da tauchte „Buch-Navel“ auf.

„Lass uns doch mal schauen, vielleicht finden wir eine interessante Neuerscheinung“, schlug Christine vor.

Also hinein in den Buchladen. Der junge Mann, wohl einer der Verkäufer, führte seinen interessierten Kunden, nach dem Hinweis von Andreas auf Neuerscheinungen, gleich gezielt zu einem Bücherstapel. Christine, die eigentlich die Abteilung Lyrik im Auge hatte, folgte schweigend. Der Mann griff ein Buch aus dem Angebotsstapel, wiegte es in seiner Hand und meinte:

„Das ist ein sehr aufschlussreiches Buch über das Leben von Robert Havemann, dem Regimekritiker. Sie wissen, wen ich meine?“

„Ja, ja“, antwortete Andreas nachdenklich. „Schließlich waren wir ehemalige DDR-Bürger.“

Unbehagen löste die Antwort in seinem Inneren sofort aus. Es klang, als ob Christine und Andreas zu diesem damaligen Parteivolk gehörten, mit all seiner verräterischen Überwachungspolitik. Sollte man nun jeden Menschen aufklären, dass wir nicht zu denen gehörten und diesem Partei-Staat schon immer kritisch gegenüberstanden? Im gleichen Moment sah Andreas längst ein, ziemlich sinnlos Aufklärungsarbeit zu leisten und verwischte die Vergangenheit.

Stattdessen erinnerte er sich kurz an Havemann. Eine schillernde Figur, genau genommen doch umstritten als Regimekritiker, damals in der DDR. Havemann, der wohl mehr durch westliche Journalisten, später zu einem führenden Oppositionellen hochstilisiert wurde. Havemann gehörte vielmehr zu den Menschen oder zu der Parteischicht in Berlin, die durch ihre Beziehungen zur Staatsicherheit und Parteioberen, entsprechend von der Partei der Arbeiterklasse hofiert, zu lukrativen Positionen, beispielsweise in Instituten oder Ministerien gelangten, ungeachtet der nazistischen Vergangenheit von Havemann.

Sein späterer Schwenk in der Politik, denn es bröckelte schon lange ideologisch und wirtschaftlich an allen Ecken der DDR, weckte in ihm den Traum vom „ehrlichen Sozialismus.“ Keine Diktatur durch einen Parteiapparat, ohne ständig das Volk durch einen Sicherheitsapparat zu bespitzeln, ohne Armut im Volk, kostenfreies Gesundheitswesen, mietfreies Wohnen, Träume die wohl Träume bleiben werden. Er widersprach plötzlich seiner Partei der Arbeiterklasse, wo die Partei doch immer Recht hatte. Schlussfolgernd verlor er von heute auf morgen sämtliche Privilegien und Positionen. Er wurde aber nie der wirkliche Oppositionelle, nie eine Führungskraft im Kampf gegen diesen Partei-Staat, so jedenfalls mein Verständnis über Havemann.

„Entschuldigen Sie, möchten Sie das Buch?“ „Ja, natürlich. Ich dachte gerade über diesen Mann nach.“

„Sein Sohn hat das Buch geschrieben. Ich kann es Ihnen wirklich empfehlen“, wiederholte der Verkäufer etwas hastig, denn neue Interessenten standen bereits vor dem Bücherstapel.

Das Interesse von Christine und Andreas war geweckt. Ihr Entschluss stand fest, wir kauften das Buch.

„In drei Wochen findet hier im Laden eine Lesung von Florian Havemann statt“, schiebt der Verkäufer nach.

„Das werden wir uns natürlich nicht entgehen lassen“, frohlockt Christine.

„Wissen Sie, in letzter Zeit kam bei uns die Kultur ohnehin etwas zu kurz.“

„Ja, ich kenne das, die Zeit“, meint der Verkäufer und verschwand mit dem Buch Richtung Kasse.

Christine und Andreas werden also den Sohn, Florian Havemann, kennenlernen, das heißt, etwas über die Geschichte seines Vaters Robert Havemann erfahren. Unerwartet erreichte sie nach einigen Tagen die Nachricht, dass der Termin der Lesung um drei Wochen verschoben wird. Ein Grund wurde nicht genannt.

„Merkwürdig ist das schon, Christine!“

„Ob wir die Geschichte seines Vaters nun früher oder später hören, Hauptsache die Lesung findet statt. Den Grund erfahren wir vielleicht vor der Lesung.“

Nun war es endlich so weit. Uns überraschte die große Anzahl von Zuhörern. Die Vergangenheit war offensichtlich noch nicht erloschen. Unverkennbare, Anspannung durchzog den Raum, denn das in Aussicht stehende Unbekannte steigerte die Erwartungen. Mehr nebenbei blickte Andreas durch die Reihen. Automatisch begann er zu zählen. Dann schätze er doch lieber. So dreihundert Stühle waren wohl besetzt.

Florian Havemann erschien tatsächlich. Er schritt mitten durch das wartende Publikum und schaute nur geradeaus Richtung Podium. Seine von kleinen Locken durchzogene, voluminöse Frisur weckte manchen Vergleich, von leisem Gemurmel in den Zuhörerreihen begleitet. Man gestattete ihm natürlich dieses typische Künstlerflair, das zusätzliche Aufmerksamkeit weckte. Stehend, das Podium von beiden Seiten gefasst, als ob es das auf ihm liegende Werk nicht tragen könnte, begann Florian Havemann aus seinem Buch zu lesen. Zwei Stunden las er wohl. Mitreißend schilderte er das Leben seines Vaters in viele Fassetten verpackt, der jeweiligen Politik der Regierenden damals angepasst. Die Zuhörer lauschten angetan, ohne störendes Geschwätz. Seine Kommentare, hin und wieder in einer Lesepause eingeschoben, wiesen da plötzlich auf irgendwelche Konflikte aus dem geschichtlichen Hintergrund hin, die aufmerksame Spannung unter den Zuhörern weckte, aber niemand konnte sie wirklich deuten.

Florian Havemann schlug das Buch zu, machte eine Pause, wobei sein Blick selbstbewusst über seine beeindruckten Zuhörer ging. Die Lesung war beendet. Nun hofften die Zuhörer, von vielen Fragen bewegt, aufschlussreiche Erklärungen zuhören, einschließlich dem folgenden Buchverkauf mit dem Signum von Florian Havemann. In diesem Moment stand der Moderator von einem der vorderen Plätze plötzlich auf und begann zu sprechen:

„Meine Damen und Herren, es tut mir sehr leid. Die erste Auflage ist von einem gerichtlichen Verkaufsverbot belegt, sehr bedauerlich, aber unabdingbar.“

Ein Raunen ging durch die Zuhörerschaft. Irritiert versuchte man das Gesicht von Florian Havemann zu finden, der noch unbewegt vor dem Podium stand. Er erkannte wohl, höchste Zeit Klarheit für seine Gäste zu verschaffen.

„Verehrte Zuhörer, bestimmte Personen, die ich in meinem Werk ausführlich dargelegt habe, Namen möchte ich aus verschiedenen Gründen nicht nennen, haben dem Anschein nach, die niedergeschriebene Wahrheit aus der Vergangenheit nicht verkraftet. Alte Seilschaften, unter anderem aus den ehemaligen DDR-Medien, verbündeten sich mit dem Ziel eine ernstzunehmende Abwehrfront gegen die Inhalte des Buches aufzubauen. Genügend Trittbrettfahrer glaubten nun auch ihre Rachegelüste auf diesem Weg befriedigen zu können. Natürlich schmerzt mich zu erleben, wenn die bewusst in den Hintergrund gedrängte und belastende Vergangenheit, schwarz auf weiß nachzulesen, beschnitten werden könnte.“

Wieder ging ein Raunen durch die Zuhörerreihen, doch niemand möchte in dieser heiklen Situation Florian Havemann mit Fragen belästigen. Was Florian Havemann vor seinen Zuhörern nur am Rande erwähnte, betraf den entstandenen seelischen Riss, der nach der Offenlegung des Lebensweges seines Vaters mitten durch die Familie und dem Freundeskreis ging. Leicht erregt beteuerte Florian Havemann seinen Zuhörern:

„Alles wurde gewissenhaft und nach bestem Wissen recherchiert.“

Wollte Florian Havemann seine niedergeschriebenen Wahrheiten nachträglich entschuldigen? Hatte er anfangs die eventuell streitbaren Reaktionen nicht bedacht? Oder war der Zwang, die erlebte Vergangenheit niederzuschreiben, größer als alle Bedenken gegenüber der Familie? Die Zuhörer spürten in seiner geänderten Gestik, wie auch jetzt dieses belastende Thema nicht spurlos an ihm vorüber ging.

Das eben Dargelegte aus seinem Buch, die Entscheidung über das Leben seines Vaters und seiner Familie zu schreiben, ungeachtet feindseliger Reaktionen, ließ Christine und Andreas aufhorchen. Ihnen wurde klar, über das auf und ab im Leben einer intakten Familie zu berichten ruft nur wenige Bedenken hervor. Wenn da aber jemand vermeintlich ausscherte, den guten Geist der Familie belastet, verursachte anhaltendes Unbehagen. Die Zeit für klärende Gespräche zwischen Andreas und Vater Friedrich war längst verstrichen. Die Toten soll man ruhen lassen, heißt es. Doch quälende Gedanken durch die Geheimnisse des Toten hervorgerufen, verursachten besonders bei Andreas immer wieder Überlegungen in die noch unbekannte Vergangenheit seines Vaters. Die anhaltende Unruhe zwang ihn schließlich zu recherchieren, wenn möglich alles in Erfahrung zu bringen und Beweggründe aufzudecken. Ihm wurde bald klar, da lag viel Dunkles in der Vergangenheit seines Vaters. Die Wahrheit, sie konnte auch zerstören, Schmerzen hervorrufen und neue Probleme schaffen. Natürlich bestand auch hier die Gefahr, dass das Offengelegte zu einem durchdringenden Aufschrei in der Familie, in der Verwandtschaft und in seiner Kirche, der Brüdergemeine, unter den Brüdern und Schwestern führen konnte. Ein geachteter Christ in der Gemeinschaft, gab es da wirklich die dunkle eine Vergangenheit? Den Zweiflern schlug dann die Stunde. Das ist unmöglich, diese Schwarzmalerei, heißt es dann. Auch bei allem Recherchieren, viel Trauriges wird in der Vergangenheit für immer verschollen bleiben. Trotz möglichen Unverständnisses und gewollten Missverständnissen, Andreas will die Vergangenheit seines Vaters ergründen, ihn wirklich verstehen, warum er so als Christ handelte und seine vielleicht missverständlichen Beweggründe begreifen und aufklären.

Die Welt der Familie Degenhart

In Christiansfeld lebte Familie Degenhart, die Eltern von Friedrich und seinen Geschwistern Walter, Hans und Agnes, die kleine Schwester.

Die Kleinstadt liegt im südlichen Dänemark, unweit von Schleswig-Holstein. Bewaldete Hügel dominieren das friedliche Landschaftsbild, im Gegensatz zur wechselvollen Geschichte, die über das Land gnadenlos hinweg zogen.

Das friedliche Zusammenleben von Dänen und Deutschen in Nordschleswig geriet immer wieder in die Fänge der großen Politik. An die kriegerischen Handlungen von Deutschland und Österreich (Deutscher Bund) auf der einen Seite und Dänemark auf der anderen Seite, verbunden mit dem entscheidenden Kampfgebiet, der Düppeler Schanze, sei erinnert. Die Auseinandersetzungen in der deutsch-dänischen Politik nahm Familie Degenhart nur am Rande wahr, wie allgemein üblich in dieser Zeit. Politik, das war ja in erster Linie Sache der Politiker, das Volk hatte die Ergebnisse dieser Leute hinzunehmen.

In dieser wechselvollen Zeit verwaltete Großvater Thomas das Brüderhaus in Christiansfeld. Als Organist begleitete er den Gesang der Brüder und Schwestern jeden Sonntag zu den Gottesdiensten oder Gebetssingstunden in der Brüderkirche. Brüderkirche? Dann finden wir noch Schwester- und Brüderhäuser? Und bedingt durch ihre Glaubensauffassung, einen prägenden Umgang, so beispielsweise die Anrede als Bruder oder Schwester. Klare Hinweise auf die ansässige Brüdergemeine. Die ersten Anfänge der Brüderkirche gehen auf eine Stiftung reformatorischer Brüderschaften zurück. Sie existierten bereits im Jahre 1376 unter den Patrons Hieronimus und Gregor als Gründer in den Niederlanden. Abgesehen von den anhaltenden Glaubensauseinandersetzungen gegenüber der katholischen Glaubenswelt, fanden sie zeitweise Anerkennung durch mehrere Päpste.

Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts begann ein Wandel in der Glaubensauffassung, bedingt durch die aufstrebende Reformation.

Die Gründung der Brüderunität 1457 orientierte sich an dem Reformator von Jan Hus. Der niedergeschlagene Aufstand der Hussiten, die Folgen des 30-jährigen Krieges und die damit verbundene Unterdrückung der nicht katholischen Glaubensfreiheit, schafften in der angestammten Heimat der Brüder und Schwestern beispielsweise in Böhmen und Mähren eine unerträgliche Situation für ihre freie Glaubensausübung. Der ständige politische Druck zwang schließlich Brüder und Schwestern ihre Heimat zu verlassen. Das Gebiet der Oberlausitz war unter anderem ihr Ziel und neue Heimat.

Das unermüdliche Wirken von Graf Zinzendorf verhalf schließlich zur Aussöhnung aller Glaubensrichtungen am 13.August 1727 in Berthelsdorf, dem Stiftungstag der erneuerten Brüdergemeine, bestimmend für das zukünftige Handeln der Brüder und Schwestern. Und dafür gab und gibt es viele Regeln, die schlüssig die „Seele“ der Freikirche offenbart. Und genau diese Regeln hatten den Charakter von Mutter Sophie geformt und bestimmten letztlich ihr Verhältnis zu anderen Menschen. Diese Regel oder auch Verbote betrafen das Karten- und Würfelspiel. Wie sollte nun ein Gläubiger die Forderung seiner Freikirche werten und verstehen? Das Herausfordern des Glücks ohne Gott scheint der Grund.

Kein Wunder, amüsante Bälle und Tanz werden verpönt. Eine merkwürdige Regel betrifft die allgemeine öffentliche Geselligkeit. Hier soll offensichtlich verhindert werden, dass die Geschlechter unkontrolliert aufeinandertreffen. Ein Spruch galt für junge Angehörige der Brüdergemeine (Glieder) in der Öffentlichkeit:

„Schwestern schlagt die Augen nieder, denn es kommen led’ge Brüder.“

Auf dem Brüderfriedhof finden wir noch heute eine Besonderheit, nur schlicht liegende Grabsteine. Alle Dahingeschiedenen sollen vor Gott gleich erscheinen. Dem Reichen wird also keine Gelegenheit gegeben, sich mit einem Prunkgrabstein hervorzutun. Das Grab ist von zierendem Efeu umschlossen. Später dominiert Graslandschaft zwischen den Gräbern, so ruhen die Gräber Jahrhunderte und zeugen von der Gründerzeit der Brüdergemeine. Das Grabfeld wird nie geräumt, wie man heute so sagt. Warum ist das so? Die ruhenden Brüder und Schwestern warten auf das Jüngste Gericht, auf die Erlösung durch ihren Heiland. Und dann finden wir noch etwas Besonderes, das Los. Kaum zu glauben. Die Brüder und Schwestern nahmen das Los für oder gegen die zukünftige Ehefrau oder bei sonstigen wichtigen Entscheidungen in der Gemeinschaft. Man glaubte, dass Gott über das Los eine Entscheidung traf. Erst 1889 wurde das Los in der Brüdergemeine abgeschafft.

Zu Zeiten von Zinzendorf, als Mitbegründer der Brüdergemeine, verehrten Gläubige noch mystische Tierwesen. Das Blutwundenfischlein, die im Blut Christi schwammen oder das Wundenbienlein, das den Bluthonig aus dem Blute saugte und das Kreuzvöglein tröstete Jesus am Kreuz. Natürlich zeigt sich hier eine Form von tiefer Volksfrömmigkeit. Ein Ausdruck der besonderen Verbundenheit mit dem Leidensweg Jesu. Selbst Zinzendorf war nach anfänglicher Duldung dieser Verniedlichungskult zu viel und verbot deren Pflege. Ein Überbleibsel gibt es noch heute, das Symbol der Brüdergemeine, das Lämmlein mit dem Kreuz.

Viele Regeln sind natürlich im Brüdergemeinleben längst außer Kraft gesetzt aber einige bestehen noch. Belassen wir es bei dem Genannten, doch der Ursprung der schwesterlichen und brüderlichen Denkweise stimmt nachdenklich. Ob noch Spuren in den Köpfen der heutigen Brüder und Schwestern existieren? Ausschließen kann man es wohl nicht.

Für den Gottesdienst trug Mutter Sophie ein hellbeigefarbiges Seidentuch mit umlaufend langen Fransen über die Schulter gelegt, wobei eine Ecke des Tuches mittig auf dem Rücken lag.

Den Kopf zierte eine zarte, anliegende weiße Haube von einem breiten Seidenband unter dem Kinn gehalten. Die Farbe der Seidenbänder kennzeichnete den so genannten Chor (Gruppe). Feuerrote Bänder trugen die jungen Mädchen bis achtzehn Jahre, die Ledigen blassrote, Ehefrauen blaue und Witwen weiße Bänder.

Das Gotteshaus oder Kirche betreten die Ehefrau durch den linken und der Ehemann den rechten Eingang. Die Trennung war so gewollt, natürlich auch für die Mädchen und Jungen.

Am Eingang des Kirchensaales angekommen, überreichte ein ehrenamtlicher Saaldiener das Gesangbuch der Brüdergemeine. Alles übertönend, läutet eine Glocke aus dem kleinen Turm zu Beginn des Gottesdienstes. Der Turm befindet sich, im Gegensatz zu anderen Kirchen, mitten auf dem Giebel als zentraler Punkt über dem Kirchendach, ein äußeres unverwechselbares Merkmal einer Brüderkirche.

Im Kirchenraum nahmen auf weißen Bankreihen durch einen Mittelgang getrennt, links die Frauen und rechts die Männer Platz. Auf der rechten Empore, seitlich im Kirchenraum befinden sich die Orgel und der Platz für den Kirchenchor. Die dünn gezogenen, vergoldeten Verzierungen, außen an den Emporen, zeigen den einzigen Schmuck im weißen Kirchenraum, der dem künstlerischen Prunk katholischer Kirchen weit unterlegen ist. Die Plätze auf der gegenüberliegenden Empore sind wohl mehr den Gästen oder Leuten vorbehalten, die während dem Gottesdienst nicht unbedingt gesehen werden wollten.

Am Ende des Mittelganges stößt man auf ein Podest, die Grundlage des rechteckigen Altares von einem dunkelgrünen Tuch überdeckt. Nur an Festtagen zieren weiße Tücher und Bänder, teilweise bestickt, die dunkelgrünen Flächen. Der schlicht wirkende Kirchensaal ist so gewollt, wo Schwestern und Brüder Kraft schöpften und Gott näherkommen. Von der brüderlichen Glaubenswelt umgeben, verbrachte Familie Degenhart im Brüderhaus in Christiansfeld ein einfaches aber zufriedenes Leben. Der große Garten hinter dem Haus sorgte für reichlich Gemüse. Das nähere Umfeld des Bahnhofsgeländes waren natürlich die bevorzugten Spielplätze für die Kinder. Die verkehrende Kleinbahn endete genau hier. Sie fuhr zwar nach Fahrplan, aber so genau nahm es der Lokführer mit der Pünktlichkeit nicht. Die Geschwindigkeit bot für spielende Kinder kaum eine große Gefahr, dennoch warnte Mutter Sophie immer wieder die Kinder, das Bahngelände zu meiden. Dieses Verbot machte das Gelände natürlich umso reizvoller.

Die abgewohnte Wohnung im Brüderhaus, leicht zu erkennen an den verrundeten Kanten der alten Stufen des Treppenhauses, die wiederum ungeachtet des scheinbaren Nachteils, für Friedrich und seine Geschwister ein besonderes Vergnügen bot. Auf dem Hosenboden rutschten sie gemeinsam das Treppenhaus hinunter. Das laute Hallo verriet schnell der herbeieilenden Mutter ihr zweifelhaftes Vergnügen. Verständlicherweise musste das Treiben sofort beendet werden:

„Kinder, lasst bitte den Unfug, euere Hosenböden werden ganz schmutzig, ihr macht mir nur Arbeit.“

„Mama noch einmal, bitte“, ruft die kleine Tochter.

Und schon rutschten sie wieder mit lautem Hallo die Treppe herunter, für heute das letzte Mal. Brüderhäuser boten noch einen weiteren, etwas zweideutigen Frohsinn für Kinder. Von den breiten Fluren gelangte man, wie üblich bei allen Brüderhäusern, in die Zimmer der alten Brüder, die hier ihren Lebensabend verbrachten. Der Flur war mit feinem Seesand bestreut. Hier lockten kleine Muscheln, unwiderstehlich für Kinder. Der Sand in den Spucknäpfen bot dieselben Geheimnisse, die natürlich ohne Bedenken gelüftet wurden:

„Hans, schau mal hier, die Muschel hat richtige bunte Streifen!“, rief die kleine Schwester.

„Und meine schillert so schön, schaut mal!“, rief begeistert Friedrich.

Die vielen Unternehmungen der Kinder, die den Erwachsenen natürlich verborgen blieben, sorgten für abwechslungsreiche und spannende Stunden. Lange Weile gab es selten. Zur Freude seiner Geschwister hatte Friedrich die meisten und oft sehr ungewöhnlichen Ideen. Kollisionen mit der Erziehung waren da kaum auszuschließen.

So machte Friedrich an einem warmen Sommertag den Vorschlag:

„Wir könnten doch da drüben auf den Holunderbüschen hinter dem Haus die bunten Schnecken von den Blättern sammeln?“

„Ja!“, rief begeistert die kleine Schwester. „Und dann setzen wir sie auf das Mistbeet-Fenster und lassen die Schnecken um die Wette laufen.“

„Klasse meinte Walter“, und schon stürzten alle Richtung Holunderbüsche los.

Immer wieder bestaunten sie die unterschiedlich grellen Farben der Schneckenhäuser.

„Guck mal, die mit den grünen Streifen ist die Schönste!“

„Die ich gefunden habe ist viel schöner!“

„Und meine, mit den gelben Streifen ist noch schöner!“, stellte Friedrich fest.

So ging es zwischen den Kindern auf den Weg zu dem Mistbeetfenster hin und her. Jeder fand natürlich, er habe die Schönste. Nun befanden sich alle Schnecken in einer Reihe auf dem Fenster. Doch die Tiere bewegten sich sofort kreuz und quer über die Scheiben. Sie hatten wohl die Wünsche der Kinder missverstandenen.

„Lass sie doch laufen“, rief Friedrich zu Hans, der schon fast verzweifelt die Tiere in einer Reihe halten wollte.

Plötzlich machte das Durcheinander mehr Spaß, als der beabsichtigt geordnete Wettlauf. Verständlich, wenn gerade Schnecken in ihrer besonders ruhigen Gangart den Dienst verweigerten. Später fanden sie in irgendwelchen Schachteln ein neues zu Hause. Die Eltern hörten von alledem nichts. So blieb ihnen auch die Ursache für die hin und wieder auftretenden merkwürdigen Gerüche im Kinderzimmer verborgen.

Besonders aufregend fanden die Kinder Kutschfahrten zum Strand. Leider ein seltenes Vergnügen, denn nur dann, wenn Bauer Franz sie zur Kutschfahrt einlud. Der Strand, ein Paradies für alle. Unendlich viel gab es da zu entdecken und die Eltern saßen weit weg im Gras. Gemeinsam suchten die Kinder am Strand nach etwas Interessantes.

„Da liegt ein Stück Holz, das sieht aber komisch aus, fast wie eine Figur“, stellte Hans fest.

„Und dort liegt ein toter Fisch“, rief aufgeregt Walter.

Mit einem Stöckchen drehte er den Fisch um und stellte fest:

„Er ist nicht verletzt, woran mag der gestorben sein, rätselte Hans laut.“

„Vielleicht hatte der Fisch etwas Giftiges gefressen, er ist so aufgebläht?“

Und schon lenkten sie angeschwemmte Muschelschalen ab, die ganz in der Nähe von der schwachen Brandung hin und her bewegt wurden. „Die nehmen wir mit“, schlug Friedrich vor. Verständlich, dass so manche Fundstücke in den Hosentaschen der Kinder verschwanden und später auf der Rückfahrt wieder hervorgeholt und gemeinsam mit den Eltern bewundert wurden.

Oft ging es aufgeregt auf der Rückfahrt zu, da das Geratter der Kutsche, zur Freude der Kinder, plötzlich Kolkraben aufschreckte, die in den niedrigen Bäumen zu beiden Seiten des Weges bereits ihr Nachtquartier bezogen hatten. Laut krächzend flogen sie im großen Bogen davon, um nach kurzer Zeit wieder dort zu landen. Aus dem Hintergrund zauberte der ungewöhnlich orange scheinende Mond zusätzlich unvergessene Bilder für die Kinder.

Umzug in die Zenrale der Brüder und Schwestern

1904 endete das freie Kinderparadies. Die Eltern übersiedelten nach Herrnhut, sozusagen in die Zentrale der Brüdergemeine. Für die Kinder wird es aufregende Erlebnisse auf dieser Reise geben, ebenfalls für die Eltern, die allerdings noch niemand ahnen konnte.

Nun saß die Familie in der Kleinbahn. Der erste Moment der Ruhe nach den Umzugsaufregungen für Mutter und Vater. Die Kleinbahn bummelte wie üblich scheinbar grundlos dahin, so dass Vater Thomas Unruhe packte:

„Wenn der Lokführer weiter so bummelt, kommen wir viel zu spät in Hamburg an!“

„Du kannst an der Zuckelei nichts ändern!“, meinte lächelnd Mutter Sophie.

„Am liebste würde ich auf die Lok steigen und ein paar Schaufeln Kohle auflegen und dem Zug Beine machen!“, meinte Vater Thomas verärgert.

Mutter Sophie staunte, so erlebte sie ihren sanften Organisten noch nie. Und genau so, wie Vater Thomas die Verspätung voraussagt hatte, geschah es. Den letzten Anschlusszug in Hamburg-Altona verpassten sie. So standen sie für einen Moment etwas ratlos auf dem Bahnsteig und überlegten, bis Mutter Sophie die Initiative ergriff und vorschlug:

„Vater, Du gehst am besten gleich los und suchst in der Nähe vom Bahnhof ein preiswertes Hotel.“

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, ging Vater Thomas los. Also stand zwangsläufig eine aufregende Übernachtung in einem der vielen Hotels in der Nähe des Bahnhofs bevor. Als die Kinder die erfreuliche Botschaft vernahmen, ergriff sie grenzenlose Begeisterung, denn sie ahnten die vielen Abenteuer, die noch im Verborgenen lagen.

„Ist das wahr?“, fragte ungläubig Friedrich? Wir übernachten in einem Hotel?“

„Ja, mein Sohn!“

„Hurra, wir schlafen in einem Hotel!“, rief nun Walter vor Begeisterung.

Verständnis zeigten die Eltern über das nun nicht enden wollende Geplapper, schließlich übernachteten die Kinder zum ersten Mal in einem richtigen Stadthotel und dazu noch in einer Großstadt.

In verschiedenen Hotels hinterfragte Vater Thomas nach den Übernachtungspreisen. Schräg gegenüber vom Bahnhof fand er schließlich ein preiswertes Hotel. Während Vater Thomas die Formalitäten schnell erledigte, saßen bereits die Kinder auf den weichen Treppenläufern des Treppenaufganges. Einhellig stellten sie fest:

„Solche Läufer müssten wir auf der Treppe auch zu Hause haben.“

Dabei wischten sie, ja streichelten fast zärtlich, wie über ein Katzenfell, den Läufer mit ihren Händen. Der Portier schaute lächelnd zu den Kindern hinüber, denn diese Läufer zogen Kinder immer wieder magisch an. Vater Thomas winkte mit dem Schlüssel. Es ging die Treppen hinauf. Die Kinder eilten, ja stürzten den Eltern voraus. Den Fahrstuhl hatten sie im Eifer wohl übersehen. Alles wirkte so vornehm, sauber und fremd. Natürlich rannten sie erst einmal, in ihrem Übereifer, eine Etage zu weit.

„Kinder kommt zurück, hier ist unser Zimmer!“, rief Mutter Sophie und öffnete die Zimmertür.

Schon stürmten die Kinder voran, um das Zimmer sofort zu inspizieren. Die Einrichtung bot nichts Außergewöhnliches. Sie rannten weiter ins Bad. Die große Badewanne wurde bewundert. Zwar hatte sie ein wenig von ihrem ursprünglichen Glanz verloren, was aber den Wunsch auf ein baldiges Bad kaum schmälerte.

„Ob wir alle in der Wanne Platz haben?“, fragte Walter nachdenklich.

„Aber nicht alle auf einmal“, meinte Friedrich lachend.

Weiter ging es auf den Balkon. Da überraschte der weite Blick vom vierten Stock in die Stadt. Alles beeindruckte sie sehr, das Neue und Unbekannte. Die Eltern folgten ebenfalls auf den Balkon. Vater Thomas erinnerten verschiedene Gebäude an früheren Zeiten in Hamburg, besonders der alles überragende Michel. Er schwieg aber, da die Kinder staunend die unbekannten städtischen Bilder genossen und sich über die kleinen Menschen auf den Bürgersteigen amüsierten

„Schaut mal, da fährt eine Straßenbahn“, rief die kleine Schwester.

„Die fährt auch nicht schneller als unsere Kleinbahn“, stellte Walter fest.

Interessiert sahen alle eine ganze Weile den Bahnen nach.

„In so einer großen Stadt kann man bestimmt viel erleben“, äußerte Friedrich.

Jede neue Beobachtung wurde lautstark untereinander mitgeteilt. Dieses Durcheinander ertrugen die Eltern mit beharrlichem Schweigen.

„Hier würde ich gerne wohnen“, sagte Friedrich spontan, von den städtischen Bildern anscheinend überwältigt.

Seine Geschwister blickten ihn nur ungläubig an. „Und die vielen Menschen und der Lärm würden Dich nicht stören?“, gibt Vater Thomas zu bedenken.

„Nein“, antwortete Friedrich überzeugt. Hier ist es so ganz anders, hier kann ich so viel Neues erleben.“

Vater Thomas staunte, wie konnte sein Sohn schon jetzt solche Wünsche äußern. Diese Neugierde, von wem auch immer geerbt, wird ihn später zu Tippeltouren durch viele Länder führen.

Aus Sparsamkeitsgründen hatten die Eltern nur ein Dreibettzimmer genommen, zumal das dritte Bett ohnehin eine einfache Aufbettung bot, geraderecht für Kinder. Nach einigem Hin und Her zwischen den Kindern und Eltern stand fest, welche Geschwister im dritten Bett gemeinsam schlafen werden. Ein Besitz ergreifender Sprung von Friedrich ins Bett und sein lautes Hallo, besiegelte die Bettverteilung. Nun rief Mutter Sophie das erste Kind ins Bad. Einer nach dem anderen folgte und genoss den nassen Luxus, denn eine Badewanne richtig voll Wasser, das hatten sie noch nie erlebt. Einmal wurde sogar das Wasser gewechselt. Die Planscherei wollte kein Ende nehmen bis Mutter Sophie ein Machtwort sprach:

„Bitte seit leise. Nebenan wohnen auch Hotelgäste, die bestimmt Ruhe haben möchten. Ihr geht jetzt alle gleich ins Bett, es ist spät genug.“

Noch einen Höhepunkt verkündete Mutter Sophie nachdem endlich Ruhe eingekehrt war:

„Da der Zug morgen erst gegen Mittag fährt, besuchen wir den Hagenbeck-Zoo.“

Spontan jubelten die Kinder:

„Es geht in den Zoo! Oh, das ist ja herrlich!“

In großer Vorfreude begannen sie vorausschauend in ihren Betten liegend, über diese und jene Tiere zu spekulieren. Die fremde Umgebung verhinderte ohnehin den gewohnten Schlaf, so dass sich die Eltern an den lustigen und weitblickenden Tiergeschichten beteiligten. Der Stoff für Träume im späten Schlaf.

Der Zoobesuch bot, wie erwartet viel Aufregendes, wobei die Tiere immer wieder im Mittelpunk standen. Allerdings ganz anders als am Abend vorausgesagt. Später im Zug berichtete Friedrich:

„Habt Ihr gesehen, wie die Elefanten immer wieder den Sand mit ihrem Rüssel auf ihren Rücken warfen und wie sie zur Begrüßung mit ihrem Kopf hin und her schaukelten.“

So hatte jeder sein Lieblingstier gefunden. Zwar verspätet, aber zufrieden mit vielen Erlebnissen im Kopf, kam die Familie schließlich in Herrnhut an. Insgeheim dankten die Kinder dem Lokführer über die Zugverspätung der Kleinbahn, denn nur er hatte die aufregende und interessante Reise ermöglicht, darin waren sich wohl alle einig.

Die folgende Kinderzeit in Herrnhut verlief ebenso schön und aufregend, wie zuvor in Christiansfeld, natürlich mit vielen Tieren und kleinen Abenteuern. Die Wohnung im Brüderhaus bot einen entscheidenden Vorteil für die Familie: Der Verwalter wohnte mietfrei. Dessen ungeachtet war das Geld ständig knapp, denn das kleine Gehalt eines Organisten konnte kaum die Familie ernähren. Spielzeug kaufen, ein undenkbares Erlebnis für die Kinder. Sie lernten dafür frühzeitig den großen Garten oder die Wiesen und den Wald in ihre Spiele ideenreich einzubeziehen. Da gab es einen Lieblingsbaum, der eine herrliche Sicht über den Garten bot, ohne gesehen zu werden. Oder der geheime Treffpunkt am Wiesenrein, genau in einem Heckenrund. Dieses Versteck liebten die Kinder ganz besonders. Hier tauschten sie Ideen aus und planten die nächsten Unternehmungen.

Vater Thomas als ehemaliger Apotheker, weckte frühzeitig das Interesse der Kinder für die Schönheiten der Natur. Er öffnete ihnen praktisch die Augen für die vielen bunten Blumen und Kräuter, die auf den Wiesen aus der Ferne einzeln oder in bunten Flächen entgegen leuchteten. Der Gesang eines Vogels, der aus einer weiß blühenden Hecke drang, wurde ebenso gleich erläutert:

Na, wer singt denn da?“

„Es ist eine Gartengrasmücke, die haben wir schon oft gehört“, stellte Friedrich selbstsicher fest.

Schweigend vernahm Vater Thomas die Antwort und blinzelte zu Friedrich hinüber, bereits überzeugt, irgendwann eine Vogelstimme zu hören, die sein Sohn nicht erraten kann. Aber allgemein überraschten die Fragen nach Vogelstimmen die Kinder kaum, denn der unterschiedliche Gesang aus Hecken und Feldern war schließlich begrenzt.

Kreuzte ein Schmetterling ihren Weg, war Vater Thomas kaum zu halten. Er versuchte sofort dem Schmetterling ein Stück zu folgen, um seine Art genau zu bestimmen. Keuchend stand er dann wieder vor den Kindern und berichtete:

„Habt Ihr den Falter gesehen, die schwarzen, weißen und roten Farben auf dem Flügel? Das ist unverkennbar ein „Diamant“, den könnt Ihr euch leicht an den deutlichen Farben merken.“

Die prägenden Spaziergänge mit Vater Thomas werden die Kinder wohl nie vergessen. Verständlich, wenn Raupenkästen zur Zucht von Schmetterlingen, Kisten für Kaninchen und Meerschweinchen den nahegelegenen Schuppen füllten. Selbst im Kinderzimmer standen noch Einweckgläser auf der Fensterbank aufgereiht, die Mutter Sophie gerne für das Interesse ihrer Kinder geopfert hatte. Zur Freude der Kinder schwammen bald Molche und kleine Fische in den Miniaquarien. Besonders Hans begann Fische zu lieben. Er beobachtete genau die Bewegungen der Tiere, wie sie nach etwas Fressbaren schnappten oder scheinbar durch das gewölbte Glas neugierig zu ihm äugten. Sie stammten aus den nahen gelegenen Teichen, ein besonders Stück Natur für die Kinder.

Die Eltern duldeten die zeitweiseweise große Ansammlung von Tieren, die allerdings den Winter trotz gewissenhafter Behandlung, darauf achtete Mutter Sophie sehr, leider nicht in jedem Fall überlebten. Doch der erziehende Einfluss, die unbemerkt entstandenen Pflichten für die Kinder gegenüber der gefangenen Tierwelt, hob alle Bedenken auf.

Das gewohnt sehr knappe Geld bedeutete nach wie vor nur bescheidene Freuden für die Kinder. Die Familie erlebte es nie anders, dennoch sorgten Ideen von Mutter Sophie immer wieder für kleine Überraschungen. So lag jeden Sonntagmorgen zum Frühstück je eine Semmel auf ihren Tellern, ein Hochgenuss. Dazu stand die rote, etwas flüssige Marmelade auf dem Tisch. Die Früchte aus dem Garten sorgten für den jeweiligen guten Geschmack und das Wichtigste, sie war richtig süß, stellten die Kinder einhellig fest.

An Sonntagnachmittagen wanderten sie oft in die Lausitzer Berge, schon fast ein Ritual, eigentlich mehr ein verlängerter Spaziergang. Natürlich nur, wenn das Wetter seine beste Seite zeigte. Und da gab es wieder eine Überraschung, Kuchen vom Bäcker Heine. Einfacher Hefeteig und obendrauf lagen Krümel, undefinierbare. Unterwegs ermahnte Mutter Sophie die Kinder:

„Geht bitte vorsichtig mit dem Kuchen um, sonst gehen die Krümel verloren.“

Nach einer Stunde gemütlichen Gehens, ließen sich alle auf einem trocknen Grasfleck nieder.

„Können wir den Kuchen essen Mama?“, fragte die kleine Schwester.

Natürlich gab Mutter Sophie der Bitte nach, packte den Kuchen aus dem Papier, wobei erwartungsvolle Gesichter jede Handbewegung verfolgten. Jedes Kind griff schnell in das offene Papier, wobei selbstvergessen ihre Münder offenstanden und gleichzeitig ihre Zungen fast im gleichen Takt über ihre Lippen leckten von einem glücklichen Lächeln begleitet, als ob ein großes Stück Buttercremetorte auf dem Papier lag. Natürlich tat das einfache Hefestück keinen Abbruch ihrer Freude. Damit der trockene Kuchen besser rutschte, tranken alle Limetta, gelbgrünes, süßliches Wasser. Malzkaffe gab es nur zu Hause, der Aufwand wäre für Mutter Sophie zu groß gewesen, doch niemand vermisste ihn. Der Geschmack nach wirklichen Früchten fehlte hier. Ungeachtet dessen, tauchten jedes Kinder begeistert immer wieder den Kuchen in ihr Glas. Fantastisch, wie das schmeckte. Unvergessene Sonntagsfreuden.

Nach der Kaffeezeit tollten die Kinder zwischen blühenden Hecken und Bäumen herum oder lagen wieder für Minuten auf weichen Graspolstern und dachten über neue Spiele nach, mal gemeinsam, mal hatte Friedrich oft die besten Ideen. Die Eltern saßen derweilen im Halbschatten der Bäume und lasen in alten abgegriffenen Büchern oder Zeitschriften. Die Kinder genossen ihre Freiheit. Lediglich die kleine Schwester saß oft schweigend neben ihrer Mutter und schaute versonnen in die Ferne. Vater Thomas vertieft in seinem Buch, bemerkte von all dem nichts. Gemeinsames Herumtollen oder spielen mit den Kindern, dazu ließen sich die Eltern nur selten hinreißen.

Zu Hause wartete noch etwas ganz Besonderes auf Friedrich, seine Geige. Begeistert lernte er schon in früher Kindheit das Geigen spielen. Das Instrument gehörte zu seinem wichtigsten Begleiter in seinem ganzen Leben. Er musste nicht, wie so oft von ehrgeizigen Eltern getrieben, ständig zum Geige spielen angehalten werden. Nein, er nutzte jede freie Minute in seiner Freizeit, die Geige zu beherrschen, wobei seine kurzen Finger gerade die Seiten der dreiviertel Geige erreichten. Von seinem Talent überzeugt, besuchte Vater Thomas Herrn Kantor Pichler an einem Samstag in Niedercunnersdorf. Während dem Gespräch über neue Kompositionen und deren klangvollen Beweise, bittet Vater Thomas:

„Es würde mich ganz besonders freuen, wenn Sie meinem Sohn Friedrich Geigenunterricht geben würden. Ich glaube er ist sehr talentiert und übt ohne Druck sehr fleißig.“

Herr Pichler stimmte gleich mit dem Vorschlag zu:

„Herr Degenhart, schicken Sie ihren Sohn am kommenden Sonntagnachmittag zu mir. Er kann mir dann etwas Vorspielen. Ist er talentiert, gebe ich Ihm gerne Geigenunterricht. Man soll ja Talente fördern.“

„Vielen Dank Herr Pichler, das wird ganz bestimmt meinem Sohn sehr freuen.“

Noch am gleichen Tag hörte Friedrich:

„Ich habe mit Kantor Pichler gesprochen. Er ist bereit dir Geigenunterricht zu geben. Nächsten Sonntagnachmittag sollst du zum Vorspielen kommen. Das wirst du schon schaffen. Nur leider ist der Weg zum Unterricht nach Niedercunnersdorf etwas umständlich. Erst mit der Bahn bis Obercunnersdorf und dann eine halbe Stunde zu Fuß auf einem Feldweg weiter bis Niedercunnersdorf.“

„Papa, das ist ja wunderbar. Den Weg nehme ich gerne in Kauf.“

Wie versprochen machte sich Friedrich am Sonntagmorgen auf den Weg mit der Kleinbahn nach Niedercunnersdorf. Der folgende Fußweg durch die Natur kam ihm gerade recht. Aufmerksam suchte er nach Insekten rechts und links des Weges im hohen Gras. Kein Wunder, wenn so manch bunter Käfer oder anderes auffälliges Getier, in seinem Geigenkasten sein vorläufiges zu Hause fand. Später, mit einiger Verspätung bei Herrn Pichler angekommen, öffnete Friedrich ahnungslos den Geigenkasten und zu seinem Entsetzen winkten bunte Fühler im Auf und Nieder zu Herrn Pichler hinüber. „Das ist ja eine nette Begrüßung“, meinte lächelnd Herr Pichler.

Der Geigenschüler atmete erleichtert durch. Das war ja noch einmal gut gegangen.

„Pass aber auf, dass in der Geige kein Insekt zurückbleibt! Das arme Tier würde bestimmt schwer-hörig werden.“

Grinsend verschloss Friedrich den Geigenkasten. Sein Vorspiel kam gut an. Herr Pichler war geradezu begeistert. Und gerade mit dieser Begeisterung wurde zukünftig gespielt, ob während der Schulzeit oder in den Ferien, der Geigenunterricht, fand immer statt.

Die Kinder wuchsen behütet in der Familie auf, wie es so manches Kind in der damaligen Zeit gern erlebt hätte. Erschwerend kam leider hinzu, dass Vater Thomas sein Gehör über die Jahre fast vollständig verlor. Für einen Musiker unendlich bedrückend und für die Familie ebenso belastend. Mutter Sophie trug nun die Hauptlasten der Erziehung. Sie besaß die typisch pietistische Haltung eines Brüdergemeingliedes, letztlich auf Zinzendorfs Frömmigkeitsvorgaben zurückzuführen. Ihr scheinbar fröhliches Gemüt, durch lustige Einfälle in der Familie immer wieder einmal vorgeführt, konnte ihre Scheu vor anderen Menschen nie ganz hinwegtäuschen. Natürlich nahmen sie die Familie, vier Kinder und einen fast tauben Mann, praktisch von früh bis abends in Anspruch und wie man weiß, knappes Geld machte die Belastungen auch nicht gerade leichter. Wenn sie Einkaufen ging, dann geschah dies meistens zu später Dämmerstunde. Auch ihre abendlichen Spaziergänge folgten einem wenig begangenem Weg.

„Hinten rum“, wie sie zu sagen pflegte.

Sie nannte ihn „Abendweg“, der vorbei an Hecken, anderen Spaziergängern die neugierige Sicht nahm. Ihre teilweise erschreckende Zurückhaltung, große Frömmigkeit, bei selbstverständlicher Anspruchslosigkeit, übergestülpt von einer großen gottesfürchtigen Dankbarkeit, offenbarte ihr Wesen. Wenn die Kinder von einem Lob Erwachsener stolz berichteten, erschrak sie. Ihre Kinder loben fremde Menschen. Da zog ein Riss durch ihre erniedrigende Welt.

„Auf das Gehörte bilde Dir ja nichts ein oder ihm schwillt der Kamm.“, bekam das stolze Kind öfters zu hören.

So oder ähnlich Ihre ernst gemeinten Äußerungen, die das zuteil gewordene Lob an die Kinder dämpfen und niederdrücken sollte.

Erwähnenswert scheinen noch Mutter Sophie Kochkünste, die manchmal von einer gottesfürchtigen Eingebung getragen wurden, das hieß, hier schlug ihre pietistische Glaubenswelt wieder einmal durch. Kochte sie etwas Besonderes zu einem Feiertag, hielt sie es fast für eine „Sünde“. Kochen soll dennoch nicht unbedingt ihre Stärke gewesen sein. Andererseits ist zu bedenken, bei derart knappem Haushaltgeld und der großen Familie, keine leichte Aufgabe, jeden Tag etwas Geschmackvolles auf den Tisch zu bringen. Misslang ihr ein Essen, hörte die Familie bei Tisch den Ausspruch:

„So’n Mal geht’s schon.“

Ein völlig verkorkstes Essen nannte sie:

„Wiener Nockerln“.