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Martin Walker

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Beschreibung

Bruno steht vor einer ungewohnten Herausforderung: Er soll in Pamelas Kochschule Feriengästen lokale Geheimrezepte beibringen. Die Messer sind gewetzt, doch die prominenteste Kursteilnehmerin fehlt: die junge Frau eines britischen Geheimdienstoffiziers, die sich auf Empfehlung ihrer Familie im Périgord erholen wollte. Bruno spürt sie auf – in einem vermeintlichen Liebesnest, das jedoch bald zum Schauplatz eines Doppelmords wird.

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Martin Walker

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Der elfte Fall für Bruno, Chef de police

Roman

Aus dem Englischen von Michael Windgassen

Diogenes

Für meine Freunde von der Académie des Lettres et des Arts du Périgord

1

Bruno ließ sein Handy auch außerhalb der Arbeitszeiten eingeschaltet, um in Notfällen erreichbar zu sein. So auch an diesem kühlen, regnerischen Sonntagnachmittag im Frühjahr, der dichte Wolken vom hundert Kilometer entfernten Atlantik mit sich brachte. Bruno hatte frei und feuerte die Damenmannschaft seines Rugbyvereins beim Endspiel der regionalen Meisterschaft an.

Er coachte die Spielerinnen, die zwischen sechzehn und neunzehn waren, seit über zehn Jahren, was zwar nicht zu seinem Aufgabenbereich als erster und einziger Polizist von Saint-Denis gehörte, ihm aber viel Freude bereitete. Er engagierte sich gern für die Jugend der Stadt und war sehr stolz auf das Team. Frauenrugby war in Frankreich ein relativ neuer Sport, und es gab viele, nicht zuletzt in der städtischen Herrenmannschaft, die meinten, das Spiel sei für das zarte Geschlecht zu rauh. Aber nur wenige konnten an diesem Vorurteil festhalten, wenn sie die Mädchen erst einmal hatten spielen sehen. Ihre Tacklings waren so entschlossen wie die der Männer; sie liefen mehr und schlugen häufiger Pässe, spielten schneller und eleganter und traten den Ball ebenso gekonnt, wenn nicht mit größerer Finesse. Andererseits kam es bei ihnen seltener zum wüsten Gerangel im Paket, das für Herrenmannschaften so typisch war. Wollte Bruno ihren Stil mit einem einzigen Wort zusammenfassen, würde er sagen, dass sie anmutiger spielten.

So sah es an diesem Nachmittag auf dem Feld allerdings nicht aus. Der Ball war regennass und die meisten Spielerinnen so verdreckt, dass man die Teams an ihren Trikots kaum noch voneinander unterscheiden konnte. Es stand unentschieden, zwölf zu zwölf. Die Gegnerinnen kamen aus der sehr viel größeren Stadt Mussidan und waren als Vorjahresmeister hoch favorisiert. Nur wenige, zu denen auch Bruno zählte, gaben den Mädchen von Saint-Denis eine Chance.

Plötzlich fing sein Handy am Gürtel zu vibrieren an. Er achtete nicht weiter darauf. Es waren noch zehn Minuten zu spielen, und das Team von Saint-Denis drängte nach vorn, nur noch rund fünfzehn Meter von der gegnerischen Torlinie entfernt. Der Ball war in einem Gedränge verlorengegangen, und zwei Spielerinnen kämpften miteinander um seinen Besitz. Mit den Teamgefährtinnen im Rücken schaffte es das Mädchen aus Saint-Denis, den Ball an sich zu reißen und der linken Flügelstürmerin zuzuwerfen. Bruno stöhnte, als dieser ein regelwidriger Pass nach vorn unterlief. Der Schiedsrichter pfiff ab und ließ die Mädchen zum Gedränge antreten. Bruno nahm die Gelegenheit wahr, um einen Blick auf sein Handy zu werfen. Pamela, seine frühere Geliebte, mit der er nunmehr eng befreundet war, versuchte, ihn zu erreichen. Er hielt es für besser, ihren Anruf entgegenzunehmen.

»Bruno, mein Lieber, ich brauche deine Hilfe«, meldete sich die vertraute Stimme. »Eine Teilnehmerin an meinem Kochkurs war nicht wie verabredet am Bahnhof, als ich sie abholen wollte. Und sie antwortet nicht auf ihrem Handy. Ich habe mich am Flughafen von Bordeaux erkundigt, ob sie im Flieger war, aber das will man mir aus Datenschutzgründen nicht sagen. Ich habe ein Foto von ihr. Sie hat es mir geschickt, damit ich sie am Bahnhof erkenne. Könntest du mir helfen?«

Auf dem Feld nahmen von beiden Mannschaften jeweils acht Spielerinnen Aufstellung, was aussah, als gerieten Amazonen aus grauer Vorzeit aneinander. Die ersten drei aus beiden Gruppen legten einander die Arme um die Schultern und stemmten sich mit eingezogenen Köpfen in die gegnerische Reihe. Von hinten drängte das Pack nach, flankiert von den Flügelstürmerinnen in Lauerstellung. Bruno richtete seinen Blick auf eine der beiden: Paulette. Die gerade neunzehn Jahre alt gewordene Tochter des Floristen aus Saint-Denis war ein wahres Naturtalent, die beste Spielerin, die er je betreut hatte. Bruno wusste, dass einer der Scouts für die Nationalmannschaft irgendwo auf der Tribüne saß und nach vielversprechenden jungen Spielerinnen Ausschau hielt, wie immer bei Endspielen der regionalen Meisterschaft. Paulette war die einzige seiner Spielerinnen, die das Zeug für die erste französische Liga hatte.

»Ich komme gerade nicht weg, werde mich aber später am Nachmittag darum kümmern«, versprach Bruno, ohne den Blick vom Gedränge zu nehmen. »Schick mir eine SMS mit ihrem Namen und den Flugdaten. Und das Foto per E-Mail.« Kurz und knapp, aber nicht unfreundlich verabschiedete er sich und steckte das Handy wieder weg.

Mit vollem Körpereinsatz verlieh Paulette ihren Mitspielerinnen zusätzlichen Schub, als sich beide Gruppen gegeneinanderstemmten und um den seitlich vom Gedrängehalb eingeworfenen Ball kämpften. Als Paulette, den Kopf tief geduckt, sah, dass er mit einem Hackentritt von der eigenen Mannschaft weg nach hinten befördert wurde, löste sie sich aus dem Gedränge und rückte, den Weg des Balles antizipierend, in den Freiraum.

Es ging darum, die Lage richtig einzuschätzen. Geriete sie vor den Ball, würde sie einen Straftritt verschenken. Käme sie zu spät, hätte die Nummer 9 genug Zeit, den Ball an eine Mitspielerin zurückzupassen, die dann den Ball ins Seitenaus würde dreschen können. Ein getretener Ball war unmöglich zu erlaufen. Der Abstand zur gegnerischen Anspielpartnerin aber war relativ gering. Paulette würde dem Rückpass folgen und den Ball zu ergattern versuchen, ehe ihn der Verbindungshalb unter Kontrolle gebracht hätte.

Paulettes Timing war perfekt. Als die Nummer 9 den Ball aus dem Gedränge zog und sich umdrehte, um ihn zurückzupassen, rannte sie los. Ihre Beschleunigung war nur unwesentlich geringer als die des Balls, und sie traf auf das angespielte Mädchen, bevor es den Ball sichern konnte. Paulette riss ihn an sich, schlug einen Haken und rannte auf die Torlinie zu, wo sie nur noch die Schlussfrau auszutricksen hatte. Sie ließ den Ball auf den Fuß fallen, lupfte ihn über deren Kopf hinweg, fing den Ball in vollem Lauf wieder auf und konnte sich jetzt Zeit lassen, den Ball hinter die Linie zu legen und eine Erhöhung klarzumachen. Bis auf den Trainer des Teams aus Mussidan sprangen alle Zuschauer begeistert auf und jubelten.

»Gut gespielt, Saint-Denis!«, rief Bruno und ignorierte das Signal einer eingegangenen Nachricht auf seinem Handy, als Paulette den Ball für einen Kick über die Querstange zurechtlegte. Er nahm an, dass ihm Pamela wie versprochen Einzelheiten über die vermisste Frau zugeschickt hatte. Paulette nahm ein paar Schritte Anlauf, konzentrierte sich auf den Ball und trat ihn mit Leichtigkeit durchs Tor.

»Nicht nachlassen!«, rief Bruno. »Legt noch einen drauf!«

»Mon Dieu, das Mädchen ist ein Juwel«, schwärmte Lespinasse, der Kfz-Schlosser von Saint-Denis und diesjährige Vorsitzende des Rugbyclubs. »Wer hätte das gedacht? Demnächst wird sie für Frankreich spielen, darauf kannst du wetten.«

Bruno nickte, abgelenkt vom Anblick Paulettes, die sich würgend vornüberbeugte und niederkniete. Er rannte über das Feld auf sie zu, drückte ihr einen feuchten Schwamm in den Nacken und gab ihr zu trinken. Paulette nahm einen Schluck aus der Flasche, stand wieder auf und joggte zurück zu ihren Mitspielerinnen.

Das Spiel wurde fortgesetzt. Mussidan versuchte es mit einem kurzen Kick, worauf alle Stürmerinnen zusammenliefen. Die Mädchen von Saint-Denis warfen sich ihnen entgegen, konnten aber nicht verhindern, dass deren Verbindungshalb den Ball eroberte und um das Paket herumzuflitzen versuchte. Paulette war jedoch auf dem Posten und holte die Nummer 10 von den Beinen. Fast gleichzeitig ertönte der Schlusspfiff. Die Mädchen von Saint-Denis hatten mit einer überzeugenden Leistung und neunzehn zu zwölf Punkten ihre erste Meisterschaft gewonnen. Bruno tanzte vor Freude an der Torlinie, als die beiden Mannschaften aneinander vorbeidefilierten und sich höflich abklatschten.

Strahlend vor Stolz und die Gesichter noch gerötet vom Spiel, standen sie an, um Bruno mit ihren verdreckten Trikots stürmisch zu umarmen. Der hatte feuchte Augen, als er allen auf die Schultern klopfte, ihr Spiel lobte und ihnen versicherte, dass sie den Pokal vollauf verdient hatten.

Schließlich kamen auch Eltern und Familienangehörige herbeigelaufen, um ihre Töchter hochleben zu lassen. Ihnen folgte Bürgermeister Mangin, der Bruno eine Flasche Cognac in die Hand drückte, nachdem er selbst zur Feier des Tages einen guten Schluck daraus genommen hatte. Philippe Delaron, der für die Sud Ouest arbeitende Stadtfotograf, versuchte, die Mädchen für ein Mannschaftsfoto zu gruppieren; die aber sprangen so ausgelassen umher, dass er scheiterte. Erst als Bruno ordnend eingriff, konnte er ein paar Fotos schießen. Als alter Fuchs im politischen Geschäft schaffte es der Bürgermeister, sich in deren Mitte zu positionieren. Jubelnd wurde der Pokal in die Höhe gehoben und Bruno für ein letztes Foto mit ins Bild gebracht. Als die Mädchen auseinanderschwärmten, fiel ihm auf, dass Paulette ungewöhnlich bleich aussah.

»Alles okay mit dir?«, fragte er und schaute ihr prüfend in die Augen. »Hast du dich bei diesem Tackle verletzt?«

»Nein«, antwortete sie und wich seinem Blick aus. »Hab mir nur den Magen verdorben. Ist nicht weiter schlimm.« Sie umarmte Bruno, begrüßte dann ihre Eltern und gab Philippe einen Korb, der noch ein letztes Foto von ihr machen wollte, bevor sie sich dem Rest der Mannschaft anschloss, um zu duschen.

Bruno ließ den Blick über die Zuschauer schweifen, die dem Stadionausgang zuströmten, und hoffte, den Scout der Nationalmannschaft ausfindig zu machen. Auf der Tribüne saß noch ein einzelner Mann, der auf ein Tablet auf seinen Knien eintippte. Sportreporter oder Scout? Bruno war sich nicht sicher, versuchte aber gar nicht erst, sich bei ihm für Paulette einzusetzen. Wenn er von ihren Fähigkeiten und ihrem Spielwitz nicht ohnehin beeindruckt war, hatte er als Scout den Beruf verfehlt. Und außerdem wusste Bruno, dass das französische Team bald die Namen der dreißig jungen Frauen bekanntgeben würde, die eine Einladung zum Trainingslager erhielten, wo man sich auf die kommende Saison vorbereiten wollte. Weil Frauenrugby jetzt auch im Fernsehen übertragen wurde, gab es auf einmal Geld in diesem Sport.

Bruno zog sein Handy hervor und rief einen alten Freund von der Polizeiakademie an, der für den Sicherheitsdienst des Flughafens von Bordeaux arbeitete, und gab ihm die Daten der vermissten Teilnehmerin von Pamelas Kochkurs durch. Ihr Name war Monica Felder, wie er von Pamela per SMS erfahren hatte, in der ihm auch eine Mobilfunknummer und eine Adresse in Surrey mitgeteilt worden war. Sie war mit British Airways von Gatwick abgeflogen und hatte den einwöchigen Kurs im Voraus bezahlt. Der Freund versprach Bruno, sich zu erkundigen und später zurückzurufen.

Aus den Umkleidekabinen rief plötzlich jemand Brunos Namen und fragte, ob ein Arzt aufzutreiben sei. Er lief zum Bierzelt, wo Fabiola und ihr Partner Gilles Grillwürstchen in Brötchen aßen und auf die Mädchen warteten, um mit ihnen in dem gemieteten Bus nach Saint-Denis zurückzufahren.

»In der Kabine wird nach einem Arzt verlangt«, sagte er zu Fabiola. »Könntest du mal nachsehen, was da los ist?«

Sie hatte einen Bissen im Mund, reichte ihm nickend ihr halbes Brötchen und eilte in die Umkleideräume. Bruno folgte und wartete draußen vor der Tür.

Paulettes Vater Bernard gesellte sich zu ihm. »Weshalb wurde sie gerufen? Hat sich jemand verletzt?«

»Keine Ahnung«, antwortete Bruno. »Wir werden es gleich erfahren. Übrigens, Paulette hat klasse gespielt.«

»Wir machen uns Sorgen um sie. Heute Morgen ist ihr nach dem Frühstück übel geworden. Sie sagte, sie sei nervös vor dem großen Spiel.«

Bruno schaute ihn an, gab ihm einen Klaps auf die Schulter und ließ sich nicht anmerken, dass er plötzlich selbst alarmiert war. Wenig später kam Florence aus dem Umkleideraum. Sie unterrichtete Naturkunde am collège von Saint-Denis und fungierte als Teammanagerin. Sie wirkte aufgeregt und winkte Bruno zu sich.

»Paulette ist unter der Dusche in Ohnmacht gefallen«, flüsterte sie, um von Bernard nicht gehört zu werden. »Ihr sei nur ein bisschen schwindlig geworden, sagt sie, nicht der Rede wert. Fabiola ist jetzt bei ihr.«

Florence ging wieder hinein. Ein paar Minuten später kamen die Spielerinnen heraus, manche in Jeans, andere in kurzen Röcken und modischen Jacken. Sie sahen aus, als kämen sie aus der Disco und nicht von einem anstrengenden Match. Ihnen folgten Florence und Fabiola mit Paulette in ihrer Mitte, die, obwohl ein bisschen blass um die Nase, wieder bei Kräften zu sein schien.

»Es war nichts«, erklärte sie ihrem Vater und umarmte ihn. »War bestimmt nur die Aufregung.«

»Es wird schon wieder«, sagte Fabiola, ohne zu lächeln.

Bruno gab ihr das angebissene Brötchen mit der Wurst zurück, die inzwischen kalt geworden war und nicht mehr besonders lecker aussah. Fabiola warf beides in einen Papierkorb.

»So eins hätte ich auch gern«, sagte Paulette. »Ich habe einen Bärenhunger.« Mit ihrem Vater machte sie sich auf den Weg zum Imbissstand.

»Ist wirklich alles in Ordnung mit ihr?«, fragte Bruno, als die beiden gegangen waren.

»Mutter und Kind sind wohlauf«, antwortete Fabiola mit ernster Miene. »Sie ist seit knapp drei Monaten schwanger und hat ihren Eltern noch nichts davon gesagt, geschweige denn einen Arzt aufgesucht. Rugbyspielen kommt für sie in diesem Jahr nicht mehr in Frage.«

Bruno wollte etwas zu den Tests für das Nationalteam sagen, hielt sich aber zurück. Er schloss die Augen und verzog das Gesicht. Für Paulette gab es jetzt Wichtigeres als Rugby. Er seufzte in Gedanken an die vielen Trainingsstunden, die er mit ihr verbracht hatte.

»Haben die anderen Mädchen was mitgekriegt? Wissen sie jetzt Bescheid?«, fragte er.

»Ich habe sie in einem freien Zimmer nebenan untersucht. Gehört hat niemand etwas«, antwortete Fabiola. »Aber ihre Mitspielerinnen sind nicht auf den Kopf gefallen.«

»Merde, merde, merde«, murmelte Florence.

Auch sie hatte sich sehr für das Mädchen und seine Zukunft eingesetzt. Paulette war eine eher schlechte Schülerin, die ein Jahr hatte wiederholen müssen, nachdem sie im ersten Anlauf bei den Aufnahmeprüfungen für ein lycée gescheitert war. Bruno und der Bürgermeister hatten ihren Einfluss geltend machen müssen, damit sie schließlich doch noch auf die weiterführende Schule hatte wechseln können. Wenn sie dort nach zwei Jahren das baccalauréat schaffte, durfte sie sich sogar Hoffnung auf ein Studium an einer Hochschule machen, die Sportlehrer ausbildete; das hatte Bruno mit Hilfe eines Bekannten so eingefädelt, der ihm einen Gefallen schuldig war. Und nun waren diese vielversprechenden Aussichten, die Paulette ihren sportlichen Talenten verdankte, plötzlich in Gefahr.

»Hat sie nicht gewusst, dass sie schwanger ist?«, fragte Bruno.

Fabiola warf ihm einen mitleidigen Blick zu. »Sei nicht so naiv, Bruno. Natürlich wusste sie es. Ihr ist bloß nicht klar, wie sie sich dazu verhalten soll. Ich glaube, sie hat darauf spekuliert, dass sich das Problem im Gerangel auf dem Spielfeld gewissermaßen von selbst löst. Aber Embryos können einiges aushalten, und Paulette ist gesundheitlich enorm robust.«

Fabiola presste die Lippen aufeinander. Sie und ihr Partner wünschten sich schon seit einiger Zeit ein Kind, bislang vergebens. Bruno wusste von Gilles, dass Fabiola deshalb allmählich nervös wurde, obwohl sie selbst Patientinnen in ähnlicher Lage immer den Rat gab, der Natur zu vertrauen und sich nicht unnötig Sorgen zu machen.

»Weiß der Vater Bescheid? Ich meine den Erzeuger, nicht ihren papa«, sagte er.

»Keine Ahnung. Sie hat keinen Piep gesagt, als ich sie gefragt habe, wann sie ihre letzte Periode hatte. Immerhin will sie morgen in die Klinik kommen. Ich werde sie dann gründlich untersuchen und ihr ein paar Fragen zu stellen versuchen. Grob geschätzt, dürfte das Kind im Oktober fällig sein, also ausgerechnet um die Zeit herum, für die der Wechsel zur Uni geplant war.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Wirklich ärgerlich, das Ganze. Verhütung dürfte für die jungen Leute kein Fremdwort mehr sein, die Schule bietet Sexualkundeunterricht an, und trotzdem passieren solche Dinge noch.«

»Armes Ding«, sagte Florence. »In ihrer Haut möchte ich nicht stecken. Wie dem auch sei, sie könnte ein Jahr aussetzen und später mit dem Studium anfangen. Wenn du sie morgen siehst, sag ihr, dass sie jederzeit zu mir kommen kann, wenn sie Gesprächsbedarf hat.«

Sie konnte zwar immer noch zur Uni gehen, dachte Bruno, aber die Chance auf einen Platz im französischen U20-Team wäre vertan, und wie er Paulette kannte, würde sie das nur schwer verkraften. Und als Sportlehrerin, die für ihr Land gespielt hatte, wäre sie später bei ihren Schülern wahrscheinlich sehr viel besser angekommen.

Es hätte nach der errungenen Meisterschaft eigentlich eine fröhliche Heimfahrt nach Saint-Denis sein können. Paulette aber hatte den Pokal wortlos an Bruno weitergereicht, sich im Bus auf einen Platz in der hintersten Reihe gesetzt, die Augen geschlossen und so getan, als schliefe sie. Anscheinend wollte sie mit niemandem reden oder mitfeiern, was auch die Stimmung der anderen dämpfte.

Und so kam es nicht zu den üblichen Freudengesängen. Für Bruno hatte das immerhin den Vorteil, dass er sein Handy klingeln hörte. Der Anruf kam vom Sicherheitsdienst des Flughafens. Monica Felder war nicht wie angekündigt mit der heutigen Maschine der British Airways gekommen, sondern schon am Vortag. Laut Auskunft der Police aux Frontières hatte sie bei der Einreise ihren Pass vorgelegt. Ihr Rückflug nach London Gatwick in einer Woche war bereits gebucht.

»Wollen Sie ein Foto von ihr haben?«, wurde Bruno gefragt. Er wusste, dass inzwischen überall auf dem Flughafen Überwachungskameras installiert waren, und bejahte unverzüglich. Er würde das Foto mit demjenigen vergleichen können, das Pamela ihm versprochen hatte. Er bedankte sich bei seinem alten Kollegen, beendete das Gespräch und fand im Nachrichteneingang Pamelas E-Mail samt Anhang. Er öffnete ihn und rechnete mit einem nichtssagenden Bild im Stil eines nüchternen Passfotos. Stattdessen blickte er auf das wahrscheinlich in einem Studio aufgenommene und sorgfältig ausgeleuchtete Porträt einer wunderschönen Frau mit blonden, kunstvoll frisierten Haaren, die ihre großen, ausdrucksvollen Augen optimal zur Geltung brachten. Ihre Wangenknochen waren ausgeprägt, ihr Lächeln bezaubernd, wenn auch ein wenig zurückhaltend, um den Anforderungen eines Passbildes zu genügen. Ihre Haut hatte jenen frischen Schimmer, der so manchen Engländerinnen eigen war. Ein gerechter Ausgleich, wie Bruno fand, für ein Leben im feuchten, nebligen Klima der Insel. Sie schaute direkt in die Kamera, ihre Schultern ein wenig schräggestellt, was ihren schlanken Hals umso eleganter erscheinen ließ.

Bruno stieß einen leisen Pfiff aus und dachte, dass niemand diese Frau so leicht vergessen würde, der sie einmal gesehen hatte. Sie ausfindig zu machen mochte nicht allzu schwer sein. Sein Handy piepte zweimal und meldete eine angekommene Nachricht. Sie kam von seinem Freund am Flughafen, und auch das graue Foto der Frau, die vor der Passkontrolle stand, tat ihrer Schönheit keinen Abbruch. Sie war eindeutig die Frau auf dem Foto, das Pamela geschickt hatte.

Dass sie nicht wie geplant eingetroffen war, konnte eine Reihe plausibler Erklärungen haben. Vielleicht hatte sie den Zug verpasst oder kurzerhand beschlossen, einen Tag in Bordeaux zu bleiben; möglich auch, dass sie wegen eines familiären Notfalls umgehend hatte zurückfliegen müssen. Auf jeden Fall wäre es aber wohl angebracht gewesen, Pamela telefonisch Bescheid zu geben. Er wählte also die von ihr durchgegebene englische Telefonnummer, worauf sich eine automatische Stimme meldete, die ihm mitteilte, dass der gewünschte Teilnehmer nicht zu erreichen sei. Er hinterließ eine Mitteilung mit seiner eigenen Nummer.

Als er das Handy weggesteckt hatte, dachte er wieder an Paulette und fragte sich, ob sie ihm gegenüber vielleicht gesprächiger sein würde. So oder so wollte er in Erfahrung bringen, wer der Vater des Kindes war. Vielleicht würde er ihn dazu überreden können, sich Paulettes Eltern zu offenbaren. Allerdings musste er auch Rücksicht darauf nehmen, dass Paulette volljährig war und ein Recht auf Selbstbestimmung hatte.

Seufzend betrachtete Bruno den billigen Messingpokal neben sich auf der Sitzbank, der sehr viel bescheidener war als der Wanderpokal, den die jungen Männer zur Meisterschaft überreicht bekamen und der vor fast dreißig Jahren angeschafft worden war. Trotzdem wollte Bruno dafür sorgen, dass er einen Ehrenplatz im Trophäenschrank des Clubs bekommen würde – wenn es sein musste, auch gegen den Willen der Altvorderen, die das Spiel der Frauen immer noch nicht ernst nahmen. Vielleicht würde sie die Meisterschaft umstimmen, was er aber bezweifelte. In Saint-Denis hielt man auch an überlebten Traditionen fest. Selbst Bruno hatte anfangs Bedenken gehabt, ob die Mädchen nach der Pubertät noch weiterspielen sollten. Dass sie aber entschieden darauf bestanden, hatte ihn einlenken lassen, und er war zunehmend stolz auf seine ehemaligen Schützlinge. Es hätte ein Tag des Triumphes sein können, der nun von Paulettes Dilemma überschattet war. Seine Hoffnung darauf, sie im blauen Trikot der Nationalmannschaft ins Stade de France von Paris einlaufen zu sehen, konnte er sich abschminken.

Wie würde ihre Familie reagieren? Wenn sie das Kind behalten wollte, würden einige Veränderungen ins Haus stehen. Die eigentliche Entscheidung aber hatte Paulette zu treffen. Bruno stöhnte innerlich bei dem Gedanken, dass er immer häufiger vor Situationen gestellt wurde, auf die ihn die Polizeiakademie nicht vorbereitet hatte.

Er nahm sich vor, seine Kollegin Yveline um Rat zu bitten, die beeindruckende junge Kommandantin der hiesigen Gendarmerie, zudem eine Sportlerin, die im französischen Feldhockey-Olympiateam gestanden hatte. Sie interessierte sich sehr für Paulettes sportliche Entwicklung und hätte allzu gern das heutige Endspiel gesehen, war aber dienstlich verhindert gewesen. Er beschloss, auf dem Weg nach Hause in der Gendarmerie vorbeizuschauen. Bei der Gelegenheit würde er ihr auch von Pamelas ausgebliebenem Gast berichten können. Der Gedanke erinnerte ihn daran, dass er sich erkundigen wollte, ob Pamela inzwischen etwas Neues erfahren hatte.

Als sie seinen Anruf entgegennahm, hörte er im Hintergrund Frauenstimmen und Gelächter. Ihre Kursteilnehmerinnen bereiteten offenbar das klassische Périgord-Diner vor, das sie sich am Abend schmecken lassen würden.

»Was wird gekocht?«, fragte er.

»Blanquette de veau«, antwortete sie. »Da jetzt ein Platz am Tisch frei bleibt, gibt es für alle mehr als genug. Du könntest kommen und uns Gesellschaft leisten.«

»Würde ich liebend gern, aber ich muss das Rugbyteam verabschieden. Sie sind übrigens Meister. Toll, nicht wahr? Und anschließend wollte ich noch zur Gendarmerie. Ich ruf dann später an. Mal sehen, vielleicht schaffe ich’s ja noch. Hast du was von der Frau aus England gehört?«

»Kein Wort. Ist sie in Bordeaux angekommen?«

»Ja, gestern schon, nicht erst heute, wie ich am Flughafen erfahren habe. Kann es sein, dass sie sich im Datum geirrt hat?«

»Nein, sie hat mir vor zwei Tagen eine E-Mail geschrieben und darin bestätigt, dass sie heute am Bahnhof von Le Buisson eintreffen würde. Heute Morgen um elf sollte ihr Flieger landen. Ich habe ihr erklärt, wie sie vom Flughafen aus mit dem Bus zum Bahnhof von Bordeaux gelangt, wo um zwei der Zug abfährt. Zeit hätte sie gehabt, genug, um auch noch was am Bahnhof zu essen. Ich sollte sie um vier Uhr abholen. Wenn sie schon gestern gekommen ist, wird sie sich vielleicht Bordeaux angesehen haben. Glaubst du, ihr könnte was passiert sein? Ob sie plötzlich krank geworden ist?«

»Ich werde mich am Bahnhof nach ihr erkundigen«, sagte er.

Als der Mannschaftsbus am Clubhaus in Saint-Denis vorfuhr, klappte Bruno sein Handy zu. Er hatte erfahren, dass weder am Bahnhof von Bordeaux noch im Shuttlebus vom Flughafen eine Frau plötzlich krank geworden war. Der Zug war pünktlich abgefahren. Er stieg aus dem Mannschaftsbus aus, beglückwünschte noch einmal die Spielerinnen und winkte ihnen nach, als sie in verschiedenen Autos davonfuhren. Dann versuchte er, Yveline zu erreichen, aber sie war an diesem Abend außer Dienst. Schließlich rief er Pamela an, von der er erfuhr, dass sich ihre Gäste gerade zu Tisch begaben.

»Die blanquette ist perfekt gelungen. Ich halte einen Platz für dich frei. Zu trinken gibt’s den Rosé von Château Briand, den du mir empfohlen hast«, fügte sie hinzu.

»Bin schon auf dem Weg.«

2

Am nächsten Morgen stand Bruno früh auf, um seine Stiefel und den Gürtel zu polieren, bevor er die übliche Runde durch den Wald lief. Balzac, sein Basset, folgte ihm anfangs auf den Fersen, wurde dann aber wie fast immer von einem interessanten Duft abgelenkt und fiel immer weiter zurück. Bruno konnte sich darauf verlassen, dass er zum Ende der Runde hin wieder aufkreuzen würde. Und obwohl ihm klar war, dass er sich ein paar Gedanken über den Festumzug machen musste, der noch am Vormittag stattfinden sollte, kam ihm immer wieder Paulettes Schwangerschaft in den Sinn. Er konnte es kaum erwarten, von Fabiola zu hören, wie ihr Gespräch mit dem Mädchen verlaufen war, machte sich allerdings keine allzu großen Hoffnungen, Einzelheiten zu erfahren, da Fabiola ihre Schweigepflicht als Ärztin immer sehr ernst nahm. Abgesehen davon wollte er sich am Fahrkartenschalter von Le Buisson erkundigen, ob jemand Pamelas vermissten Gast dort gesehen hatte, am Schalter selbst oder beim Besteigen des Zugs.

Am gestrigen Abend hatte sich das Gespräch bei Tisch in Pamelas Haus hauptsächlich um jene Monica Felder gedreht. Bruno war etwas verspätet eingetroffen, gerade noch rechtzeitig für das Hauptgericht. Zu einer ausführlicheren Vorstellung mit den anderen Gästen hatte die Zeit nicht gereicht. Mit am Tisch saßen zwei Ehepaare mittleren Alters und drei einzelne Frauen: zwei von ihnen Anfang sechzig und eine modisch gekleidete jüngere mit Namen Kathleen. Sie war Journalistin bei einer britischen Sonntagszeitung und von Pamela eingeladen worden, sich an ihrem Kochkurs zu beteiligen und, statt dafür zu zahlen, einen Artikel darüber zu schreiben. Ihre Haare waren frühzeitig ergraut und hatten einen raffinierten Schnitt. Bruno schätzte sie auf Mitte dreißig und erfuhr, dass sie eine begeisterte Reiterin war, die sich schon darauf freute, am nächsten Morgen mit den Pferden arbeiten zu können.

Dank Pamelas Nachhilfe war Brunos Englisch inzwischen gut genug, dass er der Unterhaltung in der Tischrunde folgen konnte. Als Pamela durchblicken ließ, dass Bruno der Polizist vor Ort war, musste er ein Sperrfeuer von Fragen über Monica abwehren. Als vermisst werde eine erwachsene Person erst nach drei Tagen registriert, erklärte er, aber weil sie aus dem Ausland komme und vermutlich nur bruchstückhaft Französisch spreche, wolle er sich bemühen, sie ausfindig zu machen. Er war dankbar, als Pamela ein anderes Thema anschlug und auf Brunos Rolle als einer der Küchenchefs ihres Kochkurses zu sprechen kam.

Bruno würde den Teilnehmern beibringen, wie pâté de foie gras zuzubereiten war und wie sich aus einer einzigen Ente fünf verschiedene Gerichte zaubern lassen. Als einer der anderen Kursleiter wollte der Baron zeigen, wie man einen Gänsehals füllt und was sonst noch in ein klassisches cassoulet nach Art des Périgord gehörte. Ivan vom Bistro hatte versprochen, seinen freien Tag – gegen ein Entgelt – zu opfern, um seine Desserts vorzuführen: von der crème brûlée bis zur tarte aux noix, Birnen in gewürztem Rotwein und sabayon de fraises, den von Bruno favorisierten Erdbeeren in Weinschaumcreme. Odette von Oudinots ferme würde mit den Gästen durch den Wald wandern, Pilze sammeln und ihnen zeigen, wie sie sich als Beilage für ein Kalbfleischgericht verarbeiten lassen. Stéphane hatte sich bereit erklärt, seine Künste als Käser und Hersteller von Joghurt zu demonstrieren. Julien wollte den Gästen eine Führung über das städtische Weingut und durch die Winzerei anbieten, worauf im Anschluss eine Verkostung bei Hubert stattfinden sollte. Mit einer Rundfahrt entlang den Anbaugebieten des Bergerac sowie Abstechern nach Lascaux und dem einen oder anderen Château stand den Gästen eine sehr abwechslungsreiche und mit Terminen vollgepackte Woche bevor. Pamela und ihre englische Freundin Miranda hatten sie gut geplant.

Balzac wartete geduldig vor der Gartentür, als Bruno zu seinem Haus zurückkehrte. Nachdem er geduscht und sich gründlich rasiert hatte, toastete er die Reste des Baguettes vom Vortag und teilte sie mit seinem Hund, während er den Nachrichten von Radio Périgord lauschte. Die letzte Meldung ließ ihn aufmerken, sie betraf ihn und den Festakt am Vormittag, mit dem seine Beförderung und die damit verbundene Zunahme seiner Verantwortlichkeiten feierlich begangen werden sollten. Er packte seine Uniform aus der Folie der Reinigung, zog sie an, warf einen kurzen Blick in den Spiegel und machte sich auf den Weg zur Mairie. Normalerweise saß Balzac auf dem Beifahrersitz und legte seinen Kopf auf den Schenkel des Herrchens; heute aber musste er im Heckraum des Transporters Platz nehmen, denn Bruno wollte auf seiner makellosen Uniform keine Hundehaare haben.

Als er den Wagen neben der Mairie abstellte, fiel ihm auf, dass dort bereits zwei weitere Fahrzeuge der police municipale parkten. Von Fauquets Café aus winkten ihm zwei uniformierte Kollegen zu: ein übergewichtiger und etwas ungepflegter Mann, der für seinen Job eigentlich schon zu alt zu sein schien, und eine jüngere Frau, die in einer offenbar nagelneuen, aber viel zu großen Montur steckte.

Der Mann war Louis, Polizeichef von Montignac, einer Kleinstadt weiter oben im Tal der Vézère. Montignac wurde jedes Jahr von Tausenden von Touristen besucht, die die nahe gelegene Höhle von Lascaux besichtigten, weshalb die Gemeinde wirtschaftlich um einiges besser dastand als Saint-Denis. Louis, schon zweimal wegen Trunkenheit im Dienst abgemahnt, machte kein Hehl daraus, dass er Bruno die Beförderung von Herzen missgönnte, zumal er als dienstälterer Kollege vorrangig Anspruch darauf zu haben glaubte.

Bei der jungen Frau handelte es sich um Juliette Robard. Sie war als Nachfolgerin der letzten Polizistin von Les Eyzies eingestellt worden, die sich nach einer Schussverletzung im Dienst hatte ausmustern lassen. Die Kollegin war zwar inzwischen wieder auf den Beinen, zog aber nunmehr einen sichereren Arbeitsplatz in ihrer Mairie vor. Juliette hatte vor kurzem erst ihre Ausbildung an der Polizeiakademie abgeschlossen. Sie war in Les Eyzies geboren und hatte früher in Teilzeit als Kontrolleurin für die Regionalbahn gearbeitet, um sich um ihre Mutter kümmern zu können, die seit einem Verkehrsunfall im Rollstuhl saß. Da ihr Vater schon seit vielen Jahren im Stadtrat saß, war ihre Ernennung eine reine Formsache gewesen, die überdies erstaunlich schnell abgewickelt worden war. Man hatte der Umstrukturierung der Stadtpolizei und insbesondere ihrem neuen Kommandanten – Bruno – zuvorkommen wollen, der ihrer Anstellung hätte zustimmen müssen.

Bruno war weder überrascht noch eingeschnappt. Auf dem Land schob man sich die Posten halt auf diese Art und Weise zu. Er kannte Juliette seit ihren Teenagerjahren, denn sie war Schülerin in seiner Tennisklasse gewesen. Er mochte sie und hielt sie für eine vernünftige, kluge junge Frau, der er viel Erfolg in ihrem neuen Beruf zutraute. Er schätzte ihre heitere Art; und dass ihr Gesicht sowohl Intelligenz als auch Freundlichkeit ausstrahlte, ließ darauf hoffen, dass sie ihm eine gute Kollegin sein würde. Außerdem sprach sie fließend Englisch, was für eine Polizistin oder einen Polizisten in einer Region, die wie das Périgord zunehmend vom Tourismus abhängig war, immer wichtiger wurde. Louis dagegen hatte keinerlei Fremdsprachenkenntnisse. Über die Ernennung seines Nachfolgers würde Bruno immerhin ein Wort mitzureden haben.

Bruno schüttelte ihnen die Hand, gab Juliette einen Kuss auf die Wange und nahm ihre Einladung auf eine Tasse Kaffee dankbar an. Das Angebot eines Croissants wollte er schon ausschlagen, doch Balzac, der sich in diesem Café bestens auskannte und wusste, wie lecker Fauquets Croissants waren, schaute ihn so flehentlich an, dass er klein beigab. Fauquet servierte prompt. Auf dem Stuhl vornübergebeugt, um seine Uniform nicht vollzukrümeln, ließ sich Bruno die Köstlichkeit aus Blätterteig schmecken und gab Balzac den üblichen Anteil.

»Hast du noch Kontakt zu deinen ehemaligen Kollegen von der Eisenbahn?«, fragte er Juliette.

»Ja, zu den meisten«, antwortete sie vorsichtig. »Was willst du wissen?«

Er erzählte ihr von der verschwundenen Monica Felder und fragte, ob es möglich sei, herauszufinden, ob sie im Verlauf der letzten zwei Tage am Bahnhof von Bordeaux ein Ticket für die Fahrt in irgendeine Stadt hier in der Gegend gekauft hatte.

»Wenn sie von England aus online gebucht hat, wird sie einen Ausdruck vorgelegt haben, der von irgendeinem Kontrolleur eingescannt worden ist«, erklärte Juliette. »Auch wenn sie mit ihrer Kreditkarte ein Ticket am Bahnhof gekauft hat, wird das nachvollziehbar sein, aber dafür braucht man ihre Kreditkartennummer, und die Auskunft könnte eine Weile dauern. Wegen der Datenschutzrichtlinien müssten wir außerdem eine polizeiliche Vermisstenmeldung vorlegen können.«

»Ginge das nicht auch unter der Hand, um die Sache etwas zu beschleunigen?«

»Natürlich«, antwortete sie grinsend. »Gib mir ihre persönlichen Daten, und ich erkundige mich, welche Kollegen während der letzten zwei Tage auf der Sarlat-Strecke Dienst hatten.«

Er nannte Juliette Name und Adresse der Vermissten und schickte ihr und Louis über sein Handy das Foto zu, das er von Pamela bekommen hatte.

»Wozu so viel Aufhebens um eine Ausländerin, die womöglich nur ihren Zug verpasst hat?«, fragte Louis.

»Das will ich dir gern erklären«, antwortete Bruno. »Unser département lebt vom Tourismus, und deshalb sind wir gehalten, uns um unsere auswärtigen Gäste nach Kräften zu kümmern.«

Juliette versetzte ihm einen spielerischen Knuf‌f. Louis grunzte widerwillig und murmelte, dass er mit seinem neuen Telefon noch nicht so richtig umgehen könne. Juliette hingegen hatte schon einen ehemaligen Kollegen am Apparat, tauschte ein paar Freundlichkeiten mit ihm aus und sprach in einem Jargon, den nur cheminots, also französische Eisenbahner, verstanden.

»Euer und unser Bürgermeister kommen, zusammen mit Bossuet vom Regionalrat«, sagte Louis. Er beugte sich vor und flüsterte Bruno ins Ohr: »Ich habe munkeln hören, dass Bossuet dich vereidigen wollte, aber dein Bürgermeister besteht darauf, es selbst zu tun.«

Laut einer jüngst vom Justizministerium in Auftrag gegebenen Studie mangelte es den kommunalen Polizeikräften an Computern, elektronischer Infrastruktur und administrativer Unterstützung. Bruno war einer der befragten Beamten gewesen, was zur Folge hatte, dass in seinem Zuständigkeitsbereich ein neu eingerichtetes System im Rahmen eines Pilotprojekts getestet wurde. Amélie, die mit der Durchführung der Studie betraut war, hatte Bruno als Projektleiter empfohlen, der daraufhin zum Chef de police für das ganze Tal befördert worden war, ein Gebiet, das von Limeuil an der Mündung der Vézère in die Dordogne flussaufwärts bis nach Montignac reichte.

Nach der heutigen Vereidigung würde er der Vorgesetzte von Juliette und Louis sein und von einem Verwaltungsassistenten unterstützt werden, der noch zu benennen war und in einem leerstehenden Raum neben Brunos Büro mit neuen Computern und einem sicheren Kommunikationssystem ausgestattet werden sollte. Für Bruno bedeutete die Beförderung jede Menge neuer Verantwortung, eine bescheidene Gehaltsaufbesserung und die Aussicht auf viel Fahrerei zwischen Les Eyzies und Montignac, um sein neues Team zu koordinieren. Er würde lernen müssen, mit zwei weiteren Bürgermeistern und deren Räten sowie mit dem Conseil régional der für das Département gewählten Politiker zusammenzuarbeiten. Besonders unangenehm an den anstehenden Veränderungen war für ihn, dass er nicht länger einzig und allein dem Bürgermeister von Saint-Denis gegenüber Rechenschaft würde ablegen müssen.

»Der Festakt ist auf elf Uhr verschoben worden. Wir haben also noch etwas Zeit«, sagte Louis mit dem verschlagenen Blick eines Mannes, der mit den Interna vertraut ist. »Ich habe zwitschern hören, dass du dich auf eine Überraschung gefasst machen kannst. Darum auch die Verzögerung. Es haben sich ein paar hohe Tiere angekündigt. Wir werden vor lauter Salutieren die Arme nicht mehr hängen lassen können.«

Bruno verließ der Mut. Ihm war auch schon zu Ohren gekommen, dass Mangin etwas Besonderes organisiert hatte. Bruno hatte gehofft, dass die Vereidigung eine schlichte Formalität im Büro des Bürgermeisters und in wenigen Minuten vorüber sein würde. Anscheinend war aber Größeres geplant. Und jetzt hatte er noch zwei Stunden totzuschlagen. Vielleicht sollte er in sein Büro gehen und noch liegengebliebenen Papierkram erledigen, aber seine beiden Kollegen im Stich zu lassen war wohl keine so gute Idee.

»Ein Freund von mir glaubt, deine vermisste Frau vor zwei Tagen im Zug von Bordeaux gesehen zu haben«, sagte Juliette, nachdem sie ihr Handy zugeklappt hatte. »Er hat gleich im Bahnhof von Le Buisson Schichtübergabe und könnte eine halbe Stunde für uns erübrigen.«

»Dann nichts wie hin«, sagte Bruno und stand auf. Er zögerte kurz und fragte Louis, ob er mitkommen wolle. Der aber zeigte auf ein paar Jägerkollegen, die an der Bar standen, und sagte, dass er bei ihnen bliebe.

Sie fuhren mit Brunos Transporter und waren zwanzig Minuten später am Bahnhof. Juliette führte ihn um das Gebäude herum und durch eine Hintertür in einen Korridor zwischen Büros. Am äußeren Ende befand sich das, was Juliette den Erfrischungsraum nannte, wo die Bahnbediensteten Pausen einlegten oder auf den Schichtwechsel warteten. Darin befanden sich zwei Sofas, ein großer Esstisch, auf dem ein Schachbrett mit Figuren stand, sowie eine kleine Küchenzeile mit Spüle, Mikrowellenherd und einer Kaffeemaschine. Unter der Arbeitsplatte waren ein Kühlschrank, ein Geschirrschrank und eine Spülmaschine untergebracht. Auf einem zur Hälfte mit Taschenbüchern, Illustrierten und Gesellschaftsspielen gefüllten Regal stand ein kleiner Fernsehapparat.

»Das ist Sylvain, der Schachmeister unter den cheminots«, stellte Juliette einen jungen Mann mit Ziegenbärtchen vor, der sich von der Kaffeemaschine abwandte, um Juliette zu umarmen und Bruno die Hand zu geben.

»Sie müssen Bruno sein. Wie möchten Sie Ihren Kaffee?«, fragte er.

»Schwarz, ohne Zucker, danke.«

»Sie sind also der Mann, der unsere Juliette von der Bahn weggelockt hat«, sagte Sylvain lächelnd und bückte sich, um Tassen aus dem Schränkchen zu nehmen. »Ohne sie ist die Bahn nicht mehr das, was sie war.« Er schaute Juliette an. »Wenn’s in deinem neuen Job nicht so läuft, wie du es dir vorgestellt hast, wären wir alle froh, wenn du zu uns zurückkehren würdest. Immerhin passen unsere Uniformen, was man von deinem Aufzug nicht wirklich behaupten kann.«

Als er Balzac bemerkte, kniete er nieder und tätschelte ihn. Dann holte er eine Packung Kekse aus dem Schrank und forderte seine Gäste auf, sich zu bedienen.

»Darf ich ihm auch einen geben?«, fragte er Bruno und winkte mit einem Keks. »Mein Onkel hatte auch einen Basset; ein herrlicher Hund war das. Wie ist sein Name?«

»Balzac«, antwortete Bruno, der sich wieder einmal darüber freute, dass sein Hund, wo immer er hinkam, Freundschaften schloss. Es machte seinen Job um einiges leichter. »Wenn Sie ihn verwöhnen, wird er Ihnen auf ewig die Treue halten.«

Sylvain schenkte Kaffee ein und zog danach einen kleinen Computer aus seinem Schulterbeutel, der an einem Haken neben dem Bücherregal hing. Bruno sah, dass es sich bei dem Gerät um ein System der elektronischen Fahrscheinverwaltung handelte. Sylvain tippte zwei Tasten an, gab ein Passwort ein und scrollte verschiedene Bildschirmfenster durch.

»Monica Felder hat ihr Ticket online in England gebucht, mit einer Kreditkarte bezahlt und selbst ausgedruckt. Das Ticket ist für alle Züge und einen Monat lang gültig.« Sylvain sprach so deutlich und präzise, wie man es sich von einem Zeugen vor Gericht wünschte, dachte Bruno.

Der junge Mann blickte auf. »Platzreservierungen gibt es auf dieser Linie nicht, weshalb sie an jedem beliebigen Tag hätte fahren können. Sie ist vorgestern in den Zug gestiegen, der täglich um vierzehn Uhr fünf von Bordeaux-Saint-Jean abfährt. Ich habe ihr Ticket kurz vor Bergerac kontrolliert, das heißt, ihren Computerausdruck eingescannt. Deshalb sind mir die Einzelheiten bekannt. Übrigens war sie auffallend hübsch und gut gekleidet. Sie hat mich gefragt, mit welchem Zug sie nächsten Sonntag zurückfahren kann, um pünktlich am Flughafen zu sein. Am Nachmittag müsste sie dort einchecken. Ich habe ihr empfohlen, den Zug um neun Uhr fünf zu nehmen, der um fünf vor zwölf in Bordeaux-Saint-Jean eintrifft. Von dort fährt kurz nach Mittag ein Shuttlebus zum Flughafen.«

»Wissen Sie, wo sie ausgestiegen ist?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, es war Lalinde, obwohl ihr Fahrschein bis Le Buisson gültig war. Ich muss bei jedem Halt raus auf den Bahnsteig und darauf achten, dass niemand zu nahe am Zug ist, wenn ich dem Lokführer das Zeichen für die Weiterfahrt gebe. Deshalb erinnere ich mich an sie und den Mann in ihrer Begleitung.«

»Was für ein Mann? War er mit ihr im Zug?«

»Ja, sie haben englisch miteinander gesprochen, als ich ihre Fahrkarten kontrolliert habe. Er hatte keine und sagte in gutem Französisch, dass er nicht mehr dazu gekommen sei, am Bahnhof eine zu kaufen. Er hat dann in bar nachgelöst und als Grand Voyageur eine Ermäßigung bekommen.«

Bruno wusste von der Treuekarte für Vielreisende. Er selbst konnte darauf verzichten, weil seine Ermäßigung als Polizist noch höher ausfiel. »Dann dürften Sie wohl die Nummer der Treuekarte registriert haben.«

»Mehr noch«, erwiderte Sylvain stolz. »Sogar Name und Adresse, wie sie auf der Karte stehen. Sein Name ist Patrick James McBride, und er wohnt in Sainte-Colombe, wo immer das sein mag. Die Postleitzahl fängt mit vierundzwanzig an, das heißt, der Ort ist in unserem Département.«

»Ich weiß, wo das ist«, sagte Juliette und rief auf ihrem Smartphone das Telefonbuch auf. »Nördlich von Lalinde, auf dem Weg nach Saint-Marcel. Er hat auch einen Festnetzanschluss.«

Bruno warf einen Blick auf die Uhr und wählte die von ihr genannte Nummer. Noch vor dem Festakt dorthin zu fahren und zurück lag zeitlich nicht drin.

»Was für einen Eindruck haben die beiden auf sie gemacht?«, fragte Bruno. »Sie sagten, sie hätten sich unterhalten. Wie alte Freunde? Oder wie Fremde, die gerade Bekanntschaft schließen?«

»Verheiratet waren sie bestimmt nicht – dafür waren sie allzu interessiert aneinander. Sie hat mit ihm geflirtet, und er war regelrecht scharf auf sie. Ich schätze, er wollte sie abschleppen.«

»Wusste gar nicht, dass du so ein Romantiker bist, Sylvain«, schaltete sich Juliette ein und verdrehte die Augen.

»Du holst das Beste aus mir heraus«, gab er grinsend zurück. Bruno hatte das Gefühl, als schäkerte er nicht das erste Mal mit ihr, der offenbar nicht der Sinn danach stand, auf ihn einzugehen.

»Danke für Ihre Hilfe«, sagte Bruno, als sie ihre Tassen ausgetrunken hatten, und er und Juliette fuhren zurück nach Saint-Denis. Louis war immer noch bei Fauquet. Er saß ganz hinten an einem kleinen Tisch, trank einen petit blancund unterhielt sich mit zwei Jägern über die Vorzüge verschiedener Jagdgewehre, die in einer vor ihnen aufgeschlagenen Ausgabe von Le Chasseur zu sehen waren.

Bruno entschuldigte sich bei Juliette und sagte, er wolle Balzac in sein Büro bringen und nachsehen, ob E-Mails für ihn eingegangen seien; er werde rechtzeitig zum Festakt, oder was immer der Bürgermeister auf die Beine gestellt haben mochte, zurück sein. Als er sich dem Haupteingang der Mairie näherte, kam ihm Claire, die Sekretärin des Bürgermeisters, entgegen. Sie hielt eine Hundeleine in der einen und eine große Anzughülle in der anderen Hand. Claire war immer zu Flirts aufgelegt, ganz besonders bei Bruno.

»Bonjour, Bruno, der Bürgermeister will, dass ich mich um Balzac kümmere«, sagte sie, hob die Leine in die Höhe und klimperte mit den Augenlidern. »Ich pass auch gut auf ihn auf. Und das sollen Sie tragen statt Ihrer alten Jacke.«

Sie reichte ihm die Anzughülle. Bruno zog den Reißverschluss auf und fand darin ein neues Uniformjackett mit zwei breiten Streifen auf den Schulterklappen, die einem Chef de service principal vorbehalten sind. Während Claire Balzac an die Leine nahm, verzog sich Bruno hinter die Tür des Bürgermeisteramtes und zog sich um. Eine nette Geste, dachte er, aber man hätte doch einfach neue Epauletten auf die alte Jacke nähen können, die gerade erst aus der Reinigung gekommen war.

Ein Kleinbus voller Gendarmen kam in diesem Augenblick auf der Rue de la République angefahren, gefolgt von einem altbekannten Citroën mit zwei Antennen, die ihn als Fahrzeug der Polizei zu erkennen gaben, und einer weiteren offiziell aussehenden Limousine. Der Kleinbus hielt im eingeschränkten Halteverbot an, um die Insassen aussteigen zu lassen. Bruno ahnte nun, dass es sich bei der vom Bürgermeister organisierten Feier um eine ernste, förmliche Angelegenheit handeln sollte. Yveline, die Kommandantin der Gendarmerie von Saint-Denis, ließ ihren kleinen Trupp in zwei Reihen Aufstellung nehmen und salutierte, als der Präfekt und der procureur des Départements, beide in Uniform, der Limousine entstiegen.

Prunier, der für das ganze Département zuständige Commissaire de police, trug ebenfalls Uniform. Er und Jean-Jacques, der Chefinspektor aus Périgueux, stiegen aus dem Citroën. Vor Jahren hatte Bruno für die Armee Rugby gespielt, unter anderem gegen die Mannschaft der Polizei, zu der auch Prunier gehört hatte. Seitdem waren sie gute Bekannte; Bruno wurde immer wieder einmal von ihm zum Abendessen eingeladen und hatte dabei auch seine Frau und seine Kinder kennengelernt. Prunier hatte gute Arbeit geleistet, als es darum gegangen war, die Einsatzkräfte zu modernisieren und die Moral der Truppe zu heben. Mehrere Male schon hatte Bruno in zum Teil äußerst heiklen Fällen für ihn gearbeitet und immer wieder die Erfahrung gemacht, dass man sich auf ihn und seinen Durchblick, was die komplexen politischen Verhältnisse der Region anbelangte, vollauf verlassen konnte. Auf freundschaftlich-kollegialem Fuß stand er auch mit Chefinspektor Jean-Jacques, mit dem er schon seit zehn Jahren zusammenarbeitete und gelegentlich zu Abend aß. Allerdings glaubte Bruno, dass seine Beziehung sowohl zu dem einen als auch zu dem anderen Mann nicht unmaßgeblich von seiner eigenen Unabhängigkeit abhing. Als Angestellter des Bürgermeisters von Saint-Denis war er nicht an die übliche Weisungskette gebunden. Wäre er Prunier oder Jean-Jacques direkt unterstellt, hätten sie wahrscheinlich ein weniger herzliches Verhältnis.

Die beiden Spitzenbeamten des Départements kamen auf ihn zu und gaben ihm die Hand, als der Bürgermeister, der seine blau-weiß-rote Amtsschärpe trug, die Stufen vor der Mairie hinabstieg. Ihm folgten die Kollegen aus Lez Eyzies und Montignac und schließlich auch die Bürgermeister sämtlicher benachbarten communes, die so klein waren, dass sie keinen eigenen Polizisten hatten: Limeuil, Audrix, Saint-Cirq, Campagne, Saint-Chamassy, Thonac und Thursac. Bruno fragte sich, wann dieses ganze Aufgebot bestellt worden war. Und wie hatte all das ohne sein Wissen organisiert werden können?

Nach der allgemeinen Begrüßung tauchten zwei der engeren Freunde Brunos vor der Mairie auf. Der Baron trug die Veteranenfahne der anciens combattants, und Xavier, der Stellvertreter des Bürgermeisters, die Trikolore Frankreichs.

»Reih dich hinter den Gendarmen ein«, flüsterte ihm der Baron zu, als er an ihm vorbeiging und sich an die Spitze der Parade stellte. Plötzlich kam die Bigband der Schule um die Ecke der Mairie und spielte »Lorraine«, einen Marsch der französischen Armee.

Angeführt von den beiden Fahnenträgern, setzte sich der Festzug in Bewegung, überquerte die Brücke und bog auf den großen Parkplatz ein. Ein Gendarm, der den Platz für die Öffentlichkeit gesperrt hatte, öffnete den Schlagbaum und salutierte, als der Zug vorbeimarschierte. Vor dem Kriegerdenkmal, das einen Soldaten des Großen Krieges mit aufgepflanztem Bajonett vor einem gefallenen Kameraden darstellte, hielten alle an. Der Bronzeadler auf der Spitze des Obelisken, der die Namen der Toten von Saint-Denis trug, war auf Hochglanz poliert worden. Dahinter hatte sich schon eine Menge gebildet, hauptsächlich bestehend aus Angestellten der Mairie und deren Familien. Auch ein paar Ladenbesitzer und Anwohner waren zugegen, darunter Philippe Delaron, der Fotograf und Korrespondent der Regionalzeitung Sud Ouest. Neben ihm stand ein Radioreporter mit einem Mikrophon in der Hand. Zusammen mit dem Präfekten und dem Staatsanwalt betrat der Bürgermeister ein kleines Podest vor dem Denkmal, worauf die Musik verstummte.

»Benoît Courrèges, Chef de police von Saint-Denis, treten Sie bitte vor«, sagte der Bürgermeister. Bruno gehorchte und legte salutierend die Fingerspitzen an sein Käppi.

»Geloben Sie, in Ihrer neuen Funktion als Chef der kommunalen Polizei für das Tal der Vézère die Gesetze Frankreichs zu wahren?«, fragte Mangin.

»Ja, ich gelobe«, erwiderte Bruno.

»Geloben Sie, sich als officier judiciaire im Rang eines Leutnants an die Disziplin und Regeln der Police nationale zu halten?« Es war nun der Staatsanwalt, der als oberster Justizbeamter des Départements Bruno den Eid abnahm, womit dieser nicht gerechnet hatte.

»Ja, ich gelobe«, wiederholte er und fragte sich, wer wohl sonst noch seine Befehlsgewalt über ihn reklamieren würde.

»Polizeichef Courrèges, ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit«, sagte nun der Präfekt. Als Bruno vor ihm Haltung annahm, ließ sich der Präfekt von einem Assistenten eine kleine silberne Medaille an einem blau-weiß-roten Band geben, die er Bruno an die Brust heftete.

»Im Namen einer dankbaren Republik und auf Veranlassung des Innenministers zeichne ich Sie mit der Médaille d’honneur für besondere Dienste im Amt aus«, verkündete er, trat dann einen Schritt zurück und antwortete auf Brunos Ehrengruß. Die Bigband spielte jetzt die Marseillaise, und die Fahnen wurden gehisst, was bedeutete, dass Bruno die Fingerspitzen am Käppi halten musste, bis die Nationalhymne verklungen war. Dann applaudierte die kleine Menge, und der Festakt war vorbei.

Bruno überkam eine seltsame Traurigkeit, als ihm bewusst wurde, dass sein Berufsleben nicht mehr sein würde, was es gewesen war. Von nun an war er nicht nur für Saint-Denis verantwortlich, eine Kleinstadt von weniger als zweitausend Einwohnern und einigen Hunderten mehr, die verstreut zwischen den Hügeln und in den Tälern der flächenmäßig durchaus großen commune verstreut wohnten, die nach Quadratkilometern sogar größer als Paris war. Aus jeder Familie kannte er wenigstens eine Person. Viele waren seine Freunde, und es gab nur wenige Häuser, in denen er nicht willkommen war, die ihn nicht zum Essen oder Trinken einluden oder zum Tanz auf einer Hochzeit, zu einer Taufe oder als Sargträger bei einer Beerdigung. Er gehörte zum Leben der Stadt wie der Bürgermeister, der Priester und die Vézère.

Wie viele Menschen in seinem jetzt um einiges größeren Zuständigkeitsbereich lebten, wusste er nicht. Es mussten an die zwanzigtausend sein. Daran, dass er zu so vielen ein ähnlich inniges Verhältnis entwickeln würde wie zu seinen Mitbewohnern von Saint-Denis, war nicht zu denken. Aber gerade sie, die enge Verbundenheit, war, wie Bruno wusste, der Schlüssel für seine Arbeit als Stadtpolizist. Es blieb ihm nun nichts anderes übrig, als seine Kollegen in diesem Sinn auszubilden, befand er, als die Gendarmen abtraten und die Würdenträger vom Podest stiegen.

Bruno bedankte sich bei allen, schüttelte Hände und gab der Bürgermeisterin von Thonac einen Kuss auf beide Wangen. Warum ihm plötzlich wieder Louis in den Sinn kam, war ihm selbst nicht ganz klar. Der in Montignac geborene und aufgewachsene Kollege war, von seinen missmutigen Launen abgesehen, eine allseits bekannte und vertraute Größe. Er, Bruno, würde ihn nicht verändern können und hatte dies auch gar nicht vor. Stattdessen würde er bei der Wahl von Louis’ Nachfolger ein Wörtchen mitreden und ihn unter seine Fittiche nehmen. Einen durchaus vielversprechenden Eindruck hingegen machte Juliette; sie war gescheit und engagiert und gut vernetzt unter den cheminots.

Als er von den beiden Reportern angesprochen wurde, gab er die üblichen Statements von sich und sagte, er fühle sich von seiner Beförderung geehrt und sehe es als Privileg, den Bewohnern der Region zu dienen. Er bezeichnete sie bewusst als la vallée de l’homme, die Wiege der Menschheit, und gebrauchte damit den Ausdruck, mit dem das Fremdenverkehrsamt für den an prähistorischen Stätten und Artefakten so reichen Landstrich warb. Es gelang ihm schließlich, sich zu lösen, und schnell überquerte er die Brücke und ging zur Mairie zurück.

»Sie sind nicht vorschriftsmäßig gekleidet, Lieutenant«, meldete sich plötzlich die vertraute Stimme von Jean-Jacques, der hinter ihm aufgekreuzt war. »Sie gehören jetzt schließlich zur Police nationale, und da unser Präsident den Notstand ausgerufen hat, müssen Sie im Dienst eine Waffe tragen. Ihren alten Schießprügel können Sie vergessen; Sie bekommen jetzt unsere bewährte Standardwaffe, eine nagelneue SIG Sauer. Ich hab schon eine für Sie in der Zentrale liegen. Unter der Anleitung unseres Waffenmeisters können Sie sich auf dem Schießstand damit vertraut machen. Geben Sie bei der Gelegenheit Ihre alte PAMAS bei uns ab.«

»Warum müssen wir unsere Dienstwaffen eigentlich immer wieder austauschen?«

»Weil wir es im Unterschied zu den Amerikanern in unserem Land zum Glück nicht mit Abermillionen von bewaffneten Zivilisten zu tun haben«, antwortete Jean-Jacques, als sie das Bürgermeisteramt erreichten. »Um es der europäischen Waffenindustrie gutgehen zu lassen, müssen wir also ständig neue Waffen anschaffen – und unterschiedliche für Polizei, Armee, Gendarmerie und Marine.«

Der Bürgermeister, der nie eine Gelegenheit für politische Kontaktpflege ausließ, hatte die Amtskollegen und Staatsvertreter zur Feier von Brunos Beförderung zu einem vin d’honneur eingeladen, gefolgt von einem Mittagessen in der Mairie, um die persönlichen Beziehungen untereinander zu vertiefen. Noch draußen vor dem Bürgermeisteramt rief Bruno seinen Kollegen in Lalinde an, einen ehemaligen Soldaten namens Quatremer, und fragte, ob er einen Ausländer mit Namen McBride kenne, der anscheinend in Sainte-Colombe ansässig sei. Nein, erhielt er zur Antwort, worauf er darum bat, den Mann zu überprüfen, und die Adresse durchgab. Dann stieg er die alte ausgetretene Steintreppe in den Ratssaal hinauf, wo der große massive Holztisch für ein Festmahl gedeckt war. Der Bürgermeister hielt Hof unter seinen Gästen, während Claire auf einem Tablett Champagner reichte.

Bruno studierte die Speisekarte. Als hors-d’œuvre sollte es Stopfleber mit einem Glas Monbazillac geben, danach Forelle mit gerösteten Mandeln, dazu einen Weißwein von der städtischen Winzerei, gefolgt von Käse und Salat und zum Schluss tarte au citron und Kaffee. Bruno rechnete sich aus, dass mindestens vier, vielleicht sogar fünf Tischreden gehalten werden würden. Nach den Willkommensworten des Bürgermeisters und der Vorspeise würde wohl von Bruno erwartet, dass er etwas sagte, dann Bossuet vom Regionalrat nach dem Fischgericht, und dem Präfekten war als hochrangigem Vertreter des französischen Staates wahrscheinlich das Schlusswort vorbehalten.

»Ich musste noch bei der Abteilung für Protokollfragen im Verteidigungsministerium wegen Ihrer neuen Medaille nachfragen, wo genau das Band zu tragen ist«, sagte der Präfekt, als sie sich an den Tisch gesetzt hatten und die foie gras aufgetragen wurde. »Ihr Croix de guerre hat offenbar Vorrang; es sollte also über der Médaille d’honneur hängen.«

»Danke für den Hinweis, Monsieur«, erwiderte Bruno. »Das habe ich nicht gewusst.«

»Es ist für unser Département eine Ehre, für das Pilotprojekt der geplanten Polizeireform ausgewählt worden zu sein. Ich vermute, die Justizministerin war sehr angetan von dem Bericht der charmanten jungen Frau aus Guadeloupe, die die Studie gemacht hat. Sie ist jetzt offenbar eine protégée der Ministerin.«

»Amélie Duplessis«, präzisierte Bruno. »Ja, eine beeindruckende junge Frau. Wussten Sie, dass sie auch eine professionelle Jazzsängerin ist? Sie wird im Sommer zu uns kommen und Konzerte geben.«

Es wurde gegessen, geplaudert und politisiert. Brunos Rede beschränkte sich darauf, allen Anwesenden zu danken, seine Freude darüber zum Ausdruck zu bringen, mit neuen Kollegen zusammenarbeiten zu können, und darauf, dass er nun dienstlich viel auf Achse sein würde in diesem unvergleichlich schönen Teil Frankreichs.

Der Präfekt hatte sich nach seiner Ansprache gerade wieder gesetzt, als Brunos Handy vibrierte. Es war Quatremer aus Lalinde, der Bruno sagte, dass er sofort kommen und Jean-Jacques mitbringen solle. In McBrides Haus habe ein Verbrechen stattgefunden.

3

Da Prunier mit dem Präfekten nach Périgueux zurückfuhr, hatte Jean-Jacques seinen Wagen wieder für sich. Bruno stieg zu ihm und brachte ihn unterwegs auf den neuesten Stand. Juliette folgte ihnen mit Brunos Transporter. Sie würde es mit ihrer ersten schweren Straftat zu tun bekommen, dachte Bruno. Ohne ihre Kenntnisse über das Kontrollsystem der Eisenbahn wäre der Mord womöglich längere Zeit unbemerkt geblieben.

McBrides Haus war ein reizender alter Bauernhof mit einem übereck angelegten steinernen Gebäude und einem gepflegten potager, in dem Möhren und Radieschen, Bohnen und Erbsen sprossen und in einem gehäufelten Beet Spargel heranwuchs. Ein mit Dreck bespritzter Range Rover parkte neben einem kleinen Trecker in der angrenzenden Scheune, worin sich auch ein sorgfältig gestapelter Holzstoß, eine Pumpe für den Swimmingpool und der Ölbrenner für die Zentralheizung befanden. Vor der Rückwand der Scheune stand eine Werkbank mit einer beachtlichen Sammlung an Werkzeugen, zu denen auch eine Kreissäge und eine Drechselmaschine zählten.

Auf dem großen Hof zwischen Wohnhaus und Scheune stand mittig ein hoher Lindenbaum, um dessen Stamm herum ein hübscher Kräutergarten angelegt war. Junge Topfgeranien sorgten für bunte Tupfer, und in einem kleinen Hochbeet an der Außenmauer des Hauses waren Kletterrosen gepflanzt, die bis an die Fenster im Obergeschoss heranreichten. Ein grobbehauener Holztisch, umgeben von sechs Stühlen, stand im Winkel der beiden Flügel des Wohnhauses. Der Haupteingang schien die doppelflügelige Verandatür zu sein, vor der Quatremer auf sie wartete.

»Die stand offen, als ich kam«, sagte er. »Ich habe ins Haus gerufen, und weil keine Antwort kam, bin ich rein und habe mich umgesehen, ohne was anzufassen. Es schien alles ganz normal und aufgeräumt zu sein, bis ich dann einen Blick ins Badezimmer warf. Da habe ich zuerst in Ihrem Büro angerufen, Jean-Jacques, und dann Bruno, weil er mich gebeten hat, hier nach dem Rechten zu schauen.«

Jean-Jacques nickte und forderte beide, Bruno und Quatremer, auf, Handschuhe anzuziehen und Plastiktüten über die Schuhe zu streifen. Bruno hatte immer ein paar Kombinationen in seinem Wagen. Jean-Jacques ging voran in ein hübsch eingerichtetes Wohnzimmer, das an die sechs Meter lang und breit war. Auf dem gefliesten Boden lagen mehrere kostbar aussehende Perserteppiche. Im offenen cheminée war anscheinend kürzlich Feuer gemacht worden, obwohl, wie Bruno bemerkte, die Heizkörper zu beiden Seiten der Verandatür und unter jedem Fenster für ausreichende Wärme sorgten. Neben dem Kamin lehnte ein Beil an der Wand, mit dem wahrscheinlich Kienspäne gehackt worden waren.

Über der großen Feuerstelle und längs einer Seitenwand hingen Jagdtrophäen: der Schädel eines Muf‌f‌lons mit herrlich geschwungenen Hörnern, flankiert von Hirschgeweihen, die Bruno nicht zu bestimmen wusste; er tippte auf eine afrikanische Art. Ein Bücherregal vor der anderen Wand enthielt sehr viel mehr DVDs und CDs als Lesestoff. Auf einem Beistelltischchen zwischen zwei einander zugewandten Sofas zu beiden Seiten der Feuerstelle stand ein Aschenbecher, daneben lagen eine englische Tageszeitung und einige Magazine.

In einem antiken Holzschränkchen waren eine kleine Bar mit mehreren Flaschen, ein großer Fernsehapparat und eine Stereoanlage untergebracht. Auf dem Schrank standen Fotos, die alle einen Mann in Safarimontur und mit dunkler Sonnenbrille zeigten, der stolz lächelnd eine schwere, altertümliche Großwildbüchse in den Händen hielt. Auf einem hatte er einen Fuß auf den Kopf eines toten Nashorns gestellt, auf einem anderen stand er neben einem Elefanten, dem die Stoßzähne herausgebrochen worden waren. Auf einem dritten Foto war derselbe Mann zu sehen, der, von zwei Afrikanern in Khaki-Overalls flankiert, mit einem modernen Gewehr vor einem erlegten Löwen posierte.

Bruno schüttete den Kopf voller Abscheu. Unter Jagd verstand er etwas völlig anderes, nämlich das Weidwerk zur Beschaffung von Wildbret. Was er auf diesen Fotos dokumentiert sah, war wahrscheinlich sogar ungesetzlich. Allerdings erinnerte er sich vage, dass manche Länder an reiche Jäger Lizenzen zum Abschuss älterer Tiere verkauften. Ein viertes Foto zeigte den Mann mit bloßem Oberkörper an einem sonnigen Strand, im Arm dasselbe Gewehr. Im Hintergrund zogen Afrikaner ein Schlauchboot mit starkem Außenbordmotor an Land, vor einem Panorama, das ihm irgendwie bekannt vorkam.

Links und rechts des Schrankes mit den Fotos gab es Türen. Die eine führte in eine große, bestens eingerichtete Küche mit Platz für einen Tisch, an dem sechs oder acht Personen sitzen konnten. Er wirkte etwas klobig und selbstgemacht und ließ Bruno an die Kreissäge denken, die er in der Scheune gesehen hatte. Die andere Tür öffnete sich in einen Toilettenraum mit WC, Handwaschbecken und einer abgetrennten Spülküche, in der eine Waschmaschine und ein Wäschetrockner standen. Vom Wohnzimmer führte eine alte, ansehnlich geschwungene Holztreppe nach oben. Durch eine geöffnete Tür blickte Bruno auf ein ungemachtes Doppelbett; die Bettdecke war einfach zur Seite geworfen worden.

»Hier lang«, sagte Quatremer. Er ging um das Bett herum und zeigte durch eine Türöffnung in das angrenzende Badezimmer.

Auf dem Boden vor dem Bett lagen ein BH, ein Damenslip und ein paar Schuhe. Neben einem Sessel, über den ein blaues Seidenkleid geworfen war, stand aufgeklappt ein kleiner Rollkoffer. Herrenschuhe, Socken, Jeans und ein Hemd lagen vor dem Fußende des Bettes verstreut. Jean-Jacques betrachtete die Szene und wies schließlich auf die Bettwäsche.

»Nichts davon berühren. Wir müssen prüfen, ob es zum Geschlechtsverkehr gekommen ist«, sagte er und ging in das Badezimmer.