Merano mortale - Elisabeth Florin - E-Book

Merano mortale E-Book

Elisabeth Florin

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Beschreibung

Meraner Atmosphäre, Humor und skurrile Figuren . . . eine tödlich-unterhaltsame Mischung. Ispettore Emmenegger hat als neuer Chef der Meraner Mordkommission alle Hände voll zu tun. Seine Nachbarin Lisa Granelli wird bei einem frühmorgendlichen Spaziergang erschlagen. Vom Täter fehlt jede Spur, doch Feinde hatte Granelli viele. Als Leiterin der Kreditabteilung einer Meraner Bank stürzte sie so manchen in den finanziellen Ruin. Emmeneggers erster Fall wird zur echten Bewährungsprobe, denn die Indizien sprechen eine klare Sprache: Der Hauptverdächtige ist er selbst.

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Elisabeth Florin wuchs in Süddeutschland auf; ihre journalistische Laufbahn begann sie in den 1980er Jahren bei der RAI in Bozen. Von den Menschen in Südtirol und ihrer Geschichte fasziniert, verbringt sie seither viel Zeit in Meran und Umgebung, meistens in Begleitung ihres Mannes und ihres kleinen Hundes. Elisabeth Florin arbeitete fünfundzwanzig Jahre lang als Finanzjournalistin und Kommunikationsexpertin in Frankfurt am Main.

www.elisabethflorin.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2021 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: shutterstock.com/Sonja Filitz

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer

Lektorat: Carlos Westerkamp

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-786-6

Originalausgabe

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Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens. Siehe, wie klein dort,

siehe: die letzte Ortschaft der Worte, und höher,

aber wie klein auch, noch ein letztes

Gehöft von Gefühl. Erkennst du’s?

Die Zeit rennt

Meran. Laubengasse

11.April. Später Nachmittag

Ispettore Emmenegger würde gern rennen.

Eine Mischung aus Hüpfen und Hinken ist alles, was er zustande bringt.

Bei jedem Schritt macht er mit dem linken Bein einen Satz nach vorne. Dann nimmt er die Krücke, rudert mit dem linken Arm und zieht das kaputte Bein nach.

Er ähnelt einer riesigen verletzten Krähe, die versucht, sich in die Luft zu schwingen.

Die Laubengasse ist voller Passanten. Die Leute bleiben stehen, um dieser seltsamen Erscheinung hinterherzustarren, die im Bademantel und in Badelatschen durch Merans Fußgängerzone wankt.

Ein paar Halbwüchsige stoßen sich an und beginnen Emmenegger mit ihren Skateboards zu umkreisen. Als er sie mit seiner Krücke abwehrt, springt sein Bademantel auf, und die Brustbehaarung samt einer verknitterten Schlafanzughose kommt zum Vorschein.

Der Kellner des Bistro Sieben sieht die Heldenbrust durchs Fenster und eilt zum Telefon, um die Carabinieri anzurufen. Ein Hund, der vor dem Delikatessengeschäft Siebenförcher angebunden ist, bellt der Gestalt hinterher. Ein Junge tritt aus dem Laden, beugt sich zu dem Hund – und kriegt Kulleraugen, als Emmenegger vorüberhastet.

Der bemerkt von alledem nichts. Ihn interessiert bloß die Zeit und dass sie wahrscheinlich schneller ist als er.

Überall sieht er Uhren. In der Ferne die Kirchturmuhr von Sankt Nikolaus, die mit goldenem Finger in den Himmel zeigt, um das Unvermeidliche anzukündigen. Dort den schweren taschenuhrförmigen Zeitmesser, der über einem Laubendurchgang hängt, um Zuspätkommer zu erschlagen.

Und im Vorübereilen Dutzende von Armbanduhren im Fenster vom Juwelier Ceska. Emmenegger kann durchs Schaufenster hören, wie sie aufmarschieren, um als Tamburine den Takt fürs Erschießungskommando zu schlagen.

Das Ticken hallt in seinem Kopf wider: zu spät – zu spät – zu spät …

Er fühlt sich wie in einem Traum: Man flüchtet, kommt aber nicht von der Stelle. Nur dass es kein erlösendes Erwachen geben wird.

Das Pochen in seinem verletzten Oberschenkel, das ein Aufplatzen der Verletzung ankündigt, ist Emmenegger gleichgültig. Was ihn wund reibt, ist die quälende Langsamkeit, mit der er sich fortbewegt.

Und die Erkenntnis seiner Schuld.

Drei Wochen vorher

Vorabend eines Mordes

Passerufer

20.März. Gegen zweiundzwanzig Uhr dreißig

Die Bars am Thermenplatz sind an diesem warmen Frühlingsabend gut gefüllt. Beinahe jeder Tisch ist besetzt. Doch statt der üblichen Kakofonie herrscht eine eigenartige, fast andächtige Stimmung, und das liegt nicht an der »Wassermusik« von Friedrich Händel, die aus den Lautsprechern erklingt.

Selbst die Kellner, die sich zwischen den Tischen hindurchdrängen, scheinen irgendwie ergriffen. Gefährlich schwankende Tabletts gleiten wie durch Zauberhand über die Köpfe, als schwebten sie.

Alle Augenpaare – es sind gut und gern hundert – kleben an dem, was am Flussufer geschieht.

Dort befindet sich ein in das Trottoir eingelassener Brunnen, aus dem bunte Wasserfontänen in die Höhe steigen. Kunstvoll mit blauem Licht beleuchtet, wirkt er wie eine Freilichtbühne.

In dem Brunnen tanzt ein junger Mann.

Sein Gesicht ist weiß bemalt. Aus dem linken Auge quillt eine übergroße blaue Träne.

Auf seinem Kopf, keck in den Nacken geschoben, sitzt ein schwarzer Hut, unter dem sich blaue Ringellöckchen kringeln. Wenn der Junge den Kopf im Takt der Musik bewegt, ist ein Zopf zu erkennen, der ihm auf die Schulter fällt.

Der Junge ist mit einem azurblauen, knappen Slip mit schwarzer Spitze bekleidet, der in der Art aller Tänzer mehr preisgibt, als er verhüllt. Seinen schmalen Oberkörper ziert ein prächtiges blauschwarzes Spitzenbustier.

Der Junge spielt mit den Fontänen, als wären sie seine Partnerinnen in einem bizarren Menuett. Er tänzelt, knickst, umkreist die aufsteigenden Wassersäulen. Streckt geziert die Finger aus, als wollte er ihnen die Hand reichen. Dabei legt er sich so in die Kurve, dass den Zuschauern der Atem stockt. Doch die Schwerkraft hat heute ihren freien Abend.

Mühelos schwingt er sich hoch, schlägt ein Rad, dann noch eins, und die Fontänen verbinden sich mit seinen Füßen zu einem leuchtenden, wirbelnden Wasserspiel.

Die Leute sind begeistert von dem, was dieser junge Artist so draufhat. Viele klatschen Beifall. Vereinzelt gibt es Standing Ovations.

An der Getränkeausgabe der Bar La Piazza reckt ein Kellner den Daumen Richtung Terrasse. »Kann mir mal einer sagen, ob dieser komische Kerl zu den Varietéwochen gehört? Die Leute löchern mich die ganze Zeit.«

Sein Kollege zuckt die Schultern. »Frag den Chef.«

Aber das wird nicht nötig sein.

Draußen verbeugt sich der Junge nach allen Richtungen. Sein Gesicht strahlt.

Dann geschieht etwas Irritierendes. Von einer Sekunde zur anderen verwandelt sich das Strahlen in ein Grinsen, und das ist … eindeutig boshaft.

Der Junge streckt die Zunge heraus und züngelt frivol.

Er wackelt mit den Hüften. Das kunstvolle artistische Menuett ist verschwunden.

Er nimmt eine der Wasserfontänen zwischen die Beine, als wäre er im Stripclub und die Säule wäre seine Stange.

Schiebt die Hüften vor. Bewegt die Hände entlang der Wasserfontäne hinauf und hinunter, als wäre sie …

Buhrufe ertönen, aber noch sind Lacher darunter.

Der Junge dreht sich um. In gespielter Entrüstung reißt er die Augen auf. Eine einzige fließende Bewegung, und der Slip fällt.

Sein nackter Po erstrahlt blau und gelb im Rhythmus der Wasserfontänen.

Pfiffe. Buhrufe. Eine Frau schreit: »Hier sind Kinder, du Idiot!«

Der Junge richtet sich auf. Er blinzelt. Sein Hut fällt vom Kopf. Plötzlich wirkt er verunsichert.

Er greift nach dem triefenden Slip, will ihn überstreifen, aber für einen geordneten Rückzug ist es zu spät.

Ein schwarzer Alfa Romeo hält mit quietschenden Reifen am Straßenrand. Zwei Carabinieri springen heraus, packen den Jungen, drehen ihm die Arme auf den Rücken und zerren ihn in den Wagen. Der Motor heult auf, und der Wagen braust davon.

Nach einer Minute ist der Spuk vorbei.

Die Gäste starren noch eine kurze Weile auf den Brunnen, der ungerührt bunte Fontänen gen Himmel schickt. Dann kehrt man widerstrebend zu den eigenen Angelegenheiten zurück. Zu dem Neuen bei der Arbeit, der nichts kann, aber allen die Schau stiehlt, dem renitenten Nachwuchs und den schlechten Angewohnheiten abwesender Ehemänner.

Es ist, als hätte es den Jungen (sein Name ist übrigens Paul) nie gegeben.

***

Zur gleichen Zeit, einen Kilometer Luftlinie entfernt, sitzt ein Mann auf dem Balkon und wartet auf einen Mord.

Die Fenster der Mordkommission Meran gegenüber wirken hell erleuchtet. Aber es ist bloß das Licht der Straßenlaterne, das sich in den Scheiben spiegelt.

Auf der anderen Seite des Platzes, wo die Lauben in den Rennweg münden, machen die Urlauber die Nacht zum Tag. Endlich ist das Leben zurück. Gelächter schwappt bis herauf in den dritten Stock.

Ispettore Emmenegger, kommissarischer Leiter der Mordkommission Meran, kann sowieso nicht schlafen.

Es ist dieses Nichtstun, das ihn unruhig und kribbelig macht.

Es scheint, als wären Merans Kriminelle seit dem Frühjahr 2020 zum Nichtstun verdammt, wie der Rest der Welt. Als wären auch sie in Lethargie verfallen.

Ein paar Todesopfer gab es schon. Eine Messerstecherei in einer Kneipe. Eine Frau, die Passanten in einem Hinterhof neben einer Abfalltonne fanden. Goldener Schuss. Kein Blut, nur ein weißes Gesicht und eine kalte Hand.

Seit Jahren führt Emmenegger einen Feldzug gegen die Drogenmafia. Die Tote deprimierte ihn mehr als dieser Kneipenbesuch der besonderen Art, nach dem seine Klamotten nach Blut und Bier stanken.

Emmenegger schaut hinüber zu den gespenstisch schimmernden Fenstern. Wenn es so weit ist, wird sich zeigen, ob er in die Schuhe seines Vorgängers passt.

Seine Ängste würde er niemandem anvertrauen, nicht seiner jungen Kollegin Eva Marthaler und schon gar nicht seinem Vorgesetzten.

Wenn Emmenegger an die glatten Augen des neuen Polizeichefs denkt, die über ihn hinweggleiten wie über altes Gerümpel, kann er sich ausmalen, was auf ihn zukommt.

Mit seinen zweiundvierzig Jahren ist Claudio Branga bloß zehn Jahre jünger als Emmenegger. Aber er spricht langsam mit ihm, mit sanfter Stimme, wie mit einem trotteligen alten Onkel. Jedes Mal fürchtet Emmenegger, der andere würde die Hand ausstrecken, um seinen Kopf zu tätscheln.

Der Neue hat seine Ausbildungszeit in der Abteilung für Interne Ermittlungen verbracht. Der Fleischwolf »Interne« drückt immer die gleiche Sorte Polizisten heraus: Erbsenzähler und Paragrafenreiter, denen hübsch ordentliche Ermittlungen wichtiger sind, als Verbrecher hinter Schloss und Riegel zu bringen.

Branga ist Teetrinker. Bei Emmeneggers letztem Antritt im Chefbüro blieb ihm nichts übrig, als eine Tasse mitzutrinken. Angeblich eine Spezialmischung aus einem gottverlassenen nepalesischen Tal, dessen Namen Emmenegger vergessen hat. Er schüttelt sich. Das Gebräu schmeckt wie Abwaschwasser, egal, ob Himalaya oder Teebeutel vom Eurospar.

Emmenegger trinkt den letzten Schluck Bier. Irgendwann wird der erste Mord passieren. Nur bitte noch nicht morgen.

Als Emmenegger hochfährt, hält er die Bierflasche wie ein Baby im Arm. Draußen ist es hell.

Drinnen läutet das Telefon.

Tag 1 – Kein schlechter Platz zum Sterben

Oberlana bei Meran. Hundeplatz am Falschauer-Ufer

21.März. Sieben Uhr morgens

Zum dritten Mal biegt Emmenegger mit dem Einsatzwagen in dieselbe Straße ein. Weit und breit ist kein freier Parkplatz zu sehen. Wenn es nach ihm ginge, könnten sie ewig um die Häuser kreisen.

Eine Putzkolonne marschiert vorbei, zur Eingangstür des Bräukellers. Der Besitzer eines teuren Schuhladens steht vor seiner Ladentür und betrachtet die Runden des Polizeiwagens mit gerunzelter Stirn.

Seine Kollegin Eva Marthaler hält es kaum noch im Beifahrersitz. Ihre blauen Augen leuchten.

Eva ist Mitte dreißig, rothaarig und der Traum seiner schlaflosen Nächte, aber manchmal wünscht er sich, sie hätte ein bisschen weniger Tatendurst.

Die Temperaturanzeige im Cockpit meldet fünfundzwanzig Grad Außentemperatur. Durchs Fenster strömt feuchtwarme Luft. Emmenegger fühlt sich wie im Dampfbad »Passerstein« der Meraner Therme.

Eine Stechmücke lässt sich auf seinem Handrücken nieder und schickt sich an, ihr Frühstück einzunehmen. Emmenegger schlägt mit Wucht zu – Blut spritzt auf sein weißes Hemd.

»Pfui!« Eva rückt von ihm ab.

»Entschuldigung«, stammelt er.

»Da vorn!« Sie zeigt auf einen ausscherenden Wagen.

»Fußgängerzone. Absolutes Halteverbot.«

»Na und? Wir sind im Einsatz.«

Emmenegger gibt sich geschlagen. In seiner Brust schwingt ein bleiernes Pendel hin und her.

Emmenegger hat den Wagen kaum abgesperrt, da steuert Eva Marthaler mit wehenden Rockschößen auf einen Spazier- und Radweg zu, der am Fluss entlangführt.

Wohl oder übel folgt er ihr.

Auf dem Hundeplatz in Oberlana liegt eine Tote. Die Identität ist unbekannt, die Todesursache ebenfalls. Als Emmenegger Details wissen wollte, hatte Pitti gesagt: »Komm halt her.«

Vielleicht ist es eine Obdachlose, deren Leber schlappgemacht hat. Emmeneggers Bauchgefühl sagt was anderes.

***

Emmenegger kennt den Hundeplatz. Es ist eine umzäunte Wiese, unmittelbar am Falschauer-Ufer, wo wilde, aromatische Sträucher wachsen. Ein paar große Felsbrocken laden zum Sitzen ein. Ein verwunschenes Fleckchen Erde, wo man einen Hund von der Leine lassen und in den Himmel starren kann.

Kein schlechter Platz zum Sterben.

Auf der Treppe, die zur Pforte hinabführt, fällt ihm die Stille auf. Eigentlich sollte der übliche Zirkus bereits in vollem Gange sein. Was bedeutet, dass er Kohlgrubers laute Stimme hören müsste.

Doch statt der Kommandos, die der Leiter der Spurensicherung an jedem Tatort bellt, ist ein nicht menschliches Jaulen und Knurren zu vernehmen.

Die in grüne Plastiküberzüge gehüllten Spusi-Leute stehen mucksmäuschenstill in einer Ecke der Wiese.

Da ist auch Arnold Kohlgruber. Ausnahmsweise ist er still und starrt auf etwas, das sich am Falschauer-Ufer neben einer kleinen Baumgruppe abspielt.

Die Hauptakteure sind ein Hund und ein Mensch. Der Hund ist eine hässliche kupferfarbene Promenadenmischung. Mit vorgestrecktem Kopf steht das Tier über einer verkrümmten Gestalt. Der Hund fletscht die Zähne und knurrt, um einen Augenblick später die Schnauze zu heben und erbärmlich zu heulen.

Einen kurzen glücklichen Moment lang spielt Emmenegger mit dem Gedanken, der Hund wäre der Täter. Ein Biss in die Halsschlagader, und der Tag ist sein Freund.

Dann schaut Emmenegger genauer hin, und sein Magen zieht sich zusammen. Er kennt diesen Hund.

Der Mann vom »TIERHEIM NATURNS« (weiße Großbuchstaben auf schwarzem T-Shirt) sieht aus wie ein Schülerpraktikant, mit Pickeln und blasser Gesichtshaut um die Nase. Er betrachtet seine ausgestreckte Hand so ängstlich, geradezu wehmütig, als müsste er sich gleich von ein paar Fingern verabschieden. Die Beschwörungsformeln, die er vor sich hin murmelt, hören sich an, als würden sie ihm selbst gelten: »Alles ist gut. Alles ist fein …«

Emmenegger setzt sich in Bewegung. Eva will ihn zurückhalten. »Ich würde das nicht machen. Der Hund wird Sie beißen, Chef.«

»Es ist eine Sie. Die Hilde tut keiner Fliege was.«

Schnell streift er Einwegüberzieher über die Schuhe, dann geht er langsam, aber bestimmt auf das Tier zu und packt es am Halsband.

»Komm, mein Mädchen. Die Show ist vorbei.«

Die Hündin sieht das nicht so, sie versucht, sich ihm zu entwinden, aber mit seinen neunzig Kilo ist Emmenegger dreimal so schwer.

Als er Hilde abführt, sieht er sich die Leiche an. Sie liegt auf dem Rücken, ihr blutverkrusteter Kopf ist zur Seite gefallen. Daneben ein rot verschmierter Stein.

Wie er schon vermutet hat, kennt er die Frau. Sie ist seine Nachbarin. Ihre Wohnung befindet sich ein Stockwerk unter der von Emmenegger. Sie ist – war – um die sechzig und eine Schreckschraube ersten Ranges. Wenn Emmenegger an sie denkt, dann als »die alte Granelli«.

Neben dem metallischen Geruch, der von der Toten ausgeht, kann Emmenegger noch etwas anderes riechen: schweren Ärger.

***

In die Menge kommt Bewegung. Alle reden durcheinander. Der Polizeifotograf bringt seine Kamera in Stellung. Auf der Bildfläche erscheint Frau Dr.Landers, Gerichtsmedizinerin und wegen ihres Dünkels und einer bürokratischen Arbeitsauffassung, die ihre Faulheit kaschieren soll, nicht gerade beliebt. Als sie mit ihren Stöckelschuhen einen Hundehaufen aufspießt, muss sich Emmenegger abwenden, damit niemand sein breites Grinsen sieht.

Auch Arnold Kohlgruber hat eine stille Sekunde der Freude eingelegt, aber jetzt fängt er an, seinen Leuten Anweisungen zuzubrüllen.

Einer seiner Mitarbeiter bringt Emmenegger die Handtasche der Toten. »Nicht mehr nötig«, sagt der Spusi-Mann, als Emmenegger Gummihandschuhe überstreifen will. Aus Gewohnheit tut er es trotzdem.

Die Handtasche ist mit zwei goldenen C verziert.

»Gucci. Nicht billig.« Evas erster Kommentar, seit sie am Tatort sind. Jetzt, wo der Tod ein Gesicht bekommen hat, ist sie ein wenig kleinlaut.

Eine Brieftasche mit einer Latte goldener Kreditkarten und einer Codekarte. Der Vorname der Frau ist Lisa. Emmenegger fällt er jetzt wieder ein. Die goldene Plakette neben ihrer Wohnungstür, mit einer kunstvoll geschwungenen Schrift, als ginge es zum Allerheiligsten: »Lisa Granelli, Direktionsmitglied, Cassa Popolare Meran«.

Aus den hinteren Fächern lugen fünfhundert Euro in Hundertern hervor. Ein Raubmord scheidet schon mal aus.

In der Tasche sind außerdem ein Kamm und ein Lippenstift in einem garstigen violetten Rotton.

In einem Seitenfach findet Emmenegger das Foto eines jungen Mannes mit langen blonden Haaren, zerknittert und an den Ecken abgegriffen.

Das letzte Utensil ist ein goldenes Blöckchen mit einer Kette, an der ein winziger Bleistift hängt. Emmenegger ist unbehaglich zumute, als er es aufklappt. Alle Seiten sind herausgerissen. Er atmet auf. Diese filigrane Komposition hat er erst kürzlich zu Gesicht bekommen.

***

Emmenegger hatte es eilig gehabt und seine schwere BMW im Innenhof des Hauses abgestellt, in dem er wohnt. Das Verbotsschild samt der per Hand aufgemalten Ausrufungszeichen ignorierte er geflissentlich.

Die Granelli musste ihm aufgelauert haben. Wie aus dem Nichts stand sie vor ihm und zückte das Blöckchen.

»Jetzt drücken Sie mal ein Auge zu«, sagte er. »Es ist schon spät, und das Bike stört keinen.«

»Nichts da.« Die Frau kritzelte etwas aufs Papier. »Ich werde den Verstoß melden. Es geht schließlich ums Prinzip.«

Komischerweise sah sie dabei nicht wütend aus, sondern irgendwie – erfreut.

***

Carabiniere Pitti hat einen vierschrötigen Mann in Emmeneggers Alter im Schlepptau. In seinen Armen zappelt ein kleiner Yorkshire Terrier, der anfängt, wie wild zu kläffen, als er Hilde sieht.

»Nehmen Sie das Vieh weg«, sagt der Mann in bissigem Ton. »Fast hätte die Töle meinen Cäsar gebissen!«

»Aber woher denn. Die Hilde ist eine ganz Liebe«, sagt Emmenegger, immer bereit, die Ehre einer Dame zu verteidigen.

»Pfhhht! Lächerlich!«

Da hat der Mann recht, jedenfalls in Bezug auf den kleinen Cäsar.

Pitti schaltet sich ein. »Das ist Signor Mandel. Er hat die Tote gefunden.«

»Dann erzählen Sie mal«, sagt Emmenegger.

Offenbar wohnt Herr Mandel ganz in der Nähe und kommt jeden Morgen um dieselbe Zeit hierher, damit Cäsar seine Geschäfte erledigen kann. »Immer um Punkt halb sieben. Cäsar und ich leben genau nach der Uhr.« So seht ihr auch aus, denkt Emmenegger.

Es stellt sich heraus, dass Mandel die Tote schon ein paarmal gesehen hat. Nicht gekannt, wie der Mann betont. »Wir haben uns zugenickt, das war’s. Ich wusste nicht mal, wie die hieß.«

Die Granelli und ihr Hund waren offenbar Stammgäste auf dem Hundeplatz. »Glücklicherweise nicht zur selben Zeit wie Cäsar und ich. Sie ging, wenn wir kamen«, sagt Mandel und wirft Hilde einen scheelen Blick zu. »Ihr hässliches Vieh hörte überhaupt nicht. Mein Cäsar hatte jedes Mal eine Heidenangst.«

Cäsar sieht nicht besonders ängstlich aus, eher wild entschlossen.

»Und heute Morgen?«

»Da kam sie natürlich nicht raus wie sonst.« Ein verächtlicher Blick streift Emmenegger. »Sie war ja tot.«

»Haben Sie jemanden gesehen?«

»Wer sollte das gewesen sein?«

Emmenegger spart sich die Antwort. »Ist Ihnen irgendetwas Besonderes aufgefallen?«

»Na, die Tote halt. Gottlob hatte ich Cäsar auf den Arm genommen, weil ich schon von Weitem gehört hab, dass dieses Vieh wie verrückt gebellt hat. Bestimmt hätte es Hackfleisch aus Cäsar gemacht.« Zärtlich streichelt er den geifernden und wild um sich schlagenden Winzling, der einem schrecklichen Schicksal entronnen ist.

»Überall im Gras war Blut. Es war furchtbar.« Mandel schaut hinüber zur Leiche, die unter einem Zelt der Spurensicherung verschwunden ist.

»Haben Sie irgendwas angefasst?«

»Pfhht!« Empörtes Augenrollen. »Ich hab mich gehütet, näher ranzugehen. Es war deutlich zu sehen, dass der Frau nicht mehr zu helfen war.«

Wenn einer Hilfe braucht und ausgerechnet dieser Kerl ist der Einzige weit und breit, dann gnade ihm Gott. Emmenegger hört mit halbem Ohr, wie Pitti die Personalien von Herrn Mandel aufnimmt. Gerade schaut Arnold Kohlgruber zu ihnen herüber. Emmenegger weiß, was ihm gleich blüht.

Tathergangs-Analysen sind Kohlgrubers Steckenpferd. Sie gehören nicht zu seinem Job, aber das ist ihm egal.

In der Regel sind seine Szenarien nur zur Erheiterung seiner Polizeikollegen zu gebrauchen. In seltenen Fällen landet der Spusi-Chef einen Glückstreffer.

»Kommen Sie«, raunt Emmenegger Eva zu. »Seinen Vortrag kann Kohlgruber mir am Telefon halten. Schaffen wir den Hund hier weg, sonst landet er noch im Tierheim.«

Als sich Kohlgruber in Bewegung setzen will, formt Emmenegger mit abgespreiztem kleinen Finger und Daumen einen imaginären Telefonhörer. Kohlgruber macht ein böses Gesicht.

Eva rückt etwas von der Hündin ab, die gerade dabei ist, auf Emmeneggers Hand zu sabbern. »Igitt, wie dieser Hund stinkt! Und der soll mit uns im Auto fahren?«

Bevor Emmenegger antworten kann, kommt Pitti zurück.

»Da ist noch was. Bei uns sitzt jemand im Loch, der mit niemandem sprechen will außer mit dir. Vielleicht kriegst du was aus ihm raus.«

Petrarcastraße. Carabinieri-Station Meran-Mitte

21.März. Am Vormittag

Paul zittert so stark, dass seine Zähne klappern. Mit beiden Händen umklammert er den Stuhl. Der Junge trägt immer noch den Slip und das Bustier. Der Stoff klebt an seinem dürren Körper. Er sieht nicht aus wie ein Zweiundzwanzigjähriger, sondern wie ein zu groß geratenes Kind.

»Der Knabe sagt, du kennst ihn.«

»Was ich manchmal zutiefst bereue. Jetzt zum Beispiel.«

In Emmeneggers Herz sitzt eine weiche Stelle für räudige Straßenhunde und andere Wesen, die niemand haben will. Genau dort hat Paul sich eingenistet.

Pitti grinst. »Nimm ihn mit, bevor ich’s mir anders überlege.«

Jetzt ist Emmenegger mit Grinsen an der Reihe. Pitti ist in Ordnung, was man nicht von allen Carabinieri sagen kann.

Emmenegger wirft Paul ein Hemd und eine Hose zu, die er in aller Eile zusammengerafft hat.

»Marsch, zieh das an.«

Paul rückt von dem Bündel ab und spreizt die Finger. »Igitt! Hast du die Altkleidersammlung geplündert?«

»Sei nicht so frech. Du kannst froh sein, dass ich dich raushole.«

Paul wirft ihm einen waidwunden Blick zu und verschwindet samt Klamotten in Richtung Toilette.

***

»Tschugg.« Pitti nimmt Pauls Ausweis vom Schreibtisch und klappt ihn auf. »Der Junge ist bei uns nicht aktenkundig, aber bei dem Namen klingelt was bei mir.«

»Sein Vater war Dauergast bei euch. Er spielte den Handlanger bei allerlei krummen Dingern und ließ sich erwischen. Kaum war er aus dem Gefängnis raus, saß er schon wieder«, sagt Emmenegger. »Er stand Schmiere, erledigte Botengänge und trieb Geld mit den Fäusten ein, vorzugsweise bei Leuten, die sich nicht wehren konnten.«

»Ich erinnere mich«, sagt Pitti langsam. »Der Mann ist ein Kleinkrimineller. Ein verschlagener Kretin. Dumm wie Bohnenstroh.«

»Treffend beschrieben.« Emmenegger nickt. »Bis auf die Gegenwartsform. Kein großer Verlust für die Menschheit. Wenn’s ihn juckte, hat Tschugg seinen Sohn windelweich geprügelt, der feige Wicht. Manche von den schweren Jungs haben mehr Ehre im kleinen Finger.«

»Da ist was dran«, sagt Pitti.

Sie schweigen einen Moment.

»Hast du vor, mir zu verraten, woher du den Jungen kennst?« Pitti sieht Emmenegger nicht an. Das schätzt Emmenegger an dem Carabiniere. Pitti ist behutsam und diskret und mag es nicht, Leute in die Enge zu treiben.

»Sicher, ist kein Geheimnis. Vor ein paar Jahren fing Tschugg junior an, durch unsere Mordfälle zu latschen. Er hing wie eine Klette an uns. Meinem Ex-Chef blieb nichts anderes übrig, als ihn unter seine Fittiche zu nehmen, damit er kein Unheil anrichtete.«

Pitti lacht. Dabei hat Emmenegger bloß an den Rändern von Pauls Geschichte gekratzt.

***

Paul Tschugg besitzt die Seele eines Katers, der ausgerechnet dem Allergiker auf den Schoß springt. Commissario Pavarotti, den früheren Chef der Mordkommission, hat er zu seinem Helden erkoren. Paul und Pavarottis Ziehsohn Justus, so unterschiedlich wie Tag und Nacht, wurden unzertrennlich. Pavarotti hatte keine andere Wahl, als Paul in seiner Nähe zu dulden.

Und jetzt hat Emmenegger ihn geerbt.

Der Junge hat eine Macke. Sein ganzes Verhalten ist eine Abweichung von der Norm. Nach dem Tod seines Vaters ist es etwas besser geworden. Aber nicht viel.

Pauls schlimmste Angewohnheit ist es, seinen Selbstmord vorzutäuschen. Mittlerweile beherrscht er eine ganze Reihe von Selbstmordmethoden perfekt. Die Zeugen seiner Vorführungen wünschen sich sehr, sie wären zu der Zeit anderswo gewesen.

Dagegen ist das, was sich Paul am gestrigen Abend geleistet hat, ein Fliegenschiss.

***

Gerade rechtzeitig schaltet Emmenegger wieder auf Empfang.

»… tue mein Bestes, um diese Sache aus der Welt zu schaffen«, sagt Pitti. »Dummerweise liegt gegen den Jungen eine Anzeige wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses vor.«

»Ich dachte, ihr seid zufällig vorbeigekommen und habt ihn aus dem Verkehr gezogen?«

»Tja, leider nicht. Jemand hat auf der Wache angerufen und die … äh … Vorführung gemeldet. Offenbar ist sie danach schnurstracks hierhermarschiert und hat zu Protokoll gegeben, dass sie sich in ihrem Schamgefühl verletzt fühlt.« Pitti verzieht das Gesicht.

»Sie?«

Pitti blättert in irgendwelchen Unterlagen. »Eine Frau namens …« Er blickt zu Emmenegger hoch. »Ach du grüne Neune!« Das ist der stärkste Kraftausdruck, den Pitti draufhat.

Als Emmenegger den Namen sieht: »So eine verdammte Scheiße!«

Lisa Granelli. Die Ermordete. Paul kann von Glück sagen, dass er ein staatlich geprüftes Alibi hat.

»Dummer Zufall«, sagt Pitti, aber in seiner Miene steht Misstrauen.

Paul schlappt von der Toilette zurück. Die Hosen muss er festhalten. Die Kleidung schlottert um seine schmale Gestalt. Seine Schultern sind nach vorne gesunken, der Kopf eingezogen, als erwarte er Schläge. Die Großspurigkeit ist wie weggeblasen.

Wieder einmal wird Emmenegger klar, dass der Junge nur dann Oberwasser hat, wenn er in eine Rolle schlüpfen kann. Doch das hier ist das wirkliche Leben.

***

Die Tür öffnet sich ein zweites Mal. Es ist Alfredo Mattini, der Leiter der Dienststelle.

Vor Emmenegger bleibt er stehen, die Daumen im Gürtel, und wippt mit den Füßen. Die Uniformjacke spannt gefährlich über dem Bauch, die Knöpfe sehen aus, als würden sie gleich durch die Luft sausen.

Mattini ist vom gleichen Schlag wie Pauls Vater, nur dass er – angeblich – auf der richtigen Seite des Gesetzes steht.

Und schon geht der Tanz los. »Hätte ich mir denken können«, ätzt Mattini. »Emmenegger, der Mann mit dem besten Draht zu Kriminellen. Aber dass Sie auch mit Perverslingen Umgang pflegen, das ist neu.«

Emmenegger ballt wütend die Fäuste in seiner Jacke. »Haben Sie nichts anderes zu tun, als sich mit Bagatellen abzugeben?«

»Von wegen Bagatelle«, tönt Mattini. »Dafür wandert das Schweinchen in den Knast.«

»Paul hat seinen Slip kurz ausgezogen, um ihn sich anschließend sofort wieder überzustreifen. Dafür gibt’s ungefähr hundert Zeugen. Es war Teil einer tänzerischen … Vorstellung, keine sexuelle Handlung. Der Junge ist Schauspieler.«

Letzteres stimmt tatsächlich.

»Der da? Mit dem Märchen kommen Sie nicht durch, Emmenegger!«

»Prüfen Sie’s nach«, sagt Emmenegger kalt. »Der Junge ist Stipendiat der Schauspielschule Meran und hat bereits Engagements gehabt.« Mattini hat bestimmt noch nie ein Theater von innen gesehen.

»Na und? Es liegt eine Anzeige vor.«

»Die Aussage wird nicht … aufrechterhalten.« Pitti schaltet sich ein. »Es gibt eine Menge Papierkram, wenn wir den Jungen länger festhalten.« Er wirft Emmenegger einen kurzen Blick zu. Mattini weiß nichts von dem dummen Zufall.

Der Dienststellenleiter sieht aus, als würde er platzen.

»Äh, Alter.« Paul zupft an seinem Ärmel. »Lass uns abhauen. Mir ist kalt.«

Alfredo Mattini ist rot vor Wut. »Wir sprechen uns noch, die Sache wird …«

Aber da sind Emmenegger und Paul schon draußen auf der Straße.

***

Schweigend marschieren sie den Rennweg entlang.

Auf halber Strecke bleibt Paul stehen. »Alter, kann ich mit zu dir? Ich hab seit gestern Abend nichts gegessen, und unser Kühlschrank ist leer.«

Der Kühlschrank, von dem Paul spricht, steht im Nikolausstift, einem riesigen alten Kasten in der Verdistraße, ein paar hundert Meter hinter dem Vinschgauer Tor. Pauls Freund Justus hat das Haus geerbt und die frühere Fremdenpension in eine Art Jugendtreff umgewandelt. Ein buntes Völkchen aus aller Welt übernachtet dort, auf der Durchreise oder länger. Neben Justus ist Paul der einzige ständige Bewohner.

Ein leerer Kühlschrank?

»Klar. Kein Problem.«

***

In der Wohnung zaubert Emmenegger innerhalb von zehn Minuten sein bestes Menü. Kartoffelchips als Vorspeise. Danach Spaghetti mit Tomatensoße, Geschmacksrichtung Basilikum (aus der Tube), die er mit getrockneten Zwiebelringen (aus der Tüte) verfeinert.

»Es geht doch nichts über kultivierte Südtiroler Küche«, frotzelt Paul und haut rein.

»Dann passen das Essen und deine Tischmanieren ja zusammen.«

Paul schaut auf und grinst.

Na warte, Bursche.

»Dann erzähl mal. Was sollte das Ganze?«

Paul bringt das Kunststück fertig, weiterzuschaufeln und mit den Schultern zu zucken. »Nix Spezielles.«

Emmenegger schweigt und wartet.

Schließlich schiebt Paul seinen Teller weg. »Ich hab niemandem was getan. Keiner hat sich erschrocken«, mault er.

»Wenn das kein Fortschritt ist«, sagt Emmenegger.

»Ich hab getanzt. Den Leuten hat’s gefallen.«

»Und warum hast du es nicht dabei belassen?«

Paul schaut überallhin, nur nicht zu seinem Gegenüber. »Na ja, wir proben gerade ein Stück, in dem eine Nacktszene vorkommt, und deshalb …«

»Wie heißt denn das Stück?«

»Kennst du nicht. Ist modern.«

»Aha.« Emmenegger ist schleierhaft, wie es der Direktor der Schauspielschule anstellt, dass Paul sich an die Textvorgaben hält. Der Junge ist hochbegabt, aber Geduld hat Grenzen.

Pavarottis gelegentliche Ausflüge in die Gefilde der Psychologie fallen ihm ein. Sein Ex-Chef war davon überzeugt, dass sich Lob für Paul falsch anfühlt, weil er als Kind nie welches bekam. Und dass seine Selbstmordmacke dazu diente, die Prügel zu überleben.

Emmenegger ist das zu hoch.

»Es liegt eine Anzeige gegen dich vor.«

Paul starrt ihn an. »Wieso denn?«

»Eine ältere Dame hat sich in ihrem Schamgefühl verletzt gefühlt. Jetzt ist sie tot.«

»Wie jetzt? Die hat wegen meinem Nacktarsch den Löffel abgegeben? Die alte Schachtel hat wohl schon lange keinen mehr gesehen«, feixt Paul.

»Hör auf damit. Jemand hat die Frau erschlagen. Gott sei Dank hast du in der Zelle gesessen, als es passiert ist. Sie werden dich trotzdem löchern.«

Pauls Gesicht ist wachsbleich.

»Die werden mich in die Psychiatrie stecken«, flüstert er. »So wie damals.«

»Unsinn. Mach nicht immer aus allem ein Drama. Du siehst aus, als hättest du die ganze Nacht kein Auge zugekriegt. Schlaf dich erst mal aus. Danach sehen wir weiter.«

Emmenegger zieht die Schlafcouch aus und geht Laken und Decken holen. Als er zurückkommt, baumeln Pauls Beine über der Kante der Küchenbank. Sein Kopf ist nach hinten geworfen. Der Mund steht weit offen. Pauls Adamsapfel zuckt hin und her, als fehle ihm die Stimme, um zu reden.

Vorsichtig deckt ihn Emmenegger zu, dann geht er ins Bad, um sich den Geruch des Tatorts vom Körper zu waschen.

Als er fertig angezogen nachsehen kommt, hört er das Klappen der Haustür. Die Küche ist leer. Die Decke liegt auf dem Boden. Paul ist verschwunden.

Emmenegger reißt die Wohnungstür auf und beugt sich übers Geländer. Stille.

Wenigstens hat Paul diesmal Hosen an.

Kornplatz. Kommissariat der Polizia di Stato

21.März. Zwölf Uhr dreißig

Emmenegger schließt die Fenster der Mordkommission mit einem Knall, dass die Scheiben klirren. Das Thermometer zeigt sechsundzwanzig Grad, aber es bleibt ihm keine Wahl.

Passanten starren schon herauf. Wahrscheinlich fragen sie sich, ob ein Polizeihund die Tollwut gekriegt hat oder ob die Polizei bei einem Verdächtigen die Daumenschrauben ansetzt.

Das Gebell dauert seit einer Viertelstunde an, und es sieht nicht so aus, als würde dem Hund die Luft ausgehen.

»Der Ehemann der Toten hat einen Laden in den Lauben«, sagt Eva Marthaler mit lauter Stimme, um Hilde zu übertönen. Sie hat sich mit ihrem Stuhl in die Zimmerecke verzogen, möglichst weit von der Lärmquelle entfernt. »Es ist eine Parfümerie. In der Nähe vom Pfarrplatz.«

Emmeneggers Kollegin bemüht sich krampfhaft um Professionalität, aber ihre Stimme klingt beleidigt. »Ich wette, das Tier hat Flöhe.« Eva beäugt Hilde. »Mich juckt’s schon überall.«

Es stimmt, Hilde ist in keiner guten Verfassung.

Ihr kupferfarbenes Fell steht am Kopf nach allen Seiten ab, als hätte die Hündin ihre Schnauze in eine Steckdose gepresst. Die Nase ist knollig und ähnelt einem Kuhfladen mit zwei Löchern. Hildes spitze Ohren sehen nach Mottenfraß aus. Der ganze Hund ähnelt einem Kobold oder einem Troll aus einem Schauermärchen.

Emmenegger bezweifelt, dass Hilde jemals beim Friseur war. Wegen Geldmangels hat Lisa Granelli ihren Hund bestimmt nicht vernachlässigt.

Das Gebell passt zur Erscheinung: ein grässliches lang gezogenes Jaulen, bei dem jeder normale Mensch eine Gänsehaut bekommt.

Liebevoll streichelt Emmenegger den Kopf der Hündin. »Du wildes Mädel, was soll ich bloß mit dir machen?«

Die Antwort ist ein hohes Jammern.

Was bleibt ihm übrig? »Die Hilde kommt erst mal zu mir.«

Eva Marthaler sieht ihn an, als habe Emmenegger gerade beschlossen, einen Werwolf zu beherbergen.

»Komm, Hilde.« Sofort ist es vorbei mit dem Heulen. Folgsam trottet die Hündin zur Tür. Dieser Mandel hatte unrecht. »Schauen Sie mal, wie brav sie ist. Es wird nicht lange dauern. Wir treffen uns in einer Viertelstunde vor der Parfümerie. Seien Sie pünktlich.«

Laubengasse, Ecke Pfarrplatz. Parfümerie Granelli

21.März. Dreizehn Uhr fünfzehn

An diesem ungewöhnlich warmen Märztag ist in den Lauben kein Durchkommen. Passanten schlendern durch Torbögen und schmale Durchgänge, die links und rechts abzweigen. Niemanden stört der Körperkontakt.

Die Tische und Stühle der Restaurants und Bistros haben sich bis auf die Straße hinaus vorgewagt. Dieses Jahr schert es die Wirte nicht viel, was erlaubt ist und was nicht.

Das Leben platzt aus allen Nähten, und die Stadtverwaltung Meran drückt beide Augen zu.

Endlich hat sich Emmenegger bis zum Pfarrplatz vorgearbeitet. Da vorn ist der kleine Laden. Das einzige Schaufenster ist mit Seidentüchern und alten Parfümflakons aus der Ära des Jugendstils dekoriert. Über dem Fenster steht in verschnörkelten Goldbuchstaben der Name »Granelli«.

Von Eva ist weit und breit nichts zu sehen.

Emmenegger fischt sein Handy aus der Jackentasche.

»Macht es der Mordkommission Spaß, mir die Zeit zu stehlen?« Die Landers klingt noch unfreundlicher als sonst. »Eben hat mich Ihre Kollegin dasselbe gefragt.«

»Tut mir leid. Könnten Sie ausnahmsweise …?«

Das Seufzen einer schwer Geprüften. Die Landers lässt sich die Ergebnisse der Autopsie aus der Nase ziehen, mit noch mehr Wenns und Abers gespickt als üblich. Strafe muss sein.

Die Todesursache ist ein Schlag auf den Hinterkopf. Laut der Landers ist die Wunde tief und kreisrund, mit einem Durchmesser von exakt fünf Zentimetern.

Die Waffe war schwer. Aber. Es könnte auch sein, dass der Schlag von einer kräftigen Person stammte.

Ob das heißt, dass der blutige Stein als Tatwaffe nicht in Frage kommt?

»Rede ich Chinesisch, Ispettore?«

Irgendeine Idee zur Waffe?

Schweigen.

Wurde der Schlag von oben ausgeführt? War der Täter groß?

Nein. Aber. Lisa Granelli war klein. Außerdem könnte sie sich nach vorn gebeugt haben.

Tatzeitpunkt? Gegen sechs Uhr morgens. Plus/minus eine halbe Stunde.

Also kurz vor dem Eintreffen des Herrn Mandel und seines lieben Cäsar.

»Eher plus oder minus?«

Schweigen in der Leitung. Dann ein Klicken.

Arnold Kohlgruber, der Spusi-Chef, geht erst gar nicht ans Telefon.

***

Da kommt Eva. Ihr Glockenrock endet eine Handbreit über dem Knie und schwingt bei jedem ihrer Schritte hin und her. Die dunkelroten Locken hüpfen. Ein Anblick zum Niederknien.

In letzter Zeit hat Emmenegger versucht, seine Gefühle auszublenden. Es ist ihm halbwegs gelungen, aber in Momenten wie diesen, wenn sich ihre Brust hebt und senkt …

Oder am Morgen, wenn mit ihrer Ankunft im Kommissariat ein frischer Duft ins Zimmer weht. Emmenegger kann nicht sagen, was das für ein Geruch ist. Nur dass er den Duft verdammt sexy findet. Natürlich würde er das niemals aussprechen.

»Tut mir leid, ich hab noch telefoniert«, sagt sie.

»Hmm-mm.«

»Frau Landers sagt –«

»Erzählen Sie mir was, das ich noch nicht weiß.«

Eva guckt verdutzt, fasst sich aber schnell. »Äh, ja. Die Tote. Lisa Granelli war eine große Nummer in der Cassa Popolare Meran. Sie hatte das gesamte Kreditgeschäft unter sich, sowohl Privat- als auch Firmenkunden. Die Frau war einundsechzig, ihr Mann Leo ist fünf Jahre älter. Die zwei leben seit Jahren getrennt. Merkwürdiges Paar. Eine hochrangige Finanzfrau und ein Ladenbesitzer.«

Welche Bezeichnung hätte Eva wohl für sie beide in petto? Unpassend? Lächerlich?

Eva späht ins Fenster der Parfümerie. Sie macht nicht den Eindruck, den Laden zu kennen.

Vielleicht bestellt sie bei einem Online-Kaufhaus und lässt sich die Flakons in braunen, muffig riechenden Kartons an die Haustür liefern.

Die Vorstellung enttäuscht ihn irgendwie.

Da tritt ein Mann aus der Ladentür, einen Schlüsselbund in der Hand. Ein Glöckchen bimmelt, während er die Tür hinter sich schließt.

»Sind Sie Signor Granelli? Leo Granelli?«

Überrascht schaut der Mann auf und blinzelt gegen die Sonne. Die Augen klug, mit einem Funken Traurigkeit. Strubbelige graue Haarbüschel an beiden Seiten des Kopfes, ein bisschen wie bei Albert Einstein. Mitten im Gesicht sitzt ein markanter Haken.

»Der bin ich tatsächlich.« Dabei fährt er sich mit der Hand durch den Schopf, was das Ergebnis verschlimmert. »Es tut mir leid, ich schließe den Laden über Mittag.« Und mit einem entschuldigenden Lächeln: »Ein alter Mann wie ich ist auf die Mittagspause angewiesen. Um drei Uhr bin ich wieder für Sie da.«

Während er spricht, erlischt sein Lächeln. »Sie sind keine Kunden.«

»Mein Name ist Ispettore Emmenegger, Polizia di Stato. Das ist meine Kollegin Marthaler. Wir müssen mit Ihnen sprechen. Drinnen.«

***

Hinterher sitzt Leo Granelli eine ganze Weile da und starrt auf den Fußboden. Eva hat ihn vorsichtig in einen Sessel bugsiert, falls er umkippen sollte.

Die Parfümerie ist winzig, höchstens fünfzehn Quadratmeter groß. Da ist eine kleine gusseiserne Verkaufstheke mit einer altmodischen Registrierkasse. In eine Ecke zwängen sich ein winziges Tischchen und zwei Sessel aus silbergrauem Rattan.

Emmenegger kommt sich zu groß und ungelenk vor in diesem puppenstubenhaften Geschäft mit seinen taubenblau und weiß tapezierten Wänden. Die weiß lackierte Regalkomposition sieht so zierlich und fragil aus, als könne ein Windhauch sie ins Wanken bringen.

Da stehen hauchdünne Parfümflakons neben glänzenden Tuben und Flaschen, deren Bezeichnungen nach fernen Orten klingen. Oder wie Zaubersprüche: Simsalabim. Sansibar. Semiramis.

Außerdem gibt es kunstvoll mit Zellophan und Schleifen umhüllte Utensilien, deren Zweck sich jenseits von Emmeneggers Vorstellungskraft befindet.

Ständig versucht er, Ellenbogen und Schultern außer Reichweite der Regale zu bringen. Eine falsche Bewegung, und sofort käme einer der Glasflakons ins Rutschen. Dann gäbe es kein Halten mehr. Innerhalb einer Sekunde lägen die gläsernen Kunstwerke zerborsten auf dem Marmorboden. Mit gebrochenen Hälsen oder zerschmetterten Köpfen. So wie Leo Granellis Frau.

Der alte Mann fragt leise: »Musste sie leiden?«

»Es ging sehr schnell. Vermutlich hat sie den Schlag nicht kommen sehen.« In Wirklichkeit weiß das niemand genau. Nach Meinung der Landers kann Lisa Granelli noch ein paar Minuten gelebt haben.

Der alte Mann nickt. Seine Augen sind trocken, aber die Dunkelheit in ihnen hat sich vertieft. Man merkt Granelli an, dass er es gewohnt ist, die Dinge mit sich selbst auszumachen. Emmenegger kann die Aura der Einsamkeit spüren. Sie hat einen eigenen Duft, den er gut kennt. Herb und schwer und sehr langlebig.

Emmenegger sieht, dass der alte Mann mit sich kämpft. Schließlich hebt Granelli den Kopf.

»Sie werden mich abscheulich finden, aber ich muss es loswerden. Ich bin erleichtert, dass sie tot ist.«

Mord macht Emmenegger zornig, obwohl er schon viel davon gesehen hat in über zwanzig Jahren im Polizeidienst.

Wie kann man da erleichtert sein?

Eva öffnet den Mund, aber Emmenegger legt ihr die Hand auf den Arm. Der alte Mann will die Geschichte auf seine Weise erzählen.

***

»Ich hab befürchtet, dass es mit meiner Frau kein gutes Ende nehmen würde.« Granelli seufzt. »Sie hatte kein Herz im Leib.«

Der alte Mann blickt Eva an. »Als wir geheiratet haben, war sie ganz anders. Und, wenn ich das sagen darf, genauso hübsch wie Sie.« Jetzt funkeln seine Augen, und Eva lächelt. Emmenegger spürt einen kurzen Stich der Eifersucht.

»Doch nach dem Tod unseres Sohnes hat sie sich verändert«, sagt Granelli. »Udo wurde von einem Auto überfahren. Man hat den Täter nie gefunden. Das war vor fünfzehn Jahren. Zwei Jahre später bin ich ausgezogen. Seither lebten wir getrennt.«

Granelli stützt seinen Kopf in die Hände.

»Das tut mir schrecklich leid«, sagt Eva.

»Das muss es nicht, meine Liebe.« Granelli lächelt wieder dieses traurige Lächeln. »Nachdem es passiert war und die Ermittlungen der Polizei im Sand verliefen, hab ich irgendwie weitergemacht. Ich hab versucht, einen Tag nach dem anderen zu überstehen. Nach dem Motto: Die Zeit heilt alle Wunden.«

Granelli wischt sich übers Gesicht. »Ein Märchen, das sie einem als Wahrheit verkaufen. Jeden Morgen lag der Tag vor mir ausgebreitet wie die Wüste Gobi. Ich flüchtete mich ins Alltägliche, in meinen Beruf. Stellen Sie sich vor, damals war ich Mathematiklehrer.«

Granelli schüttelt den Kopf, als könne er es nicht fassen. »Früher glaubte ich tatsächlich, Zahlen könnten mir über alles hinweghelfen. Weil sie dieselben bleiben, was auch geschieht. Weil es Lösungen gibt. Aber für das, was mit Udo passiert war, gab es keine. Nach dem Unterricht fütterte ich die Tauben an der Passer. Die waren wenigstens lebendig. Ich versuchte, mir eine Routine zuzulegen, die meinem Leben wieder ein bisschen Halt gab. Aber die war so brüchig wie diese Glasmenagerie hinter mir.« Granelli weist mit dem Kinn auf die Fläschchen in den Regalen.

»Auf einmal sah ich schlaksige sechzehnjährige Jungs mit schulterlangen blonden Haaren überall. An der Passer habe ich sogar ein paarmal Udos Namen gerufen. Können Sie sich das vorstellen? Einmal muss ich einen Udo erwischt haben, denn er hat sich umgedreht und verkniffen gesagt: ›Willst du was, Opa? Kannst du haben.‹« Granelli lacht leise. »Er hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit meinem Sohn. Ein hässlicher Bursche, das Gesicht voller Pickel.«

Emmenegger kann Granelli gut verstehen. Auch er kann viele Dinge nicht tun, ohne an seine Frau Martha zu denken, die vor acht Jahren gestorben ist.

Granelli strafft sich. »Was damals mit mir los war, liegt wohl mehr oder weniger im Bereich des Üblichen. Denke ich jedenfalls. Aber was mit meiner Frau passierte, war alles andere als normal.«

»Litt Ihre Frau an Depressionen?«

Granelli lacht kurz auf. »Damit hätte ich doch umgehen können. Ich hätte ihr geholfen, so gut ich konnte. Wie oft hab ich mir gewünscht, dass wir zusammen weinen und uns trösten! Doch anstatt zu trauern, wurde meine Frau – rastlos, regelrecht manisch. Ich erinnere mich genau an den Tag, als es losging. Es war ungefähr eine Woche nach Udos Tod. Ich fand sie morgens in der Küche am Telefon. Sie war puterrot im Gesicht und machte jemanden zur Schnecke. Die Polizei wäre ein Haufen Idioten und Faulpelze und dass sie alle unfähig seien und sich gegen sie verschworen hätten. Aber sie würde es ihnen schon noch zeigen, schrie sie. Sie würde dafür sorgen, dass sie ihres Lebens nicht mehr froh würden.«