MERKUR 1/2024, Jg.78 -  - E-Book

MERKUR 1/2024, Jg.78 E-Book

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Beschreibung

Nils Güttler schreibt über die von Flughäfen produzierten Risse im Raum. Helmut Draxler denkt über die psychoanalytische Sicht auf das Ressentiment nach. Vom Beginn des Straßenverkehrs bis in die Gegenwart rollt Leon Birck die Geschichte von deutschen Geschwindigkeitsbegrenzungen auf. Über die Fährnisse der "Melodie" in der Neuen Musik schreibt Andreas Dorschel.    In Jens-Christian Rabes Popkolumne geht es um die "Künstlichen Intelligenzen" gegenwärtiger Musik. Martin Höpner sucht in seiner Europa-Kolumne nach Optionen für die Beseitigung des von ihm diagnostizierten Demokratiedefizits. Daniel Immerwahr bespricht Quinn Slobodians Buch über eine Welt nicht der Nationen, sondern der aus dem Recht herausgeschnittenen Zonen.    In Jasper Westhaus' Erzählung "Mein vielgespaltener $chatten" sind wir in der Welt der zeitgenössischen Finanzen, Wirtschaft und Sprachmodellierungen unterwegs. Die Insolvenz des Anbieters VanMoof, der das Rad neu erfinden wollte, nimmt Jan Wetzel zum Anlass für einen Blick auf die Geschichte des Fahrrads. Jonathan Schilling beschreibt und geißelt die Unsitte (nicht nur) der Biografen, Frauen anders als Männer beim Vornamen zu nennen. Susanne Neuffer fährt zum Auftakt einer Reihe von Kurzerzählungen mit Wilhelm Genazino eine Rolltreppe hinauf und wieder hinunter.

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Seitenzahl: 191

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Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken

Der Merkur ist eine Kulturzeitschrift, wobei der Begriff der Kultur in denkbar weitem Sinne zu verstehen ist. Er erscheint monatlich und wendet sich an ein anspruchsvolles und neugieriges Publikum, das an der bloßen Bestätigung der eigenen Ansichten nicht interessiert ist. Mit kenntnisreichen und pointierten Essays, Kommentaren und Rezensionen hält der Merkur gleichermaßen Distanz zum Feuilleton wie zu Fachzeitschriften. Die Unterzeile »Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken« formulierte bei der Gründung im Jahr 1947 das Bekenntnis zu einer weltanschaulich unabhängigen Form von Publizistik, die über kulturelle und nationale Grenzen hinweg alle intellektuell relevanten Debatten ihrer Zeit aufnehmen wollte. Auch wenn der Horizont für ein solches Unternehmen sich mittlerweile deutlich erweitert hat, trifft das noch immer den Kern des Selbstverständnisses der Zeitschrift.

Heft 896, Januar 2024, 78. Jahrgang

Herausgegeben von ChristianDemand und EkkehardKnörer

Gegründet 1947 von Hans Paeschke und Joachim Moras

Herausgeber 1979–1983 Hans Schwab-Felisch1984–2011 Karl Heinz Bohrer1991–2011 Kurt Scheel

Lektorat / Büro: Ina Andrae

Redaktionsanschrift: Mommsenstr. 27, 10629 Berlin

Telefon: (030) 32 70 94 14 Fax: (030) 32 70 94 15

Website: www.merkur-zeitschrift.de

E-Mail: [email protected]

Der Merkur wird unterstützt von der Ernst H. Klett Stiftung Merkur.

Partner von Eurozine, www.eurozine.com

Verlag und Copyright: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Postfach 106 016, 70049 Stuttgart, Tel. (0711) 66 72-0, www.klett-cotta.de · Geschäftsführer: Dr. Andreas Falkinger, Philipp Haußmann, Tom Kraushaar.· Leiter Zeitschriften: Thomas Kleffner, [email protected] · Media-Daten: www.merkur-zeitschrift.de/media · Manuskripte: Für unverlangt und ohne Rückporto eingesandte Manuskripte kann keine Gewähr übernommen werden. · Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 29. November 2023 · Gestaltung: Erik Stein · Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann-Satz GmbH & Co. KG, Lemförde

Bezugsbedingungen: Der Merkur erscheint monatlich. Preis 15 €; im Abonnement jährlich 152 € / 176 sFr; für Studenten gegen Vorlage einer Bescheinigung 96 € / 114 sFr; alle Preise jeweils zzgl. Versandkosten. · Die elektronische Version dieser Zeitschrift mit der Möglichkeit zum Download von Artikeln und Heften finden Sie unter www.merkur-zeitschrift.de. Der Preis für das elektronische Abonnement (E-Only) beträgt 152 € / 176 sFr; für Studenten und Postdocs gegen Vorlage einer Bescheinigung 48 €; für Privatkunden, die gleichzeitig die gedruckte Version im Abonnement beziehen, 26 € / 36 sFr. Im jeweiligen Preis der elektronischen Abonnements ist der Zugriff auf sämtliche älteren digitalisierten Jahrgänge enthalten. Preise für Bibliotheken und Institutionen auf Anfrage. Alle genannten Preise enthalten die zum Zeitpunkt des Kaufs gültige Mehrwertsteuer. In Drittländern jenseits der Schweiz (und außerhalb der EU) gelten die angegebenen Preise netto. · Die Mindestbezugsdauer beträgt ein Jahr. Erfolgt keine Abbestellung spätestens vier Wochen vor Ende des Bezugszeitraumes, verlängert sich das Abonnement auf unbestimmte Zeit; dieses kann sodann jederzeit mit einer Frist von einem Monat gekündigt werden. Es gelten unsere allgemeinen Bezugsbedingungen für Zeitschriftenabonnements (ABBs).

Abonnementverwaltung (falls vorhanden, bitte Ihre Kundennummer angeben): Leserservice Verlag Klett-Cotta, Postfach 13 63, 82034 Deisenhofen, Telefon (0 89) 8 58 53-868, Fax (0 89) 8 58 53-6 28 68. E-Mail: [email protected]

(D) 15 €  (A) 15,80 €  (CH) 18 SFr

ISSN Print 0026-0096 / ISSN Online 2510-4179     www.merkur-zeitschrift.de

ISBN 978-3-608-12301-2

Inhalt

Autorinnen und Autoren

Zu diesem Heft

BEITRÄGE

Nils Güttler: Risse im Raum

Helmut Draxler: Polarisierung und Ressentiment

Ein Nachtrag zur Debatte*

Leon Birck: Freie Fahrt für freie Volksgenossen

Andreas Dorschel: Melodien

KRITIK

Martin Höpner: Europa-Kolumne

Lässt sich das europäische Demokratiedefizit beheben?

Jens-Christian Rabe: Popkolumne

Illusorischer Realismus

Daniel Immerwahr: Zonenbildung

MARGINALIEN

Jasper Westhaus: Mein vielgespaltener $chatten

Jan Wetzel: Fahrrad ohne Disruption

Jonathan Schilling: Alte Frauen duzt man nicht. Wider die allzu vertrauliche Nennung historischer weiblicher Persönlichkeiten beim Vornamen

Susanne Neuffer: Die Genazino-Treppe

Vorschau

NilsGüttler, geb. 1980, Assistenz-Professor für Wissenschaftsgeschichte am Institut für Geschichte der Universität Wien. 2023 erschien Nach der Natur. Umwelt und Geschichte am Frankfurter Flughafen. [email protected]

HelmutDraxler, geb. 1956, Professor für Kunsttheorie an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2021 erschien Die Wahrheit der Niederländischen Malerei. Eine Archäologie der Gegenwartskunst.

LeonBirck, geb. 1995, Doktorand an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Historische Rechtsvergleichung der Universität zu Köln. [email protected]

AndreasDorschel, geb. 1962, Professor für Ästhetik an der Kunstuniversität Graz. 2021 erschien Wortwechsel. Zehn philosophische Dialoge, 2022 Mit Entsetzen Scherz. Die Zeit des Tragikomischen.

MartinHöpner, geb. 1969, Politikwissenschaftler und Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. [email protected]

Jens-ChristianRabe, geb. 1977, Autor und Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung. [email protected]

DanielImmerwahr, geb. 1980, Bergen Evans Professor in the Humanities am History Department der Northwestern University in Chicago. 2019 erschien Das heimliche Imperium. DieUSA als moderne Kolonialmacht. – Der Beitrag erschien unter dem Titel Zoning Out in der New York Review of Books vom 23. November 2023.

JasperWesthaus, geb. 1996, Künstler, Autor, Forscher. www.jasper-westhaus.de

JanWetzel, geb. 1991, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung; Promovend an der TU Dresden zur historischen Soziologie moderner Gestaltung. 2020 erschien Die Vertrauensfrage. Für eine neue Politik des Zusammenhalts (zus. m. Jutta Allmendinger). [email protected]

JonathanSchilling, geb. 1993, Historiker. 2024 erscheint seine Dissertation Ottilie Wildermuth (1817–1877). Studien zu Leben, Werk und Wirkung. [email protected]

SusanneNeuffer, geb. 1951, Autorin. 2019 erschien Im Schuppen ein Mann; 2022 Sandstein. Zwei Novellen. www.susanne-neuffer.dewww.susanne-neuffer.de

Zu diesem Heft

DOI 10.21706/mr-78-1-3

Als das Fliegen noch als Inbegriff von Modernität empfunden wurde, waren Flughäfen spektakuläre Bauwerke, die stolz vom Aufbruch in eine Zukunft ohne technologische Limits kündeten. Mittlerweile sind es gesichtslose Riesenschachteln, in denen trotz massivem Technikeinsatz dauernder Ausnahmezustand herrscht. Einer der Gründe dafür ist, dass immer größere Massen an Fluggästen und Waren in immer kürzerer Zeit abgefertigt werden müssen. Allerdings gibt es, wie Nils Güttler in seinem Essay erläutert, »wohl kaum einen anderen Ort, der auf so engem Raum durch internationale und nationale Vorschriften derart umfassend reguliert und dadurch in seinen Betriebsabläufen gebremst wird«. Der ständige logistische Drahtseilakt, den dieser Widerspruch erzwingt, ist nur durch massive Standardisierung auf allen Ebenen zu bewältigen, weshalb sich die großen Flughäfen in aller Welt spätestens seit den 2000er Jahren allesamt zum Verwechseln ähnlich sehen.

Auch darin, dass sie alle riesige Shopping-Malls sind. Wie es dazu kam, ist Teil der Geschichte, die Daniel Immerwahr in seinem Rezensionsessay zu Quinn Slobodians neuem Buch Kapitalismus ohne Demokratie erzählt. Die 1947 um den irischen Flughafen Shannon entstandene Duty-free-Zone erscheint darin nämlich geradezu als Modell jener Exklaven, die heute dem globalen Kapital mehr oder weniger große Freiheit vor dem Zugriff der Staaten gewähren. Vorreiter waren Londoner Banken mit Dollar-Konten, die das Geld behandelten, als sei es nicht wirklich in Großbritannien gelandet, sondern befinde sich auf Durchreise. Heute prägen Sonderzonen unterschiedlicher Art, und zunehmend auch die mit ihnen verbundene libertäre Ideologie, die Weltwirtschaft: von den Kaimaninseln bis nach Shenzhen, von Peter Thiel bis Javier Milei.

CD / EK

Beiträge

DOI 10.21706/mr-78-1-5

Nils Güttler

Risse im Raum

Durch die fensterlosen Gänge des Terminals. Die meisten Läden sind geschlossen, nur die Autovermietungen haben geöffnet. Im Hintergrund läuft Fahrstuhlmusik, gelegentlich von Ansagen unterbrochen. Bitte lassen Sie kein Gepäck unbeobachtet stehen. Ab und zu begegnet einem eine einsame Gestalt mit Atemschutzmaske, doch die Blicke treffen sich nur kurz, während man mit ausreichend Sicherheitsabstand aneinander vorbeihuscht. Mit dem Aufzug geht es in den 14. Stock auf ein mäßig gefülltes Parkdeck. Niemand zu sehen. Wieder zurück im Untergeschoss führt eine versteckte Tür ins Freie. Hier ist die Welt zwar ähnlich monoton wie im Inneren, aber immerhin gibt es zwischen den menschenleeren Verbindungsstraßen auch mal ein Blumenbeet, und in der Ferne ist ein Waldstück zu sehen.

Immer wieder kommen mir Bilder vor Augen. Sie stammen aus Terminals und der Umgebung anderer Flughäfen, die Tausende Kilometer weit entfernt sind, aber nahezu identisch aussehen: Yaoundé (Kamerun), Porto Alegre (Brasilien), Verna (Rumänien), JFK (New York) und Kansai (Japan). Dazu gesellen sich Stimmen. Sie berichten von alten Kolonialplantagen, auf denen das Kautschuk für Flugzeugreifen hergestellt wurde; von der Favela Vila Nazaré, die auf den Druck von Fraport einer neuen Landebahn weichen musste; von Erdölraffinerien auf den Antillen, auf denen lange Zeit das in Frankfurt verwendete Kerosin hergestellt wurde. Die Karibikinseln sind heute ein Brennpunkt der globalen Klimakrise. Ein Satz hallt in meinem Kopf nach. Es war ein Auftrag: »Ich muss mich mit den anderen verbinden, denn die Räume, die wir durchqueren, sind nicht aus sich selbst heraus zu verstehen. Wir können uns alleine in ihnen nicht zurechtfinden. Zerstreut, aber parallel, versuchen wir den Weg zu finden.«

Es ist Juli 2021. Auf dem Frankfurter Flughafen kann man an The Passengers teilnehmen, einem Video-Walk, den das Künstlerkollektiv LIGNA gestaltet hat. Bei der Tour folgt man einer festgelegten Route, die auf dem Smartphone-Display eingespielt wird und mit Parallelrundgängen durch andere Flughäfen überlagert ist. Es handelt sich um ein Experiment im »Synchronisieren«. Performativ, in der Mischung aus Gehen, Sehen und Hören, sollen die Teilnehmenden in ein »Netz von Ähnlichkeiten« und »Verbindungen« einsinken, in dem die »zerstreuten Jetzt-Zeiten« dieser Orte als gleichzeitig erfahrbar werden sollen. In die globale Gegenwart mischt sich aber auch jede Menge Geschichte, etwa die deutsche koloniale Umweltgeschichte, die Firmengeschichte von Fraport und nicht zuletzt eine der wichtigsten Episoden aus der jüngeren Geschichte des Frankfurter Flughafens: der Widerstand gegen den Bau der Startbahn West in den frühen 1980er Jahren. »Legen Sie meinen Blick und Ihren übereinander.«

Dass der Video-Walk für viele Teilnehmende zu einer ganz besonderen und teils verstörenden Erfahrung wurde, lag nicht nur an der oft irritierenden Überlagerung von Orten, Bildern, Stimmen und Geschichten. Es hatte maßgeblich mit dem Moment der Aufführung zu tun. Lange vor der Pandemie geplant, geriet das Projekt in die Mühlen der Covid-Jahre. Die Veranstaltung musste mehrfach verschoben werden und fand schließlich zwischen dem zweiten und dritten Lockdown statt, kurz nach dem Ende der »Bundesnotbremse«. Die Fahrgastzahlen stiegen damals auch in Frankfurt langsam wieder – die Ferienflieger standen schon wieder startbereit –, aber der Flughafen befand sich noch im Notfallmodus. Gerade mal ein Jahr war es her gewesen, dass »die Welt stillstand und ihre Räume scheinbar einte«, wie es am Beginn des Rundgangs heißt. Dieser Moment, der erste Lockdown, bildet dessen Leitmotiv. Denn plötzlich schien sich mit den Flughäfen etwas zu verändern, und es wurde etwas sichtbar: »Ein Riss im Raum, in dem etwas auftauchen konnte. Eine andere Realität, eine andere Möglichkeit zu leben, eine Welt ohne Warentausch. Aber das war nur ein kurzer Moment. Die Waren sind wieder an ihrem Ort, die Geschäftigkeit ist zurückgekehrt, aber die Hoffnung bleibt, dass wir uns in diesem kurzen, globalen Moment einen Weg durch das Labyrinth der Globalisierung bahnen können, einen Weg durch die globalen Räume wie den Flughafen.«

Der pandemische Flughafen

Als im März 2020 viele Teile der Welt dichtmachten, wurden die Flughäfen schnell zu einem Sinnbild der Pandemie. Sie waren der Ort, der die schnelle Ausbreitung der verschiedenen Virusvarianten möglich machte, hier musste sie eingedämmt werden. Während die mobilen Teile der Bevölkerung zuhause bleiben mussten und die Flughafengesellschaften den größten Teil ihrer Belegschaft in Kurzarbeit schickten, wurden andere in spektakulären Aktionen in ihre Heimatländer zurückgebracht. In den Medien zirkulierten Bilder menschenleerer Terminals, gestrandeter Passagiere und aufwändiger Rückholaktionen. Wer Mitte März 2020 noch mit dem Flugzeug unterwegs war, fühlte sich zwischen zwei Welten: Die Routinen liefen weiterhin verstörend normal – an vielen Flughäfen gab es trotz scharfer Rhetorik aus den Innenministerien nicht einmal Passkontrollen –, aber über allem schwebte die Gewissheit, am Ende von etwas angekommen zu sein und in eine ungewisse Zukunft zu steuern.

Bei näherem Hinsehen war man auf diese Zukunft gut vorbereitet. Aufbauend auf den Erfahrungen während der SARS-Pandemie 2002 waren Flughäfen längst als epidemiologische Knotenpunkte erkannt, an denen der Strom der Menschen frühzeitig gestoppt werden musste. »Am Flughafen Frankfurt werden in enger Abstimmung zwischen dem Flughafenbetreiber Fraport AG und dem Amt für Gesundheit situationsadaptiert Maßnahmen ergriffen, um die Einschleppung und Weiterverbreitung von Keimen zu verringern«, hieß es beispielsweise im Kommunalen Influenzapandemieplan des Amts für Gesundheit Frankfurt am Main aus dem Jahr 2011/12. Die Weltgesundheitsorganisation WHO bot spezielle Kurse an, um das Personal der großen Hub-Flughäfen für den Ernstfall zu schulen. Die Behörden, die Flughafengesellschaften und die Öffentlichkeit hatten fast zwanzig Jahre auf die Pandemie »gewartet«, wie es der Ethnologe Carlo Caduff 2017 formulierte.1 Sein Kollege Andrew Lakoff sprach im gleichen Jahr von einer sich global ausbreitenden Kultur des Vorbereitetseins, der »preparedness«.2

Der Erfahrungsschatz, aus dem sich diese Kultur der Vorbereitung speiste, war freilich älter. Was Frankfurt angeht, reichte er mindestens bis in die 1960er Jahre zurück. Im Juli 1967 wurde das später als »Marburg Virus« bezeichnete, hochinfektiöse und tödliche Filovirus durch einen Tiertransport von rund 600 Affen – es handelte sich um Äthiopische Grünmeerkatzen – nach Zwischenstopp in London-Heathrow über den Flughafen ins Rhein-Main-Gebiet eingeschleppt. Fünf Menschen, die mit den Affen oder anderen Infizierten in Berührung gekommen waren, starben. Im Tier-Terminal des Flughafens, dem »Tierraum«, der mittlerweile in »Animal Lounge« umbenannt worden ist und heute von Lufthansa Cargo betrieben wird, verschärfte man die Hygiene- und Quarantänevorschriften. Eine Tierärztliche Grenzkontrollstelle entstand, in der heute mehrere Dutzend Veterinäre und Veterinärinnen arbeiten.

Und apropos Affen: Hat uns nicht Hollywood spätestens seit den 1990er Jahren auf die Rolle von Flughäfen im pandemischen Ernstfall vorbereitet? Man denke nur an 12 Monkeys (1996), den vielleicht schönsten Pandemiefilm der jüngeren Kinogeschichte. In der Schlussszene besteigt der Biowissenschaftler Dr. Peter ein Passagierflugzeug, um ein genetisch manipuliertes Laborvirus, das er im Aktenkoffer bei sich trägt, auf der Welt zu verteilen und die Menschheit zu vernichten. Sein Widersacher, der dem Wahnsinn nahe Zeitreisende James Cole, kommt zu spät und muss zu allem Überfluss noch mitanschauen, wie er als Kind zum Zeugen seines eigenen Todes wird. Er stirbt am Flughafen Philadelphia, in den Armen seiner Psychiaterin.

Der Film greift einen Topos auf, der aus dem öffentlichen Diskurs über die Luftfahrt seit Beginn des Jet Age in den frühen 1960er Jahren nicht mehr wegzudenken ist: der Flughafen als Symbol der modernen Entfremdung des Menschen von der Natur. Denn hinter der globalen Pandemie verbirgt sich in 12 Monkeys – wie in vielen Pandemiefilmen – der anthropogene Ökozid. Der Zeitreisende Cole folgt dabei der mysteriösen Spur einer radikalen ökoaktivistischen Gruppe, die von dem Millionärs- und Virologensohn Jeffrey Goines angeführt wird und deren Ziel die Befreiung von Zootieren ist. Auch in der Vorlage für 12 Monkeys, dem Kurzfilmklassiker La Jetée von Chris Marker (1962), geht es um den spätmodernen Naturverlust. Die Pandemie ist hier der Atomkrieg, statt Zootieren sind es ausgestopfte Tiere aus dem Naturkundemuseum. Der Film wird gerahmt von Bildern der Aussichtsplattform am Flughafen Paris-Orly. Die menschheitsgeschichtliche Katastrophe kündigt sich also auch hier am Flughafen an, dem Ort, an dem sich der Mensch am deutlichsten von all jenen Fesseln der Natur befreit hat, die ihn am Boden halten.3

Jenseits des Nicht-Orts

Das dystopische Bild von Flughäfen als Kristallisationspunkten einer globalen Gefahr war letztlich nichts anderes als die Kehrseite der schillernden Flughafenutopien aus den Boom-Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie manifestierten sich in unzähligen futuristischen Terminalgebäuden wie etwa Eero Saarinens spektakulärem TWA Flight Center an New Yorks JFK Airport (1962).4 Flughäfen wurden bei solchen Gelegenheiten als Orte des schier grenzenlosen Verkehrs und »Flusses« an Menschen und Waren gepriesen, insbesondere im Einflussbereich des US-amerikanischen »Luftimperiums«.5 So bezeichnete der U.S. High Commissioner for Germany (HICOG) bei einem feierlichen Akt zur Eröffnung neuer Rollbahnen am Frankfurter Flughafen im November 1950 den Wiederaufbau der kriegszerstörten Anlagen als »Erfüllung« eines alten »Frankfurter Traumes«: »to create the finest airport in Europe, and in so doing to assure to free men of the world the opportunity for interchange of goods and ideas vital to the progress of democracy«.6

Der Traum vom unbegrenzten Menschen- und Warenverkehr verdüsterte sich dann allerdings schon mit den sechziger Jahren. Bilder von Flugzeugentführungen, Terroranschlägen, Schmugglerbanden, aber auch erste Warnungen vor gefährlichen Viren geisterten durch die Medien, und die Flughafenterminals schlossen sich architektonisch von der Außenwelt ab.7 Nach innen wurden sie stratifizierter. Es entstanden eigene Bereiche für Sicherheits-, Grenz- und Zollkontrollen, voneinander getrennte Transitzonen, später Asylunterkünfte, Lounges für Wohlhabende sowie ein hochkomplexes Frachtsystem mit Spezialbereichen für »Sonderfälle« wie radioaktive Substanzen, »perishables« (Essen und Medikamente) oder eben Tiere. Flughäfen befinden sich seit Beginn des Jet Age in einem unauflösbaren Spannungsfeld. Einerseits müssen sie immer größere Massen an Fluggästen und Waren in kürzester Zeit abfertigen, gleichzeitig gibt es wohl kaum einen anderen Ort, der auf so engem Raum durch internationale und nationale Vorschriften derart umfassend reguliert und dadurch in den Betriebsabläufen gebremst wird. Um dennoch »im Fluss« bleiben zu können, setzen Flughäfen spätestens seit den 1960er Jahren auf eine massive Standardisierung, die in aller Regel mit dem Eindruck von Anonymität, Sterilität und Monotonie einhergeht.

Als Loriot 1976 den ersten einer ganzen Reihe von kurzen Fernsehsketchen realisierte, die später unter dem Titel Alles über das Fliegen zusammengefasst werden sollten, fand ein Teil der Dreharbeiten im erst vier Jahre zuvor eingeweihten Terminal Mitte (dem heutigen Terminal 1) des Frankfurter Flughafens statt. Die riesige, über einen eigenen Bahnhof direkt an den Zugverkehr angebundene Halle erfüllte seinerzeit in jeder Hinsicht modernste Standards. Ihre ostentativ auf strenge Funktionalität angelegte Architektur bot den idealen Hintergrund und Bühnenraum für den augenzwinkernd technophoben Entfremdungs-Slapstick, mit dem Loriot ein Publikum unterhielt, für dessen größten Teil das Fliegen seinerzeit gerade erst zu einer Normalität zu werden begann. Seit Anfang der 1980er Jahre wurden die Flughäfen dann schrittweise in Shopping-Zentren umfunktioniert. Spätestens mit Terminal 5 in London Heathrow, eröffnet 2002, war diese Entwicklung abgeschlossen. Seither präsentieren sich die Flughäfen weltweit in einem monotonen Einheitslook: Es sind Shopping-Malls mit Flugsteigen.8

Der Ethnologe Marc Augé hat für diese besondere Umgebung den schlagenden Begriff des »Nicht-Orts« geprägt.9 In dem gleichnamigen, 1992 veröffentlichten Essay wird damit zwar ein ganzes Ensemble von Orten bezeichnet, das mit der sich rasch ausbreitenden globalen Kommerzkultur der Nachkriegsjahrzehnte entstanden ist. Und doch überrascht es nicht, dass Augés Text nicht mit dem Blick auf Shopping-Zentren und Parkhäuser, sondern mit dem Gang eines Passagiers durch ein Terminal beginnt.

Der Video-WalkThe Passengers spielt genau mit dieser Erfahrungsdimension. Die Teilnehmenden verbinden sich hier über charakteristische, wiederkehrende Elemente – Autovermietungen, Werbetafeln, Rolltreppen, Schächte, Blumenbeete – mit anderen Flughäfen. Allerdings ist es genau dieses Bild vom Flughafen als Nicht-Ort, das während des Rundgangs immer stärkere Risse bekommt. Denn die Frankfurter Passengers schlagen früh andere Wege ein: Statt sich wie bei Augé vom Ankunftsbereich über die Sicherheitskontrolle zum Gate zu begeben, biegt die Route ab und führt ins Hinterland der Terminals: in Parkhäuser, Seitenschächte, ins Freie und nicht zuletzt ins Umland. Die Flughäfen sind hier gerade nicht deckungsgleich mit dem Terminal, dem ikonischen Ort der Luftfahrt. Wo beginnt eigentlich der Flughafen und wo hört er auf? Im S-Bahnhof im Untergeschoss des Terminals oder in der DB Lounge am Hauptbahnhof, von wo aus sich die Frankfurter Passagiere auf den Weg begeben? In den Siedlungen rund um den Flughafen in Yaoundé, die man auf den Bildschirm eingespielt bekommt? Oder an den Raffinerien in Curaçao?

Die Umwelt der Infrastrukturen

Wenige Tage nach den Grenzschließungen im März 2020 erschienen in den Medien Berichte, nach denen in den Wäldern um den Frankfurter Flughafen eine Stille herrsche, wie man sie dort seit einem halben Jahrhundert nicht mehr gehört habe. Der Wald, so war zu lesen, klinge »mehr nach Natur«. Hämmernde Spechte, das Rauschen des Windes in den Blättern, Rascheln im Unterholz – eine Klangkulisse, die normalerweise vom ohrenbetäubenden Flugzeuglärm übertönt wurde. Die Wälder befanden sich in einem desaströsen Zustand. »Nur drei Prozent der Bäume im Stadtwald«, hieß es mit dem Verweis auf den neuesten Waldzustandsbericht in der Frankfurter Rundschau, »sind völlig gesund.«10 Die Effekte des Klimawandels, an denen der Luftverkehr bekanntermaßen maßgeblich beteiligt ist, sind auch hier zu spüren. Sie äußern sich in extremen Wetterlagen, längeren Dürreperioden und einem sinkenden Grundwasserspiegel.

Auch vielen Menschen aus den angrenzenden Städten und Gemeinden bot der Lockdown Gelegenheit, die Frankfurter »Flughafenlandschaft«11 neu zu erkunden, zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Die Betreibergesellschaft war zum Einbahnbetrieb übergegangen, und die geschlossenen Start- und Landebahnen wurden auch in Frankfurt zu Flugzeugparkplätzen umfunktioniert. Die Maschinen warteten auf eine ungewisse Zukunft. Würden sie überhaupt noch gebraucht, oder landeten sie auf einem der sich füllenden Flugzeugfriedhöfe in Nordspanien oder Kalifornien? Würde das im Bau befindliche Terminal 3 überhaupt fertiggestellt werden? Der Frankfurter Flughafen versank im Frühjahr 2020 in einem Meer aus Kranichen der Lufthansa; am Zürcher Flughafen waren es Schweizer Flaggen auf den Heckflossen der Swissair-Maschinen. Zugleich häuften sich Berichte darüber, wie die Natur sich auf den zum Erliegen gekommenen Flughäfen ausbreitete. In Frankfurt verwendeten etwa Vögel aus den angrenzenden Wäldern die Ritzen und Spalten der geparkten Maschinen zum Nestbau.

»Bestimmte Qualitäten von Infrastrukturen werden überhaupt erst sichtbar, wenn sie zusammenbrechen«, schreibt die Ethnologin Susan Leigh Star, deren Arbeiten die neuere sozialwissenschaftliche Infrastrukturforschung stark geprägt haben.12 Im Fall der Covid-Flughäfen war dies, neben der plötzlich geweckten Aufmerksamkeit für häufig vernachlässigte Formen der »einfachen« Arbeit (vom Putzpersonal bis zur Abfertigung), die oft merkwürdig erscheinende Flughafennatur. »Natur« wird üblicherweise als das Äußerliche von Infrastrukturen angesehen, tatsächlich aber haben sich Flughäfen im Laufe ihrer Geschichte intensiv mit ihr beschäftigt und sie, so weit wie möglich, in den Betriebsablauf integriert. So verfügt beispielsweise jeder Großflughafen seit der Zwischenkriegszeit über eine eigene meteorologische Station, um das regionale Wetter und Klima zu beobachten und zu erforschen (diese Stationen sind inzwischen längst in die internationalen Klimabeobachtungsnetze integriert). In Frankfurt beschäftigte die Flughafengesellschaft außerdem seit den frühen 1960er Jahren einen Förster, der für das Biotop-Management auf dem Gelände und in den angrenzenden Wäldern verantwortlich war. Zu seinem Aufgabenbereich gehörte es, die gefürchtete Kollision von Vögeln und Flugzeugen, den sogenannten Vogelschlag, zu verhindern. Inzwischen ist diese Stelle in einem Wildlife Control Team aufgegangen.13

Wer in der Nähe des Flughafens wohnt, ist mit dessen ökologischer Seite gut vertraut – wenn auch meist unfreiwillig. Seit den frühen 1960er Jahren, als die ersten Düsenmaschinen über das Rhein-Main-Gebiet dröhnten, wiesen die von den Auswirkungen des Luftverkehrs direkt Betroffenen wieder und wieder auf die verheerenden Folgen hin, vom Lärm über das verschmutzte Grundwasser und die kontaminierten Böden bis zu den zerstörten Habitaten. Manche der Betroffenen widmeten sich selbst der Naturbeobachtung. Die Widerstände kulminierten in der Startbahn-West-Bewegung der späten 1970er und frühen 1980er Jahre, in deren Zuge Unmengen an ökologischem »Gegenwissen«14 in Form von Gutachten und Expertenstellungnahmen produziert wurden, um eine weitere Expansion des Flughafens zu verhindern. Die Startbahn-West-Bewegung war – aus umweltgeschichtlicher Perspektive – nicht nur eine Bewegung gegen den Flughafen und die Zerstörung seiner menschlichen und nichtmenschlichen Umwelt. Es war auch eine Bewegung gegen die schleichende Integration von Natur in die Betriebslogik des Flughafens. Die Betreiber der großen Hub-Flughäfen hatten zu diesem Zeitpunkt längst begriffen, dass sie die Natur nicht völlig aus dem Betriebsablauf hinaushalten konnten, und damit begonnen, in wissenschaftliche Forschung zu investieren, um beides besser aneinander anzupassen.

Die Umwelthistorikerin Sara Pritchard spricht in dem Zusammenhang von Infrastrukturen als »envirotechnical systems«, also Systemen, in denen Technik und Umwelt verschmelzen.15 Während Infrastrukturen in den Träumen der Ingenieure stets als Objekte der reinen technischen Vernunft firmierten, sind sie in Wirklichkeit belebt und erzeugen multiple soziale, politische und ökologische Spannungen. Mit der Ethnologin Anna Tsing kann man auch von sozioökologischen »Reibungen« sprechen, die entstehen, wenn verschiedene Skalen (scales) der Globalisierung – lokale, regionale, nationale und globale – an einem Ort aufeinandertreffen.16