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Beschreibung

Gregory Jones-Katz hat in den USA studiert und in China gelehrt: Was ihn umtreibt, sind aber weniger die Unterschiede als die Ähnlichkeiten zwischen den beiden kapitalistischen Bildungssystemen. Auf das Feld der Literatur folgt Eckhard Schumacher den aktuellen Diskussionen um west-ost-deutsche Fragen und liest Romane (und Essays) von Anne Rabe, Charlotte Gneuß, Daniel Schulz, Manja Präkels und anderen. Um zu erklären, was die Künstliche Intelligenz in literarischen Dingen vermag, geht Peli Grietzer auf verschlungenen Wegen nicht nur zur Romantik, sondern bis zum deutschen Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten zurück. "Was ist Musik?" und "Wann ist etwas Musik?" – das sind die Fragen, um deren Beantwortung es in Tobias Janz' Musikkolumne unter der Überschrift "Musikontologien" geht. Timo Luks denkt mit Monika Dommanns Studie Materialfluss über die Geschichte und globale Zusammenhänge der Logistik nach. Mit einer aus dem Nachlass publizierten Vorlesung Klaus Heinrichs begibt sich Wolfram Ette zurück in die Postmodernedebatten der achtziger und neunziger Jahre. Um das In-der-Welt-Sein als An-Land-Sein (und Nicht-mehr-im-Wasser-Sein), um die Differenz von Meer- und Landlebewesen, geht es in einem Essay von Jens Soentgen. Einen ganz konkreten See, nämlich den Stechlinsee in Brandenburg, berühmt von Fontane her, nimmt Björn Kröger in den Blick – und schildert, wie der See zum Opfer des Klimawandels zu werden droht. Die Philosophin Tatjana Noemi Tömmel denkt über den Tod, genauer: den Tod der Anderen nach. Mit Kierkegaard nähert sich Christian Wiebe sehr heutigen Fragen nach Verantwortung. In Sibylle Severus' Erzählung "Nachtmusik" geht es in recht wilder Jagd durch ein Musikerhaus. Mit einem Auftritt Ludwigs IV. und einer Deus-ex-Machina-Konstruktion schließt David Gugerli die Serie seiner Kolumnen.

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Seitenzahl: 193

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Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken

Der Merkur ist eine Kulturzeitschrift, wobei der Begriff der Kultur in denkbar weitem Sinne zu verstehen ist. Er erscheint monatlich und wendet sich an ein anspruchsvolles und neugieriges Publikum, das an der bloßen Bestätigung der eigenen Ansichten nicht interessiert ist. Mit kenntnisreichen und pointierten Essays, Kommentaren und Rezensionen hält der Merkur gleichermaßen Distanz zum Feuilleton wie zu Fachzeitschriften. Die Unterzeile »Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken« formulierte bei der Gründung im Jahr 1947 das Bekenntnis zu einer weltanschaulich unabhängigen Form von Publizistik, die über kulturelle und nationale Grenzen hinweg alle intellektuell relevanten Debatten ihrer Zeit aufnehmen wollte. Auch wenn der Horizont für ein solches Unternehmen sich mittlerweile deutlich erweitert hat, trifft das noch immer den Kern des Selbstverständnisses der Zeitschrift.

Heft 895, Dezember 2023, 77. Jahrgang

Herausgegeben von ChristianDemand und EkkehardKnörer

Gegründet 1947 von Hans Paeschke und Joachim Moras

Herausgeber 1979–1983 Hans Schwab-Felisch1984–2011 Karl Heinz Bohrer1991–2011 Kurt Scheel

Lektorat / Büro: Ina Andrae

Redaktionsanschrift: Mommsenstr. 27, 10629 Berlin

Telefon: (030) 32 70 94 14 Fax: (030) 32 70 94 15

Website: www.merkur-zeitschrift.de

E-Mail: [email protected]

Der Merkur wird unterstützt von der Ernst H. Klett Stiftung Merkur.

Partner von Eurozine, www.eurozine.com

Verlag und Copyright: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Postfach 106 016, 70049 Stuttgart, Tel. (0711) 66 72-0, www.klett-cotta.de · Geschäftsführer: Dr. Andreas Falkinger, Philipp Haußmann, Tom Kraushaar.· Leiter Zeitschriften: Thomas Kleffner, [email protected] · Media-Daten: www.merkur-zeitschrift.de/media · Manuskripte: Für unverlangt und ohne Rückporto eingesandte Manuskripte kann keine Gewähr übernommen werden. · Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 2. November 2023 · Gestaltung: Erik Stein · Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann-Satz GmbH & Co. KG, Lemförde

Bezugsbedingungen: Der Merkur erscheint monatlich. Preis 15 €; im Abonnement jährlich 152 € / 176 sFr; für Studenten gegen Vorlage einer Bescheinigung 96 € / 114 sFr; alle Preise jeweils zzgl. Versandkosten. · Die elektronische Version dieser Zeitschrift mit der Möglichkeit zum Download von Artikeln und Heften finden Sie unter www.merkur-zeitschrift.de. Der Preis für das elektronische Abonnement (E-Only) beträgt 152 € / 176 sFr; für Studenten und Postdocs gegen Vorlage einer Bescheinigung 48 €; für Privatkunden, die gleichzeitig die gedruckte Version im Abonnement beziehen, 26 € / 36 sFr. Im jeweiligen Preis der elektronischen Abonnements ist der Zugriff auf sämtliche älteren digitalisierten Jahrgänge enthalten. Preise für Bibliotheken und Institutionen auf Anfrage. Alle genannten Preise enthalten die zum Zeitpunkt des Kaufs gültige Mehrwertsteuer. In Drittländern jenseits der Schweiz (und außerhalb der EU) gelten die angegebenen Preise netto. · Die Mindestbezugsdauer beträgt ein Jahr. Erfolgt keine Abbestellung spätestens vier Wochen vor Ende des Bezugszeitraumes, verlängert sich das Abonnement auf unbestimmte Zeit; dieses kann sodann jederzeit mit einer Frist von einem Monat gekündigt werden. Es gelten unsere allgemeinen Bezugsbedingungen für Zeitschriftenabonnements (ABBs).

Abonnementverwaltung (falls vorhanden, bitte Ihre Kundennummer angeben): Leserservice Verlag Klett-Cotta, Postfach 13 63, 82034 Deisenhofen, Telefon (0 89) 8 58 53-868, Fax (0 89) 8 58 53-6 28 68. E-Mail: [email protected]

(D) 15 €  (A) 15,80 €  (CH) 18 SFr

ISSN Print 0026-0096 / ISSN Online 2510-4179     www.merkur-zeitschrift.de

ISBN 978-3-608-12179-7

Inhalt

Autorinnen und Autoren

Zu diesem Heft

BEITRÄGE

Gregory Jones-Katz: Bildungskapitalismus in China

Eckhard Schumacher: Eskalation erzählen

Nachwendenarration als Gewaltgeschichte

Peli Grietzer: Maschinenlogik und poetisches Weltverhältnis

KRITIK

Tobias Janz: Musikkolumne

»Musikontologien«

Timo Luks: Zwecklose Zweckmäßigkeit

Zur Geschichte der Logistik

Wolfram Ette: Arbeitsauftrag Aufklärung

Klaus Heinrichs »ursprung in actu«

MARGINALIEN

Jens Soentgen: Meer und Land

Björn Kröger: Zunehmende Trübung – Sterbelehre am Stechlin

Tatjana Noemi Tömmel: Der Tod der Anderen

Christian Wiebe: Verantwortung zum Verschwinden bringen. Handreichungen von Søren Kierkegaard

Sibylle Severus: Nachtmusik

David Gugerli: Deus ex machina

Vorschau

GregoryJones-Katz, geb. 1980, Fellow am Forschungskolleg Humanwissenschaften der Goethe-Universität. 2021 erschien Deconstruction. An American Institution. gregoryjoneskatz.com

EckhardSchumacher, geb. 1966, Professor für Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie an der Universität Greifswald. 2022 erschien Literatur nach der Digitalisierung (Hrsg. zus. m. Elias Kreuzmair). [email protected]

PeliGrietzer, Literaturwissenschaftler, Promotion in mathematisch informierter Literaturtheorie. – Der Beitrag erschien am 17. April 2023 in Aeon unter dem Titel Patterns of the lifeworld.

TobiasJanz, geb. 1974, Professor für Musikwissenschaft an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Mitherausgeber von Musik & Ästhetik. 2019 erschien Decentering Musical Modernity (Hrsg. zus. m. Chien-Chang Yang). [email protected]

TimoLuks, geb. 1978, Historiker, Senior Lecturer am Institut für Kulturanthropologie /Europäische Ethnologie der Universität Münster. 2019 erschien Die Ökonomie der Anderen. [email protected]

WolframEtte, geb. 1966, Literaturwissenschaftler an der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2019 erschien Das eigensinnige Kind. Über unterdrückten Widerstand und die Formen ungelebten Lebens; 2023 Das eigensinnige Kind. Vom Umgang mit einem sehr deutschen Gefühl (zus. m. Karin Nungeßer). wolframettetexte.wordpress.com

JensSoentgen, geb. 1967, Philosoph und Chemiker. Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt der Universität Augsburg. 2022 erschien Staub. Alles über fast nichts. [email protected]

BjörnKröger, geb. 1970, Paläontologe und Kurator am Finnischen Museum für Naturkunde in Helsinki. [email protected]

Tatjana NoemiTömmel, geb. 1980, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Technischen Universität Berlin, Fachgebiet für Ethik und Technikphilosophie. 2013 erschien Wille und Passion. Der Liebesbegriff bei Heidegger und Arendt. [email protected]

ChristianWiebe, geb. 1980, Germanist, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Braunschweig. 2021 erschien ›So kein Mund aussprechen kann‹. Barocklyrik von Frauen (Hrsg. zus. m. Zozan Karabulut); 2022 Engel Christine Westphalen: Charlotte Corday. Tragödie in fünf Akten. Mit einem Nachwort hrsg. v. Christian Wiebe.

Sibylle Severus, geb. 1937, Schriftstellerin. 2015 erschienen der Roman Nauenfahrt und die Erzählungen Die Große Kunst. [email protected]

DavidGugerli, geb. 1961, seit 1997 Professor für Technikgeschichte an der ETH Zürich.

Zu diesem Heft

DOI 10.21706/mr-77-12-3

Es heideggert in diesem Heft: In gleich drei Beiträgen spielt der Philosoph eine Rolle, nie ist der Bezug rein affirmativ, aber es scheint, dass Martin Heidegger da, wo das Denken aufs Grundsätzliche geht, um existenzielle Fragen, um Leben und Tod, ein Bezugspunkt bleibt, von dem man im Guten wie im Bösen schlecht absehen kann.

Am wenigsten überrascht der Bezug in Wolfram Ettes Auseinandersetzung mit einem gerade aus dem Nachlass veröffentlichten Band von Klaus Heinrich – da geht es um eine Vorlesung Heinrichs aus dem Jahr 1990, in der der Religionsphilosoph sich kritisch mit Heideggers Ereignisphilosophie auseinandersetzt. Auch für den Rezensenten Ette schließt sich ein Kreis: Es ist die Wiederbegegnung mit einer Vorlesung, die er als Student selbst besucht hat.

Bei Jens Soentgen geht es um eine Grundverfasstheit anderer Art, die Tatsache nämlich, dass das In-der-Welt-Sein des Menschen ein An-Land-Sein ist, er aber wie alles Leben dem Wasser entstammt. Und so denkt Soentgen über Meer und Land nach, stößt auf den vergessenen Autor Heinrich Simroth und dessen Buch Die Entstehung der Landtiere von 1891 und preist das Meer als immerhin mildernden Faktor im rasanten Klimawandelprozess.

Über das Verhältnis der Philosophie – und der Philosophen – zum Tod schreibt Tatjana Noemi Tömmel. Auch dies ein Feld, auf dem man um Heidegger nicht herumkommt – gerade weil er ein so typisches und darin abschreckendes Beispiel für die Missachtung des Aspekts ist, um den es Tömmel dabei geht. Die Philosophie denkt vorzugsweise über den Tod als den je eigenen nach, ohne zu bedenken, wie sehr viel gravierender für uns als soziale Wesen der Tod der Anderen ist.

Eine der schönen Fügungen, die sich manchmal ergeben, ist es, dass Björn Krögers melancholischer Essay Sterbelehre am Stechlin zwischen Meer und Land und dem Sterben eine perfekte Brücke schlägt. Ohne Heidegger, dafür mit Fontane.

CD / EK

Beiträge

DOI 10.21706/mr-77-12-5

Gregory Jones-Katz

Bildungskapitalismus in China

Im Westen bewundert man, sagen wir es offen, den chinesischen Fokus auf Erziehung. Oft geht es dabei um ein spezifisches Modell: Konfuzius nämlich, der in Vier Bücher und Fünf Klassiker die Betonung auf kindliches Wohlverhalten gegenüber den Eltern, auf Menschlichkeit und Rituale gelegt hat. Mir ist ohnehin nicht wohl, wenn man im Westen Konfuzius heranzieht, um Verallgemeinerungen über die chinesische Kultur daraus abzuleiten. Besonders skeptisch bin ich allerdings, seit ich an einer von neun Hochschulen gearbeitet habe, die in China in Kooperation mit westlichen Bildungsinstitutionen entstanden sind. Zum selben Thema, ja manchmal im selben Atemzug, äußern Menschen im Westen regelmäßig unfreundliche Stereotype, darunter das von den auf eine akademische Karriere besessenen »Tiger-Eltern« und der fleißigen chinesischen (oder überhaupt asiatischen) Studentin. Dabei ist die »Tiger-Mutter« ein in den USA entstandenes Konzept, popularisiert von Amy Chua in Die Mutter des Erfolgs, einem Buch, das den Begriff ironischerweise überhaupt erst nach China gebracht hat. Nicht zu Unrecht haben westliche Leser in Chuas Tiger-Mutter eine Art elternpädagogischen Gegenentwurf zu Thomas L. Friedman entdeckt, der in Die Welt ist flach besorgt gefragt hatte, ob amerikanische Schülerinnen und Schüler nicht zu abhängig seien von kurzfristigen Reizen, zu beschäftigt mit den jeweils neuesten Unterhaltungsgeräten und zu faul, um sich dauerhaft konzentriert mit fortgeschrittener Mathematik, Naturwissenschaft und Technik zu beschäftigen – und darum schlecht dafür ausgestattet, auf dem weltweiten Markt zu konkurrieren.

Es ist kein Geheimnis, dass chinesische Eltern mit ziemlich beispiellosem Eifer enorme Summen in die Ausbildung ihrer Kinder stecken. Was sie sich davon erhoffen, ist die Beförderung des Nachwuchses in die akademische Stratosphäre, wobei die Kinder die Familie dann in Richtung Kapital und Kultur katapultieren sollen. Diese Träume und Erwartungen chinesischer Eltern, weltweit sicher an einem extremen Ende angesiedelt, wurzeln in der Tradition, aber mindestens ebenso sehr in ökonomischen Trends und Zwängen jüngeren Datums. Während meiner fünf Jahre in China ist mir klar geworden, dass kein geringer Teil der Leidenschaft von Eltern und Großeltern für die Bildung sich sehr direkt dem gegenwärtigen chinesischen Arbeitsmarkt verdankt, der sich erst nach den ökonomischen Reformen Deng Xiaopings und seiner Getreuen im Jahr 1978 entwickeln konnte.

Diese Veränderungen brachten China mit ausländischen Unternehmungen, ausländischen Bildungssystemen und ausländischer Technologie in Kontakt – mit der reinen Planwirtschaft war es damit vorbei. Allerdings geriet das Land mit dieser Entwicklung auch in die unvertrauten Gewässer dessen, was Zygmunt Bauman »flüchtige Moderne« genannt hat: »die Entfesselung der Macht des Kapitals, gesellschaftliche und gemeinschaftliche Bande zu lösen«. Wobei diese Reformen, indem sie ganz auf den Markt setzten, die tief wurzelnden Ungleichheiten bei den Bildungsressourcen und auch den Wettbewerb noch verschärften. Mit dem epochalen Eintritt der gewaltigen Masse verfügbarer Arbeitskraft in den Weltmarkt wurde aus dem einst nationalen Bildungswettbewerb ein Wettrennen im globalen Rahmen. 

Über das chinesische Bildungswettrennen und seine nationalen und (post)-Trumpischen globalen Kontexte in Leitartikeln, Essays und Büchern nachzudenken, ist das eine; etwas durchaus anderes ist es, als amerikanischer Akademiker vor Ort damit konfrontiert zu sein. Als Geisteswissenschaftler und als Vater dreht sich mein Leben um Erziehung und Ausbildung, wobei meine eigenen Überzeugungen in den Jahren, die ich in China verbrachte, immer wieder, und manchmal sehr heftig, mit den verstörenden kapitalistischen Realitäten des Bildungssystems im kommunistischen China in Konflikt gerieten.

Die Sorte geisteswissenschaftlicher Bildung, die ich erhalten habe und schätze, steht »zuhause« in den Vereinigten Staaten zunehmend unter Druck – Austeritätspolitik, Kulturkämpfe und zwei Jahre Covid haben ihre Spuren hinterlassen. In China sieht sich das Bildungssystem ebenso starkem Druck ausgesetzt; auch hier spielt der Kapitalismus dabei eine wichtige Rolle, jedoch in einer Variante, in der staatliches Management und die Ideologie eines freien Marktes eng verflochten sind. Während der moderne Kapitalismus immer schon mit der amerikanischen Gesellschaft und Kultur verbunden war, hat sich diese Verbindung in China längst als nicht weniger disruptiv und destruktiv erwiesen. Natürlich kennt jeder die ökonomische Erfolgsgeschichte Chinas in den vergangenen Jahrzehnten, aber ich hatte schlicht keine Vorstellung von den konkreten Folgen.

China gegen Amerika gegen Amerika

Nach Ansicht mancher gegenwärtiger chinesischer Eliten (und einiger amerikanischer Konservativer) ist die intellektuelle Neigung des Westens zur postmodernen Ungläubigkeit mindestens teilweise verantwortlich für die politischen Beben, die die gesellschaftlichen Grundlagen der USA weiter erschüttern. Während die Völker der Welt die amerikanischen Trump-Konvulsionen beobachteten, haben die gebildeten Chinesen sich an »Chinas Kissinger« erinnert, den führenden Theoretiker der Kommunistischen Partei Wang Huning, vor allem an sein Buch Amerika gegen Amerika von 1991, das sich nach dem Sturm der Trump-Unterstützer auf das Kapitol enorm gut verkaufte. Ursprünglich für eine politikorientierte Leserschaft nach den Protesten vom Tiananmen-Platz und Dengs Deregulierung des Markts verfasst, hatte Wang die These vertreten, dass Spannungen innerhalb des »amerikanischen Geistes« – zwischen demokratischer und oligarchischer Macht, Egalitarismus und Klassenprivilegien, Arm und Reich, Schwarz und Weiß, individuellen Rechten und geteilter Verantwortung – einen unaufhaltsamen »Unterstrom der Krise« produzierten. Das Ergebnis dieser Konflikte, die die Seele Amerikas plagen, sei die Dekonstruktion der nationalen Einheit und eines gemeinsamen Ziels.

Die Handvoll anderer mir bekannter Expats in China, die Auszüge aus einer inoffiziellen Übersetzung von Amerika gegen Amerika gelesen haben, nicken einigermaßen verzweifelt zu Wangs Thesen. Leider ist es auch für die Artikuliertesten von uns nicht leicht, seine schwerverdauliche Botschaft unseren Mitbürgern in den USA zu vermitteln. Wie Alexis de Tocqueville schon vor zweihundert Jahren festgestellt hat: »Es gibt gewisse Wahrheiten, die nur Ausländer zu Gehör bringen können.« Nach Trumps Wahl 2016 haben wir Auslandsamerikaner die von Wang identifizierten unaufgelösten Spannungen zwischen einem ideologischen Glauben an die Demokratie und den real existierenden demokratischen Praktiken geradezu körperlich zu spüren bekommen.

Wang war der Überzeugung, China könnte es gelingen, Amerikas Schicksal zu entgehen und die auflösenden Effekte des neoliberalen Kapitalismus, seines Konsumenten-Modells von Identität und die zersetzende Weltsicht des globalen Liberalismus zu vermeiden: indem das Land nämlich weiterhin auf den zentralisierten Ein-Parteien-Staat setze. Ein auf diese Weise robuster Staat könne, indem er die Konflikte aufhebe (im Hegelschen Sinn), den sozialen Zusammenhalt stärken und eine einheitliche und selbstbewusste nationale Identität konstruieren. 

Als Anhänger des demokratischen Projekts lehne ich Wangs Vorschläge zum Umgang mit den Gefahren der flüchtigen Moderne ab. Ich kann aber nicht umhin, zu beobachten, wie in den Vereinigten Staaten seit Reagan beide politischen Seiten eine Politik unterstützen, die sich vom jahrzehntelang geltenden sozialen Wohlfahrtsstaats-Kompromiss mit dem Kapitalismus verabschiedet hat: indem sie öffentliche Güter wie das Bildungswesen attackiert und dadurch massiv zur Instabilität der Gesellschaft beiträgt. In dem Moment, in dem ich dies schreibe, verkündet der texanische Gouverneur Greg Abbott seine Absicht, eine Gerichtsentscheidung zu revidieren, die allen Kindern kostenlosen Unterricht garantiert. Einst bedurfte es der Gefahr, den Wettlauf ins All zu verlieren, um 1958 den National Defense Education Act und 1965, auf dem Höhepunkt des Parteien-Konsenses, den National Foundation on the Arts and the Humanities Act zu verabschieden. In seinem Bemühen, alles auf das Produkt von finanziellen Austauschprozessen zu reduzieren, hatte Donald Trump in seinem Budget für 2018 sogar geplant, die National Foundation komplett zu eliminieren. »Kunst sollte frei sein, wie das Leben, denn beide sind ein Experiment«, schrieb George Santayana zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der politische Wille, das Fundament für diese Freiheit zu wahren, hat in den Vereinigten Staaten massiv nachgelassen. Von Rechten wie Pflichten der Bürgerinnen und Bürger scheint kaum noch die Rede. 

Bildungs-Konkurrenzkampf

Anfangs habe ich kaum verstanden, in welcher Weise die Verbindung von kommunistischer Ideologie und den Kräften des Kapitalismus das Bildungssystem Chinas formt. In den USA habe ich mitten in einem neoliberalen Fin de Siècle an einem kleinen, privaten Liberal-Arts-College an der Ostküste studiert, das 1912 als reines Frauen-College gegründet worden war und erst seit 1988 auch männliche Studierende aufnahm. Danach erfolgte mein Graduiertenstudium in Geschichte an zwei öffentlichen Universitäten, erst in Maine, dann in Wisconsin. Diese Institutionen waren kaum geeignet, die Kräfte der flüchtigen Moderne zu konterkarieren, durchdrungen wie sie waren von jenem postmodernen intellektuellen Lösungsmittel, vor dem Wang und seine Verbündeten warnen: Die berüchtigten Hermeneuten des Verdachts Nietzsche, Marx und Freud waren das antifundamentalistische tägliche Brot meiner Lehrerinnen und Lehrer und der meisten meiner Kommilitonen. 

Ungefähr so hatte ich mir die Bildungseinrichtung vorgestellt, an die ich in China geriet: eine kooperative chinesisch-ausländische Universität in Shenzhen, an der Grenze zu Hongkong. Mein Sohn ging vor Ort zur Schule – und zwar auf eine Privatschule, die östliche (chinesische) und westliche (kanadische) Bildung verbindet und doppelte Abschlüsse verleiht. Was ich dann erlebt habe, hat allerdings manches an meinen Annahmen über die Zusammenhänge von Staat, Geld und Bildung ganz neu perspektiviert. Bestimmte Aspekte der Bildungsszene in China vertragen sich kein bisschen mit dem Kern der im Westen als »universal« verstandenen humanistischen Werte, die mir, bei aller gelegentlichen Skepsis, lieb und teuer sind. Bildung gilt hier vor allem als eines: die wichtigste Voraussetzung für finanziellen Erfolg und die Reputation der Familie. Das führt zu enormer Konkurrenz um die besten Noten beim Gaokao – dem standardisierten Eintrittsexamen für die Universität. Im Ergebnis ist Bildung vor allem Big Business.

Für die aufstrebende Mittelschicht und die obere Mittelschicht beginnt das Rennen quasi mit der Geburt (ungefähr so wie in Manhattan, im Westen und Norden des Borough, in dem ich aufgewachsen bin). Man zahlt jeden Preis für alles, was einen Vorteil verschafft: vor allem schriftliche Belege für die Fähigkeiten der Kinder wie Akkreditierungen und Zertifikate. Und man lässt sich Wettbewerbe in den Künsten, Musik, Englisch und den MINT-Fächern viel kosten. Nachdem die Regierung 2017 wegen ihrer Hightech-Aspirationen einen deutlich stärkeren Fokus auf die MINT-Fächer legte, ist bei den Freunden meines Sohnes das Interesse daran geradezu explodiert. Auf der weiterführenden Schule geht es in jeder freien Sekunde darum, die Testergebnisse zu verbessern. Der zeitliche Aufwand fürs Üben der Tech-Fähigkeiten wächst und wächst, mehr wird nur ins Lernen der englischen Sprache investiert, der Lingua franca der finanziellen Globalisierung. Außerschulische Aktivitäten sind nicht mehr existent oder auf ein Minimum reduziert. 

Dieser Bildungs-Konkurrenzkampf hat sich seit dem Beitritt Chinas zur World Trade Organization 2001 verschärft. Damit war man endgültig in den globalen Markt eingetreten: Der Dienstleistungssektor wurde (wenn auch noch nicht vollständig) für Investitionen aus dem Ausland geöffnet; Restriktionen für Einzel- und Großhandel und Vertrieb wurden beseitigt; Bank- und Finanzwesen ebenso wie die Telekommunikation liberalisiert. Die Folge waren verstärkte Ungleichheit bei Bildungsressourcen und beschleunigte Unterordnung unter Marktmodelle (zuvor war der Besuch von Schulen und Universitäten für alle kostenfrei).

Man nehme die Minban, nicht vom Staat betriebene weiterführende Schulen, die mit Taktiken der Vermeidung, der Suche nach Fürsprechern und Kapitalisierung versuchen, ihre Unabhängigkeit von der chinesischen Regierung zu sichern und zu vergrößern. Manche beschrieben die Minban als nur quasikommerzialisiert, weil sie nicht vollständig in einem freien Markt agieren. Die dezentralisierte und schlanke Verwaltung belohnt jedoch den Wettbewerb unter den Schulen und unterstellt ihr Agieren einer wirtschaftlichen Logik. Eine weitere Folge von Dengs Disruption waren die bald allgegenwärtigen privaten Buxiban-Dienstleister, die Nachhilfe in den Fächern bieten, die für den Erfolg im Bildungswettbewerb essentiell sind (zum Beispiel in Englisch). Diese Bildungsanbieter waren zentraler Bestandteil der Shopping Malls, die mit der Öffnung zur Marktwirtschaft Mitte der neunziger Jahre entstanden. Sie waren bis in die frühen 2000er Jahre omnipräsent als riesige Warenhäuser im Sowjetstil, heute sind sie zunehmend das, was Forbes als »erlebnisorientierte Plazas« beschreibt.

Über Jahre habe ich mit Befremden verfolgt, wie die Freunde meines Sohns, deren Schultage fast zehn Stunden dauerten, an Wochenenden und in den Schulferien in die Buxiban in den Einkaufszentren von Shenzhen eilten. Im Sommer 2021 setzte die chinesische Regierung der riesigen Nachhilfeindustrie dann allerdings ein Ende. Die neuen Regularien verbieten nicht nur jeglichen Unterricht für Grund- und Mittelschüler im Zusammenhang mit dem Kernlehrplan während der Ferien und an den Wochenenden, sie untersagen privaten Nachhilfeunternehmen zugleich den Börsengang oder die Aufnahme von Auslandskapital (wodurch sich die mehr als 100 Milliarden Dollar Börsenwert der drei in den USA gehandelten chinesischen Bildungsriesen in Luft auflösten). Im Bemühen, öffentlich Solidarität mit den Familien zu demonstrieren, die um den Zugang zu Ressourcen kämpfen, hatte Präsident Xi Jingping bereits einige Monate vor diesem Schritt öffentlich erklärt, dass die Nachhilfeindustrie dazu neige, die Ängste der Eltern auszunutzen.

Tatsächlich dürften Xis Maßnahmen gegen den ständig zunehmenden familiären Bildungsstress in erster Linie vom Willen getragen sein, etwas gegen die gravierenden Auswirkungen der stark sinkenden Geburtenrate des Landes auf den chinesischen Arbeitsmarkt zu unternehmen. Die ist mittlerweile nämlich auf dem niedrigsten Stand seit der chinesischen Revolution von 1949 angelangt. (Im Jahr 2021 entsprach sie gerade einmal der Gesamtzahl der Todesfälle im Land. Dabei war schon 2016 die Ein-Kind-Politik durch die Zwei-Kind-Politik und diese 2019 durch die Drei-Kind-Politik abgelöst worden.) Das Rattenrennen geht nichtsdestoweniger unvermindert weiter: Die Buxiban, informierte mich mein Sohn, sind inzwischen in »interest classes« umbenannt worden. Weitere einfallsreiche Aushebelungen staatlicher Vorschriften werden sicherlich noch folgen.

Das globale Verbrauchermodell des Bildungswesens hat also offenbar auch in China Auswirkungen auf Schüler, Eltern und Lehrer, auch wenn die ihre bildungspolitischen Erwartungen nicht in der Weise formulieren, wie es im Westen üblich ist. Allerdings ist das Land dem Tsunami der Marktwirtschaft auch nicht völlig hilflos ausgeliefert. So verlangt die chinesische Regierung beispielsweise seit September 2021 von Videospielanbietern wie Tencent, sicherzustellen, dass Minderjährige nur noch drei Stunden pro Woche online spielen können. Darüber hinaus sind die Bildungseinrichtungen in China mehrheitlich nach wie vor traditionelle, staatlich finanzierte Schulen. Für sie gilt der vom Kulturministerium erstellte Kernlehrplan. Als einer von 250 Millionen Schülern der Grund- und Sekundarstufe in ganz China, lernte mein Sohn Chinesisch durch das Auswendiglernen und Rezitieren von staatlich genehmigten Gedichten und erhielt politisch korrekten Geografieunterricht (in dem Taiwan als abtrünnige Provinz auftauchte). Wenn die Schulpflicht in der neunten Klasse endet, lockert sich die Aufsicht ein wenig. Dennoch kommt es regelmäßig vor, dass Lehrer bei Schulinspektionen durch lokale Regierungsbeamte dazu gedrängt werden, Samisdat, also westliche Lehrbücher, gefälligst verschwinden zu lassen.

Wenn in den USA über das Universitätsleben geschrieben wird, dann gerne unter der Überschrift »the best time of your life«. Natürlich gab und gibt es viele Studierende, für die das ganz und gar nicht gilt, und doch hält sich der Mythos weiterhin hartnäckig. Chinesischen Studenten hingegen wird von vornherein klargemacht, die Universitätszeit sei nur eine flüchtige Zwischenetappe, bevor sie, wie die übliche Redewendung lautet, als Bürger »in die Gesellschaft eintreten« können. Sprich: Das gesamte Studium ist auf den Moment hin ausgerichtet, in dem die riesigen, von den Eltern geleisteten Investitionen in ihren Nachwuchs sich endlich auszahlen sollen.

Zu welch extremem Druck das führt, lässt sich auf vielen Ebenen beobachten. Auf Weixin (WeChat) beispielsweise, einem Nachrichten- und Social-Media-Dienst von Tencent (mit Hauptsitz in Shenzhen), wird um die Prüfungstermine herum regelmäßig ein geschmackloser Cartoon geteilt, der einen Studenten beim Sprung von einem Universitätsgebäude zeigt. Leider ist das mehr als nur schwarzer Humor. Die Aufseher der studentischen Wohnheime sind während dieser Zeit nicht umsonst in dauernder Alarmbereitschaft. Dass Stellenvermittlungen und Zulassungsbescheide für Aufbaustudiengänge (zusammen mit den Rankings der Unis) routinemäßig auf Weixin eingestellt werden, ist ein weiteres Indiz dafür, wie stark das chinesische Universitätswesen kapitalistischen Zwängen unterliegt. Studenten, Eltern und Verwaltungsangestellte verfolgen diese Posts genau, werden sie doch als Indikator für die Zukunftsaussichten des Nachwuchses gewertet.

Tatsächlich hängt derart viel vom Notendurchschnitt ab, wenn es um einen Arbeits- oder einen Studienplatz geht, dass die Lehrkräfte auf aberwitzige Weise gefangen sind zwischen den Vorstellungen der Verwaltungsangestellten – die die Chinesen ohne mit der Wimper zu zucken »Senior Management« nennen – und den Ansprüchen der Studierenden, die sich als Konsumenten von Bildung verstehen und aus nachvollziehbaren Gründen ein monetarisierbares Produkt erwarten. Die Realität sieht leider anders aus. Die Rückmeldungen, die man als Lehrkraft bekommt, deuten jedenfalls stark darauf hin, dass der Eintritt in die Gesellschaft bei den wenigsten auch nur annähernd in eine so befriedigende oder profitable Zukunft führt, wie sie (und ihre Eltern) gehofft hatten. Der Mehrzahl erscheint eine solche Zukunft mittlerweile nicht mehr nur schwer zu erreichen, sondern geradezu unvorstellbar.

Flachliegen

Als ich 2016 nach Shenzhen kam, waren die Stadt und meine Universität geradezu besessen von den großartigen Zukunftsaussichten. Im Frühjahr 2021, also ein Jahr nach Beginn der Pandemie und zu einer Zeit, als sich die Lage in China zu normalisieren schien, änderten sich die Dinge. Damals fiel während der Diskussionen im Rahmen einer meiner Vorlesungen mehrfach ein Ausdruck, der mir zuvor noch nicht begegnet war: Tangping