MERKUR  6/2023 -  - E-Book

MERKUR 6/2023 E-Book

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der seit langem in der Schweiz lebende Schriftsteller Michail Schischkin lässt zwei Stimmen sehr unterschiedliche mögliche Zukünfte Russlands entwerfen. Eine Welt der Drohnen malt Moritz Rudolph sich aus. Mit dem geplanten Gesetz zum Schutz von Whistleblowern setzt sich Hans Peter Bull auseinander. In seiner Europa-Kolumne versucht Martin Höpner sich einen Reim auf die Zinspolitik der Europäischen Zentralbank zu machen. Um den Ding-Aspekt der Musik geht es in Tobias Janz' Musikkolumne. Andreas Eckert liest Caroline Fetschers kritische Albert-Schweitzer-Biografie.  Markus Rieger-Ladich befasst sich mit den guten Gründen für, aber auch mit Übertreibungen der Identitätspolitik. Welche Einsatzmöglichkeiten für Sprachmodelle der Künstlichen Intelligenz es in der Psychiatrie geben könnte, erkundet Philipp Homan. Aleida Assmann versucht zu klären, was der Begriff "Narrativ" insbesondere für die Geschichtswissenschaft leisten kann und was nicht. Günter Hack erzählt, wie er Tinte aus der Schwarznuss selbst hergestellt hat. In David Gugerlis Schlusskolumne geht es um die überquellenden Bestände (nicht nur) der Technikmuseen.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 187

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken

Der Merkur ist eine Kulturzeitschrift, wobei der Begriff der Kultur in denkbar weitem Sinne zu verstehen ist. Er erscheint monatlich und wendet sich an ein anspruchsvolles und neugieriges Publikum, das an der bloßen Bestätigung der eigenen Ansichten nicht interessiert ist. Mit kenntnisreichen und pointierten Essays, Kommentaren und Rezensionen hält der Merkur gleichermaßen Distanz zum Feuilleton wie zu Fachzeitschriften. Die Unterzeile »Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken« formulierte bei der Gründung im Jahr 1947 das Bekenntnis zu einer weltanschaulich unabhängigen Form von Publizistik, die über kulturelle und nationale Grenzen hinweg alle intellektuell relevanten Debatten ihrer Zeit aufnehmen wollte. Auch wenn der Horizont für ein solches Unternehmen sich mittlerweile deutlich erweitert hat, trifft das noch immer den Kern des Selbstverständnisses der Zeitschrift.

Heft 889, Juni 2023, 77. Jahrgang

Herausgegeben von ChristianDemand und EkkehardKnörer

Gegründet 1947 von Hans Paeschke und Joachim Moras

Herausgeber 1979–1983 Hans Schwab-Felisch1984–2011 Karl Heinz Bohrer1991–2011 Kurt Scheel

Lektorat / Büro: Ina Andrae

Redaktionsanschrift: Mommsenstr. 27, 10629 Berlin

Telefon: (030) 32 70 94 14 Fax: (030) 32 70 94 15

Website: www.merkur-zeitschrift.de

E-Mail: [email protected]

Der Merkur wird unterstützt von der Ernst H. Klett Stiftung Merkur.

Partner von Eurozine, www.eurozine.com

Verlag und Copyright: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Postfach 106 016, 70049 Stuttgart, Tel. (0711) 66 72-0, www.klett-cotta.de · Geschäftsführer: Dr. Andreas Falkinger, Philipp Haußmann, Tom Kraushaar. · Leiter Zeitschriften: Thomas Kleffner, [email protected] · Media-Daten: www.merkur-zeitschrift.de/media · Manuskripte: Für unverlangt und ohne Rückporto eingesandte Manuskripte kann keine Gewähr übernommen werden. · Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 28. April 2023 · Gestaltung: Erik Stein · Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann-Satz GmbH & Co. KG, Lemförde

Bezugsbedingungen: Der Merkur erscheint monatlich. Preis 15 €; im Abonnement jährlich 152 € / 176 sFr; für Studenten gegen Vorlage einer Bescheinigung 96 € / 114 sFr; alle Preise jeweils zzgl. Versandkosten. · Die elektronische Version dieser Zeitschrift mit der Möglichkeit zum Download von Artikeln und Heften finden Sie unter www.volltext.merkur-zeitschrift.de. Der Preis für das elektronische Abonnement (E-Only) beträgt 152 € / 176 sFr; für Studenten und Postdocs gegen Vorlage einer Bescheinigung 48 €; für Privatkunden, die gleichzeitig die gedruckte Version im Abonnement beziehen, 26 € / 36 sFr. Im jeweiligen Preis der elektronischen Abonnements ist der Zugriff auf sämtliche älteren digitalisierten Jahrgänge enthalten. Preise für Bibliotheken und Institutionen auf Anfrage. Alle genannten Preise enthalten die zum Zeitpunkt des Kaufs gültige Mehrwertsteuer. In Drittländern jenseits der Schweiz (und außerhalb der EU) gelten die angegebenen Preise netto. · Die Mindestbezugsdauer beträgt ein Jahr. Erfolgt keine Abbestellung spätestens vier Wochen vor Ende des Bezugszeitraumes, verlängert sich das Abonnement auf unbestimmte Zeit; dieses kann sodann jederzeit mit einer Frist von einem Monat gekündigt werden. Es gelten unsere allgemeinen Bezugsbedingungen für Zeitschriftenabonnements (ABBs).

Abonnementverwaltung (falls vorhanden, bitte Ihre Kundennummer angeben): Leserservice Verlag Klett-Cotta, Postfach 13 63, 82034 Deisenhofen, Telefon (0 89) 8 58 53-868, Fax (0 89) 8 58 53-6 28 68. E-Mail: [email protected]

(D) 15 €  (A) 15,80 €  (CH) 18 SFr

ISSN Print 0026-0096 / ISSN Online 2510-4179     www.merkur-zeitschrift.de

ISBN 978-3-608-12173-5

Inhalt

Autorinnen und Autoren

Zu diesem Heft

BEITRÄGE

Michail Schischkin: Der russische Uroboros

Moritz Rudolph: Das Leben der Drohnen

Hans Peter Bull: Rechtsdurchsetzungsunterstützungsverwaltung

Das Gesetz zum Schutz von Whistleblowern

KRITIK

Martin Höpner: Europa-Kolumne

Die Europäische Zentralbank im Blindflug

Tobias Janz: Musikkolumne

»Musikdinge«

Andreas Eckert: Der beste deutsche Tropenwald, den es je gab

Albert Schweitzer, Lambaréné und der Kolonialismus

MARGINALIEN

Markus Rieger-Ladich: Privilegien

Philipp Homan: Psychopathologie errechnenDigitalisierung von Sprache und die Zukunft der Psychiatrie

Aleida Assmann: Was ist ein Narrativ?Zur anhaltenden Konjunktur eines unscharfen Begriffs

Günter Hack: Spuren der Schwarznuss

David Gugerli: Beherbergen

Vorschau

Michail Schischkin, geb. 1961, Schriftsteller. 2012 ist sein Roman Briefsteller erschienen, zuletzt 2019 der Band Frieden oder Krieg. Russland und der Westen – eine Annäherung (mit Fritz Pleitgen). [email protected]

Moritz Rudolph, geb. 1989, Redakteur des Philosophie Magazin. 2021 erschien Der Weltgeist als Lachs. [email protected]

Hans Peter Bull, geb. 1936, Professor em., ehemaliger Innenminister Schleswig-Holsteins, ehemaliger Bundesbeauftragter für Datenschutz. 2023 erschien Demokratie und Rechtsstaat in der Diskussion. [email protected]

Martin Höpner, geb. 1969, Politikwissenschaftler und Forschungsgruppenleiter am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. [email protected]

Tobias Janz, geb. 1974, Professor für Musikwissenschaft an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Mitherausgeber von Musik & Ästhetik. 2019 erschien Decentering Musical Modernity. Perspectives on East Asian and European Music History (Hrsg. zus. m. Chien-Chang Yang). [email protected]

Andreas Eckert, geb. 1964, Professor für die Geschichte Afrikas an der Humboldt-Universität zu Berlin. 2021 erschien Geschichte der Sklaverei. Von der Antike bis ins 21. Jahrhundert. [email protected]

Markus Rieger-Ladich, geb. 1967, Professor für Allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Tübingen. 2022 erschien Das Privileg. Kampfvokabel und Erkenntnisinstrument. [email protected]

Philipp Homan, geb. 1980, Stellvertretender Klinikdirektor und Chefarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. – Der Beitrag beruht auf der Antrittsvorlesung vom 25. März 2023 an der Universität Zürich. homanlab.github.io

Aleida Assmann, geb. 1947, Professorin i. R. für englische Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. 2020 erschien Die Wiedererfindung der Nation.

Günter Hack, geb. 1971, Autor und IT-Projektmanager. 2018 erschien Quiz.

David Gugerli, geb. 1961, seit 1997 Professor für Technikgeschichte an der ETH Zürich.

Zu diesem Heft

DOI 10.21706/mr-77-6-3

Günter Hack berichtet in einem kurzen Text, wie er aus Nüssen und anderen Früchten eigenhändig Tinte herstellt. Hack ist gelernter Schriftsetzer, war sehr früh schon Blogger, in unserer Video-Gesprächsreihe »Zweite Lesung« hat er unter anderem über die Herstellung von E-Books als Handwerk gesprochen. Er ist, mit anderen Worten, in allen, auch den neuesten Medien des Schreibens und der Veröffentlichung des Geschriebenen versiert. Es geht also nicht um die Sehnsucht nach früheren Zeiten, auch nicht um die Verklärung handwerklicher Tätigkeit. Eher geht es darum, dass die bei der Herstellung notwendige Aufmerksamkeit, dass die Liebe zum Detail und die Genauigkeit des Beschreibens ein Gegenbild zu einer Lebens- und Arbeitswelt sind, in der »die meisten Produktionsmittel nur noch von wenigen Konzernen lizenziert werden und die Lizenznehmer immer weniger Kontrolle über sie ausüben« können. Der Anachronismus wird als Denkmöglichkeit einer anderen Logik zum Gegenwartskorrektiv.

Um die Gegenwart des Vergangenen geht es diesmal auch in David Gugerlis Schlusskolumne. Genauer gesagt um das Verschwinden technischer Dinge und das Aufhalten ihres Verschwindens. Was außer Gebrauch gerät, weil es überholt ist, findet seinen Platz im Museum. Wenn es ihn findet. Denn: »Ausgestellt wird nur die Spitze des Eisbergs. Alles andere liegt im Keller auf Regalen und wartet auf den unwahrscheinlichen Einsatz in den lichtdurchfluteten Ausstellungsräumen.« Und auch in den Kellern vieler Museen ist schon lange kein Platz mehr. Man ist darum dabei, Ideen für Zuhausemuseen zu entwerfen, wo das nicht mehr Gebrauchte, das sonst im Müll landen würde, vielleicht doch noch einmal von Nutzen sein kann.

CD /EK

Beiträge

DOI 10.21706/mr-77-6-5

Michail Schischkin

Der russische Uroboros

N: Du sagst, ein neuer Anfang in Russland sei unmöglich, denn dafür müsste es erst einmal an ein Ende gelangen.

Doch etwas spricht dafür, dass eine andere Weltordnung als das Gefängnis auch in Russland möglich sein muss: nämlich weil dies der Lauf der Dinge ist, ein Naturgesetz, so wie jeder Fluss am Ende im Ozean landet. Die Menschheit entwickelt sich auf dem Wege der Humanisierung. Anfangs haben sie einem schwächlichen Neugeborenen den Schädel eingedrückt, den Alten nichts mehr zu essen gegeben, das war die Norm. Aber die wandelt sich. Erst musste der Schwache vor dem Stärkeren zurücktreten, heute muss der Starke dem Schwächeren den Vortritt lassen. Die Willkür des Diktators macht dem Rechtsstaat Platz. In einer Welt, in der deine Rechte von wirksamen Gesetzen geschützt werden, lebt es sich leichter und angenehmer als da, wo sie dich jeden Moment nackt machen und in den Knast stecken können. Die ganze Menschheit entwickelt sich dorthin, warum soll Russland da eine Ausnahme machen?

Ы: Der Große Streit unter den Russen, den Nikolai Gogol und Wissarion Belinski einst angezettelt haben, wurde am 24. Februar 2022 ad acta gelegt. Beide Seiten haben verloren. Weder konnte der Glaube an Gott die toten Seelen wiederbeleben, noch haben die Errungenschaften der europäischen Zivilisation, Bildung und Kultur, »Russland erretten« können. Es war ja in dem Streit gerade darum gegangen, wie die Norm zu verändern sei, damit die Totgeborenen zu Menschen, die Knechte zu freien Bürgern werden.

Die gesellschaftliche Norm zeigt an, welches Mindestmaß an Niedertracht eine Gesellschaft zum Leben braucht. Niedertracht ist überall in der Welt. Aber in Russland zahlt einen höheren Preis, wer auf sie verzichten will. Gogol suchte mit seiner Nation, dem nicht auserwählten Volk, einen Bund zu schließen: »Man muss den Menschen daran erinnern, dass er kein materielles Stück Vieh ist, sondern Angehöriger einer hohen, himmlischen Nation. Solange er nicht halbwegs das Leben eines Himmelsbürgers führt, wird auch seine irdische Staatszugehörigkeit keine Fortschritte machen.«1 Die toten Seelen sollten in Christus lebendig werden, ganz wie Tschitschikow in Band 3, wenn er sich zuletzt in sibirischer Zwangsarbeit die russische Himmelsbürgerschaft verdient – »erlitten« – haben würde.2 Tschitschikow aber begehrte auf gegen seinen Urheber und legte Feuer an seine russische Blockhütte, nämlich an das Manuskript, in dem er wohnte.

Belinski seinerseits hatte in seinem ewigen Oppositions-Blog geschrieben, Russland sehe seine Rettung »im Fortschreiten der Zivilisation, der Aufklärung und der Menschlichkeit. Es braucht keine Predigten (es hat ihrer genug gehört!), keine Gebete (es hat ihrer genug heruntergeleiert!), sondern das Wiedererwachen des Gefühls der Menschenwürde im Volk, das so viele Jahrhunderte hindurch in Schmutz und Unrat verlorengegangen war – es braucht Rechte und Gesetze, die nicht den Lehren der Kirche entsprechen, sondern dem gesunden Menschenverstand und der Gerechtigkeit, und die möglichst streng gehandhabt werden. Stattdessen bietet Russland den abscheulichen Anblick eines Landes, wo es […] nicht nur keinerlei Garantien für die Unantastbarkeit der Person, der Ehre und des Eigentums gibt, sondern nicht einmal eine Polizeiordnung, nur riesige Korporationen von beamteten Dieben und Räubern!«3

Ein Superschwergewichtskampf, ausgetragen von der russischen Literatur: innere Neugeburt durch Christus vs. Umbau der Gesellschaft. Fjodor Dostojewski hat sich zeit seines Lebens sozusagen am dritten Band der Toten Seelen versucht. Ergebnis seines Mühens: viel heiße Luft und jede Menge Sprengstoff. Das Land ist nicht etwa Aljoscha Karamasow ins Kloster gefolgt, sondern den Dämonen in den revolutionären Terror. Als die Autoren des Almanachs Wechi [Wegzeichen]4 das weiße Handtuch in den Ring warfen, war ein blutiger Brei eingerührt, den wir bis heute auszulöffeln haben. Jedenfalls kam keine der beiden Ideen zum Tragen: Weder konnte Jesus Christus den Russen zur Himmelsbürgerschaft verhelfen, noch haben Volksbildung, Internet und offene Grenzen zu mehr Zivilisation, Aufklärung und Humanität geführt. Heute besteht die Anleihe, die die Russen bei der europäischen Zivilisation genommen haben, nur noch aus zwei Buchstaben: dem V und dem Z.

N: Allgemeingültige Normen fallen ja nicht vom Himmel, sie werden von Menschen gemacht und geändert. Und dass die Mächtigen zu bestimmen haben, was wahr ist, haben nicht immer alle Russen so gesehen. Der Mensch ändert sich selber auch, er setzt sich seine Lebensregeln neu und bringt dadurch die Gesellschaft dazu, sich zu wandeln. Im August 1968 waren es eine Handvoll Leute, die sich auf den Roten Platz stellten und wussten, dass sie unterliegen würden, mit ihrem Opfer nichts erreichten, und doch hat diese Tat etwas in uns allen verändert.5 Oder denke daran, wie dich in einem späteren August, du warst ein junger Lehrer und gerade in den Ferien auf der Datscha, die Kunde vom Putsch ereilte. Wie du nach Moskau fuhrst zum Weißen Haus, dort waren Tausende und Abertausende auf den Barrikaden. Dort trafst du deine Schüler aus der 9b, deren Klassenlehrer du warst. Damals hast du noch gedacht, du wärst vielleicht doch kein ganz schlechter Lehrer, wenn du ihnen etwas mehr beigebracht hast als nur das Plusquamperfekt. Sie und du, ihr habt das Land vor euren Augen verändert. Und genauso ändert heute derjenige die Weltlage, der mit einem Schild »Nein zum Krieg« auf die Straße geht, um anschließend im Knast zu landen. »Die sieben Leute auf dem Roten Platz sind mindestens sieben Gründe, weshalb wir die Russen niemals werden hassen können«, schrieb seinerzeit eine Prager Zeitung. Jeder, der heute gegen den Krieg demonstriert, ist ein Grund mehr dafür. Es sind Einzelne, aber jemand muss immer den Anfang machen.

Ы: Weißt du noch, wie unsere Grundschullehrerin die Fabel von der Eiche und dem Schilfrohr vortrug? Für uns war’s ein Märchen, für sie gelebte Erfahrung. Die Welt ist fassungslos, dass eine Regierung ihre »Wählerschaft« zum Töten und Verrecken in die Ukraine treibt, und »das Volk bleibt stumm«.6 Wo sind die Millionen auf Russlands Straßen? Wo die Streiks? Sind die Russen tatsächlich eine »Nation von Sklaven«?7 Die Millionen in der übrigen Welt, die gegen diesen Krieg bereits demonstriert haben, können nicht nachvollziehen, dass das Verstummen eine Überlebensstrategie über Generationen hin war und ist. Aber du weißt, wie das geht. In den 1930er Jahren ist unser Großvater zum Kulakenfreund erklärt worden, weil er protestierte, als man seine Kuh für die Kolchose einkassierte. Andere schwiegen und überlebten, er wurde verhaftet und ging im Gulag vor die Hunde. Während Mama in ihrer Schule 1982 der Oberstufe einen Wyssozki-Abend auszurichten erlaubte, obwohl sie von allen Seiten gewarnt worden war, doch lieber »stumm zu bleiben« – man hat sie, die Direktorin, mit einem ordentlichen Skandal von der Schule geschmissen, sie hat das nicht verwunden, der Krebs nahm von ihr Besitz. Solche Geschichten hat es in jeder Familie gegeben.

Ist einer nicht bereit, sich dreinzuschicken und stumm zu bleiben, wird die Macht ihn vernichten. So war es hier immer, von Anfang an, als Fürstin Olga »warägischer Zunge«8 den Genozid an den Derewljanen anzettelte und Alexander Newski im Namen seines Khans aufständischen Nowgorodianern die Augen ausstechen ließ, beides Heilige für die Russen, nebenbei gesagt. Und so ging das fort von einer Station zur nächsten, über Iwan den Schrecklichen zu Jossif Wissarionowitsch, den Vergeltungsaktionen in Tschetschenien und bis hin zum heutigen Genozid an den Ukrainern, die es gewagt haben, ein russisches Kriegsschiff zu verhöhnen. Russlands Geschichte zeigt, wie das Gesetz der natürlichen Auslese funktioniert: Der aktivste, aufgeklärte Teil der Bevölkerung wurde von Staats wegen eliminiert, sofern er nicht ins Exil ging. Bei der Gründung des Russischen Staates hatten Usurpatoren die Finger im Spiel, setzten sie gegen die Einheimischen durch. Die Waräger fingen damit an, die Horde machte so weiter. Herrscher und Volk sind einander fremd. Und der Fremde ist immer der Feind, den zu schonen sich verbietet. Dieses Selektionsexperiment an der russischen Bevölkerung währt seit Jahrhunderten. Eichen wurden ausgerissen, das Schilfrohr pflanzte sich fort. So setzten sich über Generationen hinweg jene Eigenschaften durch, die zum Leben in der Zone.ru am nötigsten waren. Russlands vitale Kräfte und Überlebensinstinkte kulminierten in der Kunst, sich auf die Zunge zu beißen.

N: Das Land hat aber auch die Freiheit gekannt. Es hat Erfahrungen im Kampf für die Demokratie, auch Siege kamen dabei vor. Im Frühling 1917, nach einer wahrhaft vom Volk getragenen Revolution, war Russland das freieste Land der Welt. Die Leute erhielten Rechte, von denen andere Völker nicht zu träumen wagten. Frauenrechte zum Beispiel, wie sie die Schweizerinnen erst ein halbes Jahrhundert später errangen. Auch in den 1990ern – das ist schon unsere eigene Erfahrung – herrschte Freiheit in Russland.

Es stimmt einfach nicht, dass die Russen für die Demokratie noch nicht reif seien. Alle Diktaturen haben letztlich nur den einen Feind: das freie Wort. Es hat am Ende jedes Mal triumphiert. Auch im Duell zwischen dem Dichter und dem Zaren hatte Letzterer nicht die Spur einer Chance.9 Die Russen sind keine Sklaven von Geburt, man hat sie dazu gemacht. Man kann jedes Volk pervertieren – denk nur an die Deutschen. Der Hitlerstaat hatte Zyklon B zur Gesetzesnorm erhoben. Heute ist dort die Verfolgung des Antisemitismus die Norm. Der Staat kann seine Bürger missbrauchen, und er kann sie erziehen. Antisemitismus gibt es überall, den Unterschied macht, ob man ihn ahndet oder fördert.

Systematisch hat die russische Macht ihre Untergebenen, eine Generation nach der anderen, abgehalftert – Menschen wurden zu »Orks« gemacht. Darin bestand die einzig erkennbare Staatspolitik der letzten zwanzig Jahre, die Propaganda hat dafür gesorgt. Vor unseren Augen wurde die Norm in dieser Zeit verrückt, Denunziationen zu Hunderttausenden waren die Folge. In Russland hängt alles vom Staat ab. Russen werden zu Orks, wenn der Staat es so will, oder sie werden zu besseren Schweizern. Eine Nation von Sklaven gibt es nicht. Denk an die Millionen Emigranten, die nicht nur keine Mühe haben, sich in demokratische Normen einzuleben, sondern »mit Herz und Talent«,10 das in Russland lange brachgelegen hat, in einer offenen Gesellschaft zu Anerkennung und Erfolg kommen. Nähme man sie alle zusammen, ergäbe sich das ersehnte »herrliche Russland der Zukunft«11 wie von allein.

Ы: Propaganda fruchtet nur da, wo der Boden bereitet ist. Den meisten Russen ist es schlecht ergangen in der pseudodemokratischen Marktwirtschaft. Generationen hindurch waren die Leute um den Ertrag ihrer Arbeit betrogen worden, bekamen den Prunk des Imperiums dafür. Wurden gegängelt, durften weder für sich denken noch entscheiden. Es glich der Stumpfheit eines lang gedienten Soldaten. Aus den Reihen der Armee entlassen, musste er auf einmal für sein Leben selbst Verantwortung tragen, den eigenen Weg finden. Die Leute sehnten sich zurück nach der alten Übersichtlichkeit, nach Ordnung, Obrigkeit. Als das Land sich nach dem langen Darben der Sowjetzeit zum ersten Mal überfressen hatte, packte es die Melancholie. Genauer gesagt, die berühmte russische toska. Die Leute sehnten sich nach einem klaren Weltbild, nach Grenzen, Frontlinien zwischen dem Eignen und dem Fremden, nach einem, der weiß, wo es langgeht, dem Genossen Kommandeur, dem Großen Sieg, der ruhmvollen Heimat. Von dieser Art Sehnsucht geht ein saurer Geruch aus, so wie es aus Soldatenstiefeln riecht. Ja, zwei Versuche hat es gegeben, das Vaterland zu lüften, um frei darin atmen zu können. In deren Folge ist die Luft noch knapper geworden. 1917 hielt die Freiheit nur Monate, in den 1990ern mit Ach und Krach ein paar Jahre.

Jedes Mal, wenn versucht wird, freie Wahlen, eine Verfassung, ein Parlament einzuführen, geht das Land in Anarchie und Banditentum unter und taucht in einem totalitären Imperium wieder auf. Die russische Geschichte hat sich in ihren Schwanz verbissen, würgt und schluckt. Gogol hatte uns alle in eine geflügelte Troika-Kutsche gesetzt, die in die Zukunft fliegen sollte.12 Aber diese seine Zukunft war, bei Lichte besehen, unsere monströse Vergangenheit, das von Leichen übersäte 20. Jahrhundert. Heute würde er Russland wohl mit einer Untergrundbahn vergleichen, die seit hundert Jahren durch die Tunnel rast, im Pendelverkehr zwischen den Endbahnhöfen »Ordnung der Diktatur« und »Chaos der Demokratie«. Nur die ramponierten Stationsschilder werden manchmal ausgewechselt. Einst fuhren wir vom »Zarenreich« in die »1917er Anarchie«, retour ins »Stalinregime« und von da in die »Wilden Neunziger«. Jetzt geht es wieder in die andere Richtung, bis zum Bahnhof »Endsieg Operation Z«. Wie die Fahrt dann weitergeht, kann man sich ausmalen.

N: Das heißt aber doch, beim nächsten Mal könnte die Frischluftkur länger währen. Vierzig Jahre in der Wüste, multipliziert mit den langen russischen Wintern … Militärische Siege haben das Regime stets gefestigt, Niederlagen haben sein Ende beschleunigt. Bedenke, womit der Japankrieg endete, der Erste Weltkrieg, Afghanistan! Womit wird die »Spezialoperation« enden?

Ы: Der Zweite Weltkrieg in Europa endete nicht mit Hitlers Selbstmord, sondern mit der vollständigen und endgültigen Zerschlagung des deutschen Staats- und Militärapparats. Der Spatz ist ein Vogel, Russland ist unser Vaterland, der Tod des Mannes, dem ein Köfferchen mit seinen Fäkalien hinterhergetragen wird, ist unausweichlich.13 Eine Deputinisierung wird sich nicht vermeiden lassen, aber durchführen wird sie ein neuer Putin. Und sie wird nicht zum Frieden führen, nur zur »Atempause nach dem ruhmlosen Brest«.14 Neue Putins werden sich durch neue Siege legitimieren müssen. Erleidet das Volk eine Niederlage, so weiß man, es ist der falsche König. Stalin hat man für den Sieg die Millionen von Opfern verziehen. Gorbatschow hingegen hat Afghanistan verspielt und den Kalten Krieg mit dem Westen – dieser Fake Zar! Und seit die Himars-Raketen fliegen, ist auch Putins durch die Krim gewonnene Legitimität dahin.

Das Casting für den nächsten echten Zaren läuft schon. Und auch der wird sein Recht auf den Thron auf die einzige Art zu beweisen haben, die unser Vaterland zulässt: dem Sieg über den Feind, gleich unter welchen Opfern erzielt. Nicht Putin führt Krieg mit der Ukraine und der Welt, es ist das ganze russische Machtsystem, das sich nach jedem Debakel, jedem Zusammenbruch regeneriert. Im Reservat der russischen Geschichte treibt der alte Drache sein Unwesen, es wechseln nur die Avatare: der Ulus der Goldenen Horde oder das Reich der Moskowiter, das Imperium der Romanows, die UDSSR unter Stalin oder die »gelenkte Demokratie«. In der Euphorie vom August 1991 hatte man zum letzten Mal geglaubt, das »Untier plump, bellend aus hundert Mäulern«15 sei in der Vergangenheit versunken. Doch der Zug nahm wieder Fahrt auf, hielt nicht an der Station Destalinisierung, schwänzte den Nürnberger Prozess gegen die KPDSU; das Land ließ sich nicht impfen gegen das Gewesene – und so war nicht das Neue, sondern die Wiederkehr des Alten eine Frage der Zeit. Der Leichnam war nicht beerdigt worden, das gab ihm die Möglichkeit, wiederzuerwachen. Der Ulus häutete sich ein neues Mal. Dieses System kommt ohne Krieg und Feinde nicht aus. Also führt unser Land gegen den Rest der Welt wieder Krieg, der hört nie auf.

N: Trotzdem leuchtet mir die These »Nach Putin kommt Putin« nicht ein. So geht Geschichte doch nicht. Nach Zar Nikolai kam kein Zar Nikolai, nach Stalin kein Stalin.

Ы: Diktaturen erzeugen Untertanen. Untertanen ermöglichen Diktaturen. Das ist wie Dinosaurier und Ei. Wie soll da ein neuer Anfang entstehen?

N: Deutschland hat den Neuanfang zustande gebracht, warum sollte Russland das nicht können? Russland hat eine Stunde Null dringend nötig. Klar, die Deutschen haben sich damals auch herauszureden versucht: Hitler war ein verrückter Verbrecher, aber wir haben von alledem nichts gewusst! Wir, das deutsche Volk, sind genauso Opfer wie alle anderen Völker auch. Roosevelt hat es auf den Punkt gebracht: »Man muss dem ganzen deutschen Volk klar vor Augen halten, dass die ganze Nation an einer unrechtmäßigen Verschwörung gegen die Sitten der modernen Zivilisation teilgenommen hat.«16 Also nicht genug, dass man sie »auf Exkursion« in die KZs schickte, man ließ sie die Toten begraben, Massengräber exhumieren, hängte Plakate mit grässlichen Fotografien von Leichenbergen in den Städten auf – »Diese Stadt ist schuldig! Ihr seid schuldig!« stand darunter.

Genauso sollte die Bevölkerung Russlands zur Exhumierung verpflichtet werden, ihre Schuldigkeit vor Augen gehalten bekommen. Jeder Kriegsverbrecher sollte eine gerechte Bestrafung erfahren. Weder die NATO noch die Ukraine werden unser Land wirksam entnazifizieren, das müssen die Russen selber tun. Wir müssen Russland eigenhändig von diesen Abszessen befreien. Ohne Reue und nationales Schuldbekenntnis ist ein neuer, demokratischer Anfang undenkbar. Um sich »von den Knien erheben«17