MERKUR  8/2023 -  - E-Book

MERKUR 8/2023 E-Book

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Beschreibung

Wieso glauben Demokratinnen und Demokraten eigentlich, dass man die Demokratie vor sich selbst schützen muss? – lautet Philip Manows durchaus polemische Frage an einschlägige Diskussionen zum Thema. Weder als unerklärliches Wunder noch als apokalyptische Technik (noch eigentlich als künstliche Intelligenz) sieht Paola Lopez die gerade so gehypte Künstliche Intelligenz, sie weist vielmehr auf deren charakteristische Beschränktheiten hin. Warum die Sozialgeschichtsschreibung den gelehrten Stand (und dieser sich selbst) nicht richtig versteht, kann Heinrich Bosse erklären. César Aira denkt über das Verhältnis des Essay zu seinem Thema nach. William Dalrymple präsentiert neue Erkenntnisse zu den erstaunlich umfassenden Handelsbeziehungen zwischen Rom und Indien in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten. Neue Biografien von Thomas Mann und Christoph Martin Wieland sind, so Marcel Lepper, eher mustergültige Beispiele einer überkommenen Literaturgeschichtsschreibung. In die Zukunft jedenfalls weisen sie nicht. In Sibylle Severus' Erzählung "Zettel" gibt es unter anderem Streit um den Kümmel am Salat und am Braten. Pierre-Héli Monot kommentiert die Sorge der Drehbuchautorinnen und -autoren vor der Machtübernahme der Künstlichen Intelligenz. Über die Bedeutung der ethnografischen Feldnotiz denkt Sina Steglich nach. In David Gugerlis Schlusskolumne geht es um Ersatzteile und Lebenszyklen.

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Seitenzahl: 186

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Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken

Der Merkur ist eine Kulturzeitschrift, wobei der Begriff der Kultur in denkbar weitem Sinne zu verstehen ist. Er erscheint monatlich und wendet sich an ein anspruchsvolles und neugieriges Publikum, das an der bloßen Bestätigung der eigenen Ansichten nicht interessiert ist. Mit kenntnisreichen und pointierten Essays, Kommentaren und Rezensionen hält der Merkur gleichermaßen Distanz zum Feuilleton wie zu Fachzeitschriften. Die Unterzeile »Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken« formulierte bei der Gründung im Jahr 1947 das Bekenntnis zu einer weltanschaulich unabhängigen Form von Publizistik, die über kulturelle und nationale Grenzen hinweg alle intellektuell relevanten Debatten ihrer Zeit aufnehmen wollte. Auch wenn der Horizont für ein solches Unternehmen sich mittlerweile deutlich erweitert hat, trifft das noch immer den Kern des Selbstverständnisses der Zeitschrift.

Heft 891, August 2023, 77. Jahrgang

Herausgegeben von ChristianDemand und EkkehardKnörer

Gegründet 1947 von Hans Paeschke und Joachim Moras

Herausgeber 1979–1983 Hans Schwab-Felisch1984–2011 Karl Heinz Bohrer1991–2011 Kurt Scheel

Lektorat / Büro: Ina Andrae

Redaktionsanschrift: Mommsenstr. 27, 10629 Berlin

Telefon: (030) 32 70 94 14 Fax: (030) 32 70 94 15

Website: www.merkur-zeitschrift.de

E-Mail: [email protected]

Der Merkur wird unterstützt von der Ernst H. Klett Stiftung Merkur.

Partner von Eurozine, www.eurozine.com

Verlag und Copyright: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Postfach 106 016, 70049 Stuttgart, Tel. (0711) 66 72-0, www.klett-cotta.de · Geschäftsführer: Dr. Andreas Falkinger, Philipp Haußmann, Tom Kraushaar. · Leiter Zeitschriften: Thomas Kleffner, [email protected] · Media-Daten: www.merkur-zeitschrift.de/media · Manuskripte: Für unverlangt und ohne Rückporto eingesandte Manuskripte kann keine Gewähr übernommen werden. · Redaktionsschluss dieser Ausgabe: 3. Juli 2023 · Gestaltung: Erik Stein · Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann-Satz GmbH & Co. KG, Lemförde

Bezugsbedingungen: Der Merkur erscheint monatlich. Preis 15 €; im Abonnement jährlich 152 € / 176 sFr; für Studenten gegen Vorlage einer Bescheinigung 96 € / 114 sFr; alle Preise jeweils zzgl. Versandkosten. · Die elektronische Version dieser Zeitschrift mit der Möglichkeit zum Download von Artikeln und Heften finden Sie unter www.merkur-zeitschrift.de. Der Preis für das elektronische Abonnement (E-Only) beträgt 152 € / 176 sFr; für Studenten und Postdocs gegen Vorlage einer Bescheinigung 48 €; für Privatkunden, die gleichzeitig die gedruckte Version im Abonnement beziehen, 26 € / 36 sFr. Im jeweiligen Preis der elektronischen Abonnements ist der Zugriff auf sämtliche älteren digitalisierten Jahrgänge enthalten. Preise für Bibliotheken und Institutionen auf Anfrage. Alle genannten Preise enthalten die zum Zeitpunkt des Kaufs gültige Mehrwertsteuer. In Drittländern jenseits der Schweiz (und außerhalb der EU) gelten die angegebenen Preise netto. · Die Mindestbezugsdauer beträgt ein Jahr. Erfolgt keine Abbestellung spätestens vier Wochen vor Ende des Bezugszeitraumes, verlängert sich das Abonnement auf unbestimmte Zeit; dieses kann sodann jederzeit mit einer Frist von einem Monat gekündigt werden. Es gelten unsere allgemeinen Bezugsbedingungen für Zeitschriftenabonnements (ABBs).

Abonnementverwaltung (falls vorhanden, bitte Ihre Kundennummer angeben): Leserservice Verlag Klett-Cotta, Postfach 13 63, 82034 Deisenhofen, Telefon (0 89) 8 58 53-868, Fax (0 89) 8 58 53-6 28 68. E-Mail: [email protected]

(D) 15 €  (A) 15,80 €  (CH) 18 SFr

ISSN Print 0026-0096 / ISSN Online 2510-4179     www.merkur-zeitschrift.de

ISBN 978-3-608-12175-9

Inhalt

Autorinnen und Autoren

Zu diesem Heft

BEITRÄGE

Philip Manow: Der Geist der Gesetze

Paola Lopez: ChatGPT und der Unterschied zwischen Form und Inhalt

Heinrich Bosse: Der gelehrte Stand

Die Akademiker verleugnen ihre Vergangenheit

César Aira: Der Essay und sein Thema

KRITIK

William Dalrymple: Garum Masala

Vom Welthandel zwischen Indien und Rom

Marcel Lepper: Neue Literaturgeschichte

Ein Darstellungsproblem und drei Auswege

MARGINALIEN

Sibylle Severus: Zettel

Pierre-Héli Monot: Robopathen und Robopathinnen aller Länder … Wenn die KI die Drehbücher schreibt

Sina Steglich: Wandernde Worte Feldnotiz und Reisetagebuch als Formen nichtsesshaften Denkens

David Gugerli: Lebenszyklus

ERRATUM

Vorschau

PhilipManow, geb. 1963, Professor an der Universität Bremen. 2018 erschien Welfare Democracies and Party Politics (Mitherausgeber), 2020 (Ent-)Demokratisierung der Demokratie. – Der Beitrag ist im Kontext eines bei Suhrkamp erscheinenden Buchs über Demokratiekonzeptionen und Konstitutionalisierungskonflikte entstanden. [email protected]

PaolaLopez, geb. 1988, Doktorandin am Institut für Rechtsphilosophie an der Universität Wien. [email protected]

HeinrichBosse, geb. 1937, Dozent. 2021 erschien Medien, Institutionen und literarische Praktiken der Aufklärung. [email protected]

CésarAira, geb. 1949, Schriftsteller. 2022 ist der Roman Das Abendessen erschienen. – Bei dem Beitrag handelt es sich um ein Kapitel aus dem Band Weltflucht und andere Essays, der im Oktober 2023 bei Matthes & Seitz erschienen wird.

WilliamDalrymple, geb. 1965, Kodirektor des Literaturfestivals von Jaipur und Mitveranstalter des Podcasts Empire. Autor von The Company Quartet, einer vierbändigen Geschichte der East India Company. – Der Beitrag erschien unter dem Titel Garum Masala in der New York Review of Books vom 20. April 2023.

MarcelLepper, geb. 1977, Honorarprofessor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig. 2022 erschien Poetik der Mitte. Walter Kempowski im literatur- und ideengeschichtlichen Kontext (Hrsg. zus. m. Tom Kindt u. Kai Sina). [email protected]

SibylleSeverus, geb. 1937, Schriftstellerin. 2015 erschienen der Roman Nauenfahrt und die Erzählungen Die Große Kunst. [email protected]

Pierre-HéliMonot, geb. 1981, Professor für Ästhetik, politische Theorie und Public Humanities am Amerika-Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2016 erschien Mensch als Methode. Allgemeine Hermeneutik und partielle Demokratie: Friedrich Schleiermacher, Ralph Waldo Emerson, Frederick Douglass.

SinaSteglich, geb. 1987, Akademische Rätin auf Zeit am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München. 2020 erschien Zeitort Archiv. Etablierung und Vermittlung geschichtlicher Zeitlichkeit im 19. Jahrhundert. [email protected]

DavidGugerli, geb. 1961, seit 1997 Professor für Technikgeschichte an der ETH Zürich.

Zu diesem Heft

DOI 10.21706/mr-77-8-3

Noch bis vor kurzem wurde Künstliche Intelligenz von der breiten Öffentlichkeit vor allem als uneingelöstes Verspechen wahrgenommen. Die Zeiten sind vorbei. Die neuesten Anwendungen in der Bild- wie Sprachgenerierung, von Midjourney bis ChatGPT, haben einen extremen Hype auf der einen und apokalyptisch klingende Warnungen auf der anderen Seite zur Folge gehabt. Paola Lopez hält in ihrem nüchternen Essay zu LLMs (Large Language Models) weder das eine noch das andere für berechtigt. Vielmehr weist sie auf die Beschränkungen hin, die den Modellen dem ingeniösen Wortprognose-Prinzip und allen spektakulären Effekten zum Trotz inhärent sind und inhärent bleiben werden: Was aus Datensätzen generiert wird, kann am Ende immer nur selbst Datensatz sein, dem man die Vorurteile der zugrundeliegenden Daten auch unter Einsatz von Billiglohn-Arbeiterinnen und -Arbeitern nicht vollständig austreiben kann. Das noch fundamentalere Problem ist jedoch: »Wir – damit meine ich Userinnen und User – haben weder Kontrolle über die Inhalte, die ChatGPT produziert, noch über das Tool selbst.« Ob man sich auf einem so heiklen Gebiet ein weiteres Mal privaten Konzernen ausliefern will, die sich nach Möglichkeit jeder Kontrolle entziehen, sollte man sich, so Lopez, deshalb lieber gut überlegen.

Im aktuellen Arbeitskampf der Hollywood-, Fernseh- und Streaming-Autorinnen und -Autoren ist die Zukunftsfrage von durch KI verfassten Drehbüchern kein nebensächlicher Punkt. Pierre-Héli Monot geht in seinem Essay zurück bis zu Vaucansons Ente, arbeitet aber vor allem die nicht ganz unparadoxe Argumentation der Gewerkschaft heraus. Einerseits werden unter der Überschrift »Literatur« die Texte der Autorinnen und Autoren als durch Maschinen nie und nimmer ersetzbar hypostasiert; andererseits wird die Drohung, Autorinnen und Autoren zum Beispiel während des Streiks durch textgenerierende KI zu ersetzen, sehr ernst genommen. Die Verträge sollen in Zukunft Klauseln enthalten, die den Einsatz der Künstlichen Intelligenz auf bloße Hilfsarbeiten beschränken.

CD /EK

Beiträge

DOI 10.21706/mr-77-8-5

Philip Manow

Der Geist der Gesetze

Contested concepts

1956 veröffentlichte der Philosoph Walter B. Gallie den vieldiskutierten und bis heute immer wieder zitierten Aufsatz Essentially Contested Concepts.1 Die darin entwickelte Kernthese besagt, dass bestimmte notorisch umstrittene Großbegriffe – als Beispiele dienen »Kunst«, »Demokratie« und »soziale Gerechtigkeit« – zwangsläufig auf ewig umstritten bleiben werden. Nach Gallie ist das kein Zufall, sondern hat mit wesentlichen Eigenschaften dieser Begriffe zu tun, etwa mit hoher Komplexität, einem engen Wertebezug oder auch historischer Offenheit. Die Hoffnung, irgendwann einmal, wenn man nur lange und systematisch genug nachgedacht und miteinander geredet hat, zu einer konsensuellen Klärung ihrer Bedeutungsgehalte zu kommen, muss folglich illusorisch bleiben.

Liest man den Aufsatz vor dem Hintergrund der aktuellen Krisenliteratur erneut, muss eigentlich überraschen, dass Gallie bei der Aufzählung der Gründe, weshalb umstritten bleiben wird, was die Demokratie ihrem Wesen nach ausmacht, den vielleicht wichtigsten gar nicht anführt: nämlich political contestation, das heißt contestation for power. Ist doch schnell einsichtig, dass unterschiedlichen Sprecherpositionen unterschiedliche Vorstellungen von Demokratie plausibel werden. Die Mehrheit interpretiert – Überraschung – Demokratie eher majoritär. Die Minderheit betont hingegen checks and balances, den Schutz von Minderheiten und die Gefahr einer Tyrannei der – Überraschung – Mehrheit.2 Die Mehrheit möchte durchregieren, die Minderheit möchte das Durchregieren der Mehrheit verhindern.

Die einen sagen Demokratie und meinen Volkssouveränität, die anderen sagen Demokratie und meinen Gewaltenteilung. Seit einiger Zeit behaupten die, die Gewaltenteilung sagen, darüber hinaus auch, dass Volkssouveränität alleine ja noch keine wirkliche Demokratie ausmache – sondern, ganz im Gegenteil, von ihr eigentlich eine besondere Gefährdung der Demokratie ausgehe. Die vorherrschende Diagnose ist heute eine der elektoralen Selbstgefährdung der Demokratie: »While liberal democracy in the early 1990s may have appeared a climax, if not the end of history, it is now widely perceived as being in the grip ofa crisis from within. It isthrough elections, the process most closely associated with the democratic system, that the danger most often arises.«3 Demokratien sterben, aber sie werden nicht getötet, sondern begehen Selbstmord – so die dominante Deutung unserer gegenwärtigen Lage: »democratic backsliding today begins at the ballot box«.4

Will man den suicide of democracy verhindern, ist es so gesehen geboten, sie vor sich selbst zu schützen. Die Demokratie, heißt es daher, ließe sich vor allem durch die Abschwächung ihrer elektoralen Elemente retten – entweder durch die Einschränkung des Wahlrechts5 oder durch die Abwertung von Wahlen und die Aufwertung deliberativer Elemente – oder durch den Schutz, den nichtdemokratische Institutionen der Demokratie gegenüber dem Demos angeblich gewähren würden. Colin Crouch blickt nach über zwanzig Jahren zurück auf seine Diagnose der Postdemokratie: »Another lesson, which I had not appreciated when I wrote my 2001 book, is the importance of those institutions of the state, which are themselves not democratic, but which protect us from abuse of democracy by leaders claiming that the fact of their election entitles them to act as they please: law courts, independent central banks, independent information and statistical services, various audit and surveillance agencies.«6

Für einen sich selbst als dezidiert links verstehenden public intellectual liegt jetzt also der Schlüssel zur Rettung der Demokratie dort, wo sich seit den 1980er Jahren die Lieblingsfeinde der Linken organisierten: in der unabhängigen Zentralbank. Selbst das bekannte Demokratiedefizit der Europäischen Union wird so unter der Hand zum demokratischen Vorteil. Das Motto der Gegenwart scheint zu lauten: Weniger (elektorale) Demokratie wagen – vielleicht ja nur ein wenig weniger.7

Sind das nur Reflexe einer Demophobie, wie sie Gertrude Lübbe-Wolff jüngst beschrieben hat?8 Beruhen sie auf einer strukturellen Veränderung des demokratischen Arrangements von Mehrheitsbildung und konstitutionellen restraints? Oder hängen sie vor allem mit einer veränderten diskursiven Beschreibung von Demokratie, mit der Sprecherposition der Demokratietheorie zusammen? Die Frage stellt sich, weil die Argumente für starke institutionelle Beschränkungen des Mehrheitswillens normativ recht unbedarft erscheinen.9 Worauf gründet sich eigentlich die Vorstellung, man müsse das Majoritäre nur mit allerlei nonmajoritären Institutionen um- und zustellen, dann würden sich Interessenausgleich, Gerechtigkeit und Stabilität schon von selbst ergeben? Genau das, was Crouch emphatisch begrüßt, sehen ja viele als Ursache für den populistischen Protest, als Protest gegen die Aushöhlung der Demokratie, gegen die »Euthanasie der Politik« durch die Herausnahme aller möglichen Entscheidungsbereiche aus der Politik und ihre Überantwortung an nichtdemokratische Institutionen.10 Die Politik stirbt den guten, schönen Tod, sie stirbt am Guten und Schönen, für das man auch gar nicht mehr Mehrheiten mobilisieren muss, wenn man es auch einfach einklagen kann. Aber dass jeder ein Interesse hat, seine spezifische Vorstellung von Demokratie zu der Vorstellung von Demokratie zu machen, ist ja gerade der zentrale Grund für die prinzipielle Umstrittenheit des Konzepts.

Tatsächlich erscheinen die einschlägigen Debattenbeiträge geprägt von einer ermüdenden politischen Vorhersehbarkeit bei gleichzeitig überraschend hoher Bereitschaft zur argumentativen Inkonsistenz: Exemplarisch dafür ist die Wahrnehmung der Rolle von Verfassungsgerichten. Aus einer politisch progressiven Position heraus befürwortet man Roosevelts berühmte Drohung gegenüber einem marktliberalen Anti-New-Deal Supreme Court, applaudiert Roe vs. Wade, auf welch fragwürdige Art und Weise das Gericht – gerade im Vergleich mit dem epochemachenden Urteil der Bürgerrechtsära Brown v. Board of Education – auch immer seine Entscheidung damals begründet haben mag. Dann aber entdeckt man die demokratietheoretische Problematik weitreichender richterlicher Normenkontrolle just, sobald konservative Richter die Mehrheit im Höchsten Gericht stellen. Oder: »Israel’s Mapai (Labor) Party and its mainly secular Ashkenazi establishment constituencies opposed judicial review for decades but embraced constitutional supremacy once the country’s electoral balance shifted against it.«11

Solange die Arbeiterpartei die Geschicke des Landes exklusiv bestimmen konnte, behandelte sie die Frage nach einer Verfassung dilatorisch. Angesichts des Aufstiegs von Likud entdeckte sie dann, wie unerlässlich in einer Demokratie doch eigentlich eine verfassungsrechtliche Einhegung des Mehrheitswillens ist. Was heute, im Kontext der notorischen israelischen Justizreform, zu der bemerkenswerten Pointe führt, dass Netanjahus rechts-religiöse Koalition mit der einfachen Mehrheit von 61 Stimmen in der Hundertzwanzig-Sitze Knesset ein neues Grundgesetzkapitel verabschiedet hat, das erlaubt, Beschlüsse des Supreme Court mit einfacher parlamentarischer Mehrheit zu überstimmen, und der Supreme Court daraufhin ankündigt, dieses neue Grundgesetzkapitel auf der Basis eines in den 1990er Jahren mit einfacher Mehrheit verabschiedeten anderen Grundgesetzkapitels für verfassungswidrig erklären zu wollen.12

Hinter dem Skandal der Möglichkeit zum parlamentarischen override eines Verfassungsgerichtsurteils – der in anderer Form in Kanada seit einiger Zeit in Form der Nonwithstanding Clause in der Canadian Charter of Rights and Freedoms nichtskandalös geltendes Verfassungsrecht ist – steht aber in Israel nichts anderes als die historische Weigerung der israelischen Arbeiterpartei, so etwas wie eine Verfassung anders als in jeweils einzelnen Grundrechtskapiteln mit einfacher Knesset-Mehrheit zu verabschieden.13 Oder: Deutsche Europarechtler und die EU-Kommission fordern nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Staatsanleihekaufprogramm der EZB, dass die Bundesregierung Karlsruhe auf Linie zu bringen habe, weil ein gegenüber einer integrationseuphorischen Bundesregierung unabhängiges Bundesverfassungsgericht ein von einer integrationsskeptischen Regierung mittlerweile abhängiges polnisches oder ungarisches Verfassungsgericht ja womöglich auf dumme Gedanken bringen könnte:14 Tod der Gewaltenteilung im Dienste eines heroischen politischen Kampfes gegen eine getötete Gewaltenteilung!

Constitutional conflicts

Das normative Argument bleibt schematisch: In einer majoritären Lesart muss der Rechtsstaat gar nicht einer Mehrheit dauernd von außen aufgezwungen werden – was ohnehin machtpolitisch wenig nachhaltig wäre. Die rechtliche Selbstbindung liegt in der Demokratie eigentlich im Eigeninteresse der Mehrheit. In der Demokratie ist jede politische Mehrheit (Minderheit) nur eine Mehrheit (Minderheit) auf Zeit, und die Selbstbeschränkung derjenigen, die momentan an der Macht sind, kann man als eine Versicherung für die Zeit verstehen, wenn sie es einmal nicht mehr sind. Das ist die insurance theory of judicial independence, es geht um die Verringerung politischer Unsicherheit. Was du nicht willst, das man dir tu … Nebenbei bemerkt: Erst dann, wenn politische Entscheidungsmehrheiten beständig über gesellschaftliche Minderheiten bestimmen, fangen Argumente für die starke verfassungsrechtliche Einhegung des Mehrheitswillens an, überzeugen zu können. Das beträfe etwa für lange Zeit das Problem des Rassismus in der US-amerikanischen Gesellschaft und sicherlich auch das Verhältnis zwischen jüdischen und arabischen Israelis (ist aber ansonsten viel seltener, als es die Rede von der Tyrannei der Mehrheit suggeriert).

Rechtsstaatlichkeit in Demokratien ist, wenn sie stabil ist, politisch endogen stabil. Das ist allein schon deswegen ein ernst zu nehmendes Argument, weil eines ihrer exogenen Stabilität schwer zu machen ist, will man nicht auf diffuse Konzepte demokratischer Werte abheben,15 die mal internalisiert, mal nicht internalisiert sind – und wenn sie es nicht sind, durch Staatsbürgerkunde, Erinnerungsorte der Demokratie und Steinmeier-Reden, also durch zivilreligiöse Fundierung per präsidialer Selbstergriffenheit, in die Leute hineingetrichtert werden müssen. Aber wie sollte in unseren positivistischen Zeiten das Rechtliche nicht im Schatten des Politischen stehen? Schließlich wird als Voraussetzung für die Folgebereitschaft der Politik gegenüber Verfassungsgerichten eine demokratische Kultur des Respekts gegenüber dem Eigenwert und der Eigenwürde des Rechts genannt. Aber wenn es diese Kultur gibt, braucht man Verfassungsgerichte nicht – und wenn es sie nicht gibt, nutzen sie nichts.

Die Populisten stehen im Ruf, Feinde einer starken rechtlichen Einhegung des Mehrheitswillens zu sein, sie sind skeptisch gegenüber der Vorstellung, das Rechtliche sei etwas Unpolitisches, Neutrales, das der Politik ganz unschuldig, wie von außen gegenübertrete.16 Das halten viele für skandalös. Mark Tushnet und Bojan Bugarič geben in einem neueren Aufsatz aber zu bedenken, ob Populisten nicht »a better understanding of law as such, that is as ultimately instrumental, than their critics« hätten.17 Solche Verschiebungen deuten darauf hin, dass der Populismus nicht eine von außen kommende Infragestellung des acquis constitutionnel ist, sondern der Konstitutionalismus sich selbst in den letzten Jahrzehnten von Grund auf verändert hat. Die globale Ausbreitung von Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassungsrechtsprechung stehen im Zentrum dieser Transformation.

Solange Verfassungen tatsächlich die Spielregeln des demokratischen Wettbewerbs festlegen, wie es die Theorie der Verfassung als Rahmenordnung will, und nicht zu einem Sammelsurium des Schönen, Guten, Wahren werden (»blueprint for the good society«; »medley of liberal values«)18 oder – wie im Vertragsrecht der Europäischen Union – der Konstitutionalisierung eines grenzüberschreitenden kapitalistischen Marktmodells dienen, reagieren politische Öffentlichkeiten üblicherweise sensibel auf Versuche der Regeländerung. Denn diese können als Hinweis dafür genommen werden, dass hier womöglich jemand den demokratischen Machtwechsel unwahrscheinlicher machen möchte. Das aber wäre in der Demokratie eine Entmachtung des Demos, und das können auch die nicht wollen, die sich zur momentanen Mehrheit rechnen. Denn sie wissen, dass andere Zeiten auch andere Politiken erfordern werden und dass ihre zukünftigen Präferenzen sich von ihren gegenwärtigen womöglich unterscheiden. Dafür möchte man zumindest die Möglichkeit offenhalten. Warum also sollte ich mein zukünftiges Ich entmündigen, warum sollte sich mein zukünftiges Ich freiwillig in die Gefangenschaft meines jetzigen begeben? Das ist auch der durchschnittlichen ungarischen Fidesz-Wählerin, dem durchschnittlichen türkischen AKP-Wähler nicht unbedingt eingängig zu machen.

Mit Blick auf den Umstand, dass der Angriff auf das israelische Verfassungsgericht heute eine andere öffentliche Reaktion hervorruft als die Entmachtung des ungarischen und polnischen Verfassungsgerichts 2010ff. und 2015ff., braucht man dann nicht sofort über die unterschiedliche demokratische Reife von Öffentlichkeiten zu spekulieren. Könnte es doch auch daran liegen, dass etwa das in den 1990er Jahren extrem aktivistische, aggressive, eine eigene Agenda verfolgende Verfassungsgericht Ungarns sehr viel weniger glaubwürdig als ehrlicher Hüter demokratischer Spielregeln erscheinen konnte. So oder so zeigt aber das israelische Beispiel, dass, wenn überhaupt, die Demokratie den Rechtsstaat rettet, und nicht etwa umgekehrt.

Die insurance theory of judicial independence verbleibt jedoch innerhalb der Logik regelmäßiger demokratischer Machtwechsel, und es wäre damit noch nicht geklärt, was den ganz außerordentlichen weltweiten Konstitutionalisierungsschub seit den 1990er Jahren erklärt, also die langfristige und grundsätzliche Verschiebung zwischen dem Majoritären und dem Nichtmajoritären, die damit vollzogen wurde. Immerhin ist sie es, die man mit guten Gründen für die gegenwärtige politische Unruhe zumindest mitverantwortlich machen kann. Eine naheliegende Erklärung fällt aus: Wenn Rechtsstaatlichkeit wesentlich als Resultat eines funktionierenden Parteienwettbewerbs zu verstehen ist, könnten ja aktuelle Defizite des Parteienwettbewerbs eventuell ihre Krise erklären. Aber durch Wahlen induzierte Machtwechsel sind seit 1980 nicht seltener geworden, eher im Gegenteil19 – obwohl ein solcher Rückgang nach den Diagnosen eines globalen Aufstiegs der Autokratien schon längst beobachtet hätte werden müssen.

Schon an dieser Stelle der Überlegungen lassen sich zwei Einsichten im Hinblick auf aktuelle Diskussionen über die Krise der Demokratie formulieren. Erstens: Skepsis ist angebracht, wenn immer wieder einmal behauptet wird, es gehe um die Verteidigung der Demokratie gegen ihre neuen Feinde. Grundsätzlich wäre jedes Mal zu fragen: um welche beziehungsweise um wessen Demokratie? Und zweitens: Die langfristigen Verschiebungen hin zu möglichst umfassenden institutionellen Beschränkungen des Mehrheitswillens unter der Grobzuschreibung und dem Passepartout »liberale Demokratie« scheinen von grundlegenderen Verschiebungen im politisch-sozialen Gleichgewicht von Gesellschaften zu zeugen, sie künden davon, dass hier ein Milieu seine Macht zur arrondieren versucht – ein Milieu, dessen weiterhin vorherrschende Kontrolle über die Deutung des Geschehens mit seiner abnehmenden Kontrolle über dessen Dynamik einhergeht. Seine Kategorien herrschen noch, aber sie tragen immer weniger zur Beherrschung der Lage bei.

Die Gründe dieser ebenso selbstbezogenen wie dysfunktionalen Beschreibungen wären zu ermitteln. Zu erkunden wäre, was sich längerfristig (und nicht nur im üblichen demokratischen Wechsel zwischen einer Regierung und einer Opposition) verschoben hat. Recht besehen müsste es also darum gehen, eine Politische Ökonomie der liberalen Demokratie zu entwickeln, die sich in gewisser Weise als notwendiges Komplement zu einer Politischen Ökonomie des Populismus versteht.20 Das würde auf die richtige und wichtige Anregung reagieren, sich doch nicht nur andauernd mit den neuen, echten oder eingebildeten, Verlierern zu beschäftigen, sondern auch einmal mit den Gewinnern, also den neuen, überaus sendungsbewussten Mittelklassen, mit deren politischem Projekt, aus dem heraus die neuen Zeitdiagnosen von den Selbstgefährdungen der elektoralen Demokratie überhaupt erst verstanden werden können.21 Es scheint aussichtsreicher und ergiebiger, sich mit den Prozessen gegenwärtiger politischer Normensetzung, Normierung, Normalitätsdefinition, mit den Normalitätsdefinierern zu befassen, mit den politischen Prämien auf den Besitz der Kategorisierungsmacht – aussichtsreicher jedenfalls als mit denen, die durch sie als Abweichler konstituiert werden. Denn die obsessive Beschäftigung mit Letzteren, die die Sozialwissenschaften seit nun fast zwanzig Jahren praktizieren, hat ja doch immer nur die vorherrschenden Abgrenzungen nachvollzogen und damit zertifiziert.

Conjurements

Rest, rest, perturbed spirit …

2015 hatte Cas Mudde in einem Meinungsbeitrag im Guardian mit dem Titel The problem with populism diesen als »illiberale demokratische Antwort auf einen undemokratischen Liberalismus« bezeichnet, um sich dann im Weiteren aber ausschließlich mit dem Populismus und seinem mangelnden Liberalismus, nicht aber mit dem Liberalismus und seinem problematischen Verhältnis zur Demokratie zu beschäftigen.

Der Populismus ist ein Gegner der liberalen Demokratie – sagen Liberale, und dabei bleibt im Dunkeln, wo diese Gegner so zahlreich plötzlich herkommen. Die begriffliche Unschärfe, das Abstrahieren von jeder konkreten institutionellen Form, erlauben es zu unterschlagen, dass »die liberale Demokratie«, gegen die die Populisten protestieren, recht besehen nicht so viel älter ist als der Protest gegen sie selber – denn was den massiven Konstitutionalisierungsschub anbetrifft, ist das ein Vorgang, der sich wesentlich in den 1990ern vollzog. Was, ganz bequem aus einer bestimmten Perspektive, davon enthebt, darüber nachdenken zu müssen, ob die neue Ordnung den neuen Populismus nicht vielleicht erst hervorgebracht haben könnte. Mit dem Populismus ist der Liberalismus aber nicht mit seinem Gegner, sondern mit einem Gespenst, mit dem Geist der von ihm erstickten Politik, konfrontiert, der er doch einen so schönen, guten, so gerechten Tod bereitet hat – le spectre des lois.22

Die von der marxistischen Mutterkirche abgespaltene Hauntology-Sekte sollte man sich nicht ins Haus holen, wenn man auf Geisterjagd gehen will, denn sie jagt dem falschen Phantom nach.23 Die große liberale Landnahme der 1990er Jahre war nicht in erster Linie eine ökonomische,24