Metaphysische Einflüsterungen - Wolfram Hogrebe - E-Book

Metaphysische Einflüsterungen E-Book

Wolfram Hogrebe

0,0
15,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Es gehört zu den Aufgaben unserer Gegenwart, das Format einer neuen Metaphysik zu entwickeln. In diesem Buch wird der Versuch unternommen, aus exemplarischen philosophischen Fragestellungen Klärungsstrategien zu entfalten, die allesamt änigmatische Grenzzonen erkunden, aus denen niemand herauszufinden vermag. Abwesenheiten in kreativen Prozessen, die Geburt der Intentionalität, der switch vom ungeheuren Objekt zum ungeheuren Subjekt, die Entbindung von Kreativität aus unscharfen semantischen Verhältnissen, die Bedeutung von Bildung in Prozessen eines konzilianten Geltenlassens, Formen als Augen der Dinge und schließlich Kosmologie als Poetik: Die Rettung einer unvermeidlichen Rätselhaftigkeit ist das Sujet einer neuen Metaphysik.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wolfram Hogrebe

MetaphysischeEinflüsterungen

KlostermannRoteReihe

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Originalausgabe

© Vittorio Klostermann GmbH · Frankfurt am Main 2017

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere die des Nachdrucks und der Übersetzung. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teile in einem photomechanischen oder sonstigen Reproduktionsverfahren oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten, zu vervielfältigen und zu verbreiten.

Satz: Mirjam Loch, Frankfurt am Main

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISSN 1865-7095

ISBN 978-3-465-04297-6 (Print)

ISBN 978-3-465-34297-7 (mobi)

ISBN 978-3-465-24297-0 (epub)

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort: Drahtharfe

Änigma 1: Abwesenheiten

Änigma 2: Ungeheures Objekt

Änigma 3: Ungeheures Subjekt

Änigma 4: Unschärfe

Änigma 5: Bildung

Änigma 6: Form

Änigma 7: Kosmos

Nachwort: Haarharfe

Bildnachweise

Personenregister

Anmerkungen

Vorwort Drahtharfe

Metaphysik war immer gleich möglich und gleich unmöglich.1

„Körper und Seele des Menschen sind wie ein Musikinstrument, auf dem unsichtbare Spieler in geheimnisvollem Spiel eine für uns als Instrument selbst, oft lustvolle, oft sehr schmerzhafte Musik machen.“2

Wenn man sich überlegt, auf welchem Instrument man die Melodie der Moderne spielen könnte, denkt man, wie früher allerdings gerne, nicht an große Orchestrierung, auch nicht an das sehr laute, aber ausdrucksarme ‚Terrororchester‘ von Günter Uecker, zur Not aber vielleicht doch an ein sprödes Klavier mit seiner eingebauten wohltemperierten Betrugstechnik.

Denn genau diese schlägt expressives Kapital daraus, daß Töne wie cis und des nahezu als akustisch identisch wahrgenommen werden. Dieser Hörtrug macht den Quintenzirkel realisierbar, sonst benötigte man für cis und des zwei Tasten. Auf dieser Basis entwickelte sich die elaborierte Harmonik seit Bachs Zeiten. Mathematisch und physikalisch sehr wohl Unterscheidbares wurde musikalisch in enharmonischer Verwechslung für eins genommen. Das Ohr wollte ein bißchen betrogen sein, um die musikalische Expressivität voll entfalten zu können. Die Betrugsart heiße hier lat. circumductio, ‚kreisförmige Herumführung‘: Zwei sind Eins.3

Was haben Geometrie und Musik miteinander zu tun? Beide benötigen den Kreis (π), aber scheitern an ihm. Er ist geometrisch oder mathematisch weder einer Quadratur zugänglich noch sind ihm als Quintenzirkel in reiner Stimmung zwölf Quinten ohne Rest zu integrieren. Die mathematischen und musikalischen ‚Reste‘ werden verwischt, aber indizieren gerade deshalb: Der Kreis ist kein Natur-, sondern ein Kulturprodukt, der Quintenzirkel folglich auch.4 Der modus operandi der Natur ist beeindruckend kreativ, partiell intelligibel, bleibt uns im Kern aber dennoch fremd. Natur exekutiert ihre eigenen Verwischungen, die uns allerdings unzugänglich sind. Auch Kultur basiert auf Verwischungen, die ihre Vorteile haben: Sie erlauben Übergänge, die den Reichtum unserer Expressivität gewaltig steigern. Übertriebene Exaktheit würde solche Übergänge unmöglich machen. Gerade für die Möglichkeit kultureller Formen benötigen wir Betrugstechniken. Der Gewinner dieser Nezessitäten war übrigens die Technik. Konstruktion schlägt Mimesis, Propeller schlägt Schwinge und Düse wieder Propeller.

Man darf das auch für den expressiven Bereich und kunstübergreifend verallgemeinern. Auf der Basis trügerischer Verwischungen rücken Musik und Opfer (Bach), Rosen und Schwerter (Chopin) zusammen, im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert dichterisch ebenso Rosen und Disteln (George), später philosophisch auch Holz und Wege (Heidegger), wieder dichterisch Blech und Trommel (Grass) und schließlich musikalisch und dichterisch zugleich: Draht und Harfe (Biermann).

Gerade eine solche Drahtharfe war es, auf der Wolf Biermann 1965 seine Gedichte hatte erklingen lassen.5 Die Publikation derselben führte unmittelbar zu einem Auftritts- und Publikationsverbot, Jahre später (1976) zu seiner Ausbürgerung aus der DDR. Der Ton der Drahtharfe ging den sozialistischen Machthabern derart auf die politischen Nerven, daß sie, in falsch verstandener platonischer Tradition, lieber den Barden opferten als sich selbst.

1989 zeigte es sich, daß dieses Ersatzopfer gänzlich umsonst war. Der Ton der Drahtharfe hatte gesiegt, die Mauern fielen in Deutschland auf ihren Fernklang hin wie ehedem die Jerichos.6

Auf diesen Kontext berechnet, war der Auftritt des Barden im deutschen Bundestag am 7. November 2014 in der Feierstunde zum Mauerfall vor fünfundzwanzig Jahren mit seiner vorgetragenen Benennung der Linksfraktion als ‚Drachenbrut‘, ja als ‚elenden Rest dessen, was zum Glück überwunden wurde‘, ein gewiß unorthodoxer, aber überparlamentarischer Glücksfall.

Das Wahre war mit diesem Auftritt im Parlament spürbar präsent, selbst wenn es aus protokollarischen Gründen da gar nicht hingehörte. Darauf hatte Bundestagspräsident Norbert Lammert den Barden in feinironischer Liebenswürdigkeit auch hingewiesen. Indes: Was nicht da sein sollte und doch war, war das Wahre.

So kann man sich ein Ereignis politischer Metaphysik vorstellen. Immer ist es etwas, was nicht sein sollte und dann doch da ist. Verdeckend, aber nicht verdunkelnd. Manchmal sogar betörend anzuschauen wie der verhüllte Reichstag 1995 von Christo in Berlin, jene visuelle Variante einer politischen Metaphysik. Im Kern sind dies alles Betrugsunternehmen im Dienste einer anders nicht zugänglichen Wahrheit – und gerade das ist Kunst.

Warum sind nun solche Formen inszenierter Metaphysik wichtig? Einfach deshalb, weil sie eine anthropologische Rätselhaftigkeit geradezu anschaulich machen, ja der Rettung des Rätsels dienen. Gerade das ist die Aufgabe der Metaphysik, das ist ihr genuines sujet.7

Die große Orchestrierung verbietet sich für eine der Moderne zugewandte Philosophie aber nicht erst seither. Die Drahtharfe war im Prinzip schon ein Erfordernis seit Hegel. Er diagnostizierte als Leviathan der Moderne einen Moloch der Entzweiung, der bis heute die Weltpolitik in Atem hält. Die Entzweiung besteht nach seiner Interpretation im Konflikt mit Trägern der Legitimation. Obligationen aus Traditionen und Lebenswelten prallen mit geschichtslosen ökonomischen und technischen Erfordernissen zusammen, ohne daß abzusehen wäre, wie beide Interessenlagen in einer ‚aufhebenden‘ Figur enharmonisch versöhnt werden könnten. In diese Großdiagnose fügen sich auch andere Formate ein, sogar solche, die sich im Einzugsbereich der Philosophie als Entzweiungsstrukturen zu erkennen geben. Einem bloß argumentativ gestrickten Zugriff auf philosophische Problembestände stehen historisch belehrte und spekulative entgegen. So ist auch hier die Drahtharfe das Instrument, um Mißklänge hörbar zu machen.

Mißklänge ergeben sich normalerweise da, wo die Differenz von Erinnerung, Erwartung und Erfüllung spürbar wird. Dazu gehört bereits die Rätselhaftigkeit unseres puren Existierens. Philosophen wie Leibniz und Schelling waren davon jedenfalls überzeugt. Andere nicht unbedingt. So findet sich erstaunlicherweise, was niemand weiß, in der ersten Auflage der Critik der reinen Vernunft (1781) Kants das Wort ‚Rätsel‘ nicht.8 Ein Rätsel, das trotz aller klärenden Bemühungen stehen bleibt, lag Kant einfach fern. Dennoch konzipierte er eine Vernunft, die in sich widersprüchlich strukturiert ist. Vernunft wird von Kant als Organ unserer Kontexterschlossenheit verstanden, als schließende Registratur von ‚Ganzen‘, die mit abstrakten singulären Termini operiert. Aber die Semantik abstrakter singulärer Termini ist leider unvermeidlich in sich widersprüchlich. Ihre Unentbehrlichkeit und Widersprüchlichkeit zugleich macht Kant verträglich durch den von ihm neu gefaßten bloß regulativen Status der Vernunftideen.

So etwas wie ein wesentliches Änigma wie bei Platon9 und dann bei Cusanus gab es also für Kant nicht. Und zweihundert Jahre später wußte Ludwig Wittgenstein auch, warum nicht: Das Rätsel gibt es gar nicht. Das hat die meisten Leser seines Tractatus logico-philosophicus sicher irritiert. Aber Wittgenstein lieferte auch eine Begründung für diese Feststellung: „Wenn sich eine Frage überhaupt stellen läßt, so kann sie auch beantwortet werden.“10 Das ist sicher falsch. Nichts ist auffälliger als der Tatbestand, daß Menschen sich in einer Fraglichkeit fühlen, auch ohne sie schon in eine sprachliche Frageform bringen, geschweige denn sie als ausbleibende Fragen auch noch beantworten zu können. Deshalb setzte Wittgenstein das Rätsel am Ende im Schweigen bei und rettete es genau dadurch. Das war seine raffinierte sepulkrale Betrugstechnik.

Die Rätselhaftigkeit unseres Daseins, wie facettiert auch immer, werden wir jedenfalls nicht los, selbst wenn manche Philosophen uns das einreden möchten. Ja es scheint, als ob solche änigmatischen Züge schon in die Architektur unserer Rationalität eingebaut seien, zehrt sie doch von solchen opaken, abkürzenden Faltungen, da sie wesentlich heuristisch konzipiert ist. Von wem? Durch sich selbst in unabsehbaren Kontexten.

Deutlicher Index für den heuristischen Grundzug der Architektur unserer Rationalität ist in der Philosophie also der Grad, in dem ein Denken an eine unvermeidliche Rätselhaftigkeit herankommt.11 Die Nähe zum Änigma ist ein schmerzhaftes sigillummetaphysicae. Das war auch schon der Rhetorik nicht unbekannt: „Das aenigma ist eine nichtironische Allegorie, deren Beziehung zum gemeinten Ernstsinn besonders undurchsichtig ist.“12

Diese von mir geradezu trügerisch genannte Undurchsichtigkeit in unserer Beziehung zum gemeinten Ernstsinn ist vermutlich nicht behebbar. Daran arbeitet sich die Philosophie in eben deshalb unvermeidlich historischen Klärungsversuchen ab. Der Erste, der das methodisch verstanden hat, war Cusanus, der die philosophische Erkenntnisart als genuin heuristisch und daher als ein ‚symbolice investigare‘ begriffen hat, das ins Änigma hineinläuft, es aber nicht hinter sich lassen kann.13

In diesem Sinne sollen hier exemplarische Belege für eine zeitgemäße Wiedereinsetzung der Metaphysik präsentiert werden, in sieben Anläufen auf ein Änigma zu, also jedesmal nahe an Zonen heran, in denen sich der Ernstsinn des Seins in der Faktizität seiner undurchsichtigen Zugänglichkeit bekundet. Auch Husserl, der ja keine Metaphysik geschrieben hat, hielt dies für die Aufgabe einer ‚Metaphysik in einem neuen Sinn‘.14

Zuerst komme ich auf den Umstand zu sprechen, daß wir in kreativen Prozessen in Zustände einer Absenz einrücken müssen, um etwas geschehen zu lassen: eine Idee, die uns kommt, etwas, was uns aufgeht oder einfällt, jedenfalls etwas, was nicht unsere Tat allein ist. Das Belegmaterial wird hier der Kunst und Dichtung entnommen, wo sie schon von sich aus dieses anonyme Geschehen in Anspruch nimmt und auch darum weiß, ohne es dadurch vermeiden oder ersetzen zu können. Helden dieses Einstiegs sind hier Imi Knoebel, Paul Valéry und Carl Schmitt.

Zweitens versuche ich Hegels These einzufangen, daß wir in elementarer Weise auf ein ungeheures Objekt aus sind, das nicht definiert, aber als reines Noema auch nicht unser Produkt sein kann. Aus diesem sich ungesteuert einstellenden Universalthema des Menschen erwächst erst seine gesteuerte Intentionalität, durch die er das Ganze jeweils und unvermeidlich fragmentiert. Hölderlin begreift übrigens diesen Fluch zur Endlichkeit, dieses Verdammtsein zur Fragmentierung als Kern des Tragischen.15 Keine gute Aussicht für die Menschen.

Drittens wandert das Änigma dieses ungeheuren Objekts in das Änigma eines ungeheuren Subjekts hinein, wenn ein tiefsitzender Gattungsnarzismus sich individuell Bahn bricht. Prometheus war der Held dieses Geschehens, aber er betrog nicht nur die alten Götter, sondern auch die Menschen. Das Feuer, das sie als Geschenk entgegennahmen, war gestohlen. So wurden die Menschen zu professionellen Hehlern und sind es bis heute. Im Zentrum werden hier Gedanken Heideggers stehen, die trotz seiner Verstrickungen keinesfalls abgegolten sind.

Viertens nähere ich mich dem irritierenden Änigma, daß sich gerade und nur in Zonen unscharfer Begrifflichkeit unsere Registratur von Fülle und alternativen Möglichkeiten bewährt. Gesprächspartner sind hier Leibniz und Baumgarten.

Fünftens prüfe ich die Notwendigkeit von Bildung, um Antagonismen von Traditionen und Moderne ausgleichen zu können. Bildung bietet im solonischen Sinn als Gnomosyne mehr als ein Orientierungswissen, vermag vielmehr auch konfligierende Ansprüche in wissentlicher Kontextualisierung versöhnend und praktisch auf Abstand zu halten. Das Änigma ist hier der wieder nicht steuerbare Umschlag von Theorie in habituelle Disposition: Bildung muß sich einfach ‚einstellen‘. Aggressive Emotionen können nur im Wissen um Gründe abfließen. Bildung gibt es daher nur in deliberativer façon, kann jedenfalls nicht erzwungen werden. Solche Gedanken hat Joachim Ritter entwickelt, der hier auch befragt wird.

Sechstens nähere ich mich dem Änigma der Form als essentielle Norm und als Grund der Sichtbarkeit und Erkennbarkeit der Welt. Sein ist Betrug per Form als Norm. Ohne Rückgriffe auf individuelle Formen des Aristoteles oder substanzielle Formen bei Leibniz ist hier auch heute noch kein Durchkommen. Hier ergeben sich auch Parallelen zu Horst Bredekamps These, daß Bilder eine eigene Aktionsart aufweisen.

Siebtens schließe ich mit dem Änigma einer pulsierenden Weltentstehung, die jedesmal im Rücksturz von Strukturen ins Strukturlose mündet, um dann wieder aufzublühen. Kosmologie ist hier zugleich Poetologie und Ästhetik. Als Helden fungieren hier Edgar Allan Poe und wieder Paul Valéry.

Das zentrale Anliegen dieser änigmatischen Anläufe ist, daß sie sich als Etüden einer modernen Metaphysik bewähren müssen, einer solchen, die sich nicht in historischen Reminiszenzen erschöpft, sondern als politische Metaphysik auch kritisch wirksam sein muß, um ein Spiel auf der Drahtharfe genannt werden zu dürfen. Die Sprache, die dabei verwendet wird, ist von Bild, Dichtung und Musik inspiriert, aber leider tot, genauer: lingua mortua con mortuis.16 Es handelt sich mithin um selbstlose Selbstgespräche im Erinnerungsraum, mit Heinrich Heine wörtlich und mit Sergej Prokofiev klingend gesagt, um diabolische Einflüsterungen, um diabolische Instigationen.17

So muß auch der argumentative Stil ein besonderer sein, jedenfalls kein bemühtes argumentatives forcing im üblichen Sinn. Mit dem Bonner Mathematiker und Literaten Felix Hausdorff (1868–1942) alias Paul Mongré könnte man ihn so charakterisieren: „Es gi[e]bt Argumente, mit denen man keine Zustimmung erzwingen, sondern dem Gegner verrathen will, welche Voraussetzungen man bei jeder Argumentation unangetastet läßt.“18 Von dieser eigentümlichen Art einer verräterischen Prämissenverschonung sind die folgenden Anläufe auf ein Änigma hin insgesamt als Etüde, als discours préliminaire gefaßt, zu dem es keinen Haupttext mehr geben kann. Trotz dieser Orientierung geht es auch um eine spezielle, nämlich detektivische Form der Aufklärung: als Aufdeckung von Ungeheuerlichkeiten. Jedes Seiende ist ein Kriminalfall.

Die tiefgründige, ebenso bedrohliche wie amüsante Grunderfahrung dieser änigmatischen Etüden ist schließlich die, daß, wie Dante versichert, der Schatten der Erde sogar ins Paradies hineinreicht.19

Der Text ist seit 2014, zum Teil während meines Aufenthalts an der Humboldt-Universität in Berlin (im Rahmen des Forschungsprojekts Bild, Gestaltung, Wissen) geschrieben und vorgetragen worden. Horst Bredekamp, Leiter dieses Projekts, verdanke ich wichtige Hinweise, die weit über das hinausgehen, was im Text präsent ist.

In gleicher Weise bin ich Ingo Meyer/Bielefeld zu Dank verpflichtet, der sich detailliert, kritisch und konstruktiv zugleich, des Textes angenommen hat, ebenso wie Rainer Schäfer/Bonn und Jaroslaw Bledowski/Bonn. Für Hinweise zu Paul Valéry danke ich speziell Jürgen Schmidt-Radefeldt/Rostock.

Düsseldorf, Herbst 2016 Wolfram Hogrebe

Imi Knoebel: Rosette in der Kathedrale von Reims (2015)

Änigma 1: Abwesenheiten

Imi Knoebel hat der Kathedrale von Reims mit seinen neuen Fenstern rätselhafte Augen eingesetzt. Man darf sagen: Augen des 21. Jahrhunderts, mit denen zu sehen uns immer noch schwerfällt. Denn wir sehen Augen, aber nicht mit ihnen. Was wir sehen, ist nur Widerschein eines Lichts, das in ihnen aufglüht. Wir gewahren dann einen Glanz von wesentlicher Form, einen splendor formae, wie eine alte Bezeichnung für das Schöne lautet.1

Man muß nun wissen, daß eben zu der Zeit, als deutsche Truppen Ende Oktober 1914 die Kathedrale beschossen, ihr Dach und ihre mittelalterlichen Fenster zerstörten,2 ein französischer Dichter sich poetisch quälte; der zu alt war, um noch zur Armee eingezogen zu werden (trotz seiner Absicht), aber zugleich noch jung genug, um sich seine Existenz als Dichter ‚erschreiben‘ zu können. Das war Paul Valéry, der sich in eben jenen Jahren des ‚Großen Krieges‘ mit einem ‚Großen Gedicht‘ zermarterte, das seinen Ruhm bis heute begründete, nämlich La Jeune Parque (1917).

Jürgen Schmidt-Radefeldt, Linguist und Sachwalter Paul Valérys in Deutschland, verdanken wir die Erinnerung, daß sich neben dem Brandenburger Tor zu Berlin, vom Pariser Platz aus gesehen auf der rechten Seite in der Passage zum Reichstag hin, eine Inschrift in Stein geschlagen befindet (1997 von Gerhard Merz gestaltet), die Paul Valéry zitiert.3 Sie beginnt mit dem Satz: „Was gibt es Geheimnisvolleres als die Klarheit?“4

Gerhard Merz hat diese heute kaum lesbare Inschrift im Stile seines minimalistischen Konzepts ‚Archipittura‘ gestaltet und griff mit späteren Arbeiten auch auf Texte von Stéphane Mallarmé zurück.5 Klarheit und Reinheit sind auch für Merz Losungsworte seiner Kunst.

Valéry war nun tatsächlich in Berlin, und zwar im Herbst 1926. Er hielt Vorträge und dinierte mit der Hautevolée. Eingeladen von der französischen Botschaft war er in der Residenz des damaligen französischen Botschafters Pierre de Margerie (1861–1942) am Pariser Platz zu Gast. Es gibt sogar ein Aquarell von ihm, auf dem das damalige Gebäude zu sehen ist. Valery hält hier am 7. November, für ihn in jener Zeit ungewöhnlich, einen politischen Vortrag, in dem er für ein geeintes Europa eintritt und im Sinne von Aristide Briand speziell für eine Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich plädiert.6 Albert Einstein besuchte seinen Vortrag, darauf war Paul Valéry verständlicherweise besonders stolz.7

Der zitierte Satz „Was gibt es Geheimnisvolleres als die Klarheit?“ ist nun die Essenz der Poetik von Paul Valéry und Imi Knoebel zugleich, denn diese Klarheit ist für beide verpflichtend auch dann, wenn es um Rätselhaftes geht.8 Bei Paul Valéry gibt es Rätselhaftes zuhauf, aber als Ding taucht es just in dem Text auf, dem die gerade zitierte Maxime entnommen ist. Es handelt sich um das berühmte objet ambigu, jener nicht identifizierbare, zufällig am Meeresstrand aufgefundene Gegenstand.9

Solche vieldeutigen Objekte, Stoff für Zweifel (matière à doutes), setzt Imi Knoebel in jedem seiner Bilder ins Werk. Deshalb ist es auch so wichtig, Knoebels bildnerisches Schaffen aus den Voraussetzungen seines Beginns bei Joseph Beuys als Abstandnahme zu begreifen, als Ausgang aus einem unleugbaren Anfang, aber zugleich als Befreiung von der politischen Folklore um Beuys,10 die allerdings zu dessen künstlerischer Existenz gehört und Segment ihres performativen Kreises ist.

Das Werk von Imi Knoebel hatte schon sehr früh, schon zu Zeiten seines Studiums an der Kunstakademie zu Düsseldorf, eine Eigenständigkeit erreicht, die sich auf seinen Lehrer nicht mehr reduzieren läßt, sondern nach anderen ästhetischen Parametern verlangt, um mehr Verständnis für sein Werk zu gewinnen. Dazu gehört, was hinlänglich bekannt ist, Kasimir Malewitsch, aber eben auch, was nicht bekannt ist, Paul Valéry. Ob Imi Knoebel sein Werk nun kannte oder kennt (vermutlich nicht), tut hier nichts zur Sache. Anonyme Korrespondenzen evident zu machen, ist Aufgabe der Interpreten.