Mexikanische Novelle - Bodo Kirchhoff - E-Book

Mexikanische Novelle E-Book

Bodo Kirchhoff

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Beschreibung

Vollständige Neubearbeitung der erstmals 1984 veröffentlichten Novelle. Ein Journalist fliegt in die USA, um für ein Porträt eines jungen deutschen Kampfpiloten zu recherchieren. Einer spontanen Laune folgend, reist er danach weiter ins nahe Mexiko und mietet sich in ein billiges, abbruchreifes Hotel ein. Am Pool lernt er eine junge Mexikanerin kennen, mit der er eine –zunächst – zwanglose Affäre beginnt. Doch dann erscheint der Bruder seiner Bekanntschaft und stellt Bedingungen mit weitreichenden Konsequenzen. Als kurz darauf der Kampfpilot auftaucht, der ihm nachgereist ist, weil für ihn Fragen offengeblieben waren, spitzt sich die Lage zu – unausweichlich steuert die unerhörte Begebenheit auf einen dramatischen Höhepunkt zu. Vor 33 Jahren, im Jahr 1984, erschien "Mexikanische Novelle" von Bodo Kirchhoff. Im Frühjahr 2017 wird diese wichtige Arbeit Kirchhoffs in einer vom Autor neu erarbeiteten Fassung vorgelegt.

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Ein Journalist fliegt in die USA, um für ein Porträt eines jungen deutschen Kampfpiloten zu recherchieren. Einer spontanen Laune folgend, reist er danach weiter ins nahe Mexiko und mietet sich in ein billiges, abbruchreifes Hotel ein. Am Pool lernt er eine junge Mexikanerin kennen, mit der er eine – zunächst – zwanglose Affäre beginnt. Doch dann erscheint der Bruder seiner Bekanntschaft und stellt Bedingungen mit weitreichenden Konsequenzen. Als kurz darauf der Kampfpilot auftaucht, der ihm nachgereist ist, weil für ihn Fragen offengeblieben waren, spitzt sich die Lage zu – unausweichlich steuert die unerhörte Begebenheit auf ein Drama zu.

Nach dem erstmaligen Erscheinen der Mexikanischen Novelle im Jahr 1984 wird diese wichtige Arbeit Kirchhoffs in einer vom Autor erarbeiteten Neufassung vorgelegt, die das Filmische des Stoffes betont.

»Jedes Wort sitzt, und in den Rhythmus dieser so präzis getönten Sätze kann einer sich hineinlassen. Die ansteigende Spannung ist von einem Meister seines Handwerks.« Die Presse (1984)

»Cool, distanziert – Bodo Kirchhoff kann erzählen.« Frankfurter Allgemeine Zeitung (1984)

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

1

Ich war nun für mich. Ich lag zur Wand gedreht, mit offenen Augen, während die anderen auf dem Heimflug waren; bald säßen sie schon wieder in ihren Redaktionen, wie jeden Tag. Einer hatte mir im Lärm auf der Air Base noch etwas zugerufen, nachdem ich in letzter Sekunde ausgeschert war und die Gruppe, die schon samt meiner Freundin ins Flugzeug stieg, verließ. Schicken Sie mir doch Ihren Artikel, rief er. Und viel Spaß noch in Mexiko, oder wo Sie hinwollen! Er glaubte natürlich, ich hätte mir seinen Namen gemerkt, aber wozu.

Ja, ich wollte nach Mexiko, bis zur Grenze waren es nur ein paar Meilen, daran dachte ich und fand aus dem Bett. Gegen Mittag lief ich zu der Ausfallstraße, an der das Motel lag, um einem Taxi zu winken. Als ich an einem Papierkorb vorbeikam, warf ich die Liste mit den Namen aller Teilnehmer hinein – warum noch länger die Namen von zwanzig Redakteuren und ihren Provinzzeitungen aufheben, samt dem einer Fotografin und meinem eigenen Namen, hinter beiden das Wörtchen frei; das sollte freiberuflich heißen und hatte manchen neugierig gemacht, nebenbei auch etwas gereizt, es waren Fragen gekommen. Und wohin gehören Sie?, beispielsweise, Fragen, auf die ich nur das Nötigste geantwortet hatte. Was ich schrieb, ging an die Breisgau Zeitung. Die Breisgau Zeitung hatte auch die Einladung erhalten, Besichtigung von Ausbildungseinrichtungen der Luftwaffe in den Staaten. Und da die festen Redakteure abends an ihren Häusern bauten oder Frauen hatten, die vor der Niederkunft standen, war es an mich gefallen zu reisen. Also, hatte Herr Übelacker gesagt, da schnappen Sie sich einen jungen Piloten, der aus unserer Gegend hier stammt, und machen eins Ihrer hübschen Porträts. Die Fotografin, die mit von der Partie ist, kennen Sie ja! Herr Übelacker war der Leiter der Breisgau Zeitung und mochte meine Sachen. Er fand sie psychologisch, aber klar; Das Porträt der Woche, das ich für die Beilage schrieb, war sozusagen meine Erfindung gewesen. Ich hatte dann nur In Ordnung erwidert, worauf er von seinem einzigen Besuch in den Staaten erzählte, von den Niagarafällen. Und ein paar Wochen später waren wir gestartet, aber erst auf der letzten der Stationen, Murdock Air Base bei El Paso, hatte ich meinen Leutnant getroffen.

Die Sonne stach, ich sah mich da am Straßenrand, im Grunde war ich guter Dinge. Ich freute mich auf Juárez, die Grenzstadt; von Leutnant Ritzi hatte ich schon einiges gehört, über herzerweichende Musik, scharfes Essen und eine Bar mit Namen Mamacita. Wenn er hinübergehe, dann dorthin. Ein Taxi hielt, ich stieg ein. Der Fahrer war Mexikaner. Er fädelte sich in den Autostrom, ich sah aus meinem offenen Fenster. Die Bergkette in der Nähe von El Paso schien unter einem zitternden Glassturz zu liegen, das kam von der Hitze. Zwei weiße Maschinen flogen auf den bläulichen Fels zu. Fast gleichzeitig zogen sie hoch und verschwanden im Luftraum. Auf der Air Base hatte ich von einer Wette gehört: Wer zuerst nach oben ziehe, habe verloren. Ich hatte meinen Leutnant darauf angesprochen. Aber er war darauf nicht zu sprechen gewesen.

Die Grenze führte durch ein Flussbett, der Fluss war ausgetrocknet. Auf der Autobrücke standen die Zöllner; die Kontrolle störte mich nicht, im Gegenteil. Mein Pass war recht neu, das Bild sah mir ähnlich. Der Zöllner war dennoch misstrauisch – recht hatte er, warum wollte einer wie ich über die Grenze, warum blieb er nicht in Amerika? Jedenfalls ging es dann weiter, und die Fahrbahndecke wurde schlecht, der Verkehr nahm zu; vor einer Kreuzung stockte er. Ein Junge kam ans Auto. Er begann die Windschutzscheibe zu putzen. Der Junge war dunkelhäutig und schmal, seine Augen lächelten mich an. Er gefiel mir, und ich wandte mich ab. Wohin jetzt, fragte der Fahrer. Er sprach etwas Englisch; mit einer Handbewegung scheuchte er den Jungen. Ich sagte, Zu einem Mittelklassehotel, aber mit Pool! Dort wollte ich in Ruhe schreiben. Der Mexikaner bog von der Hauptstraße ab. Das Pflaster hörte auf, ein feiner Sand trieb in der Luft. Ich schloss die Augen. Morgen wäre auch noch Zeit, mich umzuschauen in der Stadt, die keinen guten Ruf hatte. Ich war noch nie allein verreist. Die letzten Urlaube hatte ich alle mit Marlies verbracht, aber von ihr war ich jetzt getrennt, sozusagen ganz frisch. Du denkst nur an dich!, hatte sie mir noch hinterhergeschrien, das war natürlich im Affekt geschehen.

Erst als der Fahrer den Motor abstellte, schlug ich die Augen wieder auf. Das Hotel hieß María del Carmen. Es war ein zweistöckiges Gebäude mit sehr kleinen Fenstern. Ich zahlte und nahm mein Gepäck. In der Halle war es still. Am Empfang saß ein dunkel gekleideter Mann. Nach den Formalitäten wies er mir den Weg zum Zimmer. Es lag im Erdgeschoss und führte ins Freie, auf einen Hof. Ich zog mir Badesachen an, ich steckte das Nötigste ein. Dann griff ich mein Notizbuch und trat vor die Tür. Der Innenhof war lichtdurchschossen. In der Sonne lag eine junge Frau am Pool.

Ich erfasste sie sofort, zusammen mit dem tropfenförmigen Becken, an dessen Rand sie lag. Sie schwenkte die Unterschenkel, mal kam die eine, mal die andere Fessel bis zum Steiß. Das kannte ich von Marlies, und irgendwie schmerzte es mich. Ich ging ein paar Schritte, die junge Frau schien mich zu hören. Sie schob ihr Haar zusammen, glänzend schwarzes Haar, das über Schultern und Kreuz fiel, und schaufelte es aus dem Nacken. Als ich vorbeikam an ihr, blinzelte sie und öffnete ein wenig den Mund. Den dunklen Spalt zwischen ihren Lippen empfand ich als freundliches Zeichen. Ich setzte mich an einen Blechtisch im Schatten einer Staude. Stuhl und Tisch standen zufällig so, dass ich die junge Schöne – ja, sie war schön – spielend im Auge behielt. Um ihr ein interessantes Bild von mir zu geben, begann ich, etwas zu schreiben.

Nach einer Weile drehte sie sich auf den Rücken. Sie rieb sich den braunen Bauch mit Öl ein. Ich machte mir nicht viel aus gebräunten Frauen, jedenfalls nicht, wenn sie rundherum braun waren. Marlies hatte immer Streifen gehabt nach den Ferien. Das restlos Braungebrannte passte für mich eher zu Männern, aber auch nur zu bestimmten. Ritzi war so ein Typ. Er besaß diese Haut, die in der Sonne nicht rot wird.

Der Bauch der Frau am Poolrand war im Liegen wie eine flache Wanne geformt. Durch die Senke stand der Bikinisaum etwas von der Haut ab, ein paar gekräuselte Haare ragten hervor, übergehend in eine Flaumleiter zum Nabel; auch dieser Flaum war so schwarz wie ihr Kopfhaar. Ich sah unentwegt hinüber, bis sich unsere Blicke trafen. Ich blinzelte, sie schaute gedankenverloren, es war ziemlich albern. Dazu kam mein Geschreibe. Ich hörte damit auf, ich fragte, ob sie von hier sei. Sie antwortete, nein, sie sei nur auf Urlaub, es sei ihr letzter Tag. Ich drückte mein Bedauern aus, sie meinte, das mache ihr nichts, sie sei schon recht oft hier gewesen. Das Hotel gehöre ihrem Bruder. Und ihr Bruder spreche auch besser Englisch als sie. Ein Gärtner stand plötzlich an der Treppe zu einem kleinen Sprungbrett in das Becken, in dem welke Blätter trieben. Er stützte sich auf einen umgedrehten Rechen, mein Blick fiel auf den blanken Zinkenschweif. Ich sagte, Ach, wirklich, really?, und blätterte dann in meinen Notizen. Ich suchte einen Anfang. Hätte ich den Anfangssatz, ginge es schon irgendwie weiter. Die andere Klippe wäre der Titel.

Ob ich etwas von ihrem Sonnenöl wolle, für meine Beine? Sie hielt das Fläschchen in die Höhe; es war eine unbequeme Armhaltung, mit der sie es anbot. Sie zwang mich damit zu einer Entscheidung. Und ich sagte, danke nein, vielleicht später; mein erster Satz stand fest. Ich schrieb: Leutnant Ritzi, Jahrgang sechzig, zur Zeit in Murdock Air Base, kurz vor dem Abschluss seines Lehrgangs zum Kampfpiloten, stammt aus einem Vorort von Freiburg, Neuhäuser.

Ich setzte den Stift wieder ab, und sie sagte, leise: So you are writing. Dazu konnte ich nur nicken, und sie rollte sich zurück auf den Bauch. Sie schob die Daumen unter den Bikinirand und zog ihn sich über die halbbloßen Hinterbacken, und ich stellte mir die Empfindungen vor, die damit an ihren Daumen ausgelöst wurden. Meine Hände hatten lange keinen fremden Menschen mehr berührt, sieht man vom Händedruck ab. Ich schloss die Augen, um ein bestimmtes Bild von Marlies anzusteuern – Marlies, die von hinten ihre Arme um mich schlingt. Doch als das Bild dann erschien, ging es mir gleich auf die Nerven, so wie ein schlimmes Geräusch, etwa von pfeifender Kreide auf einer Tafel. Ich schlug die Augen wieder auf, ich sagte, Schreiben sei mein Beruf, ich sei eine Art Journalist, und sie verdeckte ihr Gesicht mit den Haaren. Darauf fragte ich, was los sei, und sie teilte das Haar wie einen Vorhang. Sie sagte, sie sei auch bei einer Zeitung, sei das nicht lustig, sie tue dort dies und das, in Acatlán. Der Gärtner kam näher, ohne den Rechen; eigentlich hatte er nichts zu tun, außer uns zu beobachten, ohne dass es allzu sehr auffiel. Ich erwiderte, ja, das sei lustig, ein lustiger Zufall, und machte mich bei der Gelegenheit formlos bekannt. Sie wiederholte meinen Namen, dann zeigte sie auf sich. Ihr Bruder und seine Freunde würden sie Baby nennen, sagte sie leise, aber ihr Name sei Ophelia. You can call me Baby Ophelia.

Der Gärtner fing nun an, den Rasen zu sprengen, und ich sah sie für einen Moment durch den Tröpfchenschleier. Ihr Name beschäftigte mich, er beschäftigte mich wie ihre Hüften oder ihr Haar. Und um das abzuschütteln, blätterte ich wieder. Ich hatte mir auch Nebensächlichkeiten notiert. Ritzi war aus derselben Ecke wie ich, dem Dreisamtal. Wir hatten über Wege gesprochen, die wir beide kannten, wir hatten uns über Wörter in der Mundart ausgetauscht. Der Gärtner entfernte sich etwas; er sprengte weiter den Rasen und sah durch den silbrigen Schleier zu mir. Ich fragte Baby Ophelia, wie alt sie sei.

Dreiundzwanzig, sagte sie, dann kam schon die Gegenfrage. Eine Frau mit einem Packen Wäsche in den Armen ging vorbei, das gab mir eine kurze Frist. Setzte ich die Unterhaltung jetzt fort, dachte ich, wäre es wohl aus mit meinem Frieden. Denn seit ich für mich war, lief alles glatt; das hieß nicht, dass ich aufgeblüht wäre nach der plötzlichen Trennung von Marlies, ich hatte nur dieses Gefühl des Glatten oder Ungestörten. Ich versuchte zu lächeln und nannte mein Alter.

Oh, wie ihr Bruder, rief sie. Früher habe ihr Bruder das El Presidente in Acatlán geführt, das Hotel hier werde auch bald so heißen. Ich nahm mir eine Zigarette. Ich entzündete sie und zog. Als ich sie absetzen wollte, haftete das feine Papier an meiner Unterlippe. Ich spürte, dass ich mich verletzen könnte, wenn ich es nicht vorsichtig löste; jeder ungeduldige Versuch hätte die Oberhaut der Lippe mitgerissen. Ich löste es wie ein Pflaster von einer Wunde. So verstrichen Sekunden, und ich sah mich da an dem Tischchen sitzen mit meinen Notizen. Bis der Gärtner auf einmal zu Boden sah und ich den Blick hob.

Ein Mann hatte den Innenhof vom Hotel her betreten, er trug einen Anzug, doch ohne Hemd darunter. Sein gescheiteltes Haar war so schwarz wie das von Baby Ophelia, es sah aus wie lackiert. Er ging auf das Schwimmbecken zu, barfuß; ich beneidete ihn um sein Haar, auch um die dunklen Augen und seine weiten Nasenlöcher. Meine neue Bekanntschaft – das dachte ich in dem Moment – stand vom Beckenrand auf und zeigte sich überrascht, ihn zu sehen, und er trat vor sie hin. Sie berührte sein Jackett und sah mich an dabei, sie sagte, My brother, und ich verbeugte mich kurz im Sitzen.

Der Bruder nahm an der anderen Tischseite Platz, er streckte die Beine und hielt das Gesicht in die Sonne. Ich sah in die Notizen, ich gab mich versunken. Ein Satz fiel mir auf – Der Leutnant hat die Ärmel hochgekrempelt, er zeigt die Stelle, an der man Blut abnimmt, die kraftvolle Ader dort … Es splitterte leise; ohne aufzuschauen, konnte ich die Ursache sehen. Der Bruder, dem hier alles gehörte, schob einen lang gewachsenen Nagel über die Tischkante und riss den Finger dann nach unten weg, wieder und wieder. Sein Hotel, begann ich eine Unterhaltung, sei ein sehr netter Platz. I like it to be here. Das sagte ich, nur schien er es nicht zu hören oder wollte es überhören; seine Schwester glitt ins Wasser, aber sie schwamm nicht, sie stellte sich an den Rand. Sie legte die Unterarme auf den Stein und den Kopf in eine der Armbeugen, das Haar im Nacken so geteilt, dass auch dort ein schwarzer Flaum zu sehen war, ein Bild, auf das ich gern meinen Mund gedrückt hätte; ich wandte mich ab und rückte etwas mit meinem Stuhl, bis ich den Bruder im Halbprofil sah. Er feilte jetzt den langen Nagel an seinen Zähnen. Und während er das tat, begann er zu reden.

Ihm gefalle es nicht hier. Es werde alles abgerissen. Heute noch kämen zwei Architekten aus den Staaten. You like the US? Ich bejahte die Frage und verfolgte das Spiel seiner Hände. Sie beschrieben Figuren und zerstörten sie wieder, sie zerdrückten unsichtbare Gegenstände oder brachen sie entzwei. Und dabei möge er Amerika gar nicht, sagte er, bis auf die Architekten. Und die Western-Filme – Richard Widmark, I saw him once in Juárez! Baby Ophelia kam aus dem Wasser und legte sich wieder hin. Ihr Bruder stieß Luft aus der Nase. Dann sagte er in meine Richtung, seine Schwester sei zu dick.

Er trug viel Gold, um den Hals und um die Handgelenke. Dass er mich kaum ansah, brachte ich mit diesem vielen Gold in Verbindung. Baby Ophelia wrang sich ihr Haar aus; sie war keineswegs zu dick – ein kleines, bebendes Doppelkinn zierte sie, fand ich. Der Bruder lächelte jetzt, ich konnte dem nichts entgegensetzen; selbst zu lächeln hätte schon fast eine Schlappe bedeutet. Ich versuchte ihm in die Augen zu sehen, aber es ging nicht. Er schleuste seinen Blick an meinem vorbei, es war ein leichter Silberblick. Etwas zu dick, aber schön sei sie, sagte er. Und noch nicht ganz ausgewachsen. Zwei Jahre, und sie sei schlank. We will see.

Er hatte jedes Wort betont und hinter schön eine Pause gemacht, und in dieser Pause hatte sie ihr verrutschtes Oberteil gerichtet. Ich wechselte das Thema – wie es dem Hotel so gehe, was für Gäste er habe, fragte ich, und der Bruder zog das Jackett aus. Er hatte keinen trainierten Körper, aber Kraft, das sah man; etwas Geballtes saß da in den Schultern. Dem Hotel gehe es gut, erklärte er, und die Gäste seien schlecht. Er lasse alles niederreißen, dann werde hier ein Turm gebaut, für bessere Gäste. Was ich davon halten würde, von einem Turm.

Das gehe mich nichts an, entgegnete ich, und er fragte, ob mir Türme etwas bedeuteten. Ich gab ihm keine Antwort, nur ein Achselzucken, worauf er sich wegwandte. Auf seinem Rücken, den Schulterblättern, lag eine Flut von Licht. Er ging; nun war der Nachmittag angebrochen.

Ich atmete ein paar Mal tief, aber es half mir nicht weiter. Schwer saß ich da. Es musste kurz nach drei sein. Meine Zunge war trocken, nur es war noch zu früh für ein Bier; wahrscheinlich war es zehn nach drei. Um diese Uhrzeit war mir, als ich klein war, oft der Tod erschienen. Ich war durch die Felder gelaufen, und auf einmal hatte sich nichts mehr bewegt. Lass mich Jesu Schäflein sein, war mir dann in den Ohren gelegen. Ich stützte den Kopf in die Hände und dachte an Leutnant Ritzi, wir hatten ja denselben Hintergrund. Und meine Stimme klang nach seiner Stimme, jedenfalls hatte der Presseoffizier entsprechend reagiert, als ich ihm eine Frage stellte, er erschien mir verwirrt. Etwas blinkte in der Sonne. Baby Ophelia hielt einen Gegenstand in der Hand, er ließ sich öffnen und schließen, eine Wimpernzange. Sie spielte damit und bot mir noch einmal ihr Öl an; ich stand ruckartig auf und schwankte noch nach, als ich einen Finger in das Fläschchen stippte. Das Öl war warm und roch wie ein geschälter feuchter Zweig. Einen Teil ließ ich abtropfen, den Rest verstrich ich im Gesicht. Sie bat mich, mehr zu nehmen, eine Bitte wie um einen Kuss. Ich langte noch einmal hinein, dann nahm ich Anlauf für einen Sprung ins Wasser, und noch im Sprung, so gestreckt, wie es nur geht, um dabei doch elegant, Hände voraus, eintauchen zu können, wünschte ich mir den Leutnant als Zeugen.

Der Schwung trug mich quer durch das Becken; den Restschwung fing ich mit den Händen ab und trieb dabei nach oben. Kaum schnappte ich nach Luft, klatschte es in meinem Rücken, ich warf mich herum. Baby Ophelia war mir hinterhergesprungen, sie schwamm unter Wasser auf mich zu. Eine Körperlänge vor mir stieß sie an die Oberfläche. Ihre Haare waren glatt an den Schädel geklebt und gaben das ganze Gesicht frei, doch fiel mein Blick nur auf Einzelheiten. Ich sah erst ihre Nasenlöcher, dann die Pupillen und ihre ungezupften Brauen, über der Nase fast zusammengewachsen, danach die Tropfen auf den Wimpern, die Tropfen auf den Lippen. Ich breitete die Arme aus und suchte am Beckenrand Halt. Baby Ophelia kam näher und schnaufte. Um ihren Nasenflügel flatterte ein Fähnchen Rotz, sie zog es hoch. Dann sprach sie meinen Namen aus. Der Gärtner tauchte wieder auf und mit ihm ein Gehilfe. Mein Name hatte mich berührt. Er war ihr so leicht über die Lippen gekommen, durch bloßes Zusammensetzen der beiden Silben. Ich legte den Kopf in den Nacken, das betonte den Mund. Darf ich dich küssen?

Sie boxte ins Wasser. Sie sagte, Say it in English, und ich wandelte den Sinn etwas ab. Want to kiss, sagte ich, und fragte auch sofort, wie das in ihrer Sprache heiße. Sie begann im Wasser zu rühren, sie pflügte es auf. Quiero darte un beso … Ich bejahte es mit den Augen, und sie rührte weiter. Bald war der Grund nicht mehr zu sehen, ich spürte einen Fuß, die Nägel ihrer Zehen an meinem Schienbein. Also sehnst du dich nach Liebe, stellte ich fest, und sie verlangte wieder, dass ich es auf Englisch sagte. Ihr Fuß drang zwischen meine Knie, ich grätschte die Beine. You like love, übersetzte ich wieder sehr frei, und sie schlug sich auf den Mund und behielt die Hand dort und spreizte über Zähnen und Zungenspitze die Finger.

Der Gärtner sah herüber. Er stellte Liegen auf, als gäbe es noch andere Gäste. Sein Gehilfe fegte die Platten rings um den Pool. Ich fragte leise, Want to sleep with me?, und schob das You hinterher. Sie nahm die Hand vom Mund und bewegte die Lippen. Ich las ein Ja davon ab. Dabei behielt ich den Gärtner im Auge. Er schaute jetzt ganz unverhohlen, wie auf Geheiß. Ihr Jawort klingelte in mir, um mich herum war es still. Das Bild, der Innenhof schlief, das traf momentelang zu, bis ein Lichtreflex meinen Blick hob. Ein Fenster war geöffnet worden, jemand weißte den Rahmen, obgleich doch alles abgerissen werden sollte. Wie lange ich hier im Hotel bleiben würde, fragte sie und bewegte den Fuß zwischen meinen Knien, und ich summte, dass ich unentschieden sei, und sie sagte, hier in der Stadt gebe es doch nichts als Staub und die Bars mit den Mädchen. Sie sei nur wegen ihres Bruders hier, eigentlich sei sie lieber in Acatlán, ohne Staub. Das liege am Pazifik.

Dann seien dort auch Wellen, sagte ich und umschloss mit einer Hand ihre Fessel. Baby Ophelia warf den Kopf in den Nacken, sie schwärmte von der Brandung. Ob ich Angst vor großen Wellen hätte – ja? Ich verneinte das, und sie sah mich an und schlug vor, ihr nachzureisen. Es gebe ein Hotel mitten in Acatlán, da könnte sie mich jeden Tag besuchen. Wir könnten dann auch schwimmen gehen. Ich fragte, was mit ihren Eltern sei, ob sie bei ihren Eltern wohne, und erfuhr, dass der Vater gestorben war und sie bei der Mutter lebte. Aber die Mutter habe kein Auge auf sie. No way.

And your brother?

Sie schlug ins Wasser, es spritzte mir ins Gesicht. Emiliano sei jetzt ihr Vater, daher müsse er auch nicht alles wissen. Und das Hotel sei das Splendid Meyer. Gegenüber liege das Café Real, dort solle ich auf sie warten, am frühen Nachmittag, in zwei Tagen. Ich versicherte ihr, dass sie verrückt sei, und sie nickte nur. Danach sagten wir nichts mehr. Aus Bananenstauden am Rande des Gartens kamen Vogellaute, und von der Straße dahinter hörte man manchmal ein Auto. Dass ihr Bruder Emiliano hieß, gefiel mir – auch das war ein Fehler.

Der Gehilfe wechselte auf unsere Seite. Baby Ophelia zog den Fuß zurück, und ich sah an ihr vorbei. Der frisch gestrichene Fensterrahmen glänzte, Leutnant Ritzi fiel mir ein. Wie ich ihn einmal beobachtet hatte, als er seine Maschine bestieg; kein Wort war da gefallen. Ich war dann von ihm weggewunken worden, ehe er das Triebwerk anließ; seine Handbewegung hatte mich geärgert. Meine Schulter kühlte ab, ich stand inzwischen halb im Schatten. Die Schwester des jungen Hotelbesitzers schloss die Augen. Doch sie entließ mich damit nicht. Von ihren Brauen ging etwas aus, das fast einem Blick gleichkam. Und plötzlich sagte ich, Na gut, wenn es da Brandung gebe, wenn das Hotel nicht allzu teuer sei, und streckte eine Hand nach ihr – zu spät. Sie hatte sich nach hinten fallen lassen, noch im Fallen gedreht, und trieb nun, einer Toten ähnlich, auf dem Wasser, während ihr Bruder wieder aus dem Haus trat, jetzt mit spitzen glänzenden Schuhen.