Meylensteine - Michael Schneider - E-Book

Meylensteine E-Book

Michael Schneider

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Beschreibung

Über den Wolken …« – kaum erklingen die ersten Takte wie die ersten Worte, können alle, die Freude an Musik haben, die Melodie aufgreifen und weiterfahren »… muss die Freiheit wohl grenzenlos sein«. »Poet des Alltäglichen« wurde Mey genannt, doch ist er ebenso ein Poet des Außergewöhnlichen. Reinhard Mey ist Chronist und Seismograf: seiner eigenen Lebensgeschichte, aber auch des ganzen Panoramas menschlicher Begebenheiten, die vom Radar seiner Beobachtung erfasst werden. Als Zeitzeuge breitet er den Spiegel seiner Zeit aus, singt über das Leben vom Kalten Krieg bis in die Gegenwart. Er repräsentiert den zur Legende gewordenen Prototypen eines modernen Barden, Minne- oder Bänkelsängers, der umherzieht, um Neuigkeiten zu verkünden. Seine Aufgabe: zu mahnen, zu kritisieren, aber auch: zu versöhnen und – zu unterhalten. Meys musikalische Inspiration, sein Talent für unverwechselbare Melodien, ist gepaart mit der Lust und der Kunst grandiosen Formulierens. So ist er auch Dichtermusiker, dessen zuerst entstehende Texte gleichwertig neben der dazu komponierten Musik stehen. Der Komponist und Musikwissenschaftler Michael Schneider nimmt uns mit auf eine musikalische Zeitreise zu einem der populärsten und prägendsten deutschen Musiker und fächert anhand von 60 ausgewählten Liedern und 28 Alben »Meylensteine« eines Lebens als Liedermacher auf.

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Michael Schneider

MEYLENSTEINE

Reinhard Mey und seine Lieder

Für meine Familie

in der Schweiz, Deutschland

und Kanada

Der rüffer & rub Sachbuchverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Erste Auflage E-Book auf der Grundlage von:

Zweite Auflage Frühjahr 2022

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2022 by rüffer & rub Sachbuchverlag GmbH, Zürich

[email protected] | www.ruefferundrub.ch

Bildnachweis Cover:

Reinhard Mey, 2012 © Caro/Waechter/Süddeutsche Zeitung

Photo

E-Book-Konvertierung:

Bookwire GmbH

ISBN 978-3-906304-93-9

eISBN 978-3-907351-14-7

55 LIEDER

Auftakt

»Mein Achtel Lorbeerblatt«, 1972

»Ich wollte wie Orpheus singen«, 1967

»Über den Wolken«, 1974

»Daddy Blue«, 1979

Heimat

»Douce France«, 2004

»Mein Land«, 2002

Erdung

»Mein Berlin«, 1990

»Das Meer«, 1988

»Ikarus«, 1975

Flügel

»Du bist ein Riese, Max!«, 1992

»Lilienthals Traum«, 1996

Maikäfer

»Es gibt keine Maikäfer mehr«, 1974

»Maikäfer fliege«, 1994

Liebe

»Herbstgewitter über Dächern«, 1972

»Sommermorgen«, 1980

»Wir«, 1990

Schutz

»Lied zur Nacht«, 1969

»Alles ist gut«, 1979

»Gute Seele«, 2010

Wandel

»Poor Old Germany«, 1980

»M(e)y English Song«, 1985

Fremd

»Hauptbahnhof Hamm«, 1967

»3. Oktober ’91«, 1992

»Drei Stühle«, 1996

Memento

»Die Kinder von Izieu«, 1994

»Es ist doch ein friedlicher Ort«, 1985

»Alles OK in Guantanamo Bay«, 2004

»Kai«, 2007

Anders

»Der Bruder«, 1998

»Weil ich ein Meteorologe bin«, 1975

Tempo

»Ich bin Klempner von Beruf«, 1974

»Annabelle, ach Annabelle«, 1972

»Was kann schöner sein auf Erden, als Politiker zu werden«, 1974

Geschichten

»Der Mörder ist immer der Gärtner«, 1971

»Dieter Malinek, Ulla und ich«, 1979

Imitation

»Diplomatenjagd«, 1969

»Alles, was ich habe«, 1972

»Ich wollte immer schon ein Mannequin sein«, 1972

Theater

»Maskerade«, 1971

»Gretel und Kasperle, Großmutter,

Wachtmeister und Krokodil«, 1986

Trinken

»Lied auf dem Grunde eines Bierglases gelesen«, 1969

»Ich brauche einen Sommelier«, 2007

»Freunde, lasst uns trinken«, 1980

Konsum

»Die heiße Schlacht am kalten Büffet«, 1972

»Erbarme dich«, 2000

Vergänglichkeit

»Mein erstes graues Haar«, 1977

»50! Was jetzt schon?«, 1992

»So viele Sommer«, 2016

Selbstporträt

»Ich bin aus jenem Holze geschnitzt«, 1971

»Es schneit in meinen Gedanken«, 1975

»Ich singe um mein Leben«, 2002

»Was will ich mehr«, 2020

Bühne

»Spielmann«, 2013

»Die Zeit des Gauklers ist vorbei«, 1974

»Welch ein Geschenk ist ein Lied«, 1981

28 ALBEN

»Ich wollte wie Orpheus singen«, 1967

»Ankomme Freitag, den 13.«, 1969

»Aus meinem Tagebuch«, 1970

»Ich bin aus jenem Holze«, 1971

»Mein Achtel Lorbeerblatt«, 1972

»Wie vor Jahr und Tag«, 1974

»Ikarus«, 1975

»Menschenjunges«, 1977

»Keine ruhige Minute«, 1979

»Jahreszeiten«, 1980

»Freundliche Gesichter«, 1981

»Die Zwölfte«, 1983

»Hergestellt in Berlin«, 1985

»Alleingang«, 1986

»Balladen«, 1988

»Farben«, 1990

»Alles geht!«, 1992

»Immer weiter«, 1994

»Leuchtfeuer«, 1996

»Flaschenpost«, 1998

»Einhandsegler«, 2000

»Rüm Hart«, 2002

»Nanga Parbat«, 2004

»Bunter Hund«, 2007

»Mairegen«, 2010

»dann mach’s gut«, 2013

»Mr. Lee«, 2016

»Das Haus an der Ampel«, 2020

5 ZUGABEN

Paradies

»In meinem Garten«, 1970

»Das letzte Abenteuer«, 1988

»Dunkler Rum«, 1992

»Paradies«, 2000

»Das Haus an der Ampel«, 2020

ANHANG

Biografie

Anmerkungen

Quellen

Bildnachweis

Autor

55 LIEDER

»[…] In Reinhard Meys Liedern ist kein falscher Ton. Das gilt für seine oft einschmeichelnden, manchmal nach Art der raunenden französischen Chansontradition arrangierten Melodien. Und es gilt auch für seine immer klaren, einprägsamen Verse […]«1

Hilmar Klute,

Journalist und Schriftsteller

AUFTAKT

»Mein Achtel Lorbeerblatt«, 1972

»Ich wollte wie Orpheus singen«, 1967

»Über den Wolken«, 1974

»Daddy Blue«, 1979

Reinhard Mey gehört zu den Erinnerungen meiner Kindheit und meiner Jugend. Die erste Tournee-LP von 1971 führte mich in sein musikalisches Universum ein: Knallgelb leuchtete der Schriftzug »live« auf dem schwarzweißen Cover, und der Sänger mit Gitarre lehnte sich betont lässig an seinen eigenen Namen. Die »Trilogie auf Frau Pohl« war auf diesem Album zu finden, Meys streitbar-versöhnliche Abrechnung mit seiner Zimmerwirtin, »Christine«, die poetische Liebeserklärung an seine erste Frau, und »Kaspar«, die bewegende Ballade über das Findelkind Kaspar Hauser. Solchermaßen initiiert, entdeckte ich »Ikarus« von 1975 mit der »Homestory« und »Weil ich ein Meteorologe bin«, »Menschenjunges« von 1977 mit dem »Antrag auf Erteilung eines Antragformulars«, vor allem aber »Keine ruhige Minute« von 1979 mit »Happy Birthday to Me«, »Dr. Nahtlos, Dr. Sägeberg und Dr. Hein« und dem »Zeugnistag«. Noch heute spüre ich in diesen musikalischen Zeitkapseln meine damalige Faszination beim Drehen der Nadel in den Schallplattenrillen. Jahre später war ich beeindruckt von »Die Kinder von Izieu« (1994), Meys bewegender Elegie für in der Shoah ermordete jüdische Waisenkinder. Meine Bewunderung war manchmal ambivalent, wenn ich verfolgte, was es Neues gab von Reinhard Mey, und eher das Alte vermisste, denn das Neue schätzte. Doch die Zeit wandelt sich, und der Künstler in ihr. Meys Stimme, Meys Botschaft, sie bewegt noch immer, in ihrer musikalischen und dichterischen Reflexion, ihrer Mahnung, ihrer Poesie. Im Blick auf Reinhard Meys Gesamtwerk, auf alle Lieder aus über 50 Jahren, wächst der Respekt und weitet sich der Horizont.

Zu Reinhard Mey und den 363 Liedern, die zwischen 1967 und 2020 auf insgesamt 28 deutschsprachigen Alben erschienen sind, ist dieses Buch eine Art Hörführer. Es ist Einladung und Aufforderung, sich einem der wichtigsten Universen des deutschsprachigen Chansons auf verschiedenen thematischen Pfaden zu nähern, in ausgewählte Lieder und in Meys deutsche Studioalben erstmals oder von Neuem einzutauchen. Vor allem soll es den Blick schärfen – für die Themen, die Mey wichtig sind und die in ihrer Relevanz, so scheint es, bisher noch überhaupt nicht rezipiert wurden. Und es beschreibt anhand von 55 Liedern, was Meys Lieder und ihre Wirkung musikalisch ausmacht, wie der Sänger seine stets zuerst entstehenden Texte vertont.

»Poet des Alltäglichen« wurde Mey genannt, doch ist er ebenso ein Poet des Außergewöhnlichen. Es gibt ihn: Mey, den Entertainer. Und es gibt sie bei Mey: die doch eher nebensächlichen Themen, die vielleicht da sind, um die großen auszubalancieren. Doch im Zentrum stehen die ganz großen Fragen: zu Liebe, Identität und Gerechtigkeit. Und sie werden außergewöhnlich thematisiert, musikalisch und textlich. Es ist Zeit, sich dieser großen Themen bei Mey gewahr zu werden. So markieren in diesem Buch 55 ausgewählte Lieder (und 5 Zugaben) »Meylensteine« eines Lebens als Liedermacher. Die Reihenfolge der Lieder schlägt dabei einen assoziativen Bogen über wichtige Themenkreise, die jeweils anhand von zwei bis vier charakteristischen Liedern aus allen Schaffensphasen beleuchtet werden. Ein Kurzporträt aller deutschen Studioalben von 1967 bis 2020 schließt sich an.

In Meys Musik begegnen wir einem Komponisten, Texter und Sänger, der immer authentisch ist, wenn er Persönlichstes in einer Vielzahl von Schattierungen aussagt. Mey ist Chronist und Seismograf: seiner eigenen Lebensgeschichte zunächst, aber auch des ganzen Panoramas menschlicher Begebenheiten, die vom Radar seiner Beobachtung erfasst werden. Als Zeitzeuge breitet er den Spiegel seiner Zeit aus, singt über deutsches Leben vom Kalten Krieg bis in die Gegenwart. Er repräsentiert den zur Legende gewordenen Prototypen eines modernen Barden, Minne- oder Bänkelsängers, der umherzieht, um Neuigkeiten zu verkünden. Seine Aufgabe: zu mahnen, zu kritisieren, aber auch: zu versöhnen und – zu unterhalten.

In der Rolle des Chronisten müssen und dürfen vielerlei Themen Platz finden. So geht es nicht nur um Tierschutz, Menschenrechte und die Verblendung durch Korruption, sondern auch um die Marotten der Nachbarn und die »Männer im Baumarkt«. Und zuallererst natürlich geht es um ihn, den aus sich schöpfenden Texter und Komponisten, um die Familie, um Liebe, Freundschaften, Begegnungen. Der Zeitspiegel des Liedermachers: Das ist pralles Abbild unserer Zeit. Es sind Schlaglichter, Komödien und Tragödien im Zweibis-sieben-Minuten-Format. Meys enorme Bandbreite hat eine gerechte Rezeption seines Werkes bisher sicherlich nicht erleichtert. Nicht alle seiner Lieder beanspruchen Ewigkeitswert – doch einige sind bereits Allgemeingut geworden. Neben spöttischer Satire steht humanistische Empathie. Neben Anekdoten und Alltag stehen die großen Themen vor und nach der Jahrhundertwende.

Auch die Rezeption seines Werkes widerspiegelt die Zeit und ihre Strömungen. Nach 1972 und »Annabelle, ach Annabelle« wurde Mey das Etikett des Spießers vorgeworfen, in einer Humorlosigkeit, die die Satire des Stückes und seine Selbstironie ebenso übersah wie das Gefangenen-Psychogramm »In Tyrannis« auf demselben Album. Die berühmte Schublade: Sie hat wohl nie für ihn gepasst. »Der du in deine Zeilen / Dein Herzblut schreibst, armer Poet«, klagte Mey 1979 im Lied »Von Luftschlössern, die zerbrochen sind«, »Dass Narren darüber urteilen, / Und man dich schmunzelnd missversteht. / […] / Die Welt sieht nur die grellen Schilder, / Und dein Pastell begreift sie nicht!« Jahre später sang er 1992 in »Das Etikett« auch darüber, dass ihm einst das Etikett »Der Kerl ist nett« verliehen worden sei. So habe er nun den Freipass, »ungestraft und nett die Sau rauszulassen«.

Schon früh hat Mey in »Mein Achtel Lorbeerblatt« auf Kritik an seiner Arbeit reagiert – und dabei auf seine Autonomie als Musiker gepocht. »Mein Achtel Lorbeerblatt« ist ein schlichtes Lied von stiller Schönheit, eine Fußnote quasi in eigener Sache, mit leiser Poesie und unaufdringlichem Selbstvertrauen angebracht. Musikalisch geschieht dies mit einem eigenwilligen kleinen Akt der Selbstbehauptung. Denn im Refrain, wo Mey sich von seinen Kritikern abgrenzt und verkündet, sich auf sein Achtel Lorbeerblatt zurückzuziehen und dort für sein Publikum das zu schreiben, was er wolle: Genau dort wechselt er das Metrum vom 3/4- in einen 6/8-Takt – ich mache, was ich will! Und in diesem Wechsel – von der Außenwahrnehmung zum Selbstbild – nimmt die Melodie Schwung auf und an Geschmeidigkeit zu: Vorwärtsdrängen und Fließen als Ausdruck schöpferischer Rebellion!

Meys künstlerisches Selbstbewusstsein manifestierte sich schon fünf Jahre vorher sehr prononciert, im frühen »Ich wollte wie Orpheus singen«, 1967 veröffentlicht, aber schon 1964 geschrieben. Der Sänger steht am Anfang seiner Karriere, und obwohl die Lyra aus Geldmangel zuweilen noch ins Pfandleihhaus gebracht werden muss, meldet er seinen Anspruch an, in Orpheus’ Fußstapfen zu treten: »Mag mein Name nicht Orpheus sein, mein Name gefällt mir auch.« Der dem Lied unterlegte Hall erzeugt einen großen Echoraum; der Schall weitet seine Stimme, die mythische Entfaltung eines Orpheus evozierend, und verleiht ihr einen Nimbus, der bis zu den Felsen und zum Meer reichen mag. Dass Mey von seiner »Mittelmäßigkeit« singt, mag als Reim und selbstironischer Verweis heute, nach über 50-jähriger Karriere, etwas schief im Raum stehen. Ein frühes Indiz vielleicht, dass der Sänger sich selber nicht allzu wichtig nimmt und sich im Showbusiness seine Natürlichkeit bewahrt hat. Denn Kunst soll authentisch, natürlich sein, und hat im Vorgang des Schreibens (»Ein Stück Musik von Hand gemacht«, 1986) durchaus etwas Handwerkliches, wie es der Begriff des Liedermachers ja sehr plastisch ausdrückt. Und mag sein Gesang, wie er in »Orpheus« konstatiert, auch nicht Felsen erweichen, so lässt sich durch ihn doch die Liebe gewinnen – und damit ist früh bereits eines der großen Lebensthemen Meys gesetzt.

Ein anderes Lebensthema Meys ist die Freiheit. Sie wird unter anderem durch das Fliegen symbolisiert, und kein anderes Lied ist so sehr ins allgemeine Bewusstsein vorgedrungen wie »Über den Wolken« von 1974. Es ist zweifellos der erste Liedtitel, die allererste Assoziation, die Personen jeglichen Alters mit Mey gleichsetzen. Obwohl nur als »normaler« Albumtitel geplant, hat das Lied diese Bestimmung längst hinter sich gelassen und Kultstatus erreicht, ist seine Refrainzeile »Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein« längst zum geflügelten Wort geworden. Gibt es eine Erklärung für diesen Siegeszug? Denn »Über den Wolken« ist zweifellos ein gutes Lied, doch besser als Dutzende andere des Musikers ist es nicht.

Erschienen ist »Über den Wolken« im Jahr 1974, im Zenit der frühen Karriere, und musikalisch ist sein Klanggewand ein locker-flockiger Groove, getragen vom Optimismus und Erfolg jener Jahre. »Über den Wolken« ist das allererste Fluglied Reinhard Meys – und im Gegensatz zu »Ikarus« von 1975, wo sich der Sänger in die Lüfte schwingt, bleibt er hier am Boden: Der Liedermacher wird seinen Pilotenschein im Jahr 1976 machen. Die Strophen beschreiben den Startvorgang eines Flugzeuges, das vom Asphalt und im Regen in die Wolken abhebt. Und in diesen Vorgang werden Wünsche projiziert – das Lied ist eine Annäherung an eine Passion, es erzählt von einer (noch) unerfüllten Sehnsucht. Im zweiten Teil der drei Strophen legt Mey ein Vibrato in seine Stimme auf die Worte »bebt«, »verloren« und »Regenbogen«. Und dann hebt der Refrain, wie das Flugzeug, vom Boden ab, mit einem Oktavsprung. Dies geschieht mit Emphase in der Stimme, die sich dem Unerreichten, Erhofften annähert und genau auf »grenzenlos« den höchsten Punkt der Melodie erreicht. »Ich wär gern mitgeflogen« lautet die letzte Zeile des Liedes. Und der Erfolg des Liedes gründet wohl in der Universa lität, mit der alle Zuhörer hier Hoffnungen, ihre Befindlichkeit und Sehnsucht gespiegelt sehen: den Wunsch, Sorgen zurückzulassen und dorthin aufzusteigen, wo die Freiheit grenzenlos sein muss. Der Musiker und seine Hörer: Sie bleiben zwar zurück. Doch die Sehnsucht aufzubrechen: Sie lebt weiter, mit jedem neuen Hören des Tracks. Und die Vision der Freiheit, sie wird im Lied mit dem Geräusch der Triebwerke, das den Song einleitet und ihn als Fade ausklingen lässt, gleichsam als Traumbild eingerahmt.

Musikmachen, das Metier des Liedermachers, ist für Mey mit Respekt und Würde verbunden: als ernsthafte, gewissenhafte Arbeit. Das alte Bonmot, Kunst komme von Können, wurde von Arnold Schönberg in dem Sinne umgedeutet, dass Kunst nicht von Können, sondern von Müssen komme. Für Reinhard Mey ist seine Kunst zweifellos beides: Können und Müssen, Talent und Berufung, aber auch innere Notwendigkeit. Seine musikalische Inspiration, sein Talent für unverwechselbare Melodien, ist gepaart mit der Lust und der Kunst grandiosen Formulierens. So ist Mey auch Dichtermusiker, dessen zuerst entstehende Texte gleichwertig neben der dazu komponierten Musik stehen. Eine wichtige Rolle beim Klanggewand, in dem die Lieder auf den Studioalben erscheinen, spielen schließlich seine Arrangeure und Produzenten, zunächst meist Kai Rautenberg, Wilfried Grünberg und Walther Richter, seit Mitte der 1990er-Jahre Manfred Leuchter. Selbst wenn sie im Folgenden meist nicht namentlich erwähnt werden, so ist die Wirkung vieler Lieder auch ihrer Arbeit zu verdanken.

Das Showbusiness und seine Künstlichkeit – sie karikiert Reinhard Mey schon 1979 im sarkastischen »Daddy Blue«. Das Lied beginnt mit countryartigem Groove und endet im Refrain mit einer für den Blues typischen jazzigen Wendung: Assoziation zum Namen des Möchtegern-Stars, Daddy Blue. Mey singt den Song mit solch einer Souplesse, Nonchalance und Selbstverständlichkeit, dass die Szenerie für den Auf- und Abstieg des Vorher-Fotomodells Detlef Kläglich ihr perfektes akustisches Äquivalent findet. Der zu Strophenbeginn gesprochene Text geht allmählich in einen melodischen Sprechgesang über, der in den hymnischen Dur-Dreiklängen des auf populär getrimmten Refrains (»There’s no business like showbusiness.«) seinen Kulminationspunkt findet. Dass der gescheiterte Schlagerstar sein Auskommen als Musikkritiker findet, mag Klischee sein. Jedoch geht es Mey um Inkompetenz, Unaufrichtigkeit und Anmaßung im Streben nach Kommerz. In »Larissas Traum« auf dem Album »Mairegen« geißelt er 30 Jahre später, wie in den Talentshows des frühen 21. Jahrhunderts junge Gesangstalente den Einschaltquoten geopfert werden.

HEIMAT

»Douce France«, 2004

»Mein Land«, 2002

Deutschland und Frankreich sind Meys zwei Heimatländer – und diese beiden Lieder erscheinen als Liedpaar wie die zwei Seiten einer Medaille: glänzend erhellt und dunkel schattiert.

Nach zwei deutschen Angriffskriegen gegen Frankreich ist die deutsch-französische Versöhnung (1963) noch Zukunftsmusik, als Reinhard Mey Mitte der 1950er-Jahre als Austauschschüler nach Paris reist. Auf privater Ebene war die deutschfranzösische Freundschaft für Meys Eltern schon lange selbstverständlich – und von einer Sommerfreundschaft in Frankreich 1954 erzählt er 2002 in »Weißt du noch, Etienne«. »Douce France« nun, 2004 erschienen, ist ein hochinteressantes biografisches Dokument, singt Mey doch erstmals in einem Lied ausführlich davon, wie er in Frankreich sozialisiert und für seinen Werdegang ganz entscheidend geprägt wurde. Das Paris der Erinnerung ist das Paris der Dichter, die Welt von Georges Brassens, Yves Montand und Boris Vian, den Mey noch selber hörte, bevor Vian 1959 starb. »Douce France«, das ist der akkordeongeschmückte, verklärte Bogen von vier Strophen, in den nur als Mittelteil ein düsteres Intermezzo von Prostitution und Pflastersteinen dringt. »Douce France« ist DAS Schlüsselerlebnis in Meys Jugend und selbstverständlich idealisiert; es ist nicht das Paris der späteren Banlieues, sondern das der versöhnlichen Wahlheimat. Und als solche heilt »la douce France« Wunden: »Da war nie ein Wort der Feindschaft, nie eine Demütigung, / Nur so ein gewisses Lächeln in meiner Erinnerung. / Manchmal, wenn ich an mir leide, dann machst du mich wieder heil, / von meiner schweren, dunklen Seele bist du der helle, der federleichte Teil.«

Zu diesem Erinnerungsraum passt, wie jede Strophe über 20 lang gezogene Takte kunstvoll und mit Wärme ausgebreitet wird, in einem fast zärtlich wiegenden, ausgedehnten, sich harmonisch vorwärtsbewegenden Erzählstrom. Dazu passt auch, wie das Stück in einem Wechselspiel von leuchtendem A-Dur und melancholisch angehauchtem fis-Moll changiert und die Klangpalette von den Akkorden der Kreuztonarten, von h über cis zu gis, eingefärbt wird. Nur ein ultrakurzer Refrain, gegen Schluss des Stückes von einem Accelerando-Tanz ergänzt, schließt die Strophen ab. Ein zweifaches Fazit »Douce France!« ist es, das alles aussagt, das erste Mal auf der Grundkadenz von A-Dur, das zweite Mal auf der Grundkadenz von fis-Moll niederschwebend. Mit dem Titel »Douce France« (gutes / liebliches Frankreich) spielt Mey sicherlich auch auf Charles Trenets berühmtes gleichnamiges Chanson aus den 1940er-Jahren an. Dort heißt es: »Douce France, cher pays de mon enfance / Bercée de tendre insousciance / Je t’ai gardée dans mon cœur!« (Liebliches Frankreich, geliebtes Land meiner Kindheit / In zärtlicher Sorglosigkeit geborgen / Ich habe dich in meinem Herzen bewahrt!) Diese Zeilen treffen auch auf Mey selbst zu, der mit diesem Lied auf dem Album »Nanga Parbat« sein ganz eigenes »Douce France« komponiert hat.

Ist die Liebe (zu Frankreich) die glänzende Seite der Medaille, so ist das Leiden (an Deutschland) die dunkle Seite. Neben der schwebenden Hommage an Meys Wahlheimat steht die grüblerische Reflexion über sein Mutter- und Vaterland. Dass dieses Liedpaar so verstanden werden kann, »Douce France« als Gegenstück zu »Mein Land«, dafür ist auch die Instrumentierung ein Indiz. Denn symbolisiert das Akkordeon in »Douce France« die Grande Nation, so gesellen sich in »Mein Land« ganz ungewohnt Violine und Violoncello zur Gitarre. Doch wieso diese beiden Instrumente, und wieso lassen der Anfang der Versmelodie von »Mein Land« und die Streicherzwischenspiele eine Ahnung von etwas ganz anderem anklingen?