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Singen E-Book

Michael Schneider

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Beschreibung

Michael Schneider gibt Einblicke in die Geschichte und Gegenwart des Singens im Raum der Kirche – einen relevanten Bereich religiöser Praxis, der im Theologiestudium zumeist unterrepräsentiert ist. Er beschäftigt sich mit theologischen, liturgischen, hymnologischen und musikwissenschaftlichen Grundlagen von Kirchenlied und Kirchenmusik und setzt sich außerdem mit den praktischen Herausforderungen des Singens und Musizierens in der Gegenwart auseinander: der musikalischen Gestaltung von Gottesdienst und Kasualien, der professionellen Arbeit und der interprofessionellen Zusammenarbeit verschiedener Berufsgruppen sowie der Vielfalt der musikalischen Stile und Genres einzelner Zielgruppen und Milieus. Der Autor möchte so zu einer reflektierten musikalischen Praxis in Gottesdienst und Gemeindearbeit anleiten.

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Seitenzahl: 202

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Praktische Theologie konkret

Band 9

Herausgegeben von Hans-Martin Lübking und Bernd Schröder

Michael Schneider

Singen

Mit Musik Gottesdienst und Gemeindearbeit gestalten

VANDENHOECK & RUPRECHT

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Brill Wageningen Academic, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Singen_© Michael Schneider

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-666-60027-2

Inhalt

Vorwort der Herausgeber

Vorwort

1Einleitung

1.1Singen und Hören

1.2Kirchenlied und Kirchenmusik

1.3Akteure in einem (nicht) selbstverständlichen Handlungsfeld

1.4Praktische Theologie konkret: Singen, Kirchenlied, Kirchenmusik

2Situation

2.1Singen – eine Spurensuche

2.2Singen in der gegenwärtigen Praxis

2.3Herausforderungen für Singen und Kirchenmusik

3Grundlagen

3.1Situation, Atmosphäre, Funktion

3.2»Singet dem Herrn ein neues Lied«: liturgisches Singen

3.3»Verleih uns Frieden gnädiglich«: hymnisches Singen

3.4»Nun freut euch lieben Christen g’mein«: Singen und Sagen

3.5»Nun saget Dank und lobt den Herren«: Singen und Beten

3.6»Wie soll ich dich empfangen«: Kirchenlied und konfessionelle Identität

3.7»Gott ist gegenwärtig«: Kirchenlied in Pietismus und Mystik

3.8»Seht ihr den Mond dort stehen«: Kirchenlied und Aufklärung

3.9»Holder Knabe im lockigen Haar«: Kirchenlied und Volkslied

3.10»Die Nacht ist vorgedrungen«: Kirchliches Singen, Singbewegung und gemeinschaftliches Singen

3.11»Danke für diesen guten Morgen«: Kirchliches Singen, Neues Geistliches Lied und Popkultur

3.12»Es gibt bedingungslose Liebe«: Kirchliches Singen und Lobpreis

3.13»Vertraut den neuen Wegen«: Kirchliches Singen in Gegenwart und Zukunft

3.14Singen, Kirchenlied, kirchliches Singen

4Update

4.1Wie und warum singen wir? Praktisch-theologische Diskurse

4.2Wo und mit wem singen wir? Kirchenmusikalische Umbrüche

4.3Was und wie werden wir singen?Herausforderungen auf dem Weg zu einem neuen Gesangbuch (Frieder Dehlinger)

5Essentials

5.1Kirchenmusik und Gottesdienst

5.2Kirchenmusik und Kasualien

5.3Kirchenmusik und Bildung

5.4Kirchenmusik und Seelsorge (Anja Conrad)

6Anregungen für die Praxis

6.1Singen im Gottesdienst I: Lieder auswählen

6.2Singen im Gottesdienst II: Lieder kennenlernen und üben

6.3Singen im Gottesdienst III: Anschlagen, Ansagen, Abdrucken

6.4Singen und Musik bei Kasualien: Beraten, Begleiten, Einspielen

6.5Singen mit Kindern und Jugendlichen

6.6Singen und Gesangbuch: gemeindepädagogische Anregungen

6.7Singen und Seelsorge: ein Praxisbeispiel (Anja Conrad)

6.8Gelingende Kommunikation und Multiprofessionalität

7Goldene Regeln

8Besondere Herausforderungen

8.1Singen ohne (professionellen) Musiker

8.2Singen in Vielfalt und Vielstimmigkeit

8.3Zukunftsmusik – Singen und kirchliche Transformationsprozesse

9Literatur

9.1Literaturempfehlungen zu Kirchenlied und Kirchenmusik

9.2Im Buch verwendete und zitierte Literatur

Vorwort der Herausgeber

Die Reihe »Praktische Theologie konkret« will Pfarrer:innen sowie Mitarbeitende in Kirche und Gemeinde mit interessanten und innovativen Ansätzen in kirchlich-gemeindlichen Handlungsfeldern bekannt machen und konkrete Anregungen zu guter Alltagspraxis geben.

Der vorliegende Band adressiert insbesondere diejenigen unter ihnen, die Religionsunterricht in der Schule erteilen wollen oder beginnen dies zu tun – und darüber hinaus Religionslehrer:innen, die ein »Update« suchen.

Die Bedingungen kirchlicher wie schulischer Arbeit haben sich in den letzten Jahren zum Teil erheblich verändert.Auf viele heutige Herausforderungen ist man in Studium und Vikariat bzw.Referendariat nicht vorbereitet worden und in einer oft belastenden Arbeitssituation fehlt meist die Zeit zum Studium aktueller Veröffentlichungen.So sind interessante neuere Ansätze und Diskussionen in Praktischer Theologie und Religionspädagogik in der Praxis oft kaum bekannt.

Der Schwerpunkt der Reihe liegt nicht auf der Reflexion und Diskussion von Grundlagen und Konzepten, sondern auf konkreten Impulsen zur Gestaltungpastoraler und schulischer Praxis:

–praktisch-theologisch auf dem neuesten Stand,

–mit Informationen zu wichtigen neueren Fragestellungen,

–als Vergewisserung über bewährte »Basics«

–und mit einem deutlichen Akzent auf der Praxisorientierung.

Die einzelnen Bände sind von Fachleuten geschrieben, die praktisch-theologische Expertise mit gegenwärtiger Erfahrung von konkreter kirchlicher Praxis verbinden.Wir erhoffen uns von der Reihe einen hilfreichen Beitrag zu einem wirksamen Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis kirchlicher Arbeit.

Dortmund/Göttingen         Hans-Martin Lübking und Bernd Schröder

Vorwort

Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist.(Victor Hugo, »William Shakespeare«, 1864)

Ich singe dir mit Herz und Mund, Herr, meines Herzens Lust; ich sing und mach auf Erden kund, was mir von dir bewusst.(Paul Gerhardt, EG 324)

Es ist eher ungewöhnlich, dass ein Buch mit dem Thema »Singen« in einer praktisch-theologischen Reihe, zumal mit dem Fokus auf der gemeindlichen Praxis, erscheint. Im Theologiestudium kommen Kirchenlied und Kirchenmusik allenfalls als mögliche Aspekte in einigen Teildisziplinen wie der Liturgik oder der Religionspädagogik vor. Im Kirchenmusikstudium sind wiederum theologische Fächer verpflichtend, haben dabei aber oft den Status weniger relevanter Nebenfächer.

Ich danke daher zuallererst Hans-Martin Lübking und Bernd Schröder, dass sie ein Buch zu diesem Thema in die Reihe »Praktische Theologie konkret« aufgenommen haben – zumal in einer Zeit, in der das gemeinschaftliche Singen auch im Raum der Kirchen stark eingeschränkt war oder sogar als Gesundheitsgefahr verboten wurde. Weiterhin sei den beiden Reihenherausgebern für die Anregungen vor der Drucklegung gedankt.

Den Anstoß zu diesem Buch verdanke ich den Studierenden meiner Lehrveranstaltungen an der Goethe-Universität und der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt sowie an der Kirchenmusikakademie Schlüchtern. Ihre herausfordernden theologischen und musikalischen Fragen haben mich dazu angeregt, das Thema Kirchenmusik und insbesondere das Singen noch einmal aus verschiedenen Perspektiven zu bedenken. Ich hoffe, dass das vorliegende Buch nun zurückwirkt und Impulse für den Unterricht bietet.

Grundlage für diesen Band ist aber nicht allein die theologische Reflexion einer bestimmten Praxis, sondern die kirchenmusikalische Praxis selbst. Ich danke daher allen, mit denen ich die Freude hatte, in den vergangenen drei Jahrzehnten zu singen und zu musizieren – in Gottesdiensten, in Chören, in verschiedenen Gruppen an unterschiedlichen Orten. Auch hier wünsche ich mir, dass das fertiggestellte Buch Impulse zurück in die kirchenmusikalische Praxis geben kann – für Pfarrerinnen, Kirchenmusiker, Diakone, Jugendmitarbeiterinnen und alle, die in der (gemeindlichen) Praxis singen und musizieren.1

Das Thema dieses Bandes ist interdisziplinär, vielschichtig und umfangreich, während der Seitenumfang dem Projekt enge Grenzen gesetzt hat. Die Lektüre der ausgewählten Titel im Literaturverzeichnis, auf die in den einzelnen Abschnitten verwiesen wird, sei daher noch einmal besonders empfohlen.

Mein besonderer Dank gilt Anja Conrad und Frieder Dehlinger, die jeweils eigene Abschnitte zu diesem Buch beigetragen haben: zur Entwicklung eines neuen Evangelischen Gesangbuchs (Kapitel 4.3) sowie zum Themenfeld Kirchenmusik und Seelsorge (Kapitel 5.4 und 6.7). Weiterhin danke ich herzlich Jakob Schneider für die Vorlage zum Buchcover.

Ich danke außerdem all denjenigen, die theologische, musikalische oder auch ganz praktische Anregungen für dieses Buch gegeben, Korrekturen angemahnt und kritische Rückmeldungen geäußert haben, besonders Dominic Blauth, Anja Conrad, Frieder Dehlinger, Sonja Karl, Lukas Link, Helena Malsy, Hannah Reichel, Michael Rydryck, Simone Schneider, Caroline Sosna und Charlotte Vitek.

Für ihre äußerst gründliche und kompetente Lektüre und die Unterstützung bei den Redaktionsarbeiten danke ich besonders herzlich Meike Drechsler und Antonia Maria Papenfuhs.

Schließlich gilt mein Dank Jana Harle und Carlotta Koch, die das Publikationsprojekt von Seiten des Verlags begleitet und zu einem guten Abschluss geführt haben.

Frankfurt/Schlüchtern, im Advent 2023         Michael Schneider

1Ich verwende im Text in zufälliger Folge die männliche und weibliche Form. Im Sinne der gendersensiblen Sprache mögen sich bitte alle mitgemeint fühlen.

1Einleitung

1.1Singen und Hören

»Danke für die Musik.« Welche Assoziationen haben Sie beim Lesen dieses Satzes? In einem Buch, das Kirchenlied und Kirchenmusik aus evangelischer Perspektive in den Blick nimmt, würde man wohl eine Verknüpfung mit der folgenden Zeile aus dem Kirchenlied-Schlager von Martin Gotthard Schneider erwarten: »Danke für alles Frohe, Helle und für die Musik« (Evangelisches Gesangbuch [EG] 334,3). Vermutlich geht die Assoziation über den bloßen Text hinaus und Sie haben sofort auch Töne im Ohr oder auf den Lippen. Es könnten vokale oder instrumentale Töne von Einzelpersonen oder Gruppen, von Orgel, Klavier oder Bands sein. Töne eines Liedes, von dem es unterschiedliche Fassungen von mehr oder weniger klassischen Gemeindebegleitungen über die Coverversion der Band »Die Ärzte« bis hin zu vielfältigen Adaptionen und Parodien gibt.

Oder Sie hören die englische Übersetzung des Satzes: »Thank you for the music.« Und vielleicht haben Sie Bilder der Band »ABBA« vor Augen – im Original der 1970er Jahre oder in der Avatar-Fassung 2021? Vielleicht kommt Ihnen gar die österreichische Musikgruppe »Die Mooskirchner« in den Sinn, auf deren Jubiläumsalbum »40 Jahre« sich ein Lied genau mit diesem Titel befindet? Jedenfalls steht dieses volkstümliche Lied an der Spitze bei Suchmaschinenabfragen zu »Danke für die Musik« und das entsprechende Video auf YouTube hat im Vergleich zur Ärzte-Version des Danke-Liedes immerhin mehr als doppelt so viele Aufrufe vorzuweisen.

Ich gestehe, dass ich bis zur Recherche für dieses Buch weder die Musikgruppe »Die Mooskirchner« kannte noch deren Musik und Songtexte. Daher zeigt schon dieses einfache Beispiel: Ob der Satz »Danke für die Musik« beim Hören und Lesen musikalische Assoziationen hervorruft und welche das sind, ist deshalb in hohem Maße abhängig von Hörerfahrungen und Hörgewohnheiten, von Milieus und jeweiliger Sozialisation. Musik, die für die einen mit Emotionen und Erinnerungen hoch aufgeladen ist, bringt bei anderen gar nichts zum Klingen. Und auch das Spektrum musikalischer Aktivität ist groß: vom aktiven Mitglied von Chören, Bands und Instrumentalgruppen bis zu den Menschen, denen Musik lediglich als allgemeines Grundrauschen in Supermärkten, in Warteschleifen am Telefon und in Fahrstühlen begegnet.

Die beiden aktivischen Formulierungen des Buchtitels – »Singen« und »Mit Musik Gottesdienst und Gemeindearbeit gestalten« – legen einen Schwerpunkt dieses Buchs fest: Im Blick sind verschiedene Aspekte einer aktiven Gestaltung kirchlicher Praxis mit Musik. Gleichzeitig setzt gerade das Singen ein aktives Hören, auf sich selbst und auf andere, in besonderer Weise voraus. Lauschen, Hören und Wahrnehmen als Phänomene der Resonanz sind daher ganz und gar nicht die passive Seite von Kirchenmusik und Kirchenlied, sondern gehören zur Konkretion unbedingt dazu.

1.2Kirchenlied und Kirchenmusik

Die einleitenden Bemerkungen zum Singen und zur Musik gelten ganz allgemein, und damit auch für Kirchenlied und Kirchenmusik im engeren Sinne: Ob, wie und was gesungen wird, ist von kirchlichem Ort zu kirchlichem Ort, von Gemeinde zu Gemeinde, von Kasus zu Kasus, von Gruppe zu Gruppe, von Milieu zu Milieu mitunter höchst unterschiedlich. Diese Diversität führt immer dann zu grundlegenden Fragen, wenn es um Aspekte der Lied- und Musikauswahl geht: bei der musikalischen Gestaltung eines Gottesdienstes, bei der Erstellung verbindlicherer Liedempfehlungen wie der Sammlung von Wochenliedern und in ganz besonderem Maße bei der Erstellung von Gesangbüchern (wie seit einigen Jahren gerade wieder im Bereich der EKD-Gliedkirchen). Gibt es bei aller Ausdifferenzierung religiöser Praxis so etwas wie einen Kanon an »Kernliedern« (vgl. Kapitel 6.2), der als gemeinsam geteilter Kirchenliedschatz einer bestimmten Gruppe gepflegt wird? Oder ist die konkrete kirchenmusikalische Praxis so bunt und vielfältig, aber damit eben auch so disparat wie Gemeinden, Gruppen und einzelne Menschen nun einmal sind (vgl. Kapitel 4.1 und 8.2)?

Ist das Spektrum von Musik im kirchlichen Kontext so breit, dass mit Recht gefragt werden kann, worin sich Kirchenmusik und Kirchenlied von Musik und Liedern im Allgemeinen unterscheiden? Gibt es Spezifika des Kirchenlieds und der Kirchenmusik? Und worin könnte dieses Spezifische liegen? Ist das Danke-Lied von Martin Gotthard Schneider ein Kirchenlied, weil hier explizit bestimmte religiöse Sprachformen und Begriffe verwendet werden, weil es mittlerweile in vielen Gesangbüchern steht oder gar, weil der Komponist und Dichter es als Kirchenlied angelegt hat? Formuliert der ABBA-Song demgegenüber nicht explizit religiös genug? Beschreibt er nicht, was uns unbedingt angeht – man denke nur an die Textzeile »Who can live without it?« Und wie ist das mit einem Liedtext, der explizit von der Boteneigenschaft von Engeln, die die Musik zu den Menschen gebracht haben, spricht – wie der Song der »Mooskirchner«? Ist die Bestimmung eines Lieds als Kirchenlied abhängig von einem bestimmten musikalischen Genre oder einer bestimmten Intentionalität? Muss ein Lied für den gottesdienstlichen oder kirchlichen Gebrauch bestimmt sein, um als Kirchenmusik wirken zu können? Verdankt sich unsere Bestimmung von Kirchenmusik letztlich einem ganz bestimmten Begriff von Kultur? Gehören zu dieser kirchenmusikalischen Kultur die Hochkultur von Heinrich Schütz bis Arvo Pärt genauso wie manche Bereiche der populären Kultur zwischen Popsong, Gospel und Neuem Geistlichen Lied (vgl. zu diesen Genres und ihrer Geschichte auch Kapitel 3) unhinterfragt dazu? Werden andere Genres, und damit auch bestimmte Milieus, wie volkstümliche Musik und Schlager genauso bewusst ausgeblendet? Stimmt damit also die Wahrnehmung, dass im Bereich der Kirchenmusik die Liste der erfolgreichsten Musikgenres der Gegenwart aus Radio und Streamingdiensten gerade auf den Kopf gestellt wird? Liegt die Konzentration in erster Linie auf anspruchsvoller klassischer Musik und dann auf popularmusikalischen Erweiterungen im Stil der 1960er bis 1980er Jahre? Und hat Kirchenmusik dementsprechend blinde Flecken bei gegenwärtigen Musikstilen sowie volkstümlicher Musik? Pflegen wir in Theologie und Kirche gar ein Gegenüber von (erwünschter) Kunst und (nicht erwünschtem) Kitsch (vgl. Nüchtern 2008; Reinke 2008)? Auf all diese Fragen versuchen insbesondere das Grundlagenkapitel 3 und das Update in Kapitel 4 dieses Buchs Antworten zu geben.

Aus praktisch-theologischer Sicht sind damit zwei grundsätzlich unterschiedliche Perspektiven benannt, die uns auch in Disziplinen wie der Religionspädagogik oder Liturgik begegnen: Nehmen Kirchenlied und Kirchenmusik ihren Ausgangspunkt in einer bestimmten alltäglichen Praxis der Gegenwart oder profilieren sie sich bewusst oder unbewusst als eine eigene oder sogar kontrastierende ästhetische Welt? Orientieren sich Singen und Musizieren in der kirchlichen Praxis an lebensweltlichen Höreindrücken oder wollen sie – mit einem gewissen didaktischen Anspruch – in eine andere Klangwelt einführen? Soll ich in der Konfirmandenarbeit populäre Musik einsetzen (und was ist das im Konkreten?) oder wirkt das bei den 13-Jährigen eher anbiedernd und bemüht? Versuche ich im Gottesdienst, schwerpunktmäßig »neue Lieder« zu singen oder sehe ich meine Aufgabe darin, Menschen die Welt traditioneller Kirchenlieder nahezubringen? Erfülle ich den Wunsch, bei Trauerfeiern ausschließlich auf Lieblingslieder der Verstorbenen zu hören oder verweise ich auf die seelsorgende Wirkung des gemeinsamen Singens von Kirchenliedern? Es ist offensichtlich, dass diese Fragen nicht auf ein ausschließendes Entweder-oder zielen. Es lohnt sich allerdings, sie überhaupt zu stellen und theologisch zu bedenken.

Der Buchtitel »Singen« benennt eine grundlegende Aktivität, die mit manchen Gemeindegruppen besonders verbunden ist, sich aber nicht auf einzelne Gruppen beschränkt. Der Untertitel weist darauf hin, dass mit »Kirchenmusik« weniger bestimmte Formen und Genres im Blick sind als eine bestimmte Praxis: Von Kirchenmusik soll in einer ersten Annäherung dann gesprochen werden, wenn im Raum der Kirche Musik erklingt, wenn mit Musik Gottesdienst und Gemeindearbeit gestaltet werden. Ähnliches gilt, wenn im Folgenden vom »Kirchenlied« die Rede ist: Einerseits ist damit eine bestimmte musikalische und liturgische Form mit über die Jahrhunderte gewachsener Stilvielfalt im Blick. Andererseits steht der Begriff »Kirchenlied« in einem weiten Sinn zugleich für alle Formen des Singens in der kirchlich-gemeindlichen Praxis. Und schließlich ist Kirchenmusik zwar wesentlicher Teil dieser innerkirchlichen Praxis, eröffnet aber wie kaum ein anderes Handlungsfeld Kontaktflächen zu Menschen, die dem Gottesdienst und klassischen Formen der Gemeindearbeit eher distanziert gegenüberstehen (vgl. Goldschmidt 2014).

Aus einer wissenschaftlichen Perspektive kommen damit Schnittfelder zwischen Musikgeschichte und Musikwissenschaft auf der einen Seite sowie Hymnologie, Liturgik und (Praktischer) Theologie auf der anderen Seite in den Blick (vgl. Kapitel 3 und 4).

1.3Akteure in einem (nicht) selbstverständlichen Handlungsfeld

Noch einmal zurück zum Ausgangspunkt: »Danke für die Musik.« Dieser Satz begegnet uns nicht nur in Songtexten, sondern immer wieder auch in Gottesdiensten. Hier dankt die Pfarrerin dem Kirchenmusiker für seine Mitwirkung im Gottesdienst. Was als Dank der zumeist hauptberuflich tätigen Person gegenüber einer in den allermeisten Fällen nebenberuflichen oder ehrenamtlichen als Wertschätzung legitim, erwartet und erwünscht sein mag, wirft dennoch Fragen auf. Diese werden verstärkt, wenn in der Lokalzeitung, dem Gemeindebrief oder in der Danksagung für Kasualien zwar vom »Gottesdienst mit Pfarrer X« gesprochen wird, die Kirchenmusikerin aber im besten Fall als »Mitwirkende«, oft gar mit dem Begriff der »musikalischen Umrahmung«, vielleicht sogar der »musikalischen Untermalung« Erwähnung findet, oder schlicht gar nicht genannt wird. Diese Formulierungen spiegeln eine vermutlich zumeist unhinterfragte, aber doch klare Wahrnehmung wider: Im Zentrum des Gottesdienstes steht das predigende und liturgische Handeln der Pfarrperson. Die Musik und die in diesem Bereich tätigen Personen wirken mit, unterstützen, umrahmen. Vielfach werden noch nicht einmal handelnde Personen, sondern nur deren Instrumente wahrgenommen: »Die Orgel spielt (uns das jetzt mal vor)«. Oder: »Heute begleiten uns wieder die Posaunen.«

Das Potenzial für Kränkungen, Konflikte und für gescheiterte interprofessionelle Zusammenarbeit, das in dieser Wahrnehmung der unterschiedlichen Bedeutung der liturgisch handelnden Personen liegt, kann kaum überschätzt werden. Das gilt natürlich insbesondere dann, wenn ein Gottesdienst auf höchst professionelle Weise kirchenmusikalisch gestaltet wird und liturgisch vielleicht stärker von der Musik geprägt ist als vom gesprochenen Wort.

Die beschriebene Wahrnehmung der Akteure ist auch auf anderer Ebene problematisch: »Der Gottesdienst als Ganzer« wird mit der Pfarrperson verbunden, »die Kirchenmusik« mit dem Kirchenmusiker. Die Professionen scheinen schiedlich-friedlich getrennt. In einem solchen Nebeneinander kommt der Theologe aber ohne musikalische, die Kirchenmusikerin ohne theologische Kompetenz aus. Die Praxis sieht jedoch anders aus: Bei der Planung und Durchführung des (evangelischen) Gottesdienstes entscheidet im Regelfall der Pfarrer über die Liedauswahl und trifft damit wesentliche Entscheidungen, für die es musikalische, hymnologische und liturgische Kompetenz braucht. Ähnliches gilt für andere kirchliche Arbeitsfelder, in denen Musik eine Rolle spielt.

Betrachtet man Studien- und Ausbildungsordnungen in den Bereichen Theologie und Kirchenmusik, wird in weiten Teilen ein umgekehrtes Gefälle sichtbar: In allen kirchenmusikalischen Prüfungen, und seien es noch so grundlegende wie D-Prüfungen bzw. Eignungsnachweise, sind theologische, liturgische und hymnologische Kenntnisse verpflichtend. Im Studium der (evangelischen) Theologie sucht man oft schon vergeblich nach liturgischen Pflichtveranstaltungen, erst recht aber nach kirchenmusikalischen und hymnologischen. Dieses Defizit ist oft beschrieben worden und lässt sich durch einige Stunden während des Vikariats auch nicht mehr ausgleichen. Hinzu kommt, dass selbst dort, wo kirchenmusikalische Aspekte in der zweiten Ausbildungsphase eine Rolle spielen, der problematische Eindruck entsteht, diese seien ausschließlich im Bereich der praktischen Ausbildung anzusiedeln und bedürften nicht der liturgischen, hymnologischen, musikästhetischen, historischen und pastoraltheologischen Reflexion.

Kirchenmusik spielt in den meisten kirchlich-gemeindlichen Handlungsfeldern eine durchaus unterschiedliche, aber zumeist große Rolle. Pfarrerinnen, Diakone, Kirchenmusiker und weitere Mitarbeitende sind jedoch höchst unterschiedlich kirchenmusikalisch qualifiziert. Mehr noch: Es mangelt nicht selten an elementaren Kriterien und Bewusstsein für Qualität und Professionalität im Bereich Kirchenmusik. In der Alltagspraxis ist Kirchenmusik ein geradezu klassisches Feld für die inter- bzw. multiprofessionelle Zusammenarbeit: Mehr oder weniger musikalisch geschulte Pfarrer treffen auf Musikerinnen mit mehr oder weniger professioneller Ausbildung und viele weitere Personen, die musikalisch aktiv sind.

1.4Praktische Theologie konkret: Singen, Kirchenlied, Kirchenmusik

Dieses Buch orientiert sich in unterschiedlicher Weise an kirchlicher und gemeindlicher Praxis und versucht Brückenschläge zu hymnologischen, liturgischen und theologischen Aspekten:

–Ausgangspunkt ist die Praxis des Singens und Musizierens mit je unterschiedlichen singenden und musizierenden Akteuren und deren Zusammenwirken.

–Singen und Musizieren konkretisieren sich im Kirchenlied und in verschiedenen Formen der Kirchenmusik, die in historischer, systematischer und praktischer Hinsicht zu differenzieren sind.

–Aus diesen Überlegungen ergeben sich wiederum Anregungen für die kirchenmusikalische Praxis in Gottesdienst und Gemeinde.

Die Bände der Reihe »Praktische Theologie konkret« nehmen zumeist Themen und Praxisfelder in den Blick, die bereits Gegenstand der verschiedenen Ausbildungsphasen für Theologiestudierende sind. Homiletik und Liturgik, Pastoraltheologie, Religions- und Gemeindepädagogik, Reflexion über Seelsorge und Kasualien nehmen im Studium einen mehr oder weniger großen, aber dennoch verbindlichen Platz ein. In diesen Themenbereichen kann man auf Grundlagen aus dem Studium verweisen und dann auf Herausforderungen in der konkreten Praxis zu sprechen kommen. Singen und Musizieren in der Praxis gehören genauso wie die Reflexion dieser Praxis in Hymnologie, Liturgik oder theologischer Kirchenmusikforschung nicht zum Pflichtgegenstand im Studium der (evangelischen) Theologie. Was für das Theologiestudium gilt, trifft in ähnlicher Weise auch für Studium und Ausbildung von Diakonen, Erzieherinnen und Mitarbeitenden in der Arbeit mit Jugendlichen zu. Auch diese Aspekte gehören zur Beschreibung der Situation der Kirchenmusik in der Gegenwart (Kapitel 2).

Dem Update zu praktisch-theologischen Diskursen und kirchenmusikalischen Aufbrüchen (Kapitel 4) ist daher ein verhältnismäßig umfangreiches Grundlagenkapitel zum Kirchenlied (Kapitel 3) vorangestellt. Dabei sollen hymnologische, liturgische und theologische Aspekte miteinander verwoben werden. Im Blick auf Kirchenmusik in konkreten Handlungsfeldern (Gottesdienst, Kasualien und religiöse Bildung) werden »Essentials« herausgearbeitet (Kapitel 5). Schließlich werden auf dieser Basis dann Konkretionen zu den Praxisfeldern in den Blick genommen (Kapitel 6). Auf die Abschnitte »Goldene Regeln« und »Besondere Herausforderungen« folgt ein ausführlicher Anhang mit weiterführender Literatur.

2Situation

2.1Singen – eine Spurensuche

»Von den Anfängen an ist das Singen ein Kennzeichen der christlichen Gemeinden gewesen« (Albrecht 1995, 11). Mit diesem Selbstverständnis, das Christoph Albrecht in den 1970er Jahren im Eingangsteil seiner Einführung in die Hymnologie formulierte, sind über mehrere Jahrzehnte Kirchenmusikstudierende unterrichtet worden. Und sicherlich lassen sich, beginnend mit den biblischen Texten, über das Augustin zugeschriebene »Wer singt, betet doppelt« und Martin Luthers pointiertes »Singen und Sagen« bis in die Gegenwart, durchaus Argumente für diese These finden: Christliche Kirche ist von Anfang an, durch die Geschichte hindurch und in der Gegenwart immer noch eine singende und musizierende Gemeinschaft.

Schaut man etwas genauer hin, zeigt sich, dass die Vorstellung von Singen als typischer oder spezifischer kirchlicher Praxis nicht selbstverständlich und auch nicht selbsterklärend ist. Zunächst einmal setzt die Grundthese Albrechts eine nähere Bestimmung von Singen und Musik voraus. Geht man von einem sehr weiten Begriff aus, der jede klangliche Äußerung in der Unterscheidung von Laut und Stille, jede verständliche oder nicht verständliche Artikulation von Silben und jeden durch die Atmung erzeugten Rhythmus umfasst, dann sind Singen und Musizieren vielmehr anthropologische Konstanten. Wenn das aber so ist, ist man in Abwandlung des bekannten Satzes von Paul Watzlawick, man könne nicht nicht kommunizieren, versucht zu sagen: Der Mensch kann nicht nicht singen. Um das Singen dann aber zur besonderen Praxis im Christentum, zum Kennzeichen oder gar zum Unterscheidungsmerkmal zu anderen religiösen oder kulturellen Äußerungen zu erheben, braucht es weitere Spezifika. Haben Singen und Musizieren eine solche spezifische Funktion im Christentum? Lassen sich besondere, einzigartige christliche musikalische Formen benennen? Und sind diese musikalischen Formen im Christentum auch mit bestimmten Akteuren verbunden? Dabei gilt es auch zu bedenken, dass es zumindest in der Gegenwart durchaus häufig vorkommt, dass Christenmenschen behaupten, sie könnten gar nicht singen.

Das Mittelhochdeutsche konnte semantisch noch kaum zwischen Singen und Sprechen unterscheiden. Singen bezeichnete zunächst einen bestimmten Vortragsstil, zumeist auch eine bestimmte Textsorte, eher im religiösen als im profanen Bereich. Nimmt man diese Etymologie ernst, dann wird man das Singen nicht per se als Unterscheidungsmerkmal für christliche Gemeinden sehen. Und zugleich bekommt die von Martin Luther geprägte Wendung »Singen und Sagen« (vgl. Kapitel 3.4) eine bestimmte Bedeutung: Es geht bei den zwei Begriffen offensichtlich gar nicht um zwei völlig unterschiedliche Äußerungsformen der menschlichen Stimme. Gerade dann, wenn es etwas Besonderes mitzuteilen und anzusagen gibt, könnte aber das Singen ein angemessener Modus des Sprechens sein (vgl. auch den Abschnitt »Singen« von Bernhard Leube in Fermor/Schroeter-Wittke 2005).

Im Neuen Testament findet sich eine ganze Reihe von Texten, die in hymnischer Form produziert wurden und in gesungener Form rezipiert werden wollen (vgl. Kapitel 3.2 und 3.3). Andere Texte liefern zusätzliche Informationen über die antike Praxis des Singens und Musizierens in unterschiedlichen Kontexten. Sowohl die liturgischen Gesänge und Texte als auch die musikalischen Formen der neutestamentlichen Zeit sind nicht nur stark von alttestamentlichen Vorlagen beeinflusst. Das Singen der frühen christlichen Gemeinden wird vielmehr in weiten Teilen mit den jüdischen identisch gewesen sein. Ein häufig zitiertes Beispiel für solche gemeinsamen Grundlagen des jüdischen und christlichen Singens ist das Lied der Mirjam:

Da nahm Mirjam, die Prophetin, Aarons Schwester, eine Pauke in ihre Hand, und alle Frauen folgten ihr nach mit Pauken im Reigen. Und Mirjam sang ihnen vor: Lasst uns dem HERRN singen, denn er ist hoch erhaben; Ross und Reiter hat er ins Meer gestürzt. (Exodus 15,21)

Die Praxis des Singens wird hier zunächst einmal als wenig spezifisch religiös beschrieben. Mirjam wird zwar mit dem besonderen Status einer Prophetin vorgestellt, ihre musikalische Tätigkeit folgt aber dem zeitgenössischen Mainstream: Eine Vorsängerin musiziert gemeinsam in und mit einer Gruppe. Damit dies möglich ist, ist ein gemeinsamer Grundrhythmus nötig – unterstützt und vorgegeben durch das verwendete