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Meyra - A vampire fairytale (deutsche Version) E-Book

Elias J. Connor

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Beschreibung

Meyra flieht vor den Schatten ihrer eigenen Familie – einer uralten Vampir-Dynastie, die sie zwingt, in der dunkelsten Stunde über Leben und Tod zu entscheiden. Als sie den menschlichen Architekturstudenten Kieran in einer stürmischen Nacht vor dem Tod rettet, erwacht in ihr ein Gefühl, das stärker ist als Durst und Pflicht. Doch ihre heimliche Liebe wird zur tödlichen Gefahr, als ihr Bruder die Wahrheit aufdeckt und Meyra in den Kerker des geheimen Familienschlosses verschleppt. Kieran steht vor der Wahl – soll er Meyra vergessen, oder soll er sie aus den Fängen der Dynastie befreien und dabei sein eigenes Leben aufs Spiel setzen? Ein dramatischer Kampf zwischen Loyalität und Leidenschaft entfacht – und nur ein Opfer kann ihre Liebe retten... Ein fesselnder Roman über verbotene Gefühle, unbändige Sehnsucht und die Entscheidung zwischen Leben und Unsterblichkeit.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Elias J. Connor

Meyra - A vampire fairytale (deutsche Version)

Fantasy Romance

Widmung

Für meine Freundin.

Muse, Traumdeuterin, wahre Liebe.

Danke, dass es dich gibt und ich dich an meiner Seite wissen darf.

Elias.

Kapitel 1 - Die Stille in der Nacht

Die Stimme des Chors hallt leise durch die Nacht. Man kann nicht genau feststellen, wo der Gesang herkommt. So oder so passt er auch gar nicht richtig, denn es ist eine nasskalte Nacht. Schneeregen und dichter Nebel hüllen die einsame Seitenstraße ein, begleitet von einem unangenehmen, eisigen Wind.

Wie spät mag es sein? 23 Uhr, vielleicht schon nach Mitternacht?

Nach einer Weile verstummt der Chorgesang, wo immer er her kam, und an diesem seltsamen, abgeschiedenen Ort wird es ganz ruhig.

Sie schaut kurz auf und vergräbt daraufhin ihren Kopf wieder unter dem Kragen ihres dicken Wollpullovers. Sie zittert. Ihre Beine zucken rhythmisch, und ihr Atem bildet kleine Wolken vor ihrem Gesicht.

Für eine Sekunde sieht es so aus, als dass sie etwas gesagt hat, aber wahrscheinlich ist das nur der Schatten, der über ihre Lippen huscht.

Die Brücke, unter der sie sitzt, ist nicht groß und nicht sehr hoch, aber hier unten ist es wenigstens trocken.

Wieder sieht das Mädchen auf. Ihre dunkelblonden Haare hängen ihr ins Gesicht, ihre Frisur ist zerzaust, und immer wieder versucht sie, sich die Strähnen von den Augen zu wischen. Noch immer beben ihre Lippen vor Kälte.

Die Schritte kommen näher. Als sie sie hört, blickt sie auf. Schnell huscht sie hinter einen Pfeiler und versteckt sich. Noch tiefer vergräbt sie ihren Kopf in ihrem Wollpullover und schnürt ihre halb offene Jacke fest zu, unter der Hoffnung, nicht gesehen zu werden.

Langsame Schritte. Sie hört jeden einzelnen. Ist es die Kälte, oder ist es ihre Angst, die ihren Körper zum Beben bringen lässt?

Sie lehnt sich ganz eng an den Brückenpfeiler und umklammert ihn fast mit ihren Armen. Es ist, als wolle sie eins werden mit ihm, damit sie unsichtbar bleibt.

Aber es ist zu spät. Der ältere Mann hat sie bereits erspäht. Langsam kommt er auf sie zu. Der Klang seiner Schritte hallt unter der Brücke wieder.

Sie drängt sich ganz dicht an den Pfeiler und schließt die Augen. Plötzlich spürt sie die Hand auf ihrer Schulter. Nicht fest, aber bestimmt, dreht der Mann sie um, so dass er in ihre Augen sehen kann.

„Wusste ich es doch, dass sich hier jemand versteckt hält“, grummelt der alte Mann sie an. „Was tust du hier, so spät nachts und ganz alleine?“

Das Mädchen zittert unverändert. Vorsichtig blickt sie ihn durch ihre fast geschlossenen Augen an und wendet schließlich ihren Kopf zur Seite, ohne etwas zu sagen.

„Ein Mädchen in deinem Alter sollte nicht nachts alleine herum laufen“, spricht der Mann mit seiner sonoren Stimme.

Das Mädchen betrachtet sein graues, schütteres Haar, wie es sich im Wind bewegt.

„Ich bin 19“, sagt sie schließlich fast flüsternd. „Es ist meine Sache, was ich nachts mache.“

„Du siehst aus wie 14 oder 15“, sagt der alte Mann ungläubig.

„Ich bin 19“, wiederholt das Mädchen leise.

Erst dann lässt sie den Brückenpfeiler los und setzt sich auf einen Mauervorsprung. Der ältere Mann nimmt neben ihr Platz und zündet sich eine Zigarette an.

Fast angeekelt wedelt das Mädchen mit ihrer Hand vor ihrem Gesicht den Rauch weg und sieht den älteren Mann mit einem verachtenden Blick an.

„Was dagegen, wenn ich mich eine Weile zu dir setze?“, fragt er.

Das Mädchen schüttelt den Kopf.

„Ich bin nicht mehr gut zu Fuß“, sagt der Mann. „Und bis zu mir nach Hause ist es noch weit. Da muss ich ab und an Pause machen.“

Das Mädchen nickt.

„Du bist nicht sehr gesprächig“, stellt der Mann mit einem fragenden Seitenblick fest. „Hast du einen Namen?“

Die Wolke ihres Atems hüllt ihr helles Gesicht fast ganz ein.

„Meyra“, wispert sie daraufhin leise.

„In Ordnung, Meyra“, sagt der alte Mann. „Du musst keine Angst haben. Ich tu dir nichts, okay? Ich sitze nur eine Weile hier, und sobald meine Beine können, werde ich weitergehen.“

Meyra blickt den alten Mann von der Seite an. Ihre Augen scheinen mitfühlend zu sein, aber sieht man genauer hin, kann man etwas ganz anderes in ihrem Blick erkennen.

Was immer es ist, der alte Mann erkennt es nicht.

„Wohnst du alleine?“, fragt die junge Frau den Mann.

Er atmet tief aus und wendet sich ihr dann zu. „Meine Frau ist lange schon tot“, sagt er. „Wir hatten keine Kinder. Ich habe keine Familie mehr. Ja, ich lebe alleine.“

Meyras Augen flackern, als würde der Wind in ihnen ein Lied spielen. Ihr Herzschlag schlägt Purzelbäume.

„Du hast niemanden mehr?“, will Meyra sichergehen.

Der Mann nickt.

„Und niemand wird dich vermissen?“, stellt Meyra ihm die Frage jetzt ganz direkt.

„Warum fragst du so etwas?“, entgegnet der Mann. „Hast du vor, mich zu töten? Nur zu. Ich habe nichts mehr vom Leben zu erwarten.“

Meyra atmet heftig. Sie bebt innerlich. Ihr Körper vibriert. Sie weiß, wie sehr sie es hasst. Sie weiß, dass sie gezwungen ist, es zu tun, da sie sonst selbst stirbt. Und so sehr Meyra ihr Leben selbst hasst – so wie der alte Mann vermutlich seines – so sehr möchte sie nicht sterben. Es ist der nackte Überlebenstrieb, der sie am Leben erhält, und der sie Dinge tun lässt, die sie unter normalen Umständen niemals tun würde.

Ein letzter Blick. Ein letzter Blitz aus seinen Augen, der Meyra mitten ins Herz zu treffen scheint.

Und schon in der nächsten Sekunde liegt der alte Mann tot auf dem Boden.

Meyra kauert neben ihm. Ihr Blick ist tieftraurig. Ihre Augen sind mit Wasser gefüllt. Ihre Lippen sind rot, wahrscheinlich blutverschmiert.

Sie sieht ihn noch einmal an. Dann steht sie leise auf. Sie läuft einige Schritte von diesem düsteren, gruseligen Ort unter dieser Brücke davon. Als sie weit genug entfernt ist, beginnt sie, zu rennen.

Auf der Landstraße angekommen, rennt Meyra noch schneller. Fast wie der Blitz und schneller als die vorbeifahrenden Autos rennt sie durch die dunkle Nacht. Ab und an wird sie von einem Scheinwerfer gestreift, aber das interessiert sie nicht. Sie kann ja nichts dafür, sagt sie zu sich selbst. Wenn jemand fragen sollte – sie kann ja nichts dafür.

Ja, sie hasst es. Sie hasste es schon immer. Aber ihr bleibt keine Wahl. Das weiß sie. Es ist so, und es wird immer so sein.

Der Ortsteil, den Meyra nach einiger Zeit erreicht, liegt etwa 20 Kilometer von der Innenstadt entfernt. Er ist nicht groß. Eigentlich besteht er nur aus einigen Häusern, und diese sehen so aus, als dass sie von eher wohlhabenden Menschen bewohnt werden. Offenbar ist es eine gute Gegend.

Als Meyra den Ort durchschreitet, ist längst alles still. Niemand ist auf der Straße. Meyra verlangsamt ihre Schritte und betrachtet eine Straßenlaterne. An dieser sieht sie den Nebel sanft vorbei ziehen und bemerkt auch die kleinen Regentropfen im Schein des Lichts.

Meyra wischt sich den Schweiß von der Stirn. Weil ihr warm ist, öffnet sie ihre Jacke wieder.

Langsam läuft sie über die Hauptstraße, bis sie den Ortsausgang erreicht. Daraufhin biegt sie an der letzten Ampel rechts ab, in einen Nahe gelegenen Waldweg.

Die Lichter des Orts scheinen langsam zu erlöschen. Meyra dreht sich noch einmal um. Als sie wieder nach vorne sieht, steht sie vor einer kleinen, versteckten Gasse, deren Licht von der Dunkelheit der Nacht scheinbar ganz und gar verschlungen wird.

Zwischen Schatten gedämpften Hügeln verborgen liegt das unbekannte Dörfchen, düster und dunkel – eine abgeschiedene Ansammlung von Fachwerkhäuschen, deren Fassaden moosgrün schimmern und deren Schindeldächer sich kaum vom dichten Laubdach der umstehenden Eichen abheben. Kein Schild weist den Weg, keine Karte weist es aus; nur wer die stillen Pfade kennt, findet das Tor aus Weinranken zwischen zwei uralten Bäumen.

Im Herzen dieses namenlosen, geheimen Ortes winden sich schmale Gassen, kaum mehr als Spalten zwischen den Häuserreihen. Kopfsteinpflaster, von Wurzelrissen aufgebrochen, klafft hier und dort, als hätten die Bäume ihre Finger durch den Boden gerammt. Laternen aus geschwärztem Eisen hängen schief an den Fachwerkbalken, flackern in unregelmäßigem Rhythmus und werfen tanzende Schatten auf die verwitterten Mauern.

Einige dieser Gassen enden abrupt an massiven Falltüren aus Eichenholz, übersät mit rostigen Riegeln und verblassten Runen. Wer genau lauscht, vernimmt dahinter das ferne Tropfen von Wasser und das leise Hallen ferner Schritte. Unter den steilen Stufen dieser Verstecke verbirgt sich das unterirdische Labyrinth – ein Geflecht aus feuchten Gängen, antiken Katakomben und hohen Gewölben, in denen der Atem der Stadt darüber kaum widerhallt.

Tagsüber flaniert kaum ein Reisender hier; abends aber, wenn Nebel aus den Bäumen kriecht, flüstert man sich Geschichten von Gelehrten zu, die in den tiefsten Bunkern vergessene Geheimnisse studierten, und von Reisenden, die in den Gassen einladend lächelten, nur um in den Schatten der Falltüren zu verschwinden. Denn wer den Pfad einmal gewählt hat, findet nicht nur eine versteckte Ortschaft, sondern ein ganzes Reich unter der Erde, dessen Gänge sich endlos in die Tiefe winden.

Meyra tritt leise durch das moosbedeckte Tor aus Weinranken und betritt den stillen Ort in der blassen Morgendämmerung. Die Fachwerkhäuser ragen wie stumme Zeugen alter Zeiten empor, und unter ihren schweren Schindeldächern lauert der Tau. Ihr Blick wandert zu den schmalen Gassen, die sich in labyrinthartigen Windungen durch das Dorf ziehen, als wollten sie jeden Eindringling auf ewig fangen.

Sie wählt eine Gasse, deren Kopfsteinpflaster unter ihren Stiefeln leise knirscht, und folgt dem leichten Gefälle, das sie tiefer zwischen die hölzernen Mauern führt. Die Laternenflammen flackern im stillen Atem des Windes, und Schatten tanzen darüber hinaus auf den Rissen im Pflaster. Über ihr wölben sich die Äste der alten Eichen, geben der Gasse ein grünliches Zwielicht.

An einer Stelle bleibt Meyra stehen. Eine massive Falltür aus antikem Eichenholz, verschlossen mit einem rostigen Riegel, trägt verblasste Zeichen. Ihr Herz schlägt schneller, denn genau hier beginnt der Pfad in die Tiefe. Mit geübtem Griff dreht Meyra den Riegel um, hebt die Tür einen Spalt und spürt den kühlen Hauch feuchter Luft, der aus den darunterliegenden Stufen dringt.

Vorsichtig steigt sie hinab, jeder Schritt ein Gebet im Echo der Steinwände. Moos und Wurzeladern ranken sich entlang der bröckelnden Mauern, und in der Ferne hallt das Tropfen von Wasser. Meyra folgt dem schmalen Gang, dessen Decke tiefer wird, bis sie an eine breite Kreuzung gelangt. Pfeile weisen nach links zum vergessenen Brunnen, nach rechts zur Gruft der Flüsternacht – doch geradeaus leuchtet schwaches Fackellicht.

Sie wählt den mittleren Pfad, lässt das Flüstern hinter sich und gelangt zu einer hölzernen Toranlage. Zwei steinerne Gargoyles wachen schweigend, und das Tor selbst ist mit filigranen Schnitzereien versehen – Zeichen einer Macht, die älter ist als die Stadt darüber. Meyras Hand umschließt den metallenen Griff, als sie den ersten Zug macht. Ein Knarren, ein Glühen von uralter Magie – und vor ihr öffnet sich das Tor zum unterirdischen Schloss der Nachtwächter.

Hinter der Schwelle erhebt sich eine Halle aus schwarzem Marmor, dessen Oberfläche das Fackellicht in kalten Reflexen spiegelt. Kolossale Säulen ragen in die Schatten, die Decke ist mit verwitterten Fresken bedeckt, die Geschichten von Blut und Ehre erzählen. Meyra zieht die Kapuze zurück, atmet den Duft von Moos und altem Stein ein – und weiß, dass sie den Pfad in die Dunkelheit gefunden hat, den einzigen Weg zu ihrem Schicksal.

Kapitel 2 - Die geheime Dynastie

In den engen Gassen Londons liegt der Nebel wie ein undurchdringliches Tuch über altem Kopfsteinpflaster. Die Laternen werfen ihr fahles Licht auf vom Regen glänzende Mauern, während Rinnsale sich ihren Weg in die Kanalisation suchen. Ein ferner Glockenschlag kündigt Mitternacht an, und mit ihm erwacht die uralte Vampirfamilie, die seit Jahrhunderten im Schatten dieser Metropole thront. Ihre Präsenz bleibt den Sterblichen verborgen, doch in jeder dunklen Ecke, in jedem verrauchten Pub und hinter jeder massiven Holztür pulsiert ihr Flüstern.

Meyra schlüpft lautlos aus dem Versteck hinter einer umgestürzten Kiste. Ihr blonder Zopf fällt ihr über die Schulter, ein scharfer Kontrast zu dem schwarzen Ledermantel, den sie trägt. Sie ist neunzehn Jahre alt, kaum älter als viele der Menschen, die sie jagt, und dennoch älter, als jeder Sterbliche je erfährt. Ihr bleiches Gesicht wirkt makellos, doch die Anspannung in ihren blauen Augen verrät die Qual, die in ihrem Innern tobt. Jeder Blutstropfen ist ein Schritt tiefer in die Dunkelheit ihrer Bestimmung, und Meyra hasst sich dafür, dass sie nach jedem Bissen giert.

Heute Nacht gehören ihr die Gassen am East End. Die Familie hat sich in zwei Gruppen gespalten, um möglichst viele Opfer zu erreichen, bevor der erste Schein des Morgengrauens die Straßen durchdringt. Meyra gehört zur Gruppe der Jägerinnen – eine Ehre und zugleich eine Bürde. An ihrer Seite bewegen sich Aveline und Lucinda, zwei ältere Schwestern aus der Sippe, die Meyra gleichermaßen bewundern und verachten. Aveline mit ihren roten Lippen und dem koketten Schwung ihrer Hüfte, Lucinda mit ihren eisgrauen Augen und dem stets unnahbaren Lächeln. Beide beherrschen die Künste der Verführung und des Schreckens wie keine zwei anderen.

Ein schwaches Licht dringt aus einer Seitenstraße. Meyra spürt, wie ihr Puls beschleunigt – so viel Leben auf einmal, so viel Wärme, so viel Duft von Menschlichkeit. Sie riecht den Schweiß eines Bauarbeiters, das Parfum einer jungen Frau, das Bier einer kleinen Kneipe. Jeder Tropfen Blut in dieser Luft ist süßer als der vorherige. Ihr Durst kreischt nach Erlösung in den Adern eines Sterblichen, doch sie zwingt sich zur Stille.

Aveline gibt ein kaum wahrnehmbares Zeichen und die drei Vampirinnen teilen sich auf. Meyra schleicht sich an das Fenster einer schlecht gesicherten Lagerhalle heran, in der Arbeiter Kisten umlagern. Ein dumpfes Lachen ertönt, und Meyra beobachtet, wie einer der Männer eine Zigarette aus dem Mundwinkel zieht. Sie atmet tief ein, lädt angewidert den Durst in ihre Adern, und tritt dann mit einer Leichtigkeit ein, die einem Raubtier gleicht. Die Männer sehen sie erst, als sie direkt vor ihnen steht, mit einem Lächeln, das weniger als Einladung denn als Todesurteil wirkt.

„Na, Töchterchen, bist du hier fehl am Platz?“, lallt einer und streckt die Hand nach ihrem Mantel aus. Meyra schüttelt den Kopf, dreht sich langsam und zieht ihn zurück. Die dünne Haut ihrer Fingerspitzen berührt das feuchte Holz, als sie mit einer geschmeidigen Bewegung davon schwebt.

In einem Wimpernschlag springt sie vor. Der Arbeiter erstarrt, als die Kralle ihrer Hand seinen Handgelenk umklammert. Sein Herz schlägt hektisch, seine Augen weiten sich. Meyras Zähne blitzen, und in der Dunkelheit funkeln sie wie Perlen. Einen Moment lang zögert sie – jeder Schlag des Herzens, den sie hört, ist zugleich Musik und Malefiz. Dann beißt sie zu, und die Welt um sie herum verschwimmt. Blut schießt in ihren Mund, betäubt die Sinne, erfüllt ihre Lungen mit berauschender Wärme. Die Schreie der anderen Männer dringen nur noch mollig gedämpft zu ihr durch, während sie sich Trinkschwall um Trinkschwall genehmigt, bis alles um sie krepiert.

Als sie schließlich loslässt, sinkt der tote Körper zu Boden. Meyras Augen sind vernebelt, ihre Sinne schwanken zwischen Rausch und Reue. Sie hasst den Durst, der sie zwingt, jene zu vernichten, die sie einst hätte beschützen können, wäre ihr Leben anders verlaufen. Jede Mahlzeit kratzt an ihrem Gewissen, und dennoch kann sie nicht anders. Blut ist ihr Schicksal, die Feier, bei der sie sich in das bösartige Geflecht ihrer Familie einfügt.

Draußen in der Gasse wartet Lucinda bereits, ihr Blick kühl, doch in den Augen liegt flammende Neugier.

„Hast du dich wieder nicht zurückhalten können?“, flüstert sie. Die Lippen der älteren Vampirin kräuseln sich zu einem Lächeln, das gleichzeitig Tadel und Neugier ausdrückt. „Ich dachte, du wolltest uns beweisen, dass du von der alten Schule bist.“

Meyra wischt sich mit dem Ärmel die Mundwinkel ab. Ihr Mantel zeigt Blutflecken, doch sie beachtet sie kaum.

„Der Hunger war stärker.“ Sie senkt den Blick und spürt eine Welle der Scham. In solchen Momenten fühlt sie sich wie ein Kind, das eine Sünde begangen hat, obwohl sie älter sein sollte als jene, die sie getötet hat.

Aveline tritt hinzu, ihre Schritte sind lautlos. Ihre Hände ruhen auf Meyras Schultern.

„Du darfst nicht so schwach sein, Schwester. Schwäche ist ein Luxus, den wir uns nicht leisten können.“ Ihre Stimme ist weich, doch jeder Ton trifft Meyra wie ein Dolchstoß.

Genervt, aber auch fast angewidert von sich selbst schnauft Meyra aus und verdreht die Augen.

„Ich weiß“, flüstert Meyra. Sie will stärker sein, will die Kälte im Herzen fühlen wie die Großen. Doch sobald der Durst zu pochen beginnt, zerreißt es sie von innen.

Lucinda wendet sich ab und ihre Stimme erklingt eisig.

„Wir treffen uns am Treffpunkt. Die anderen sind bereits da.“

Meyra nickt, strafft die Schultern und atmet einmal tief durch. Sie muss sich sammeln, darf sich keine weitere Schwäche leisten.

Eine Verabredung im verlassenen Tunnelnetzwerk unter den archaischen Bahngleisen. Dort, wo die Luft nach Moder riecht und die Stille tiefer ist als jeder Schlund. Eine Wurzel aus Metallbalken, Holzbalken und feuchtem Stein führt hinab in die Schwärze, in der sich die alte Vampirfamilie versammelt: Lord Sebastian, der Patriarch, mit seinen schlohweißen Haaren und dem undurchdringlichen Blick; seine Tochter Isolde, so kalt wie ein vereister See; und unzählige andere, deren Namen Meyra noch nicht kennt, deren Stimmen sie nur erahnt hat.

Sie folgen dem Tunnel, ihre Schritte hallen dumpf wider. Meyra spürt jeden Herzschlag, als wäre er ihr eigener. Eine Stille liegt über ihnen, bevor sie den großen Saal erreichen – eine weitläufige unterirdische Kammer, deren Decke von gusseisernen Trägern gestützt wird. Ranken aus Rost überziehen die Wände, und von irgendwo tropft Wasser im steten, monotonen Rhythmus.

Im Zentrum des Raumes erhebt sich ein runder Steinaltar, auf dem bereits Blutgefäße in alten Messingbechern stehen. Meyra spürt, wie ihr Magen sich zusammenkrampft. Jeder Tropfen in diesen Bechern ist die Essenz unzähliger Leben. Manche sind sorgfältig vorbereitet – eine Mischung von Adrenalinkick und Furcht, die den Geschmack veredelt. Andere stammen von flüchtigen Opfern, die erst kürzlich in den Gassen ihr Ende fanden. Wieder andere stammen von Menschen, deren Lebensberechtigung auf dieser Welt aus bestimmten Gründen endete.

Lord Sebastian erhebt seine Hand, und augenblicklich legt sich Schweigen auf die Versammlung. Sein Blick ruht auf Meyra, und sie fühlt sich, als wäre sie in seinem Zentrum, als müsse sie sich erklären für jeden Tropfen Blut, den sie getrunken hat.

„Meyra“, sagt er mit sonorer Stimme. „Wir haben deinen Namen zur Wahl des Eides berufen. Bist du bereit, dich zu unserer Sache zu bekennen?“

Ein kalter Schauer jagt Meyra über den Rücken. Ein Eid besiegelt ihre Loyalität, bindet sie an die Intrigen und Machtspiele ihrer Sippe. Wer sich weigert, wird verstoßen – oder schlimmer. Und doch ist dieser Eid zugleich ihr Schutz, ihr Platz in dieser Familie. In dem Moment, in dem sie sich weigert, verliert sie alles.

Sie tritt vor den Altar. Ihr Spiegelbild tanzt flackernd in den rostigen Wänden, gezeichnet von Blut und Schuld. Mit bebender Stimme spricht sie.

„Ich bin Meyra von der Linie der Nachtwächter. Ich verneige mich vor Lord Sebastian und verspreche, seinen Willen zu erfüllen und die Ehre unserer Familie zu wahren, solange das Blut in meinen Adern pulsiert.“

Ein Murmeln geht durch die Menge, als Meyra ihre Hand auf das kühle Messingbecken legt. Das Blut in ihr kocht, und sie spürt, wie etwas Dunkles in ihr erwacht – eine Macht, die älter ist als sie selbst. Sie schluckt die Furcht hinunter und hebt den Blick.

Lord Sebastian nickt, und mit einem kaum merklichen Zeichen seines Daumens schneidet er sich den Finger. Ein scharfer Schmerz, der ihn jedoch kaum zu berühren scheint. Ein Tropfen rot glänzenden Lebenssafts trifft das Pergament auf dem Altar, unterzeichnet den Eid mit unauslöschlicher Tinte. Dann bietet er das Blut Meyra dar.

Sie zögert nur einen Augenblick, ehe sie nickt und von der Hand des Patriarchen trinkt. Ein Funke durchzuckt sie, schickt Wärme durch jede Zelle. Dieser Schluck ist kein Hunger, er ist Verpflichtung, Ermächtigung und Kette zugleich.

Als sie den Becher zurückgibt, ist ihr Blick klarer, entschlossener. Sie spürt die Blicke der Anderen auf sich ruhen – Neid, Respekt, Misstrauen. Doch sie fühlt auch die Woge der Macht, die in ihr gärt, und die Erkenntnis, dass sie, obwohl sie ihre Bestimmung verachtet, nie wieder ein gewöhnliches Leben führen kann.

Der Patriarch wendet sich an die Versammlung.

„Die Nacht ist jung, und unser Festmahl erwartet uns. Geht hinaus, sucht die Seelen, die uns nähren. Und kehrt zurück mit Geschichten von Angst und Blut.“

Ein kollektives Raunen erhebt sich, und die Vampire zerstreuen sich in alle Richtungen, um ihr Verderben unter die Menschen zu tragen. Aveline und Lucinda schließen sich Meyra an, und gemeinsam treten sie aus dem Eingang des Tunnels in die frische Nachtluft.

Die Gassen Londons erstrecken sich vor ihnen wie ein Netzwerk aus Möglichkeiten. Meyra fühlt, wie der Durst sie erneut krümmt, stärker als zuvor.

Doch sie ist bereit. Bereit, in die Dunkelheit zu tauchen, bereit, ihr Schicksal anzunehmen – so heimtückisch es auch sein mag.

Sie hebt den Blick und spürt den Pulsschlag der Stadt unter ihren Füßen. Und während die ersten Schatten in den Ecken verschwinden, macht Meyra den ersten Schritt in eine lange, dunkle Nacht voller Verrat, Leidenschaft und Blut.

Kapitel 3 - Erste Begegnung

Der nächtliche Wind zerrt an Meyras Mantel, als sie am Rand der belebten Landstraße hockt, verborgen im Schatten eines ausgebrannten Lieferwagens. Die Scheinwerfer vorbeiziehender Autos blitzen über das zerbeulte Metall, werfen zuckende Lichtreflexe über das nasse Pflaster. Das Dröhnen der Motoren, das beständige Rauschen der Reifen auf regennasser Fahrbahn – all das vermischt sich zu einem dumpfen Chor, der ihr durch die Schläfen hämmert.

Sie hockt regungslos da, kaum ein Atemhauch verlässt ihre Lippen. Die Nacht ist feucht, der Geruch von Öl, Abgas und Moder kriecht durch die Luft. Irgendwo, hinter ihr, röhrt ein Motorrad auf, das viel zu schnell an ihr vorbeischießt. Meyra zuckt nicht. Ihre Augen folgen den Scheinwerfern, bis sie in der Ferne verschwinden.

Ihr Blick flackert. Hunger brennt wie glühende Kohlen unter ihrer Haut, direkt unter der Oberfläche. Seit zwei Nächten hat sie nicht mehr getrunken – nicht richtig. Ein paar Tropfen von einem Straßenräuber in Whitechapel, kaum mehr als ein Vorgeschmack, der ihren Durst nur noch mehr entfacht hat. Ihre Fänge drücken gegen das Zahnfleisch, bereit, sich durch Haut zu bohren. Sie presst die Lippen zusammen, starrt hinaus auf die Straße.

Ein silberner BMW fährt langsam vorbei. Drinnen sitzt lachend ein Paar. Musik wummert durch die Scheiben. Lebenslust, so leicht, so achtlos. Meyra neigt den Kopf zur Seite, riecht für einen winzigen Moment das Blut, das unter ihrer Haut pulsiert.

Doch sie greift nicht an. Noch nicht. Ihre Finger klammern sich an die scharfkantige Stoßstange hinter ihr, als wollte sie sich an etwas festhalten, das sie vor sich selbst bewahrt.

Der Hunger schmerzt. Er denkt nicht, er argumentiert nicht. Er ist.

Sie kneift die Augen zusammen, zwingt sich zur Ruhe. Die Landstraße ist keine Jagdzone. Zu viele Zeugen. Zu viel Licht. Zu viel Lärm. Und zu wenig Schutz, sollte etwas schiefgehen.

Ein anderes Auto bremst abrupt auf der Gegenfahrbahn. Meyra richtet sich leicht auf, ihre Sinne hellwach. Zwei Männer steigen aus, streiten laut auf dem Seitenstreifen, nur eine Armlänge von ihrem Versteck entfernt. Einer von ihnen ist jung, durchtrainiert, sein Puls hämmert so deutlich, dass sie ihn fast schmecken kann.

Sie lehnt sich zurück in den Schatten, verharrt dort wie eine Statue. Ihre blauen Augen glimmen kurz im Dunkeln, ein verräterischer Schimmer, den nur jene sehen könnten, die wissen, wonach sie Ausschau halten.

Doch niemand sieht sie. Niemand bemerkt das Mädchen im Mantel, das zwischen Müllsäcken und rostigem Altmetall kauert.

Sie beißt sich auf die Innenseite der Wange. Schmeckt Blut. Eigenes.

Ein Teil von ihr will aufspringen, will jagen, will endlich trinken, bis das Brennen versiegt. Doch der andere Teil – der menschliche, oder das, was davon noch übrig ist – hält sie zurück. Es ist diese Zerrissenheit, die sie in den Wahnsinn treibt.

Plötzlich ein lautes Quietschen von Reifen. Zwei Autos. Ein Aufprall, metallisches Krachen, Splittern, ein dumpfer Aufschlag.

Meyras Kopf fährt herum. Nur zwanzig Meter entfernt: Ein Unfall. Ein Auto schleudert quer über die Fahrbahn, rammt beinahe die Leitplanke. Das andere, ein schwarzer SUV, zieht ohne zu bremsen davon, die Rücklichter blinken rot im Rückspiegel der Nacht.

Meyra springt auf. Ihre Sinne überschlagen sich. Der Geruch von frischem Blut schlägt ihr ins Gesicht wie eine Faust.

Instinkt und Menschlichkeit stoßen in ihr zusammen wie zwei Züge auf offener Strecke.

Sie läuft los. Hin zum zerstörten Wagen. Hin zum Blut.

Meyra spürt, wie ihr Herz schneller schlägt, während sie einen jungen Mann, offenbar schwer verletzt, mit letzter Kraft aus dem stark verbeulten Wagen zieht. Der Gestank von Metall und Benzin beißt in ihren Nasenflügeln, doch sie nimmt ihn kaum wahr. Ihr Blick haftet auf dem reglosen, blutüberströmten Körper des jungen Mannes. Seine dunklen Haare kleben an der Schläfe, wo eine schwere Wunde klafft. Sie trägt ihn in einen schmalen Seitenweg, wo das diffuse Licht einer fernen Straßenlaterne ihn nur schwach ausleuchtet. Ihr Durst peitscht in ihrem Innern – ein heißer, rasender Sturm –, doch etwas hält sie zurück, wie ein unsichtbarer Keil, der Verlangen und Hemmung unversöhnlich voneinander trennt.

Sie setzt den Mann behutsam auf den feuchten Grasboden des Grabens. Seine Augenlider flattern, und Meyra beugt sich vor, legt ihre Hand sanft an seine Wange. Ihr Herz dröhnt in ihren Ohren.

„Bleib bei mir“, flüstert sie, obwohl sie weiß, dass er sie nicht hört. Vorsichtig nimmt sie sein Gesicht in beide Hände, starrt in seine dunklen, schlaftrunkenen Augen. Er stöhnt leise, atmet schwer, und in dieser Atembewegung liegen so viel Schmerz und Leben, dass Meyras Entschlossenheit zäh wie Stahl wird.

Der Verkehr rauscht vorbei, als wäre nichts geschehen. Ein greller Scheinwerfer erfasst sie beide für einen Herzschlag, dann huschen die Wagen weiter. Niemand bemerkt die junge Vampirin und ihr Opfer. Niemand fragt, ob Hilfe nötig ist. Meyra schaut sich um – keine Menschenseele außer dem Verletzten und ihr selbst.

Sie öffnet eine Handtasche, die sie erst vor Kurzem einer ahnungslosen Studentin abgenommen hat, und holt ein paar Verbandsutensilien heraus: steril in silberner Folie verpackte Mullbinden, Desinfektionstücher, eine Schere. Mit erstaunlicher Routine reinigt sie seine Wunde, tupft den Rand ab, bevor sie einen Mullverband anlegt. Jeder Handgriff ist präzise, doch ihre Gedanken rasen. Für einen Moment überlegt sie, ob sie einfach trinken soll. Die Versuchung ist unbarmherzig, das Pochen in ihrem Halsschlag pulsiert förmlich. Aber sie hält inne. Ein leises, fremdartiges Gefühl von Verantwortung steckt dazwischen, ein winziger Funke Menschlichkeit, den sie längst verloren geglaubt hat.

Der junge Mann öffnet die Augen, stiert sie an, als müsse er sich vergewissern, dass er träumt. Sein Blick hängt an ihrem Gesicht – so klar, so schön, und doch das Antlitz des Todes selbst, so blass und unnahbar. Meyra lächelt zaghaft.

„Du bist in Sicherheit“, sagt sie mit ruhiger Stimme. „Mein Name ist…“ Sie überlegt einen Augenblick. Immer wenn sie lügt, spürt sie, wie ihr Blut pulsiert, als suche es die Wahrheit. „Mein Name ist Marian.“ Sie verabscheut das Wort, und doch flüstert sie es ihm zu, als sei es ihr echter Name. „Ich helfe dir, ins Krankenhaus zu kommen. Gleich ist ein Krankenwagen da.“

Sie wirkt so überzeugend, dass der Mann für einen Moment nickt, obwohl sein Blick fragend bleibt. Sein Atem kommt in stoßweisen Zügen.

„Kieran“, rauscht es heiser, als er mit zittriger Stimme seinen Namen stammelt. Sein Körper zuckt, die Augenlider flattern, und er schließt die Augen wieder.

Meyra richtet sich auf.

„Kieran“, wiederholt sie, als spreche sie mit einem Kind, „halte durch, ok?“

Im nächsten Moment hört sie Sirenen, fern und doch nah. Innerlich atmet sie auf und gleichzeitig zieht sich ihr Magen zusammen. Ein Krankenwagen bedeutet Ärzte, Licht, Erkennen. Sie darf nicht zulassen, dass ihre Identität aufgedeckt wird. Die Sirenen hallen lauter, schlagen gegen die Mauern der Gasse. Ein Rettungswagen biegt um die Ecke und gleitet zum Unfallort. Die Türen springen auf, Notfallsanitäter eilen mit Tragen und Gerätschaften herbei.

Meyra vergräbt ihr Gesicht in Kierans Nacken. Ein letzter Versuch, sein Blut zu spüren, sein Herz zu schmecken. Doch dann zwingt sie sich zurück, wischt sich den Mund mit dem Ärmel ab, als wäre dort nichts gewesen. Die Sanitäter kommen näher. Die grellen Blinker tauchen die Szene in rotes und weißes Licht.

„Was haben wir hier?“, fragt eine Sanitäterin, als sie Kieran sieht und ihre Kollegin hastig die Decke herunterzieht.

„Ein verletzter Insasse eines der Unfallwagen“, antwortet Meyra mit fester Stimme. „Er ist bewusstlos, ich hab’ mich darum gekümmert, bis ihr da wart.“

Die Sanitäter beurteilen seine Verletzungen, legen ihm einen Halskragen an und heben ihn behutsam auf die Trage. Meyra bleibt neben ihnen, stützt einen Arm unter seine Kniekehlen.

„Kann ich mitfahren ins Krankenhaus?“ Sie versucht, so menschlich zu klingen wie möglich.

Die Sanitäter tauschen Blicke.

„Wir haben genug Personal“, sagt einer vorsichtig. „Aber wenn Sie möchten, können Sie mit uns im Wagen sitzen – zur Beruhigung des Patienten.“

Erleichtert nickt Meyra. „Danke.“

Sie steigt behutsam in den Rettungswagen, setzt sich neben Kieran auf die linke Seite. Das Innere des Wagens ist grell beleuchtet, mit all den Geräten und leuchtenden Anzeigen wirkt es wie eine andere Welt. Meyra spürt, wie ihr Blick von jeder Lampe angezogen wird – Equipment für Reanimation, Sauerstoffmasken, Monitore. Alles Mittel, mit denen menschliches Leben gerettet wird. Ein Akt, den sie niemals erleben dürfte, und doch ist sie gerade Zeugin davon.

Die Türen schließen sich, und der Wagen fährt los. Meyra legt eine Hand auf Kierans Schulter. Er rührt sich nicht, der Helm des Halskragens schränkt seine Bewegung ein. Sie atmet aus, ihr Durst pocht hinter ihren Wangen, doch sie konzentriert sich darauf, die Krankenschwestern und Sanitäter nicht misstrauisch zu machen. Sie nickt, als einer der Sanitäter fragt: „Hatten Sie den Unfall gesehen?“

„Ja“, sagt sie wahrheitsgemäß. „Ich kam aus diesem Tunnel hier…“ Sie deutet in Richtung Unterführung. „… als ich den Knall hörte.“

„Gut. Bleiben Sie bitte bei uns“, sagt die Sanitäterin. „Wir brauchen Ihre Aussage.“

Meyra nickt. Sie weiß, dass sie später alles erfinden muss, damit ihre Lüge kohärent bleibt. Gerade als der Gedanke an die Schichten von Lügen sie zu erdrücken droht, spürt sie einen leichten Griff an ihrem Arm. Ein junger Sanitäter, kaum älter als sie selbst, schaut sie mit warmen Augen an.

„Sind Sie in Ordnung?“, fragt er.

„Ja, danke.“ Meyra lächelt unsicher, und in diesem Lächeln liegt so viel Krankheit und Verlangen, dass ihr selbst unwohl dabei wird. Wieder spürt sie Kierans Körper neben sich und den Drang, ihn als Nahrung zu sehen. Aber der Mann hier, dieser fremde Sanitäter, hätte sie sofort durchschaut. Nein, sie muss anders handeln – sie muss ihn retten, nicht verspeisen.

Der Krankenwagen rauscht durch die leeren Straßen Londons, vorbei an schlafenden Häusern und erleuchteten Schaufenstern. Meyra beugt sich über Kieran, beobachtet seine blassen Wangen, die blutgetränkten Verbände. Ihr Blick verharrt auf dessen Pulsader am Hals, als spräche sie im Geheimen eine Warnung aus: „Sei stark. Ich halte dich am Leben.“

Im Krankenhaus fluten grelle Neonlichter den Flur, als die Sanitäter Kieran hinein tragen. Meyra folgt ihnen und weist auf die Anmeldung.

„Er kam von einem schweren Autounfall.“

Zwei Krankenschwestern nehmen ihn entgegen, ziehen ihn behutsam in den Behandlungsbereich. Ein Arzt tritt hervor, mustert sie kurz.

„Wer sind Sie?“

„Marian“, sagt sie, und als sie das Wort ausspricht, bemerkt sie zum ersten Mal, wie fremd es sich auf ihrer Zunge anfühlt.

Der Arzt nickt.

„Bleiben Sie bitte gleich hier.“ Er verschwindet im Behandlungszimmer.

Meyra steht im Flur des Krankenhauses, allein zwischen grünen und weißen Wänden, an deren Ende gedämpfte Schreie und Piepsen von Maschinen ertönen. Sie fühlt, wie die Nachtarbeit in ihren Gliedern nach Schlaf verlangt. Aber sie darf nicht schlafen – nicht hier. Nicht, solange Kierans Herz in diesen Krankenhauskasematten schlägt.

Sie lehnt sich gegen die Wand, schließt für einen winzigen Moment die Augen. Ihr Durst brüllt wie wild, doch sie zwingt sich zur Beherrschung, unterdrückt den Drang, hinabzustürzen und Kierans Blut zu kosten. Weil sie mehr will als Nahrung. Sie will Antworten. Sie will wissen, warum gerade er sie aus der Masse heraus blockiert, warum der Anblick seines chronisch verletzten Körpers ihr ein merkwürdiges Gefühl von Schutzpflicht gibt.

Ein leises Piepen lässt sie aufspringen. Eine Krankenschwester tritt aus dem Behandlungszimmer, trägt einen Tablet-Computer und blickt Meyra mit ernsten Augen an.

„Der Patient ist stabilisiert, aber wir müssen Blutkonserven übertragen. Können Sie uns Auskunft geben, ob er Allergien hat?“

Meyra zögert. Eissplitter durchbohren ihre Brust: Eine Allergie lässt sich in einer Akte nachschauen. Eine Allergie erfordert einen Namen, eine Krankenakte. Fallstricke überall. Sie beißt sich auf die Lippe.

„Ich weiß es nicht“, flüstert sie. „Er hat mir nur gesagt… Ich weiß nichts.“

Sie zuckt mit den Schultern, um ratlos zu wirken.

Die Krankenschwester runzelt die Stirn.

„Gut, wir nehmen erst mal Standardkonserven.“ Sie tippt etwas in ihr Tablet und verschwindet wieder.

Meyra atmet tief durch. Für einen Moment ist sie erleichtert. Dann begreift sie, wie gefährlich diese Lüge ist. Ärzte und Schwestern haben Protokolle, verbessern eine Akte mit jedem Schritt. Sie kann nicht ewig hier bleiben.

Sie streicht sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Ein schwacher Versuch, menschlicher zu wirken. Dann wendet sie sich um, taucht in den Flur ab und entfernt sich leise. Jeder Schritt ist schwer, als spüre sie den Widerstand der Realität. Schließlich erreicht sie das Treppenhaus. Sie nimmt schnell eine Treppe, einen weiteren Flur, bis sie außerhalb des Patientenbereichs ist.

Draußen im Eingangsbereich atmet sie die kühle Nachtluft ein, als hätte sie Jahre nicht geatmet. London schläft weiter, ahnungslos, was sich in den Katakomben seiner Kliniken verbirgt. Meyra lehnt sich gegen eine Säule, zieht ihren Mantel enger um sich. Ihr Durst trommelt ungeduldig in ihrem Innern. Körniges Unbehagen kriecht in ihre Adern, als wüsste sie um die drohende Versuchung.

Sie weiß nun, dass sie zurückkehren muss. Immer und immer wieder. Jeder Tag, jede Nacht wird sie zu Kieran kommen, jedes Mal kämpfen müssen gegen den Drang, sein Blut zu kosten. Und er – er wird sie nicht mehr „Marian“ nennen. Er wird nach ihrem wahren Namen fragen, vielleicht nach ihrer Geschichte. Fragen, auf die sie keine Antwort hat. Fragen, die sie nicht beantworten darf.

Doch eine Stimme in ihrem Kopf flüstert: „Du musst es tun. Nur so kannst du ihn beschützen. Nur so bewahrst du dir einen Rest Menschlichkeit.“

Meyra hebt den Blick. Über der Front des Krankenhauses leuchtet eine Leuchtschrift: „St. Bartholomäus Medical Center“. Ein Tempel des Lebens inmitten einer Stadt, die gleichzeitig Orte des Todes birgt. Sie schließt die Augen, atmet aus.

Ihre Entscheidung steht fest. Sie wandert durch die dunklen Straßen zurück zu den Tunneln, die sie in die Tiefen Londons führen. Dort ist sie zu Hause. Dort schlägt ihr Herz – das Herz einer Kreatur, die gleichzeitig Hüterin und Rächerin ist.

In ihren Adern pocht das Blut von unzähligen Opfern, doch in dieser Nacht wird sie erneut Zeugin sein, was es heißt, Blut nicht nur zu nehmen, sondern zu erhalten. Und während die grauen Steine der Metropole an ihr vorüberziehen, weiß Meyra, dass sie ihr Schicksal neu schreibt: nicht nur als Nachtwächterin, sondern auch als Beschützerin des Lebens. Denn in einem Menschen, der gerade dem Tod von der Schippe gesprungen ist, hat sie etwas gesehen, das jenseits aller Finsternis liegt – eine Hoffnung, die selbst ein Vampir bewahren kann.

Und so beginnt ein neues Spiel, dessen Regeln sie selbst noch schreiben muss. Die Straßen Londons schlängeln sich vor ihr, dunkel und geheimnisvoll, und Meyra tritt in die Nacht hinaus – ein Schatten unter Schatten, ein Wächter im Geiste einer Bestie, bereit, ihr eigenes Gesetz zu finden.

Kapitel 4 - Meyras andere Seite

Meyra öffnet die knarrende Tür zu ihrer Dachgeschosswohnung und tritt in den schmalen Flur. Das winzige Zimmer dahinter ist hoch, das Dach schräg, die Wände in hellem Weiß gestrichen. Zwischen Bücherregal und kleinem Sofa steht ein abgewetzter Schreibtisch, auf dem ihr Laptop, einige Notizbücher und ein halbleerer Tee-Becher um Aufmerksamkeit buhlen. Eine kleine Küchenzeile verbirgt sich hinter einer halbhohen Trennwand, und der einzige Blick aus dem Raum führt durch ein winziges Dachfenster, das auf die Dächer der Altbauten hinauf und über die Straße hinweg blickt.

Meyra schließt die Tür leise hinter sich, lässt den Rucksack mit ihren Vorlesungsunterlagen auf den Boden sinken und streicht sich eine blonde Strähne aus dem Gesicht. Die Sonne steht bereits tief – es ist früher Nachmittag. Sie spürt den leichten Drang, die Augen zu schließen und für einen kurzen Moment auszuruhen, aber sie zwingt sich, wach zu bleiben. Keine Müdigkeit, kein Schwächegefühl darf an ihr haften bleiben. Sie ist, wie jeder andere Student auch, auf volle Fitness und Disziplin angewiesen.

Im Wohnzimmer holt sie ihr Smartphone aus der Tasche. Ein Dutzend Nachrichten von Kommilitonen leuchten auf dem Display.

„Treffen im Café um 15 Uhr?“, fragt Jonas.

„Group run um 17?“, tippt Lara gleich darunter.

Meyra lächelt und tippt zurück: „Klingt gut – ich bin dabei.“

Ihr Daumen zögert auf der Senden-Taste, als sie eine Sekunde lang an Kieran denken muss, an sein blutüberströmtes Gesicht in der Gasse. Ein tiefer Schluck Drang steigt in ihr hoch – doch sie unterdrückt ihn.

Sie stellt eine Teetasse in die Spüle, wirft den Becher weg, räumt hastig die frisch gewaschene Wäsche in einen Korb. Alles muss unauffällig sein, kein Tropfen Blut an ihren Fingern, kein Greiseln in ihrem Blick, das andere misstrauisch machen könnte. Sie atmet tief ein, richtet die Schultern, streicht über ihre schwarze Lederjacke und öffnet den großen Rucksack. Bücher, Hefter, ein USB-Stick und ihre Uni-Plane liegen ordentlich darin.

Pünktlich um 15 Uhr verlässt sie die Wohnung. Der Hausflur riecht nach altem Holz und frischem Regen, den die Dächer gerade abgeleitet haben. Sie tritt in den sonnendurchfluteten Hinterhof, hebt kurz den Blick zu den Drahtantennen, die wie Spinnweben im Licht flimmern, und folgt dem schmalen Treppenaufgang zur Straße. Unterwegs grüßt sie eine ältere Dame, die den Müll herunter trägt. Ein freundliches „Guten Tag“ – ebenso routiniert wie die Tarnung, die sie ihr Leben überlegt hat.

Das Café ist nur drei Straßen weiter. Sie schlendert an imposanten Sandsteinhäusern vorbei, die ihre lange Geschichte Londons erzählen, während moderne Fahrradständer und Elektro-Scooter den Bürgersteig blockieren. Menschen hasten an ihr vorbei: Büroangestellte, Schüler, junge Paare, ältere Herren mit Zeitung unter dem Arm. Keiner ahnt, dass hinter diesen blonden Locken Jahrhunderte lauern, dass unter diesem zarten Gesicht eine Kreatur schlummert, die seit Jahrhunderten in den Schatten wandert.

Im Café schimmert das Tageslicht durch große Scheiben. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee mischt sich mit süßer Vanille und knusprigem Geruch von Croissants. Meyra nickt der Barista zu, die sie schon kennt, bestellt wie immer einen doppelten Cappuccino mit Hafermilch und eine Kleinigkeit – heute ein Stück Zitronenkuchen. Die Verkäuferin lächelt und wirft kein zweites Mal einen Blick auf Meyras blasses Gesicht.

An einem der Holztische wartet schon die Runde: Jonas in Sportkleidung, Haar zu einem unordentlichen Dutt gebunden; Lara in Jeansjacke, Smartphone am Ohr; Nathan mit Skizzenbuch, Augen leuchtend vor Neugier. Sie grüßen sie herzlich, und Meyra setzt sich in die Mitte, faltet die Hände auf dem Tisch.

„Was steht an?“, fragt sie.

Jonas nimmt einen Schluck aus einer Edelstahlflasche.

„Wir wollen nachher ein paar Runden im Park drehen. Aber erst besprechen wir die Präsentation für morgen.“

Meyra nickt, zieht ihr Notizbuch hervor. Ihr Herz klopft kurz schneller – morgen steht ein wichtiger Vortrag im Fach Literaturwissenschaft an. Sie hat ganze Nächte in staubigen Bibliotheken verbracht, alte Handschriften studiert und einen roten Faden durch Shakespeares späte Dramen gezogen. In ihrer Stimme klingt unmerklich Leidenschaft, wenn sie von den Motiven der Vergänglichkeit spricht. Ihre Kommilitonen hören begeistert zu, stellen Fragen, und sie antwortet präzise, eloquent. Niemand vermutet, dass sie sich ihre Energie nicht aus Kaffee holt, sondern aus einer Quelle, die weit dunkler ist.

Als die Diskussion abflaut, erhebt sich Lara und reißt die Café-Tür auf.

„Kaffee macht müde Geister munter“, ruft sie. „Lauter frische Luft gefällig?“

Sie schlendern hinaus auf den Bürgersteig. Meyra folgt ihnen, nimmt noch einen Schluck vom Cappuccino, spürt das warme Aroma auf der Zunge. Fast könnte sie vergessen, dass sie eine Vampirin ist. Fast.

Der Nachmittag verläuft routiniert: Sport im nahen Park, lockeres Joggen, Dehnübungen im Schatten hoher Eichen, dann ein gemeinsames Gelächter über einen lustigen Trikot-Fail von Jonas. Meyra spürt das Glücksgefühl, das in der Bewegung liegt, das Pulsieren in den Muskeln – und gleichzeitig registriert sie scharf jedes Zittern in ihrem Körper, das Verlangen, das hinter jeder Pore pocht. Sie greift nicht zu, sie beißt nicht zu, aber der Durst ist immer da, latent wie ein Nebel.

Gegen Abend trennt sich die Gruppe. Sie verabschieden sich herzlich. Jonas schlägt vor, dass sie alle am Wochenende ein Picknick im Park machen. Meyra lächelt und nickt. Dann kehrt sie in ihre Dachgeschosswohnung zurück, lässt die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

Oben angekommen legt sie die Sportkleidung über den Stuhl und schlüpft unter die schräge Decke auf ihr kleines Bett. Sie streckt die Beine aus, das Kopfkissen drückt warm gegen den Nacken. Ein Blick auf die Uhr – 20:30 Uhr. Die Straßen werden ruhiger, die Restaurants leeren sich. Bald wird sie sich erneut verwandeln, wenn der Glockenschlag Mitternacht verkündet.

Aber jetzt, im Dämmerlicht ihres gemütlichen Verstecks, ist sie einfach Meyra, Studentin, Kommilitonin. Niemand ahnt, dass sie in einer Stunde wieder jagen muss, dass das Café, der Park, die Studienkollegen nur Nebel sind, mit dem sie ihr wahres Leben verschleiert. Sie nimmt ein altes, in Leder gebundenes Notizbuch vom Regal – Tagebucheinträge aus Kindheitstagen, mit ihrer Mutter, im Sommer in Südfrankreich, lächelnd in der Sonne. Tränen steigen ihr in die Augen, doch sie verschwinden im Schatten der Erinnerung, bevor sie den Schmerz fühlt.

Stattdessen steht sie auf, zieht die Vorhänge vor das Dachfenster und greift zum Rucksack. Eine schwarze Maske, ein paar Handschuhe, eine kleine Taschenlampe und eine schmale Ledertasche, in der sich ein Edelstahlmesser und steriles Verbandsmaterial befinden – ihr vertrautes Jagd-Equipment. Dann noch ein langärmliges Shirt, um Blutspuren zu verbergen. Sie prüft alles mit geübten Fingern, verhüllt die Tasche, wirft sich die Jacke über die Schultern.

Sie wirft einen letzten Blick auf den Laptop-Bildschirm, wo eine eingehende Mail vom Uni-Portal aufblinkt.

„Deadline für die nächste Hausarbeit: Freitag.“

Sie tippt eine schnelle Antwort in ihr Notizbuch, notiert eine Erinnerung im Handy. Alles besorgt und geplant – so wie ihr ganzes Leben durchorganisiert ist.

Gegen 23:45 Uhr verlässt sie die Wohnung. Der Mond steht hoch über den Dächern. Meyra atmet die kühle Nachtluft ein und spürt, wie das Verlangen, das sie in der Wohnung noch unterdrückt hat, nun mit aller Macht erneut an die Oberfläche drängt. Sie schultert die Tasche, sieht sich in der dunklen Straße um und macht sich auf den Weg zurück in die Tunnel, die sie in die Tiefe führen – zurück in die Gassen, in denen Blut fließt.

Doch dieses Mal ist sie nicht allein. Sie denkt an Kieran, an den jungen Mann, dessen Leben sie gerettet hat. Die Erinnerung an sein bewusstloses Gesicht, an den ersten Blick, als er erwacht, sticht in ihrem Herzen wie ein Dolch. Er hat ihren Hunger gebremst, ihr einen Funken Empathie zurückgegeben. Sie darf ihn nicht vergessen. Sie muss zurückkehren und seine Anwesenheit sichern, ehe der Durst sie wieder zerreißt.

Mit entschlossenen Schritten verschwindet Meyra im Schatten der Altstadtgassen. Ihr Mantel weht hinter ihr her, als wäre er das Banner einer unsichtbaren Kriegerin. Im Licht der Gaslaternen funkeln ihre Augen, bereit für eine weitere Nacht zwischen zwei Welten – der einen, in der sie Mensch ist, und der anderen, in der sie die Bestie ist. Die Stadt atmet, die Dunkelheit pulsiert, und Meyra wandelt zwischen beidem, verborgen und doch überall präsent.

Der Wind flüstert durch die enge Gasse, wirbelt verblasste Papierfetzen empor und trägt das entfernte Rauschen der Stadt mit sich.

Meyra lehnt mit dem Rücken gegen die kühle Ziegelmauer, ihr Mantel schlägt leise im Nachtwind. Die Laterne hinter ihr wirft flackernde Schatten auf das feuchte Kopfsteinpflaster. Alles in ihr pocht, drängt an die Oberfläche – der Durst, unstillbar, Urgestein schwer. Sie schließt die Augen, atmet langsam ein und konzentriert sich auf den pochenden Herzschlag in ihrer Brust.

Langsam spannt sie ihre Hände, die Finger beben. Ein kaum hörbares Knistern zieht durch ihre Adern. In der Dunkelheit glimmen die Spitzen ihrer Nägel, als würden Funken zischen. Meyras Haut kribbelt, ihre Sinne schärfen sich. Geräusche, die sonst unbedeutend verhallen, werden zu klaren Botschaften: das Tropfen von Wasser aus einer undichten Regenrinne, das ferne Klirren einer geöffneten Ladentür, das atemlose Rauschen eines vorbeieilenden Fußgängers. Ihre Sicht weitet sich, jede Bewegung ein Fraktal aus Licht und Schatten.

In den alten Chroniken ihres Clans, tief verborgen in einem abgenutzten Folianten aus vergilbtem Pergament, steht geschrieben, dass ein Vampir, dessen Blut von der uralten Macht seiner Ahnen durchflutet wird, manchmal den so genannten Ghulzustand erreicht – im Dialekt ihrer Vorfahren „Mākir“ genannt. Sobald diese Verwandlung einsetzt, verliert das Wesen seine kühle Eleganz und kontrollierte Grazie, die Vampire auszeichnet. Stattdessen wuchern in ihm die archaischen Instinkte vergangener Jahrtausende: die reine, unbändige Lust am Jagen und Trinken, bis alles Leben ausgesogen ist.

Der Clan hat die Ghuls einst als „Verwahrer der Jägerkräfte“ gepriesen, eine Elite, die in Kriegszeiten gegen feindliche Mächte ausgesandt wurde. Sie schlichen heimlich hinter die feindlichen Linien, sammelten Nachrichten und beseitigten Gegner, ohne Fragen. Doch nach den großen Kriegen wurde der Ghulzustand als zu unberechenbar gefürchtet und streng verboten.

Ein Tribunal aus den Ältesten schrieb unumstößliche Gesetze. Nie an Unschuldigen trinken: Nur das Blut von Mördern, Verrätern oder jenen, die durch das Blutrecht „schuldig“ gesprochen wurden, darf ein Ghul kosten. Keine Spuren hinterlassen: Ein Ghul darf niemals eine Szene in blutiger Raserei zurücklassen. Fleischreste, zerkratzte Wände oder zerschmetterte Glieder verraten seine Existenz und ziehen die Jäger des Ordens an. Kontrolle wahren: Ein Ghul muss stets zur Vernunft zurückfinden, bevor das Tier in ihm die Oberhand gewinnt. Ein Erfolg oder Scheitern in dieser Prüfung entscheidet über das Fortbestehen im Clan.

Meyra kennt diese Regeln und trägt sie in jeder Faser. Sie hat sie tausendmal rezitiert, als Mantra, um nicht zu verfallen. Doch heute — heute droht ihr der Verstand zu entgleiten. Ihr Durst brennt heißer als je zuvor.

Sie öffnet die Augen. Ihr Blick flackert rubinrot. Ein leises Knurren drückt sich in ihrer Kehle, während sich die Welt vor ihr neu formt. Ihr Gesicht verzieht sich, als würden unsichtbare Kräfte ihre Knochen neu ordnen: Die Wangenknochen wachsen, die Schläfen treten hervor. Ihre Ohren spitzen sich, und ein dünner Schleier aus silbrig schimmernden Schuppen legt sich über ihre Haut. Jeder Muskel spannt sich, als wäre ihr Körper auf explosive Kraft programmiert.

In dieser Gestalt ist sie schneller, stärker, schärfer – ein Geschöpf zwischen Welt und Albtraum. Die Gasse dehnt sich, wird zum Amphitheater ihrer Sinne. Doch bevor sie losstürmen kann, durchzuckt ein lauter Aufschrei die Stille.

Ein Paar — jung, verliebt, unachtsam — gerät in dieser einsamen Seitenstraße aneinander. Meyra beobachtet, wie ein Mann eine Hand an den Kragen seiner Freundin legt. Er stößt sie gegen die Wand, die dunkle Lederjacke der Frau reißt, als der Schlag seines Ellbogens gegen ihre Seite knallt. Ein dumpfes Stöhnen, der Körper der Frau wankt, verliert das Gleichgewicht. Die Hand des Mannes schließt sich um ihren Hals, hebt ihn bedrohlich. Die Frau bäumt sich auf, versucht, seine Hand abzustreifen, die Augen weit vor Angst.

Instinktiv richtet sich Meyra auf. Die rote Flamme der Gier lockt sie, presst den Magen zusammen, treibt einen Hunger an, der keine Vernunft kennt – doch ein Teil von ihr, so klein und menschlich, schreit, dass sie eingreifen muss. Ein Ghul flößt Angst ein, doch sie ist kein Monster, das blind tötet. Langsam tritt sie vor, setzt einen Fuß in die schwache Lichtkante der Straßenlaterne.

---ENDE DER LESEPROBE---