Michael Kleeberg - eine Werksbegehung -  - E-Book

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Beschreibung

Eine Entdeckungsreise durch das literarische Universum von Michael Kleeberg

Michael Kleeberg gehört zu den beeindruckendsten deutschsprachigen Schriftstellern unserer Zeit: Sein Werk verbindet radikal grandiose Erzähllust mit größtem Formbewusstsein, präzises Beschreiben mit größter Sensibilität, historische Tiefe mit sprachlichem Innovationswillen. Kleeberg geht immer ins Risiko: Seine Romane Ein Garten im Norden, Das amerikanische Hospital und der Karlmann-Zyklus spiegeln unsere Gegenwart und Vergangenheit, sezieren sie – erzählerisch virtuos und mutig.

Dieses Buch will dem Leser das literarische Universum des Michael Kleeberg eröffnen und behandelt Themen wie Erinnerungsorte, die Wissenschaftsrezeption in seinem Werk, Kleeberg und Proust, Generationen- und Geschlechterkonflikte, Raumerfahrungen und Krieg in Kleebergs Texten, den »Roman total«. Mit Beiträgen von Hugo Aust, Johannes Birgfeld, Michael Braun, Stephen Brockmann, Marion Dufresne, Caroline Frank, Wolfgang Frühwald, Lidwine Portes, Erhard Schütz und Harald Tausch. Ein spannender Vielklang zur Poetik des Autors – und zugleich eine grundlegende Reflexion über die literarische Gegenwart zu Beginn des 21. Jahrhunderts.

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Seitenzahl: 435

Veröffentlichungsjahr: 2014

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MICHAEL KLEEBERG

Eine Werksbegehung

Herausgegeben vonJohannes Birgfeld und Erhard Schütz

Deutsche Verlags-Anstalt

Inhalt

JOHANNES BIRGFELD / ERHARD SCHÜTZZur Einführung

Siglenverzeichnis

DURCHGÄNGE

WOLFGANG FRÜHWALDDas Schreckliche und das SchöneDer Erzähler Michael Kleeberg

JOHANNES BIRGFELDStories – Geschichten – BrevierÜberlegungen zu Michael Kleebergs Sammlungen kurzer Prosa

ERHARD SCHÜTZ»Was tust du angesichts der Monstrosität menschlichen Leidens?«Geschichte (und Krieg) in Michael Kleebergs Geschichten

LIDWINE PORTESMichael Kleebergs ErinnerungsorteEinblicke in eine deutsch-französische Vermittlung

MARION DUFRESNEAgonale KräftespieleStrategien der Konfliktbewältigung in Michael Kleebergs Romanen Ein Garten im Norden, Karlmann und Das amerikanische Hospital

STATIONEN

ALAIN COZICMichael Kleebergs Erzählungen Literatur und Realität

IRINA GRADINARIVom Lustmord zur TodeslustMasochistische Erzähltechniken in Barfußvon Michael Kleeberg

HUGO AUSTVorspiel Lebenslauf eines vielgewandten HeldenMichael Kleebergs Der König von Korsika

MICHAEL BRAUNFiktionales Erinnern in Michael Kleebergs Ein Garten im Norden

STEPHEN BROCKMANNMichael Kleebergs deutscher Garten

JOHANNES BIRGFELD»Ansonsten definiere ich […] den Roman […] als einen Versuch der Abbildung von möglichst viel Lebenstotalität« Überlegungen zu Michael Kleebergs Karlmann als literarisches Experiment

CAROLINE FRANK»Dahin dahin«Zur Bedeutung und Darstellung von Raum in Michael Kleebergs Das amerikanische Hospital

HARALD TAUSCH»Gibt es ein Leben außerhalb dieses Krankenhauses?«Das amerikanische Hospital

Auswahlbibliografie der Forschung zu Michael Kleeberg

Verzeichnis der Beiträger

Zur Einführung

Ein paar nüchterne Daten vorab: Michael Kleeberg, geboren am 24. August 1959 in Stuttgart, lebt nach längeren Auslandsaufenthalten, darunter von 1986 bis 1996 in Frankreich, in Berlin. Er ist Romancier, Erzähler, Essayist und Übersetzer aus dem Französischen und Englischen. Er ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, darunter der Anna-Seghers-Preis 1996, der Lion-Feuchtwanger-Preis 2000, Mainzer Stadtschreiber 2008, der Evangelische Buchpreis 2011 und der Saarländische Kinder- und Jugendbuchpreis 2012.

1984 debütierte er mit Erzählungen, die erkennbar von Hemingway beeinflusst waren, Böblinger Brezeln. Dem folgte der zunächst als Roman, in der späteren Taschenbuchausgabe dann richtigerweise als Erzählung bezeichnete Text Der saubere Tod (1987), der von spätadoleszenten Selbstkonzepten im damaligen Milieu von Berlin-Kreuzberg handelt. 1993 erschien der von der Kritik stark beachtete Roman Proteus der Pilger. Wie seine historische Vorlage, Christoph Martin Wielands Peregrinus Proteus, den er souverän aktualisiert, ist er ein virtuoses Spiel mit dem deutschen Entwicklungsroman, zugleich auch eine von ebenso geschmeidiger wie kräftiger Sprache geprägte ironische Milieu- und Mentalitätsstudie der 1970er/1980er Jahre.

Nach der Novelle Barfuß (1995), einer streng gebauten Studie zum taedium vitae und zur »Identitätsmüdigkeit« (Kleeberg) des westlichen Menschen – der verheiratete Mitinhaber einer Werbeagentur gerät aus gelangweilter Neugier unversehens in eine sadomasochistische, homosexuelle Hörigkeit –, erschien ein Band mit weltläufigen Erzählungen, Der Kommunist vom Montmartre (1997). Die wiederholt in Paris, aber auch in Berlin, Amsterdam oder Hamburg angesiedelten Geschichten führen von den 1930er Jahren bis in die Gegenwart. Sie erzählen ebenso vom Varietékünstler Luciano di Lammermoor, der seine Reise als Abgesandter der Pariser KP zum Friedensfest in Moskau als herausfordernde Schauspielrolle interpretiert, wie von den Menschenexperimenten der Nationalsozialisten und dem Überleben des Holocausts, porträtieren Stricher und Dealer, Werbemänner oder einen Jazzmusiker aus der DDR in den Mühlen der Wende von 1989 ebenso wie Absurditäten des deutschen Literaturbetriebs am Beispiel des Klagenfurter Ingeborg Bachmann-Wettbewerbs.

Ein entschiedener Durchbruch war dann 1998 der Roman Ein Garten im Norden. Die Kritik nahm ihn geradezu hymnisch auf, pries ihn als den »Roman der Berliner Republik« (Tilman Krause) und als »schönste[n] deutsche[n] Roman der letzten Jahre« (Mathias Greffrath). Inzwischen ist der Roman kanonisch zum einen für die Literaturgeschichte der jüngsten Gegenwart, zum anderen für das Genre des para- oder allohistorischen Romans. Er vereint die bis dahin wesentlichen Stränge von Michael Kleebergs Schreiben, nämlich intensive zeitgenössische Mentalitätsbeobachtung und die Rolle sexueller Leidenschaft und Obsession, mit einer historischen Tiefendimension, die ihn zu einem substanziellen Werk literarischer Reflexion deutscher Geschichte nicht nur des 20. Jahrhunderts werden ließen. Thematisch ist es nichts weniger als der »Versuch eines Gegenbuchs zu Thomas Manns Dr. Faustus«, nichts weniger als der Versuch, »dieses Werk ›zurückzunehmen‹, […] künstlerisch auf Augenhöhe, aber mit anderen Prämissen und einer anderen politisch-historisch-philosophischen Überzeugung, das ›Verhängnis‹ der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts zu analysieren und zugleich zu erzählen«, wie Kleeberg selbst 2013 im Rückblick die ambitionierte Konzeption des Romans zutreffend skizzierte. In Sprache und programmatischer Reflexivität, vor allem über die Bedeutung Frankreichs im deutschen ›Seelenhaushalt‹, in der Tradition Heinrich Manns stehend, ist Ein Garten im Norden sowohl Darstellung der unmittelbaren Situation in den Jahren nach 1989 als auch ein utopisch-alternativgeschichtliches Modell deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert. In der Laudatio zum Lion-Feuchtwanger-Preis wurde der Roman von Tilman Krause treffend für die darin gezeigte »Zivilcourage, Humor, Grazie, Helligkeit, Höflichkeit des Herzens« gerühmt.

Begleitet von zahlreichen Kritiken und Aufsätzen zur aktuellen kulturellen wie politischen Lage, erschien 2001 der historische Roman Der König von Korsika. Er erzählt in dichter chronistischer Nähe die wechselhafte Geschichte des westfälischen Abenteurers Baron Neuhoff, der de facto nur 1736, nominell aber sogar bis 1743 König von Korsika war, als Sozialisation in einer höchst bewegten, von prägenden Figuren und Ereignissen gesättigten Zeit, in der zugleich ein heute (wieder) aktueller Typus aufscheint.

Das 2004 vorgelegte Reisetagebuch aus dem Libanon, Das Tier, das weint, entwirft aus minutiöser Fremd- und Selbstbeobachtung, in unentwegter Bewegung zwischen gegenwärtiger Wahrnehmung, gemachten Erfahrungen und eingesammeltem Wissen, ein komplexes Bild der dortigen Kultur, des Betrachters selbst und darin explizit der Poetik seines Schreibens. Das Tagebuch zeigt ihn als einen bildungsbewussten, sensiblen und engagierten Intellektuellen, der sich vor entschiedener Stellungnahme keineswegs scheut. Vor allem zeigt es ihn als poetologisch hoch reflektierten Autor auf der Höhe modernen Schreibens, das seine Kriterien u. a. aus Thomas Mann, Giorgio Bassani, Claude Simon oder Thomas Pynchon, vor allem aber in der Auseinandersetzung mit Marcel Prousts epochalem Werk gewinnt: Kleeberg ist u. a. auch mit einer vielbeachteten Übersetzung Prousts hervorgetreten (Combray, 2002; Eine Liebe Swanns, 2004).

Der 2007 erschienene Roman Karlmann lehnt sich in der Konzeption als erster Teil einer Folge an John Updikes Rabbit-Tetralogie an. In Rhythmik und Dynamik der Syntax, aber auch in der Verknüpfung gedanklicher Ebenen zeigt er sich produktiv geprägt von eben den Proust-Übersetzungen. Sujet und Erzählverfahren sind indes höchst originär: In frei zwischen Er, Du, Ich changierender Erzählperspektive wird von je einem Tag der Jahre 1985 bis 1989 aus dem Leben von Karlmann (»Charly«) Renn erzählt, einem betont mittleren Helden: strahlende Hochzeit, Arbeit als Geschäftsführer eines Autohauses, außereheliche sexuelle Erprobung im Extremen, das Parkett der feinen Hamburger Gesellschaft, Zerbrechen der Ehe und Flucht nach Frankreich. In diesen fünf Stationen entfaltet Michael Kleeberg ein furios vorgeführtes gesellschaftliches wie mentales Panorama der bundesrepublikanischen 1980er Jahre. Vor allem jedoch lotet er das in seinen Konditionierungen und Konventionen, existenziellen Tiefen und Untiefen exemplarische Leben eines durchschnittlichen jungen Mannes aus, dem die metaphysischen Tröstungen der Kunst nicht zur Verfügung stehen. In kühler Beobachtung, aber zugleich mit großer Empathie erfasst, erscheint dieses Leben aber kaum weniger sensibel und differenziert als das intellektueller Protagonisten. Von der Kritik zum Teil enthusiastisch aufgenommen (»ein einzigartiges Buch, ein grandioser Roman«, Peter Körte) stellt er einen weiteren Höhepunkt in Michael Kleebergs literarischem Schaffen dar. Er summiert in variierenden Aufnahmen Elemente des bisherigen Werks, so die jugendlichen Allmachtsvorstellungen, die Suche nach Grenzsituationen im Sexuellen, vor allem aber die Beobachtungsschärfe gegenüber der zeitgenössischen Gesellschaft und deren Reflexion aus der Perspektive eines historisch gebildeten Bewusstseins. Die Fortsetzung dieses Romans erscheint unter dem Titel Vaterjahre im August 2014.

Diesem in jeder Hinsicht umfassenden Roman gesellte sich 2008 ein äußerlich schmales Bändchen zur Seite: aufgehoben. Kleines Mainzer Brevier. Die Sammlung kurzer Prosatexte, zwischen Essay und Erzählung changierend, zeigt Kleeberg als meisterlichen Autor des Eingedenkens und Memorierens, weit jenseits allfälliger Erinnerungsliteratur. In verschiedenen fein ausgearbeiteten Miniaturen, staunend am Erinnerten, nachdenklich fragend, senkt der Blick sich in innere Bilder des Außen, Orte und Augenblicke der Geborgenheit. Die Sehnsucht nach Heimat erscheint darin der nach Religion gleich: »Ob wir religiös sind oder nicht, die Kirchen mit ihren Türmen sitzen in unseren Genen.«

2010 folgte, gemessen an den anderen Romanen ebenfalls im Umfang eher schlank, Das amerikanische Hospital: ein Werk von höchster Reife, an Weltreichhaltigkeit und literarischer Könnerschaft beeindruckend, novellistisch streng komponiert und doch mit weitem Horizont, wie ihn nur große Romane haben können, mit eindrucksvollen, bleibenden Figuren. Hier die Französin Hélène, die Frau, die nicht gebären kann, gefangen in der körperlichen Pein und psychischen Belastung moderner Reproduktionsmedizin und des unbedingten Kinderwunsches, dort die seelischen Qualen des im absurden, ersten Irak-Krieg traumatisierten amerikanischen Soldaten David Cote. Unregelmäßig und zunächst zufällig, dann gezielter einander bei der Bewältigung ihrer Lebenskrisen stützend, treffen die beiden über sechs Jahre hinweg immer wieder im Hôpital Américain de Paris aufeinander. In ihren Gesprächen über Literatur oder in der Wahrnehmung von Paris, vor allem in den wechselweise erzählten Auszügen ihrer Lebensgeschichten – hier hat die einhellig begeisterte Kritik zu Recht immer wieder die geradezu atemberaubend plastischen Kriegsszenen hervorgehoben – konturieren sich tiefe Zweifel an unserem unbedingten Machbarkeitsglauben. Hier erweist sich aber zugleich auch unser elementar Imperfektes als Quell von Lebenszugewandtheit trotz alledem, gestützt auf Kunst, die heterotopen Orte und die urbane Reife der Einwohner der Stadt Paris – und in und über allem eine tiefgründende, reflektierte menschliche Empathie.

Ebenfalls im Paris der jüngsten Gegenwart angesiedelt ist Kleebergs vorletztes Buch, Luca Puck und der Herr der Ratten, 2012 erschienen, ein Buch für Kinder ab circa zehn Jahren. Die zwischen Fantastik und Realismus changierende Geschichte der zehnjährigen Luca Puck, die in den ewigwährenden Krieg der Katzen und Ratten hineingezogen wird, handelt zwar von höchst ernsten Themen wie Gier, Machtmissbrauch und Krieg, zugleich indes optimistisch von Vertrauen und Freundschaft und von der Notwendigkeit und Möglichkeit, seiner Ängste Herr zu werden. Anders als in den meisten einschlägigen Büchern, die Fantastik zur Suspension der Alltagsmoral nutzen, bietet dieses Buch auf höchst kindgerechte Weise immer wieder unaufdringlich seine klaren Wertungen von falschem oder richtigem Verhalten und der unbedingten Tugend der Aufrichtigkeit an, ohne damit das Vergnügen an Aufregung und Spannung irgend zu trüben.

Michael Kleeberg im Gespräch (2013) schließlich dokumentiert noch einmal den herausgehobenen Rang Kleebergs in der Gegenwartsliteratur: Hier gibt er ausführlich Auskunft über seine Poetik und macht zugleich in grundlegenden Reflexionen über die Literatur und ihre Möglichkeiten zentrale Positionen der literarischen Gegenwart am Beginn des 21. Jahrhunderts erkennbar. Er erläutert und kommentiert unter anderem die eigene Leserbiografie, Anfänge seines Schreibens, Strukturen des literarischen Marktes, auf die er als lange im Ausland Lebender einen besonderen Blick hat, frühe und bleibende literarische Orientierungspunkte, Herausforderungen, die sich bei der Konzeption seiner Romane ergeben. Er reflektiert über das Verhältnis von Literatur zu Theorie, Philosophie und Geschichte und erweist sich dabei als dezidierter Vertreter und Verteidiger des Modells einer entschieden ästhetisch ambitionierten und ethisch engagierten, überzeitlich relevanten Literatur: »dargestellt und beurteilt und gerichtet und erträglich gemacht« werde die Welt »ausschließlich durch die Kunst«. Vehement widerspricht Kleeberg der »Tendenz […] der eifrigen Nivellierung von Kunst unter dem Vorwand einer Schleifung vermeintlich elitärer Bastionen« als »hochgefährlich und kontraproduktiv« und formuliert damit ein Selbstverständnis der Literatur, erzählerische Avanciertheit mit der humanistischen Pflicht zur Erkundung der condition humaine und der Darstellung der »unaussprechlichen, scheinbar hoffnungslosen Tragik« menschlicher Existenz zu verbinden.

Die nachfolgenden Beiträge – allesamt aus internationaler wissenschaftlicher und literaturkritischer Expertise – liefern exemplarische Untersuchungen einzelner Werke, ihrer übergreifenden Zusammenhänge untereinander und mit der relevanten Literatur der Gegenwart und damit ein vertiefendes Verständnis dieses Werks in seiner Bedeutung für die Literaturgeschichte der Gegenwart, vor und über allem aber für seine Leserinnen und Leser. Die Beiträge sind Ausarbeitungen von Vorträgen, die auf einer Tagung im Literaturhaus Berlin im November 2013 in Gegenwart von und produktiver Auseinandersetzung mit Michael Kleeberg gehalten wurden. Wir danken dem Literaturhaus Berlin, namentlich Ernest Wichner, für Lokalität und Unterstützung. Vor allem und ganz besonders danken wir der Fritz Thyssen Stiftung für die finanzielle Ermöglichung der Tagung. Und wir danken der DVA, namentlich Thomas Rathnow und Marion Kohler, dafür, dass sie diese Publikation ebenso zügig wie effizient ermöglichten.

Johannes Birgfeld & Erhard Schütz

DURCHGÄNGE

Das Schreckliche und das SchöneDer Erzähler Michael Kleeberg

WOLFGANG FRÜHWALD

Der Armenarzt und die Prostituierte

Sweetie Boy ist auf Michael Kleebergs Website eine Erzählung überschrieben, die in deutscher Fassung Liebes Brüderchen, liebe Schwester heißt. Sie ist, in dem nach der Titelgeschichte Der Kommunist vom Montmartre genannten Band mit Erzählungen, erstmals 1997 im Druck erschienen. Der englische Titel ist mir geläufiger als der deutsche. Vielleicht deshalb, weil ich die englische Fassung der Geschichte vor der deutschen gelesen habe, vermutlich aber, weil die englischen Titelworte nicht trennen, was hier zusammengehört: den jungen, zwanzigjährigen Mann, der, wegen einer flüchtigen gleichgeschlechtlichen Beziehung, »ein bißchen Gefummel unter der Dusche« (KVM 45), im Jahr 1944 denunziert und verhaftet, den sicheren KZ-Tod vor Augen hatte, und die ein Jahr ältere Prostituierte, die ihm bei der ihm aufgezwungenen, absurden Sexualitätsprobe das Leben rettete, mit zärtlichen Worten, die sie ihm ins Ohr flüsterte, und mit einer »Beckentechnik […], die noch das liebste Brüderchen schließlich überzeugt hat, dass Frauen gar nicht so unzumutbar sind, wie es fürchtete« (KVM 47).

Jetzt, nach fast fünfzig Jahren, begegnen sie sich unverhofft und zunächst unerkannt wieder, der siebenundsechzig Jahre alte Armenarzt Ernst Braun und die achtundsechzig Jahre alte, ehemalige Prostituierte namens Rose, an einem Novembermorgen des Jahres 1990 in Brauns Praxis »im Nordwesten Berlins« (KVM 32). Rose ist als Patientin gekommen, sie bittet den Arzt, ihr zum Suizid zu verhelfen, denn sie ist bedrängt von der Angst, dement zu werden. Ein Stichwort, das ihr beim Streitgespräch um diesen Wunsch entfährt, »liebes Brüderchen«, elektrisiert den Arzt, denn es erinnert ihn an jene Minuten, in denen sich für ihn Leben oder Tod entschieden hat.

Ob es tatsächlich Rose war, die – damals, 1944 – den Stabsarzt Dr. Schulz bei dem von ihm entworfenen und angeordneten Test über Homo- oder Heterosexualität überlistet hat, oder nicht doch eine ihrer Kolleginnen, bleibt offen. Freilich verlöre dann, wenn nicht Rose die Lebensretterin gewesen wäre, die Erzählung einiges an Kontur. Doch mir scheint, es gehört zur Erzähltechnik von Michael Kleeberg, Menschen und Situationen zu erschaffen, die Sehnsuchtsfiguren sind, das heißt Figuren und Situationen, von denen sich die Leser vorauseilend wünschen, es möge doch so sein, wie es ihre Fantasie sich vorstellt, dasses sei, oder hier konkret: dass Rose (und nur sie) in den »längsten siebeneinhalb Minuten [s]eines Lebens« (KVM 47) vor fast fünfzig Jahren Ernst Brauns Testpartnerin gewesen ist. Rose und der Armenarzt bilden, wie Hélène und David Cote in Kleebergs Roman Das amerikanische Hospital (2010), eines jener Paare, die Patrick Bahners in seiner Laudatio auf Michael Kleeberg zur Verleihung des Evangelischen Buchpreises 2011 als ein besonderes Kennzeichen seines Erzählstils hervorgehoben hat: Paarfiguren, die »einander perfekt ergänzen. Sie sind füreinander bestimmt – vielleicht nicht im Leben, aber definitiv im Buch«.

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