Milenas Versprechen - Daniel Levin - E-Book

Milenas Versprechen E-Book

Daniel Levin

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Beschreibung

Das hochkarätige Roman-Debüt des US-Schweizer Autors und Anwalts Daniel Levin kombiniert ein raffiniertes Justizdrama mit einer Generationen und Kontinente übergreifenden Familiengeschichte – ein philosophischer Roman von intellektueller Schärfe, in dem das Denken selbst zum Ereignis wird. Sie ist scharfsinnig, warmherzig und umschwärmt, und sie hütet beharrlich ein furchtbares Geheimnis. Als die brillante Juradozentin Milena Frank trotz Mangel an Beweisen für den Mord an ihrem Ehemann verhaftet wird, hüllt sie sich zum Erstaunen aller in entschlossenes Schweigen. Viele Jahre später führt die Suche nach den Umständen des Verbrechens zwei junge Menschen zusammen und schon bald in einen leidenschaftlichen Schlagabtausch über das Verhältnis von Wahrheit und Gerechtigkeit, Schuld und Verantwortung, Treue, Liebe und Verrat. Im Ringen um Antworten kommen sie der Lösung des Falles beständig näher, bis sie auf den mächtigen Pakt von einst stoßen, den Milena noch immer mit ihrem Schweigen schützt …

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Seitenzahl: 308

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Daniel Levin

Milenas Versprechen

Roman

Elster & Salis wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Förderbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

 

Daniel Levin

 

Milenas Versprechen

 

Roman

Verlag

Elster & Salis AG, Zürich

 

[email protected]

 

www.elstersalis.com

Lektorat

Kristina Wengorz und André Gstettenhofer

Korrektorat

Gertrud Germann

Umschlaggestaltung

André Gstettenhofer

Umschlagbild

Johannes Reisser

Gesamtrealisation

www.torat.ch

 

1. Auflage 2021

 

© 2021, Elster & Salis AG, Zürich

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN E-Book 978-3-03930-003-7

 

ISBN Print 978-3-03930-002-0

Für Milena

Inhalt

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

ZUM AUTOR

EINS

Tel Aviv, 2001. Die Abendnachrichten waren gerade zu Ende. Gleich nach der Wettervorhersage verkündete der Moderator, das Oberrabbinat habe soeben in einer offiziellen Mitteilung den Gebrauch des Internets als eine schwerwiegende Verletzungjüdischen Rechts eingestuft und für illegal erklärt. Rachel musste schmunzeln. Offenbar machten sich die gewichtigen Gelehrten große Sorgen wegen des leichten Zugangs zur Pornografie und anderen sündhaft süßen Versuchungen, die das Internet bot. Rachel schaltete den Fernseher noch nicht aus, weil sie auf den aktuellen Dollarkurs wartete, so wie jeden Tag nach den Abendnachrichten.

Rachel freute sich auf diese täglichen Kursschwankungen des israelischen Schekels zum Dollar. Sie bezeichnete dieses Kitzeln als das absolute Höchstmaß an erträglicher Aufregung für eine orthodoxe Jüdin, so nahe wie möglich an einem intimen Erlebnis, das eine junge Frau in ihren gesellschaftlichen Kreisen erfahren durfte. Dieses Blankoverbot des Oberrabbinats erschien ihr stumpfsinnig und wirkungslos, da das Internet inzwischen in alle Bereiche des Lebens eingedrungen war, auch in der orthodoxen jüdischen Gemeinschaft.

Trotz aller unkeuschen Verlockungen wusste Rachel sehr wohl, dass sich die Rabbiner weniger Sorgen darüber machten, was durch die Internet-Bresche eindringen könnte; viel größer war die Furcht davor, dass jemand ihrer geschlossenen Welt durch dieses offene Fenster entfliehen würde. Mehr noch als die alltäglichen Probleme weltlicher Art, denen die gläubige Bevölkerung ausgesetzt war – Fernseher, Kino, aufreizend gekleidete Frauen oder unsittliche Werbeplakate –, bot das Internet die Möglichkeit eines unkontrollierbaren Austauschs mit der Außenwelt und brachte neugierige Seelen in Berührung mit neuen, gefährlichen Ideen. Ohne Filter, ohne Bremsen und vor allem ohne Aufsicht – eine unwiderstehliche Fluchtschleuse für die vielen unschuldigen Lämmer. Dieses radikale Totalverbot hielt Rachel für besonders grotesk, selbst an den an sich schon ziemlich grotesken Standards des Oberrabbinats gemessen. Schließlich betrieben inzwischen auch viele religiöse Organisationen ihre eigenen Websites, und in vielen orthodoxen Häusern und Geschäften war ein Leben ohne Computer längst nicht mehr denkbar.

Auch das Geschäft von Rachels Vater hatte eine eigene Website, und Rachel half ihm bei den vielen technologischen Herausforderungen, die für seine Generation scheinbar unüberwindbar waren. Und nun hatten die gelehrten Herren das Internet für illegal erklärt, weil es eine existenzielle Bedrohung für Anstand und Sittlichkeit darstelle – ein weiteres Beispiel ihrer Neigung, ungelegene Tatsachen zu leugnen und aus ihrer Realität zu verbannen. Gerüchte über ein mögliches rabbinisches Verbot des Internets hatte es schon seit Längerem gegeben, aber Rachel hatte sie bisher nie ernst genommen. Nun, da diese letzte Absurdität offiziell bestätigt worden war, widmete sich Rachel ihrem eigenen stillen Protest und loggte sich im Arbeitszimmer ihres Vaters in den Computer ein. Die Tageszeitungen, die sie regelmäßig online las, waren schon voller Witze und Cartoons, die sich über das Internetverbot des Oberrabbinats lustig machten. Bei einem Cartoon musste Rachel laut lachen: drei Affen, die sich ihre Augen, ihre Ohren und ihr Maul zuhielten, und darunter der Text: »Was wir nicht sehen, hören oder sagen, existiert nicht.«

Die anderen Nachrichten bestanden aus den üblichen Geschichten aus dem israelischen Alltag: Abbruch der letzten Runde der Friedensverhandlungen, bei denen es wie immer weder um den Frieden noch um eine Verhandlung gegangen war; ein neuer Bestechungsskandal eines Parlamentsmitglieds, das sich seine Stimme für ein Rüstungsgeschäft der Luftwaffe mit einem Koffer voller Bargeld, teuren Zigarren und edlem Champagner hatte entgelten lassen (der Champagner war nicht im Koffer, sondern in einer schönen Holzkiste geliefert worden), begleitet von einem sarkastischen Witz des Chefredakteurs dieser progressiven Zeitung (Frage: Was ist der kälteste Ort der Welt? Antwort: Die israelische Knesset – 120 unter null! – eine geistreiche Anspielung auf das intellektuelle und ethische Niveau der einhundertzwanzig Mitglieder des israelischen Parlaments); ein Verkehrsunfall, bei dem eine ganze Familie ums Leben gekommen war; und die Niederlage des israelischen Basketball-Rekordmeisters gegen den spanischen Meister, gekoppelt mit den üblichen hysterischen Forderungen nach dem Rücktritt des Trainers. Komisch, dachte Rachel, dass man von einer jüdischen Basketballmannschaft allen Ernstes große Erfolge auf dem internationalen Parkett erwartete. Aber der Bericht zum religiösen Internetverbot hatte inmitten all dessen selbst für israelische Verhältnisse ein besonders surreales Flair.

Rachel öffnete ihren E-Mail-Account. Ihre E-Mail-Adresse bestand aus dem ersten Buchstaben des Vornamens und dem Nachnamen ihres Vaters (MEpstein), da sie ursprünglich für dessen geschäftlichen Austausch vorgesehen gewesen war. Weil ihr Vater in technologischer Hinsicht jedoch ein hoffnungsloser Fall war, war Rachel die einzige Person, die diese E-Mail-Adresse benutzte. Wann immer eine Nachricht eintraf, die für ihren Vater bestimmt war, druckte Rachel sie aus und legte die Seiten in einen mit »Inbox« beschrifteten Ablagekorb, der eher einer Obstschale glich. Rachel fand die sture Weigerung ihres Vaters, sich in die Welt der Computer einführen zu lassen, gleichzeitig drollig und beeindruckend. Mit sechsundfünfzig sollte er eigentlich noch einige Jahre Lernfähigkeit vor sich haben. Manchmal stellte er Rachel tiefgründige Fragen zur Internetrevolution, aber vor dem Computer selbst hatte er Angst. Eigentlich entsprach das gar nicht seinem Charakter, dieser eingeschüchterte Zustand ihres Vaters, dachte sie sich, während sie ihr Passwort eingab und die E-Mails eintrudelten. Auf eine E-Mail war sie besonders gespannt.

Vor etwa zwei Wochen hatte sie eine Nachricht von einer unbekannten Person erhalten. Der Absender war »Milena18«. Die Nachricht selbst war nicht besonders freundlich oder einladend gewesen; bloß eine kurze Frage, ob der Empfänger Lust auf einen Austausch per Mail habe. Keine Anrede, keine freundlichen Grüße, und Rachel war nahe daran gewesen, die Nachricht zu löschen. Das Einzige, das sie davon abgehalten hatte, war ihre Verwunderung darüber gewesen, wie der Absender allen Ernstes erwarten konnte, eine Antwort auf eine dermaßen schnippische Anfrage zu erhalten, es sei denn, die Worte waren bewusst so unfreundlich gewählt, um bei einem unbekannten Empfänger genau diese Neugier zu wecken.

Das Ganze hatte sie an eines der Kinder erinnert, das sie als Musiktherapeutin betreute. Die kleine zehnjährige Sarah lief regelmäßig auf sie zu und verkündete wütend, dass sie Rachel niemals erzählen würde, was sie auf dem Weg zur Schule gesehen hatte. Nach einiger Zeit hatte Rachel jedoch ein gutes Gespür für Sarah entwickelt und konnte inzwischen unterscheiden, wann Sarah wirklich in Ruhe gelassen werden wollte und wann sie sich wünschte, Rachel solle insistieren, damit sie ihr erzählen konnte, was sie in der Früh gesehen oder erlebt hatte. Je wütender Sarah war, umso mehr wollte sie, dass Rachel beharrlich nachfragte, was sich auf dem Schulweg ereignet hatte, damit dieses kleine, traurige Mädchen ihr ihr Herz ausschütten konnte. Rachel hatte eine Schwäche für Sarah, und vielleicht war es die Ähnlichkeit zwischen Milenas hartem, irgendwie abweisendem Ton und Sarahs zornigen Ausbrüchen, die sie dazu bewogen hatte, Milenas Nachricht zu beantworten. Vielleicht war es auch bloß ihre eigene Einsamkeit gewesen.

Während der letzten zwei Wochen hatte sich ein interessanter Mail-Wechsel zwischen Rachel und Milena entwickelt. Milena war scharfzüngig und präzise, und Rachel genoss das schlagfertige, oft beißende Hin und Her. Sie verspürte das Bedürfnis, Milena eine sarkastische Nachricht zu dem drakonischen Internetverbot des Oberrabbinats zu schicken, über die Vorzüge einer religiösen Autorität, die den Bezug zur Realität so gründlich verloren hatte, dass alle verzweifelt nach verschlüsselten Weisheiten in den bizarren Aussagen dieser Gott vertretenden Behörde suchten. Im letzten Moment entschied sie sich, die bereits fertig getippte Nachricht doch nicht zu senden. Vielleicht würde Milena den Sarkasmus gegenüber einer heiligen Institution missbilligen.

Ihr E-Mail-Austausch war zwar ganz amüsant, aber irgendwie unpersönlich. Milena hatte über ein Buch geschrieben, das sie eben zum tausendsten Mal wiedergelesen habe: einen Roman von Friedrich Dürrenmatt, ihrem Schweizer Lieblingsautor. Sie hatte beschrieben, wie wunderbar es Dürrenmatt gelinge, mit feinster Antenne die Spannung zwischen seinen Akteuren zu veranschaulichen, und wie erfüllend es immer wieder sei, in die Geschichten dieses Schriftstellers abzutauchen. Sie erinnerte sich, Dürrenmatt wenige Jahre vor seinem Tod während der Theateraufführung eines seiner Stücke getroffen zu haben. Er sei völlig betrunken gewesen und mit einer Flasche Rotwein auf die Bühne getorkelt, sei trotz seines Zustands jedoch geistreich und witzig gewesen.

Das war alles zwar ganz nett und unterhaltend, aber Rachel wusste fast nichts über Milena, und auch sie hatte Milena nur sehr wenig über sich selbst erzählt. Nach zwei Wochen mutete diese Geheimniskrämerei etwas seltsam an.

Milenas soeben eingetroffene Nachricht enthielt weitere Kommentare zu Dürrenmatt und seinem Versagen als Ehemann und Vater. Diese pseudoliterarischen Ausführungen begannen Rachel auf die Nerven zu gehen. Es war an der Zeit, den Austausch mit Milena zu vertiefen.

Rachel: Verzeihen Sie bitte, wenn ich das Thema wechsle. Eben wurde mir klar, dass wir uns seit etwa zwei Wochen Nachrichten schicken, aber eigentlich nichts übereinander wissen. Ich weiß nicht, wo Sie leben, was Sie tun, wie alt Sie sind. Bei allem Respekt für Herrn Dürrenmatt würde ich doch ganz gerne auch etwas über Sie erfahren.

Milena: Das ist keineswegs respektlos dem guten Herrn Dürrenmatt gegenüber. Ich kann Sie gut verstehen. Wie wär’s, wenn Sie anfingen? Erzählen Sie mir doch von sich selbst, wer Sie sind, was Sie tun. Dann kann ich mir ein Bild davon machen, was ich Ihnen von mir schreiben darf, ohne Sie zu Tode zu langweilen.

Rachel: Wieso nicht. Nun, ich bin eine orthodoxe jüdische Frau, 23 Jahre alt. Ich arbeite als Musiktherapeutin mit entwicklungsverzögerten Kindern, bin nicht verheiratet, nicht einmal liiert, sehr zum Missfallen meiner lieben Eltern. Ich lebe in Tel Aviv, Israels größter Stadt, in einem nicht besonders religiösen Stadtteil. Trotz meines Jobs spiele ich kein Instrument. Sie sind dran.

Milena: Entwicklungsverzögert? Ich dachte, nur wir Amerikaner drückten uns in diesen politisch korrekten Floskeln aus. Ihrer Beschreibung entnehme ich, dass Sie nicht nur jüdisch sind, sondern auch Israelin, nicht wahr?

Nun, ich bin 62 Jahre alt und von Beruf Kriminologin. Ich lehre Strafrecht und Kriminologie an der Columbia University in New York, und gleichzeitig berate ich das New York City Police Department.

Seltsam, ich bezeichne meine Tätigkeit als Beruf, während Sie die Ihre einen Job nennen.

Ich wurde in Prag geboren und habe viele Jahre in der Schweiz gelebt, bevor ich schlussendlich in den Vereinigten Staaten gelandet bin.

Rachel: Vermutlich habe ich meine Tätigkeit als Job und nicht als einen Beruf beschrieben, weil ich mich irgendwie schäme, kein Instrument zu spielen. Eher peinlich für eine Musiktherapeutin – wie eine stumme Sprachtherapeutin, die wortlos in der Logopädie arbeitet.

Milena: Oder eine Kriminologin, die nie ein Verbrechen begangen hat? Oder zählen bloß Gewaltverbrechen? Ungelöste Gewaltverbrechen? Ich kann in keiner Weise von mir behaupten, dass ich für meinen Job qualifizierter bin als Sie für Ihren. Beruf ist da bloß ein vornehmeres Wort für Job.

Rachel: Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Milena.

Tut mir leid wegen des Israel-Aussetzers. Irgendwie vergesse ich immer, meine Nationalität zu erwähnen; bei einer jüdischen Person, die in Israel lebt, scheint mir das irgendwie überflüssig zu sein. Vielleicht weil es mehr um die Identität als um die Farbe des Passes geht.

Rachel: Milena, seit mehr als einer Woche herrscht Funkstille von Ihrer Seite. Ich hoffe, mit meinem persönlichen Geschreibsel keinen Fauxpas begangen zu haben. Ich würde es bedauern, wenn irgendeines meiner Worte Sie verletzt hätte. Obwohl ich gestehen muss, dass dies für mich weniger verheerend wäre, als wenn ich Sie gelangweilt und Sie das Interesse an unserem E-Mail-Wechsel verloren hätten.

So oder so, schicken Sie mir doch bitte eine kurze Nachricht. Ich hatte große Freude an unseren E-Mails, und sollten die persönlichen Fragen unangebracht gewesen sein, kehre ich gerne zu Dürrenmatt zurück.

Milena: Ich bitte Sie um Entschuldigung, Rachel. Ihre Fragen waren völlig angebracht, keine Bange. Ich möchte Ihnen von einem ungewöhnlichen Ereignis in meinem Leben erzählen.

Vor ein paar Tagen wurde ich von der Polizei um Hilfe bei der Lösung eines schwierigen Falls gebeten, der meine ganze Aufmerksamkeit beansprucht hat. Es handelt sich um einen gewalttätigen Ehemann, aber dieses eine Mal scheint der Täter tot zu sein, nicht das Opfer. Die Ehefrau – die Witwe – ist die Hauptverdächtige, aber wir haben keinerlei Beweise, bloß reichlich Motive. Das Ehepaar hatte zwei Kinder im Teenager-Alter, die jedoch standhaft die Aussage verweigern und in keiner Weise bereit sind, der Polizei bei ihren Untersuchungen behilflich zu sein. Es ist ein erschütternder Fall, der mich in unerwarteter Weise betroffen macht. Doch dazu ein andermal. Gestern Nachmittag habe ich den Fall meinen Studenten während eines Kriminologie-Seminars geschildert. Ich versuchte, ihnen das heikle Problem im Umgang mit den beiden Teenagern klarzumachen: Einerseits sind sie Schlüsselzeugen eines Verbrechens, andererseits sind sie Kinder, die gerade ein fürchterliches, sogar doppeltes Trauma durchlebt haben – den gewaltsamen Tod des eigenen Vaters und die Verhaftung ihrer Mutter, die unter Mordverdacht steht.

Ich hielt meine Ausführungen für ausgewogen, in keiner Weise polemisch, fair allen möglichen Standpunkten gegenüber. Aber zu meiner großen Überraschung meldete sich ein Student zu Wort und sagte etwas, das den Rest meines geplanten Seminars komplett über den Haufen warf. Zunächst entschuldigte er sich für die harten Worte, die er gleich aussprechen werde; das Thema gehe ihm sehr nahe, und es liege ihm am Herzen, unverblümt zu sprechen, ohne seine Worte zu verwässern. Sein Auftritt war ungewöhnlich; nur selten hatte ich während meiner Lehrtätigkeit eine direkte Konfrontation mit einem Studenten erlebt, ohne den Hauch von Feindseligkeit und Arroganz. Er fragte mich, offenbar rhetorisch, ob dieses »heikle Problem« bei der Behandlung der beiden Kinder ein echtes sei oder ob es sich nicht vielleicht eher um einen politisch korrekten Euphemismus handle, der das Bedauern der Untersuchungsbehörden ausdrücke, die beiden Kinder in den Verhören mit Samthandschuhen anfassen zu müssen. Wieso denn Samthandschuhe, fragte ich den Studenten. Weil eine schnörkellose Befragung, ohne Empathie und Händchenhalten, angesichts des tragischen Verlusts des Vaters und der Verhaftung der Mutter öffentliche Empörung auslösen würde, kam seine Antwort. Entrüstung der interessierten Bevölkerung wäre die unweigerliche Folge, aus Protest gegen die kaltherzige Behandlung dieser traumatisierten Kinder. Nur darum, aus Angst vor einem öffentlichen Aufschrei, bestehe dieses »heikle Problem«. Mit anderen Worten, fuhr er fort, mein Versuch, einen Konflikt in dem Problem der Zeugenbefragung der Kinder zu suchen, sei ebenso durchsichtig wie trügerisch (seine Worte!), da dieser von einer falschen, fiktiven Prämisse ausgehe – der Prämisse, dass polizeiliche Untersuchungen bedachtsam, fair und rücksichtsvoll seien.

Seine Worte waren viel zu emotional als Reaktion auf meine eher neutralen Ausführungen. Aber bevor ich etwas sagen konnte, entschuldigte er sich mit einem entschlossenen, aber auch traurigen Gesichtsausdruck noch einmal. Seine Aussagen sollten nicht erbittert oder zornig klingen und seien auch nicht gegen mich persönlich gerichtet. Vielmehr entstammten sie einer tiefen Trauer, eines erdrückenden Herzwehs aufgrund einer erschütternden Erfahrung in seiner engeren Familie, die ihm auf die schmerzlichste Weise beigebracht habe, dass der einzige wirkliche Konflikt, egal, ob heikel oder nicht, der Konflikt zwischen Wahrheit und Gerechtigkeit sei. Die Wahl zwischen einer rücksichtslosen oder rücksichtsvollen Befragung der Kinder sei völlig irrelevant, weil sie nicht echt sei, solange unsere Instinkte so gründlich vom Bewusstsein, wie wir wahrgenommen würden, dominiert würden. Alles sehr verständlich und keineswegs tragisch, fügte er hinzu, was jedoch von der Suche nach Wahrheit und den Axiomen der Gerechtigkeit nicht behauptet werden könne, weil diese beiden Prinzipien leider nicht immer vereinbar seien. Er sei sich sicher, ich würde ihn verstehen, und verließ den Raum ohne ein weiteres Wort. Einfach so.

Ich war komplett baff und habe mich noch immer nicht erholt.

Rachel: Kannten Sie den Studenten? Weshalb war er sich so sicher, Sie würden ihn verstehen?

Milena: Ich hatte ihn vorher zwar ab und zu gesehen, aber nie direkt mit ihm gesprochen. Vor seinem gestrigen Ausbruch hatte er sich nur selten zu Wort gemeldet. Er machte bisher einen guten Eindruck, wirkte immer sehr bedacht und angenehm. Er hat einen leichten Akzent, vielleicht Deutsch, und spricht leise und zögerlich, als ob er sich davor hütet, seine Worte in die einzelnen Silben zerbrechen zu lassen.

Rachel: Weshalb dachte er, Sie würden ihn verstehen?

Milena: Ich kann’s nicht sagen. Das Ganze ist sehr merkwürdig; selbst die Beschreibung dieses Vorfalls fühlt sich wie eine Beichte an. Vielleicht wollte er bloß genau dieses mulmige Gefühl bei mir auslösen und hatte keinen anderen Grund, zu sagen, ich würde ihn verstehen. So wie ein Déjà-vu, das nur etwas mit dem Gefühl und nichts mit einem erneuten Erleben einer Erinnerung zu tun hat. Oder so wie das Gefühl, etwas geträumt zu haben, bevor es geschieht, was bloß die Ahnung einer Erinnerung ist und nicht die Existenz eines prophezeienden Traums beweist. Dies ist wohl auch der Grund, weshalb wir uns erst dann an diese Träume erinnern, nachdem die vorgefühlten Ereignisse schon eingetreten sind, und nicht davor, wenn diese Warnung etwas nützlicher gewesen wäre. Gleichzeitig scheint es aber doch abstrus, dass der Student dieses Gefühl mit Absicht in mich eingepflanzt haben sollte; er wirkt nicht gerade wie ein meisterhafter Manipulator.

Rachel: Wenn wirklich keine Schnittpunkte zwischen Ihrem und seinem Leben existieren, ist seine Wuttirade vielleicht bloß irrelevant?

Milena: Das ist es ja gerade – seine Wuttirade fühlt sich ganz und gar nicht irrelevant an. Falsch vielleicht, aber nicht irrelevant. Wäre das Ganze irrelevant, würde es mich nicht so sehr berühren, nicht so sehr stören. Darum auch dieses seltsame Gefühl einer Beichte, wenn ich Ihnen davon erzähle.

Rachel: Das verstehe ich nicht ganz. Was meinen Sie damit?

Milena: Lassen wir’s.

Rachel: Tut mir leid zu insistieren, aber ich kann Ihre Reaktion nicht ganz nachvollziehen. Vielleicht hat dieser Student bloß wild geraten? Woher wissen Sie, dass er nicht einfach ins Dunkle geschossen hat, um ins Schwarze zu treffen?

Milena: Ich schlage vor, wir einigen uns auf einige Spielregeln für unsere Kommunikation. Wenn eine von uns die Diskussion zu einem bestimmten Thema nicht weiterführen möchte, muss die andere dies bedingungslos akzeptieren. Ohne Wenn und Aber und ohne weitere Fragen. Nur wenn Sie diese Bedingung akzeptieren, kann ich unseren Dialog fortsetzen. So sehr ich Ihre Beharrlichkeit verstehe und sogar schätze, werde ich unseren Kontakt abbrechen, wenn Sie mit diesen Grundsätzen nicht leben können.

Dieses eine M al werde ich Ihre Frage trotzdem beantworten. Möglicherweise hat der Student bloß ins Dunkle geschossen, wie Sie es ausdrückten. Kann schon sein. Aber dann sollten Sie auch ein Motiv mitliefern. Wenn Sie sich jedoch keinen einzigen rationalen Grund vorstellen können, wieso er mich hätte provozieren oder angreifen wollen (vorausgesetzt, ich war die Zielscheibe), wird aus Ihrer Ins-Dunkle-Schießen-Theorie nichts als eine statistische Möglichkeit. Dann bliebe uns nur die Erklärung, dass er dies als Sport tue, völlig willkürlich und verspielt. Das würde zwar das Motivproblem lösen, indem keines mehr nötig wäre, aber gleichzeitig ergäben sich ernsthafte Zweifel an seinem Charakter und an seiner geistigen Gesundheit. Obwohl ich nicht behaupten kann, ihn wirklich zu kennen, müsste ich mich bei meinem ersten Eindruck von ihm doch sehr getäuscht haben. Erwirkt viel zu besonnen und entgegenkommend. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solcher Mensch so ein grausames Spielchen einfach nur als Sport treiben würde, ist doch eher gering. Es sei denn, er ist sowohl verrückt als auch außerordentlich begabt.

Rachel: Ich will versuchen, mich an Ihre Spielregel zu halten, obwohl ich nicht gerade begeistert davon bin. Unser Mail-Wechsel ist für mich inzwischen viel zu bereichernd geworden, um zu schmollen und den Verlust unseres Kontakts zu riskieren. Jeden Tag freue ich mich auf Ihre E-Mails, und ich denke gar nicht daran, mir meine Freude durch Ihre drakonischen Bedingungen vermiesen zu lassen, auch wenn mir diese gnadenlos aufgezwungen werden.

Und so ganz nebenbei – ich werde das Gefühl nicht los, dass wir uns irgendwann wieder mit diesem rätselhaften Herrn befassen werden.

Milena: Okay, damit kann ich leben. Erzählen Sie mir doch mehr über sich. Was fasziniert Sie an der Musiktherapie? Welche Musik mögen Sie? Wie sieht Ihr Leben aus? Es fühlt sich an, als hätte ich einen langen Monolog gehalten. Sie sind dran.

Rachel: Nun, ich habe Ihnen in der Tat noch nicht sehr viel über mich erzählt, außer meinem Alter und meinem Glauben, der in letzter Zeit in geringeren Mengen vorzukommen scheint.

In die Musiktherapie wurde ich von der romantischen Vorstellung getrieben, menschliche Probleme mit der Schönheit einer Harmonie lösen zu können. Früher liebte ich Rachmaninow über alles, und ich konnte von seinem dritten Klavierkonzert nicht genug kriegen. Oder von Rachmaninow, wie er Chopin spielte. Oder von Horowitz, wie er Rachmaninow und Chopin spielte. Ab und zu, wenn ich in einer besonders risikofreudigen Stimmung bin, wage ich mich zu weniger romantischen Komponisten vor und experimentiere, wie etwa mit dem Violinkonzert von Sibelius.

Mein Vater fordert mich immer auf, meinen musikalischen Horizont zu erweitern. Er liebt Mahler. Und er kann Miles Davis stundenlang ohne Unterbrechung hören. An manchen Tagen läuft in seinem Arbeitszimmer Blue Train von John Coltrane in Endlosschleife. Diese Musik wirkte über die Jahre auf mich ein, mehr noch, als mir bewusst war. Es half mir in der Musiktherapie, obwohl ich für die Arbeit selbst nicht wirklich geeignet bin. Die Musik aber ist der leichte Teil.

Der viel schwierigere Teil, auf den ich völlig unvorbereitet war, ist das schreckliche Leiden dieser Kinder. Ich war lange nicht imstande, zu verstehen – und bin es eigentlich noch immer nicht –, wieso manche Kinder ein dermaßen schweres Los gezogen haben. Sie beginnen ihr Leben mit solch enormen Nachteilen, es würde mehrere Leben dauern, um zu den anderen Menschen, die mehr Glück hatten, aufzuschließen. Der Schmerz dieser unglücklichen Kinder ließ mich spüren, wie grässlich unvorbereitet ich für meine Tätigkeit als Musiktherapeutin war.

Milena: Ich habe mich immer gefragt, ob ein gläubiger Mensch, ein religiöser Mensch, eher in der Lage ist, solches Leiden zu verstehen, es zu akzeptieren. Vermag der Glaube an einen Schöpfer, Trost zu spenden?

Rachel: Die Versuchung ist groß, Ihre »Ich blockiere ein Thema, das mir nicht gefällt«-Karte zu spielen. Das sind ziemlich tiefe Wasser, in denen Sie mit Ihren Fragen fischen. Meinen Sie nicht, dass es noch etwas verfrüht in unserer Korrespondenz ist für die Frage, ob ein allmächtiger Schöpfer gleichzeitig mit dem Leiden Unschuldiger – eigentlich jedem Leiden – existieren kann? Ob diese Koexistenz nicht ein Widerspruch in sich selbst ist?

Milena: Das mag Ihnen seltsam vorkommen, aber für mich ist diese Diskussion nie verfrüht. Eigentlich war es Ihre Beschreibung der Musik, die mich zu dieser Frage getrieben hat. Musik ist allgegenwärtig im religiösen Leben, beinahe so allgegenwärtig wie der Schöpfer selbst. Wir behaupten von der Musik, dass sie uns auf ähnliche Weise berühre wie die Religion, oder, genauer gesagt, wie der Glaube – wir können beides nicht verstehen, es uns nicht erklären. Weil wir nicht ausdrücken können (in Worten oder mit anderen Mitteln), wie die Musik »unsere Seele berührt« (was bedeuten diese Worte überhaupt?), gehen wir automatisch davon aus, dass diese Wirkung tief und mysteriös sein muss. Kommt Ihnen das bekannt vor? Ist es nicht erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit ich das Wort »Musik« mit »Glauben« ersetzen konnte, ohne den Rest des Satzes ändern zu müssen?

Rachel: Moment! Diese Sinnesempfindungen und ihre Intensität sind alles andere als imaginär. Weshalb sprechen Sie solchen Gefühlen die Tiefe ab? Ist es nicht möglich, dass sie gerade das, woran wir glauben, beweisen – die eigentliche Existenz des Geglaubten? Könnten diese Gefühle nicht die wesentliche Essenz unseres Glaubens sein?

Milena: Ich bitte Sie, meine Unverblümtheit zu entschuldigen, aber was Sie da so schreiben, ist bestenfalls ein Zirkelschluss. Woher wissen wir, dass diese Gefühle tatsächlich tief sind? Gibt es denn eine empirische Methode, diese Tiefe zu messen? Sind es die Tränen, die wir vergießen, wenn wir eine wundervolle, melodische Harmonie hören? Der patriotische Stolz in der Brust beim Erklingen der Nationalhymne? Die Erinnerungen, wenn wir die Lieblingsmelodie des Geliebten hören, oder, noch besser, des verstorbenen Geliebten? Mitternachtsmesse oder Dies irae in Mozarts Requiem? Kol Nidre an Jom Kippur? Oder der Muezzin, der seine muslimischen Brüder zum Gebet ruft? Interessant, übrigens, dass meine Rechtschreibprüfung den lieben Muezzin nicht akzeptiert hat, als gehörte er nicht in unsere Diskussion. Ist ja bloß eine der bevölkerungsreichsten Religionen der Welt, aber der muslimische Ausrufer, der seine Glaubensgenossen zum Gebet ermahnt, schafft es irgendwie nicht, vom Computer offiziell anerkannt zu werden. Invertierte darwinistische Mathe, würde ich meinen, wenn man die Zahlen bedenkt.

Das großartige »Wade in the Water« wird Sie jedes Mal von Neuem inspirieren, ganz egal, welcher Religion oder welcher Nation Sie angehören. Das kann nur bedeuten, dass entweder alle Religionen und alle Nationalitäten ein und dieselbe sind oder dass keine einzige etwas bedeutet.

Rachel: Was wollen Sie damit sagen? Dass wir niemals mit Sicherheit etwas wissen, wenn wir es nicht zugleich klar und deutlich ausdrücken können, am besten in Wort und Sprache? Dass solche Gefühle nicht echt sind, nicht wirklich existieren?

Milena: Nein, nein, der Existenz dieser Gefühle können wir uns ganz sicher sein. Ich wollte bloß zeigen, dass es keine Rolle spielt, ob wir sie echt oder imaginär nennen. Es sind ja bloß Gefühle. Aber genau hier liegt die Krux: Die Existenz dieser Gefühle beweist nicht wirklich die Existenz der Sache, an die wir glauben möchten. Tut mir leid, wenn ich mich zu umständlich ausgedrückt habe. Was ich sagen möchte, ist, dass unser Glaube nur die Existenz dieses Glaubens beweist, nicht die Existenz Gottes, selbst wenn Gott existieren sollte.

Rachel: Es sei denn, Sie sind ein gläubiger Mensch.

Milena: Sehr witzig, touché!

Dann lassen Sie mich Folgendes fragen: Wie robust wäre Ihr Glauben, wenn Sie wüssten, dass die Sache, an die Sie glauben, nicht existiert oder, genauer gesagt, es möglich wäre, herauszufinden, dass die Sache, an die Sie glauben, vielleicht nicht existiert? Oder, um es etwas wissenschaftlicher auszudrücken, wenn es einen Trugschluss im ontologischen Argument für die Existenz Gottes gäbe? Was wäre der Sinn eines Gottesglaubens, wenn Gott nicht existierte? Ist der Glaube selbst Grund genug?

Rachel: Ich bitte Sie, meine kleine, dreitägige Pause zu entschuldigen. Ich brauchte etwas Zeit – zuerst, um Ihre Fragen zu verstehen, und dann, um eine sinnvolle Antwort zu finden, die, so befürchte ich, immer noch nicht ganz durchdacht ist. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Sie diese Fragen nur darum stellen können, weil Ihnen der Glaube fehlt. Ich täte wohl besser daran, eine direkte Antwort zu vermeiden. Ich habe versucht, meine Empfindungen und Instinkte zu ignorieren, weil diese Gefühle, wenn’s nach Ihnen ginge, niemals so tief und echt sein könnten, wie von mir behauptet. Obwohl jede Antwort auf Ihre letzte Frage per definitionem falsch wäre, fühle ich mich frei genug, mit einem überzeugten »Ja« zu antworten. Es dauerte eine Weile, und ich bin mir bewusst, wie verschnörkelt das alles klingt, aber: Ja. Die Antwort ist Ja. Selbst wenn eine göttliche Entität nicht existieren sollte, wäre der Glaube selbst die Mühe wert. Reicht es nicht, dass ich mich dank des Glaubens besser fühle als ohne diese Stütze?

Milena: Gut gemacht. Sie haben völlig recht.

Mein einziger Einwand wäre, dass wir uns so bereitwillig für einen ganz bestimmten Glauben einsetzen und dabei vergessen, wie zufällig es doch ist, in welche Situation wir hineingeboren wurden. Das stimmt übrigens auch dann, wenn Sie ein Fatalist sind und an Prädestination glauben. Allerdings macht es die Prädestination tückischer, den Wert des Glaubens zu rechtfertigen, da wir nun auch das Leiden Unschuldiger irgendwie rechtfertigen müssen. In einem reinen Prädestinationsmodell müsste doch jedes Wesen unschuldig sein.

Um diesen Widerspruch abzumildern, haben wir die wunderbare Unterscheidung zwischen Vorhersehung und Vorherbestimmung erfunden. Da war reines Genie am Werk. Nur in einem Vorherbestimmungsmodell müsste Gott wirklich grausam sein, um tatenlos dem Leiden Unschuldiger beizuwohnen, während die Vertreter eines Vorhersehungsmodells weiterhin behaupten können, Gott habe bloß ein System geschaffen, das sich nun nach eigenen Regeln fortsetze. Als ob diese Regeln nicht mehr gottgegeben wären. Die Schuld können wir getrost dem Schicksal zuschieben. Alles andere ist Ketzerei. Wie bequem.

Rachel: Wie sind wir denn in diesen bissigen Austausch hineingeraten? Wir kennen uns doch kaum, und nun scheinen Ihre Worte so voller Wut zu sein. Normalerweise dauert es etwas länger, bis ich diese Reaktion in Menschen auslöse.

So ganz vermag ich Ihnen nicht zu folgen, vor allem was die Unterscheidung zwischen Vorherbestimmung und Vorhersehung angeht. Selbst wenn diese Unterscheidung opportunistisch sein sollte, und da teile ich womöglich Ihre Meinung, geht es zu guter Letzt denn nicht darum, Verantwortung für die eigenen Handlungen zu übernehmen? In beiden Modellen bin ich für meine Entscheidungen verantwortlich, ob die nun vorherbestimmt oder vorhergesehen sind.

Das mag vielleicht »religiös« oder »fromm« sein, aber es geht mir nicht um ein Punktesystem für die nächste Welt, und selbst wenn es mir darum ginge, würde weder G’’ttes Vorauswissen noch Seine akribische Planung meine Entscheidungen und Handlungen beeinflussen.

Milena: Meine Worte voller Wut, wie Sie es ausgedrückt haben, sind nicht auf die Unterscheidung zwischen Vorherbestimmung und Vorhersehung gerichtet. Worauf sie jedoch ganz bestimmt, und zwar mit Nachdruck, gerichtet sind, ist die Tatsache, dass ein religiöser Mensch an ein Modell glauben kann, das, wenn wir ehrlich sind, den Schluss unumgänglich macht, dass Gott grausam ist. Aber selbst wenn wir diesen letzten Schritt nicht machen möchten, kommen wir nicht umhin, Gottes fatalen Fehler zu erkennen: die Vexierfrage des Bösen. Das Rätsel des Bösen, das gleichzeitig ein böses Rätsel ist. Für mich reicht schon die Existenz des Bösen, um Gott zu disqualifizieren – oder seine Existenz, wenn Ihnen das so lieber ist.

Rachel: Ich werde diese Bitte wohl bereuen, aber ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie das erklären könnten. Ich verstehe nicht, was Sie meinen.

Milena: Gerne. Es ist nichts als einfache, lineare Logik. Wir haben drei Glaubensprinzipien, drei Axiome, die logisch nicht koexistieren können. Erstens: Gott (mit einem großen G) ist allmächtig. Zweitens: Gott ist gut. Und drittens: Das Böse existiert. Nun stehen wir vor einem Problem, da es sonnenklar ist, dass diese drei Prinzipien nicht alle gleichzeitig wahr sein können.

Klar, wenn Gott nicht allmächtig ist (was ihn bestenfalls bloß zu einem und nicht dem Gott herabstufen würde), aber dennoch gut, dann können wir die Existenz des Bösen begreifen. Wobei, um fair zu sein, es natürlich denkbar wäre, dass Gott allmächtig ist und das Böse existiert, aber das würde bedeuten, dass Gott nicht gut ist. Durchaus möglich, aber damit ist er leider auch ein Gott, der als Adressat unserer Gebete etwas problematischer sein dürfte. Dies würde zwar nicht zwangsläufig zur Folge haben, dass Gott böse ist, aber wir kämen nicht umhin, zu akzeptieren, dass er dem Leiden, das durch die Existenz des Bösen verursacht wird, zumindest gleichgültig gegenübersteht. Und wenn Gott allmächtig ist, allgewaltig, dann würde mich diese Gleichgültigkeit zwingen, meine eigene Definition von »gut« zu hinterfragen. Das Problem liegt darin, dass Sie an einen allmächtigen, guten Gott glauben, aber in einer Welt, die böse ist – oder zumindest das Böse in sich birgt.

Das ist die Vexierfrage, unser Rätsel. Die Rechnung geht einfach nicht auf. Was darf’s denn sein? Ein allmächtiger, aber kaltherziger oder zumindest gefühlloser Gott, oder ein guter Gott, der nicht ganz so allmächtig ist? Denn die Existenz des Bösen scheint hier die einzige Wahrheit zu sein, an der es nichts zu rütteln gibt.

Rachel: Tut mir leid, ich habe einen Tag gebraucht, um das alles zu verdauen. Ich kann das Paradox, das Sie beschrieben haben, nicht leugnen. Aber ich hab’s mir gründlich durch den Kopf gehen lassen und bin dennoch davon überzeugt, dass alle drei Prinzipien gleichzeitig wahr sein können. Wenn ich glaube, dass G’’tt allmächtig und gut ist, dann ist meine einzige Erklärung für die Existenz des Bösen, dass es für die Ausübung unseres freien Willens notwendig ist.

Mir ist die Grausamkeit dieser Logik natürlich klar; ich kann das nicht bestreiten. Aber folgen Sie mir bitte: Ohne das Böse hätten wir keinen freien Willen, denn eine wirkliche Wahl wäre niemals möglich. Die Existenz des Bösen ist für diese echte Wahl unentbehrlich, weil eine Wahl zwischen gut und gut keine Wahl ist. Wir wären Engeln gleich, die zwar theoretisch einen freien Willen haben, aber nicht wirklich, weil ihnen die Konsequenzen ihrer Wahl im Voraus bekannt sind. Eine Art pseudofreier Wille, etwas abgespeckt und nicht ganz so frei. Aber für diejenigen unter uns, die keine Engel sind, ist die Wahl echt. Unser Wille ist frei, und damit das möglich ist, muss das Böse existieren (wenigstens als eine Potenzialität), auch wenn dies grausam klingen mag.

Milena: Wow, ich bin beeindruckt! Sehr clever. Aber es bleibt weiterhin ein Rätsel, denn diese Grausamkeit – selbst um des freien Willens willen – wirft doch ernsthafte Fragen zu Gottes Güte auf, meinen Sie nicht?

Rachel: Ja, das ist richtig, wenn wir unsere ganze Aufmerksamkeit auf dieses Leben in dieser Welt richten. Aber wie sieht die Sache aus, wenn wir nur einen klitzekleinen Teil dieser Realität sehen, eine winzige Stichprobengröße, die nicht der größeren, kosmischen Realität entspricht?

Milena: Ich bin sicher, dass ich diese Bitte nicht bereuen werde: Könnten Sie mir das bitte erklären?

Rachel: Nun ja, es ergibt doch keinen Sinn, dass unsere Existenz auf dieser Welt im Zentrum unserer Perspektive stehen sollte. Denken Sie darüber nach: Wir sind umgeben von Erinnerungsstützen und Mahnungen, dass unser individuelles Leben und Schicksal weit weniger wichtig sind als die existenzielle Bedeutung, die wir ihnen zuordnen und mit der wir sie empfinden. Die meisten Menschen denken nicht darüber nach, bevor sie auf einen Ameisenhaufen trampeln und dadurch ein hoch entwickeltes Sozialgefüge mit Tausenden Lebewesen auslöschen. Für uns ist diese Zerstörung komplett unwesentlich, ein Nichtereignis. Für die Ameisen hingegen ist es ein Weltuntergang, Armageddon. Ein Insektenholocaust. Diese beiden Perspektiven und Realitäten – unsere und die der Ameisen – können offenbar koexistieren, und es ist keine Frage der Moral. Wir sind nicht böse, weil wir auf den Ameisenhaufen treten.

Milena: Das sehen die Ameisen vielleicht etwas anders.

Rachel: Mag sein, aber genau darauf will ich ja hinaus. Die Perspektive ist entscheidend. Ich kann an einen guten und allmächtigen G’’tt glauben, und gleichzeitig kann ich akzeptieren, dass mein Verständnis des Bösen von meiner eigenen Perspektive abhängt. Insbesondere, da ich einsichtig genug bin, zu verstehen, dass mein eigenes Leben nichts anderes verkörpert als meine eigene, individuelle Erfahrung und dass mir das Bewusstsein fehlt, den Sinn des Bösen auf einer kosmischen Ebene nachzuvollziehen.

Milena: Wie praktisch! Die allmächtige Existenz und Güte Gottes sind absolut, während das Konzept des Bösen bloß relativ ist. Nicht schlecht.

Aber wieso können wir uns nicht vorstellen, dass ein allmächtiger, guter Gott ebenso leicht eine Welt hätte erschaffen können, in der die Existenz des Bösen nicht so viel Schmerz und Leiden verursacht? Vor allem unschuldiges Leiden, das so abgründig ungerecht ist, weil es in keinem Verhältnis zu einer Tat oder einer Absicht steht. Wenn Gott wirklich über grenzenlose Macht verfügt, einschließlich der grenzenlosen Macht, zu erschaffen und zu gestalten, wieso dann nicht eine Welt kreieren, in welcher der freie Wille und das Böse nicht in einer Wechselbeziehung stehen? Ist dies wirklich das Beste, was Gott sich einfallen lassen konnte? Das Leiden scheint so willkürlich, so grundlos. Gott hätte doch bestimmt eine Welt in die Wirklichkeit sprechen können, in der wir zwar unseren freien Willen haben, aber nur diejenigen für schlechte Entscheidungen büßen, die diese Entscheidungen auch getroffen haben. Mit anderen Worten: Die Einzigen, die leiden würden, wären die Menschen, die es »verdienten«, zu leiden.

Rachel: Milena, für Sie ist das alles eine Frage der Moral, während ich versuche, zu begreifen, weshalb wir nicht imstande sind, auch nur das Geringste, das jenseits unserer gegenwärtigen Existenz liegt, zu verstehen.

Als Maimonides herausgefordert wurde, das Leiden Unschuldiger zu erklären, gab er folgende Antwort, die eigentlich eher Parabel ist: Eine schwangere Frau erwartet die Geburt von Zwillingen, und die neun Monate sind um. Wie alle menschlichen Wesen gehen auch die ungeborenen Zwillinge in der Gebärmutter davon aus, dass ihre gegenwärtige Realität universell ist. Ihnen ist nicht bewusst, dass sie nach der Geburt von Sauerstoff und sauberem, arteriellen Blut leben werden – genau das Gegenteil dessen, was sie während ihres Aufenthalts in der Gebärmutter genährt hat. Sie können nicht über den Rand ihrer gegenwärtigen Realität hinaussehen, was auch erklärt, dass der jüngere (zurückgelassene) Zwilling die Geburt des Erstgeborenen als dessen Tod betrauert. Das hat nichts mit irgendeiner Grausamkeit oder dem Bösen zu tun, sondern bloß mit einer mangelhaften Perspektive. Es ist das menschliche Unvermögen, jene Welten zu erkennen, die hinter dem nächsten Berggipfel lauern.

Milena: Chapeau, ich muss gestehen, das war brillant. Ich bin beeindruckt. Dennoch, wenn Sie einen kurzen Abstecher zu unserer früheren Diskussion erlauben: Die Vorhersehung kann nicht ändern, was bei der Vorherbestimmung offensichtlich ist, nämlich dass wir völlig auf uns allein gestellt sind in einer Welt, die grausam ist, oder – wenn Sie lieber unseren limitierten, subjektiven Verständnishorizont berücksichtigen möchten – in einer Welt, die sich grausam anfühlt. Es spielt keine Rolle, ob Gott bloß das System, die Methodik erfunden hat oder ob er jeden einzelnen Aspekt geplant und durchdacht hat. Es bleibt weiterhin eine Welt, die mit Unrecht und Grausamkeit regiert wird – eine Welt, in der die menschlichsten Instinkte die unangenehme Gewohnheit haben, immer die Unschuldigen und Schutzlosen abzustrafen.