Alles nur ein Zirkus - Daniel Levin - E-Book

Alles nur ein Zirkus E-Book

Daniel Levin

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Beschreibung

Basierend auf persönlichen Erfah- rungen, gesammelt im Laufe seiner weltweiten Beratungstätigkeit für staatliche Institutionen während zwei Jahrzehnten, vermittelt der Autor auf Schauplätzen von Washington über Moskau und Peking bis Dubai und Luanda einen scharfen, bittersüssen Blick hinter die Kulissen der Macht. Er führt ein in die verschlossene und absurde Welt der Mächtigen und ent- hüllt mit viel Humor ihre rechtfertigenden Verrenkungen für eigennützige und skrupellose Handlungen.

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Für Laura, Noa und Ben,die alles daran setzen,damit ich nicht selbst zu einer jener Gestalten werde,von denen ich ihnen erzähle.

Daniel Levin

Alles nur ein Zirkus

Fehltritte unter Mächtigen

Aus dem Englischen von Christel Kauder

© 2018 by Elster Verlagsbuchhandlung AG | Rio bei Elster | CH 8032 Zürich

Telefon ++41 (0)44) 385 55 10 | www.elsterverlag.ch | [email protected]

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-906903-07-1

eISBN 978-3-906903-92-7

Weitere Angaben am Schluss des Bandes

Inhalt

Einführung

Prolog

Erster Teil

Bezaubert in Big Sandy

Dubai-Träume

Frühstück in der UNO

Lektionen in Luanda

Flucht aus Dakar

Zweiter Teil

Schach à la Russe

Amerikanische Versuchung

China-Klasse

Washington – Domäne der Clowns

Aus Liebe zum Gold

Epilog

Dank

Einführung

Im Verlauf der letzten zwanzig Jahre habe ich viel gelacht und viel geweint. Meist überwog das Lachen. In dieser Zeit habe ich eine Menge Experten getroffen, die Lösungen anbieten, obschon kein wirkliches Problem existiert; eine Menge Koryphäen, die spitzfindig Unterscheidungen artikulieren, auch wenn kein wirklicher Unterschied besteht; eine Menge Torwächter, denen es nur darum geht, die von ihnen gehüteten Tore geschlossen zu halten, und eine Menge politischer Macher, getrieben einzig und allein von nacktem Ehrgeiz – mehr oder weniger menschliche Kreaturen, die nichts, aber auch gar nichts tun, was nicht der Förderung ihrer eigenen Karriere dient, und die in keinem Zweck das Gute sehen können, wenn für sie kein eigener Nutzen und Vorteil mit im Spiel ist. Ich habe immer wieder erlebt, wie grandiose Politiker mit bombastischer Zurschaustellung von Reue und Demut die routiniert vorgespielte Verantwortung für ihre Fehler auf sich nehmen, ohne diese Verantwortung tatsächlich zu übernehmen, während sie andere den Preis zahlen und die Prügel einstecken lassen. Ich habe Machthaber getroffen, die echte Pioniere und Genies sind, wenn es darum geht, Macht anzuhäufen und zu verfestigen – allerdings um einiges weniger genial und bahnbrechend, wenn es ums Regieren selbst geht. Mit wachsender Vertrautheit durchlief ich in diesen Jahren alle Stadien des Scheiterns: von Kopfschütteln zu Ablehnung, von Ablehnung zu Enttäuschung, von Enttäuschung zu Ungläubigkeit, von Ungläubigkeit zu Irritation, von Irritation zu Empörung, von Empörung zu Wut, von Wut zu Verachtung und von Verachtung zu Resignation. In diesem Teufelskreis steckte ich fest; ich lernte aus meinen Fehlern nichts außer der ernüchternden Einsicht, dass ich nichts aus ihnen zu lernen imstande bin.

Das Verrückteste an diesen Geschichten ist, dass sie alle wahr sind. Sie ereigneten sich im Verlauf der vergangenen zwei Jahrzehnte während meiner Reisen quer durch die ganze Welt. Ich selbst war in diesen Geschehnissen mehr als Beifahrer und weniger als Lenker der Geschehnisse verwickelt, war eher Zuschauer denn Hauptdarsteller, und dies in vielfältigen Rollen und unter den unterschiedlichsten Umständen: als Rechtsanwalt in Entwicklungsländern während der Gründungsjahre ihrer Finanzmärkte, in Privatisierungen oder Umstrukturierungen von Staatsschulden, in Projekten zur Übertragung von Finanzwissen und politischem Grundverständnis an bisher vernachlässigte Bevölkerungsschichten dieser Länder, oder in der Vermittlung zwischen Kriegsparteien in Konfliktgebieten. Meine Rolle in den turbulenten, bisweilen bizarren Situationen, von denen ich in den folgenden Kapiteln berichte, beruhte nicht auf irgendeiner großartigen beruflichen Strategie oder einer glänzenden Karriereplanung; ich war eher ein zufälliger Augenzeuge, der von einem verblüffenden Abenteuer in das nächste stolperte.

Meine frühesten Erinnerungen gehen zurück auf meine Kindheit in Ostafrika in den 1960er Jahren, auf eine Zeit, als der Kontinent nach erreichter Unabhängigkeit voller Versprechen und Hoffnungen war. Die reine Unschuld und Glückseligkeit dieser Jahre prägten bis heute das Paradies meiner Träume. Vielleicht war es der Wunsch, dieses Paradies wiederzuentdecken, der mich dazu veranlasste, als Erwachsener immer wieder nach Afrika zurückzukehren. Aber ebenso plausibel ist, dass eine Kindheit in ständiger Bewegung mir die Empfindung gab, mich in Afrika ebenso zuhause – oder verloren – zu fühlen wie im Nahen Osten, in Europa, in Nordamerika, oder in Asien. Viele Wurzeln bedeuten keine Wurzeln. Zu viele Neuanfänge, zu viele Abschiede ohne Goodbye. Vielleicht war es der illusorische Vergleich mit dem Glanz meiner Kindheit, der mich dazu bewog zu fragen, warum die Mächtigen ihre Macht so selten nutzten, um den Menschen auf der untersten Stufe der Leiter den Aufstieg zu ermöglichen. Ich fragte mich, vielleicht ebenso illusorisch, ob es möglich wäre, die Dinge ein bisschen anders anzugehen, den Untergangskurs vieler Länder wenn nicht umzukehren, so doch wenigstens das Tempo des Zerfalls ein bisschen abzubremsen. Im Laufe meiner Arbeit wurde ich Zeuge der verheerenden Wirkungslosigkeit der vielen multilateralen Institutionen, Hilfsorganisationen und prominenten Berater, die in ihrem ganzen Wesen unfähig oder nicht gewillt waren, die oft schon im Konzept fehlerhaften und unsinnigen Ansätze ihrer Entwicklungspolitik zu überdenken.

Mit der Zeit wurde ich schließlich selbst desillusioniert und zynisch. Jeder Erfolgsmoment und jedes Glücksgefühl in diesen Jahren täuschte mich über meine eigenen Fehler und Frustrationen hinweg; ich verdrängte meine Unzulänglichkeiten und verpasste dadurch viele Chancen auf Einsicht und Verbesserung. Vielleicht aus einem Gefühl von Mutlosigkeit oder auch tödlicher Langeweile gelangte ich schließlich an einen Punkt, an dem ich meine eigenen Überzeugungen und Hypothesen in Frage stellen musste. Zu öde waren all die geklonten, wieder und wieder kopierten, vorgefertigten Beratungsmandate, die floskelhaften Befundberichte, in denen es vor Plattitüden nur so wimmelte und die – was vielleicht am unverzeihlichsten ist – gänzlich nutz- und bedeutungslos blieben. Die wenigen Initiativen, die tatsächlich implementiert wurden, endeten in der Regel als abgedroschene pro forma Übungen, welche die Fehler und Mängel anderer Projekte importierten oder gar verschlimmerten. Ich kann heute nicht mit Sicherheit sagen, was mich zum Umdenken bewog. Aber ich bin mir sicher, dass die demütigenden und bitteren Erfahrungen mir schließlich halfen: sie haben mir in deutlicher und oft schmerzlicher Weise vor Augen geführt, wie wenig ich wirklich wusste, und wie viel mehr die Menschen, die ich zu unterrichten meinte, wussten und verstanden. Dies waren die Erfahrungen, die mich dazu anspornten, ein Entwicklungsmodell zu schaffen, das sich Herausforderungen wie Finanzmarktwissen, politische und wirtschaftliche Einbindung der Bevölkerung, öffentliche Erziehung und Wissenserwerb für einmal etwas anders stellt, mit weniger konventionellen Methoden, nicht so sehr bemüht, Anderen kategorische Anweisungen zu erteilen, sondern sie stattdessen mit dem Wissen und dem Werkzeug auszustatten, das es ihnen ermöglicht, ihre eigenen Reformen zu erarbeiten und durchzusetzen, basierend auf ihrer eigenen politischen, wirtschaftlichen, sozialen, religiösen und kulturellen Realität. Erst nachdem meine Partner und ich unsere Herangehensweise verändert und eine Plattform für die Menschen vor Ort geschaffen hatten, und erst nachdem wir ausgemacht hatten, dass wir machtbesessene Herrscher nur dann dazu bewegen konnten, das Richtige zu tun, wenn wir sie gleichzeitig überzeugten, dass das Richtige ihnen den Nimbus eines fabelhaften Retters der Menschheit verleihen würde und dass die Bürger ihrer Länder sie bis in alle Ewigkeit verehren würden – erst dann konnten wir erste, handfeste und messbare Erfolge verbuchen, und erst dann fühlte sich meine Arbeit in Afrika weniger als ein Besuch und mehr als eine Rückkehr nach Hause an.

Im Laufe dieser zwei Jahrzehnte, in denen ich es mit wenigen wirklich großen Persönlichkeiten und vielen Möchtegern-Großen zu tun hatte, musste ich durch die Korridore der Macht navigieren und wurde dabei halbwegs agil und leichtfüßig im Umgang mit den Hofnarren und Eunuchen, die diese Schauplätze durchstreifen und kontrollieren. Ich war durchaus darauf vorbereitet, leibhaftigen Beispielen von Überheblichkeit, Selbstverherrlichung, Eitelkeit und Narzissmus zu begegnen. Ich war auf hinterhältige Schleimer, auf Egomanen und Schwindler gefasst. Ich rechnete mit reichhaltigen Exemplaren von Inkompetenz und Unfähigkeit. In diesen Erwartungen wurde ich keineswegs enttäuscht. Was ich allerdings nicht erwartet hatte war, wie vorhersehbar und außergewöhnlich gewöhnlich Menschen an der Macht und im Umfeld der Macht sind oder in kurzer Zeit werden. Womöglich habe ich bloß die falschen Leute getroffen, oder es lag vielleicht daran – wie mein Freund Ayanda mir einmal sagte –, dass die Guten meistens jung sterben.

Mit wachsendem Erfolg und erhöhter Macht brauchen die Mittel immer weniger, um ihren unheiligen Zweck zu rechtfertigen, und genauso fällt es dem Zweck immer leichter, die skrupellos eingesetzten Mittel zu rechtfertigen. Nirgendwo ist die Grenze zwischen Mittel und Zweck fließender als in der Politik. Eine neue Art von Gewissen entkeimt - nicht mehr eine innere Stimme, die zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden vermag, sondern eine viel lautere Stimme, die in ständiger Selbstbestätigung die eigenen Entscheidungen rechtfertigt. Was mich wirklich fasziniert ist der Moment, in welchem dieser ichsüchtige Übergang Formen annimmt, und in den wunderbaren Verrenkungen, die der nackte Ehrgeiz und das entfesselte Machtstreben nun benötigen, um die Illusion von Integrität, Anstand und Dienst zum Wohle der Allgemeinheit aufrechtzuerhalten.

Wie gesagt, die folgenden Ereignisse und Gespräche haben alle stattgefunden. Es bestand kein Grund, diese Episoden zu erfinden oder zu übertreiben – die Realität erwies sich als skurriler und lustiger als jede einfallsreiche Dichtung. Ich habe allerdings einige Namen und Zeitabläufe verändert oder anonymisiert, weil es nie mein Ziel war, eine bestimmte Person bloßzustellen oder zu beschämen. Ebenso wenig ging es mir darum, nachtragend irgendwelche Rechnungen zu begleichen. Meine Absicht war es, die allzu menschliche und wunderliche Schattenseite der Personen zu zeigen, die in solchen Seifenblasen leben, und diese Erinnerungen mit einem Augenzwinkern und einem Lächeln zu genießen.

Prolog

Der Anruf kam ein paar Minuten nach Mitternacht.

«Ich hoffe, ich störe dich nicht.» Ich brauchte einen Moment, bis mir klar wurde, wer zu so später Stunde noch anrief.

«Keineswegs, Mary», log ich. «Was kann ich für dich tun?»

«Ich suche Mr. Grant. Seine Frau und sein Sohn hatten einen schrecklichen Autounfall, und ich schaffe es nicht, ihn zu erreichen. Weißt du vielleicht, wo er sein könnte?»

Mark Grant war der Partner, für den ich fast ausschließlich in einer der großen New Yorker Anwaltskanzleien arbeitete. Ich hatte Mark einige Jahre zuvor kennengelernt, als er an einem Freitagnachmittag an der Columbia University einen Vortrag vor ausländischen Jurastudenten hielt. Seine Ausführungen waren außerordentlich interessant, und in Kürze waren wir in einem Gespräch über die kulturellen Unterschiede zwischen der amerikanischen und der europäischen Rechtspraxis vertieft. Mark, der in Deutschland aufgewachsen und nach seinem Jurastudium in Berlin in die USA gekommen war, um seinen Magister zu machen, konnte meine Befürchtungen, wegen meiner nicht-amerikanischen Ausbildung in New York beruflich nicht Fuß fassen zu können, gut nachvollziehen. Er lud mich zu einem Vorstellungsgespräch in seiner Kanzlei ein, was zu einem überraschenden Jobangebot führte – ein Glücksfall, der in erster Linie auf Marks großzügige Empfehlung und dem hohen Ansehen, das er in der Kanzlei genoss, zurückzuführen war. In den vergangenen drei Jahren hatte ich mehr Zeit mit ihm verbracht als mit jeder anderen Person in meinem Leben, vielleicht gar mehr als mit allen anderen Personen zusammengezählt. Unsere Zusammenarbeit war intensiv und unaufhörlich, beinahe obsessiv, rund um die Uhr zu allen Tageszeiten, egal ob mitten in der Nacht oder am Wochenende. Ferien und Feiertage existierten nur, um ignoriert zu werden. Mark war ein Workaholic auf Steroiden. Pausenlose Arbeit war sein Daseinszweck, der ganze Sinn seines Lebens und seiner Identität. Leider begann auch mein Leben, diese Existenz anzunehmen. Ein Geschäftsabschluss nach dem Anderen, endloses Abfassen von Verträgen und erbitterte Verhandlungen, Myriaden von Rechtsgutachten. In meinem ersten Jahr an Marks Seite hatte ich 4160 Stunden abgerechnet. Achtzig Stunden pro Woche. Abgerechnet! Das heißt, ich lebte praktisch im Büro. Und wenn ich dort war, war Mark meistens auch dort.

Ich wusste, dass Mark in Europa war, hatte jedoch an dem Tag ausnahmsweise nicht mit ihm gesprochen. Hin und wieder neigte er dazu abzutauchen, und in diesen seltenen Fällen sah ich wenig Grund, auf die wenigen Momente der Ruhe vor meinem arbeitswütigen Chef zu verzichten.

«Du meine Güte», sagte ich. «Nein, Mary, ich habe heute nichts von ihm gehört. Hast du es im Frankfurter Büro versucht?»

«Habe ich, und auch in seiner Frankfurter Wohnung. Er ist nicht da. Bitte, Daniel, versuch doch bitte, ihn zu erreichen, und bring ihn dazu, mich umgehend anzurufen.»

Erst jetzt fiel mir ein, dass ich noch nicht nach dem Unfall gefragt hatte. «Wie geht es seiner Frau und seinem Sohn? Sind sie okay?»

«Naja, nicht unbedingt», sagte Mary. «Der Wagen flog durch die Luft und landete auf dem Dach mitten auf dem Taconic Parkway. Hillary saß am Steuer und muss wohl die Kontrolle über den Wagen verloren haben. Sie hat sich ein paar Halswirbel gebrochen, aber Matt blieb unverletzt. Der Hund wurde aus dem Wagen geschleudert, aber so wie‘s aussieht, geht’s ihm bestens.»

«Wie furchtbar! Wird Hillary bleibende Schäden haben? Wie schlimm ist es?», fragte ich.

«Die Ärzte sagen, sie wird wieder auf die Beine kommen. Sie hat Glück gehabt. Es hat nicht viel gefehlt, und dieser Unfall hätte sie permanent gelähmt. Die ganze Sache hätte viel, viel schlimmer ausgehen können. Aber ich muss Mr. Grant erreichen, damit er so bald wie möglich nach Hause kommt. Ich habe ihn für morgen Früh auf den schnellsten Flug gebucht, mit der Concorde über London.»

«Können denn Hillary und die Kinder ihn nicht erreichen?»

«Ich habe sie gefragt. Sie haben keine Ahnung, wo er ist oder wie sie ihn erreichen können. Sie wussten nicht einmal, dass er in Europa war. Du bist wahrscheinlich derjenige, der Mr. Grant am nächsten steht, und der einzige Mensch, der ihn erreichen kann.»

Ich versprach Mary, alles zu tun, um Mark zu finden, und sie dann sofort anzurufen.

Mary hatte viele Jahre lang als Marks Sekretärin gearbeitet. Sie war ungefähr in seinem Alter – Anfang 60 – und hätte schon längst in Pension gehen können, aber ihre totale Hingabe an den Chef und seine Arbeit hielt sie davon ab. Dennoch entdeckte ich einen Hauch von Ärger in ihrer Stimme. Es irritierte sie, dass Mark in Europa unerreichbar war, während seine schwerverletzte Frau in einem New Yorker Krankenhaus lag.

In dieser Nacht schaffte ich es nicht ins Bett. Ich verbrachte die nächsten sechs Stunden damit, jeden anzurufen, der in Frankfurt oder im Düsseldorfer Büro der Kanzlei Kontakt mit Mark gehabt haben könnte. Ich sprach mit allen: seiner deutschen Sekretärin, den Partnern und Kollegen, den Kanzleiassistenten, den Empfangsdamen, seinem langjährigen Chauffeur, sogar mit seiner betagten griechischen Haushälterin. Niemand wusste, wo und wie er zu erreichen war. Mark hielt nichts von Mobiltelefonen, die damals noch nicht so allgegenwärtig wie heute waren. Vielleicht weil es für ihn die einzige Möglichkeit war, ein paar ungestörte Stunden für sich herauszuschlagen, oder – wahrscheinlicher – weil er es lästig fand, so ein Ding mit sich herumzuschleppen.

In den langen Stunden dieser Nacht erinnerte ich mich zurück an die Orte überall auf der Welt, die Mark und ich gemeinsam besucht hatten. Besonders schön waren die Erinnerungen an unsere Erfahrungen in Südafrika wenige Wochen nach dem Amtsantritt von Präsident Nelson Mandela, als das ganze Land vor Freude und Glück tanzte. Ich erinnerte mich an die schöne Auszeit, die wir von unserer Arbeit in Kapstadt nahmen, um den Tafelberg hinauf zu wandern und einen herrlichen Sonnenuntergang zu erleben; oder an unsere Fahrt zum Kap der Guten Hoffnung und zu Cape Point, wo der Atlantische und der Indische Ozean aufeinander treffen. Nie hatte ich Mark so unbekümmert und von Herzen lachen sehen als beim Anblick von zwei großen Pavianen, die auf unserer Motorhaube saßen, uns anstarrten und einfach nicht weggehen wollten. Auf dieser Reise hatte ich Mark mit meinen guten Freunden Eli und Yasmin Long bekanntgemacht. Eli, ein südafrikanischer Diplomat, war so freundlich, unsere Anwaltskanzlei einigen der größten südafrikanischen Firmen und mehreren Regierungsmitgliedern vorzustellen. Eli half uns sogar bei der Planung und Durchführung eines Seminars, um Mark und einigen seiner Partner die Gelegenheit zu geben, vor südafrikanischen Beamten über die US-amerikanischen Kapitalmärkte zu referieren. Allerdings waren ihre Präsentationen leider so langweilig und herablassend, dass der ganze Anlass zu einem peinlichen Eigentor wurde. Selbst der sonst so höfliche und taktvolle Eli sagte, er habe das Seminar in Erwartung einer interessanten Vorlesung besucht und stattdessen ein Schlafmittel verabreicht bekommen. Ich hatte so große Erwartungen in dieses Seminar gesetzt, hatte gehofft, es könnte der Kanzlei den Einstieg in Südafrika und darüber hinaus in den Kontinent ermöglichen. Stattdessen musste ich die schmerzhafte Erfahrung machen, dass es Mark und seinen Partnern an der nötigen Neugierde und Bescheidenheit fehlte, um ein Gespür und ein Verständnis für andere Kulturen zu entwickeln. An diesem Abend fragte ich mich zum ersten Mal, ob es nicht besser wäre, mich selbständig zu machen, wenn ich in Afrika sinnvolle Arbeit leisten wollte.

Ich erreichte Mark endlich in seiner Frankfurter Wohnung achtzehn Stunden später mitten in der Nacht vom Sonntag auf den Montag. Er meldete sich in glänzender, angeregter Stimmung, kein bisschen verärgert über den mitternächtlichen Anruf.

«Hallo, Daniel, freut mich, von dir zu hören. Konntest du den Prospekt für unseren Lieblingsmandanten fertigstellen?»

Null Vorspiel, mit Vollgas gleich zur Sache. Wie zu erwarten.

Ich entschuldigte mich für den späten Anruf und informierte ihn so schonend wie möglich über den Unfall und die gebrochenen Halswirbel seiner Frau.

«Tut mir leid, das zu hören», sagte Mark und klang dabei völlig gelassen. «Schön, dass Matt nichts passiert ist. Wie wär’s, wenn wir uns morgen früh über ein paar Punkte in den Dokumenten unterhalten, die du mir Freitag geschickt hast?»

Ich war verblüfft. Die Nachricht vom Unfall und der schweren Verletzung seiner Frau musste Mark wohl in einen Schockzustand versetzt haben – er schien das Ganze komplett zu verdrängen. Ich setzte nochmals an und begann, ihm den Stand der Dinge in Ruhe von vorn zu erklären. Er unterbrach mich nach wenigen Worten.

«Ich habe dich schon beim ersten Mal verstanden, Daniel», sagte er ungeduldig. «Ende der Woche bin ich wieder in New York, dann kann ich mich darum kümmern.»

Mein Mitgefühl schlug blitzartig in Empörung um angesichts Marks schnippischer Reaktion. «Mark, deine Frau liegt mit gebrochenen Halswirbeln im Krankenhaus; sie muss operiert werden, was nicht ganz ohne Risiko ist. Ich denke, du solltest so schnell wie möglich zurückfliegen. Mary hat dich auf den ersten Flug in der Früh gebucht.»

Pause. «Ich verstehe», sagte Mark schließlich, eher desinteressiert. «Wie du weißt, Daniel, ist dieses wichtige Treffen mit unserem Lieblingsmandanten für Donnerstag geplant, und ich glaube nicht, dass es klug wäre, dieses Meeting abzusagen. Was meinst du?»

«Was ich meine? Was glaubst du denn, was ich dazu meine?», Es kam aus mir ein bisschen schärfer heraus als beabsichtigt. Offensichtlich war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, schleunigst nach Hause zu fliegen und seiner Frau, mit der er seit über drei Jahrzehnten verheiratet war, in diesen schweren Zeiten zur Seite zu stehen.

«Ich meine, du solltest schnellstmöglich zurückkommen. Ruf Herrn Dr. Maus an und erkläre ihm, weshalb du das Treffen verschieben musst, oder ich mache es für dich, wenn dir das lieber wäre. Ich bin mir sicher, er wird es verstehen.»

Nun, das Meeting wurde nie abgesagt. Mark traf sich wie verabredet mit Dr. Maus und seinen Kollegen am Donnerstagnachmittag in Frankfurt und kehrte am Freitagabend nach New York zurück. Ich saß an meinem Schreibtisch im Büro, als er direkt vom Flughafen in bester Laune hereinmarschierte. Er schien nicht im geringsten besorgt erzählte mir voller Elan, wie gut das Treffen mit Dr. Maus verlaufen war.

Diesmal war ich es, der ihn unterbrach. «Mark, ist nur ein bescheidener Vorschlag, aber wie wär‘s, wenn du erst mal Hillary im Krankenhaus besuchen würdest. Die Schwellung in ihrem Nacken ist endlich zurückgegangen, und die Ärzte haben die Operation auf morgen früh angesetzt. Sie wird sich sicher freuen, dich zu sehen. Das wäre doch eine nette Überraschung.» Ich bereute sofort meinen beißenden Ton – grundlos, wie sich herausstellte, denn mein Sarkasmus war ihm völlig entgangen.

«Du hast wahrscheinlich recht», sagte Mark. «Ich werde Mary bitten, mir einen Wagen zu besorgen, und etwas später hinfahren.»

Etwas später. Nicht sofort. Nicht vor fünf Tagen. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich hier fehl am Platz war. Es war Zeit zu gehen.

Erster Teil

Bezaubert in Big Sandy

Kurz nachdem ich mich aus Mark Grants Umklammerung befreit hatte, wagte ich den Sprung und eröffnete mit meinem Freund Gregg unsere eigene Anwaltskanzlei auf der Westseite der Stadt mit einem fabelhaften Blick auf den nachts hell beleuchteten Broadway. Mit etwas Glück konnten wir aus vollen Zügen loslegen und hatten schon innert weniger Tage mehr Arbeit, als wir erledigen konnten. Aber so dankbar ich auch war für all die Mandate, handelte es sich doch ausschließlich um amerikanische Geschäfte. Was mir wirklich am Herzen lag, war interessante Arbeit in Afrika.

Nur zwei Wochen nach dem Start unserer Kanzlei – wir steckten gerade mitten in der Planung unserer Eröffnungsparty für Familien, Freunde und Klienten – schien es, als wären meine Gebete erhört worden.

«Da ist ein Mr. Muture am Telefon für dich», sagte meine Sekretärin. «Schwerer Akzent, nicht amerikanisch.»

Ich war gespannt zu hören, was diese Person wollte, und nahm das Gespräch sofort an.

«Guten Morgen», sagte der Mann mit einer tiefen, angenehmen Stimme. «Mein Name ist Richard Muture. Ich habe Ihre Kontaktdaten von einem gemeinsamen Freund in Südafrika erhalten, Dr. Eli Long.»

Sein Akzent klang nach Sambia, vielleicht auch Botswana oder Zimbabwe. Seit dem katastrophalen Seminar mit Mark Grant und seinen Partnern in Südafrika hatte ich keinen Kontakt mit Eli Long und beschloss, ihn bald wieder anzurufen.

«Oh ja, der gute Eli», erwiderte ich. «Wie geht es meinem Freund?»

«Eli geht es hervorragend. Er ist aus der Regierung ausgestiegen und arbeitet jetzt für die größte Versicherungsgesellschaft des Landes. Ein Juwel, der Mann!»

«In der Tat, das ist er», sagte ich. «Was kann ich für Sie tun, Mr. Muture?»

«Bitte, Daniel, nennen Sie mich Richard.»

«Gut, also Richard, wie kann ich helfen?»

«Nun, Daniel, wir haben da eine interessante Situation, die ich gerne mit Ihnen erörtern würde, wenn Sie nichts dagegen haben.»

«Nur zu», sagte ich, «ich bin ganz Ohr.»

«Haben Sie schon einmal von der Ambassador Universität oder dem Ambassador College gehört?», fragte Richard.

«Ich fürchte, nein», antwortete ich.

«Die Ambassador Universität ist … Naja, lassen Sie mich am Anfang beginnen, wenn es recht ist», sagte Richard.

«Sehr gerne.» Ich war nicht sicher, was ich von diesem seltsamen Typ halten sollte. Etwas an seiner Übervertrautheit kam mir ein bisschen merkwürdig und abstoßend vor. Aber da ich Eli, über den der Kontakt zustande gekommen war, sehr schätzte, beschloss ich, sein Anliegen anzuhören.

«Danke, Daniel. Unser Freund Eli sagte mir, dass Sie ein ausgezeichneter Anwalt sind, der an Finanzbildung und Kapazitätsaufbau in Afrika interessiert ist. Ist das richtig?», fragte Richard.

«Ja, im Großen und Ganzen ist das richtig», antwortete ich. «Zumindest, was mein Interesse an Afrika betrifft.»

«Schön, in diesem Fall kommt mir unser Gespräch sehr gelegen. Meine Gruppe und ich wollen junge afrikanische Fachleute zur Ausbildung nach Amerika holen. Wir denken an ein Halbjahresprogramm. Die Ausbildung soll an der Ambassador Universität in der östlichen Hälfte von Texas stattfinden. Wir sind gerade daran, diese zu erwerben – die Universität, nicht die östliche Hälfte von Texas, versteht sich», fügte er mit herzlichem Lachen hinzu.

«Das ist sehr interessant, Richard», sagte ich. «Wie passe ich da hinein?»

«Daniel, mein Herzenswunsch wäre es, wenn Sie und Ihre Firma das Ausbildungsprogramm übernehmen könnten, diese jungen Leute trainieren und auf zukünftigen Führungspositionen vorbereiten würden. Wir wollen mit einer Gruppe von fünfzehn Leuten aus meiner Heimat Zimbabwe loslegen. Ich habe langfristige Zielsetzungen, denke neben dieser ersten Gruppe auch an die kommenden Jahrzehnte und zukünftige Generationen. Ein solches Projekt könnte wirklich eine Wende für Afrika und vielleicht auch über die Grenzen des Kontinents hinaus bedeuten. Was meinen Sie, Daniel, wollen Sie daran teilhaben; wollen Sie helfen, diese Wende herbeizuführen? Sind Sie interessiert?»

Ich war wie betäubt. Hätte mich jemand gebeten, das ideale Szenario für unsere Kanzlei zu skizzieren, wäre Richard Mutures Vorschlag dieser Beschreibung unheimlich nahegekommen. Er enthielt alles, worauf ich hätte hoffen können – eine nachhaltige Ausbildungsplattform, die Gelegenheit, eine junge Generation in zukünftige Führungspersönlichkeiten zu prägen, eine engagierte akademische Institution, und das alles mit einem afrikanischen Schwerpunkt. Ich musste mir meine Antwort nicht lange überlegen.

«Ich bin ausgesprochen interessiert, Richard», sagte ich. «Das klingt nach einem ausgezeichneten Vorhaben. Aber ich habe ein paar Fragen. Wenn diese Sache erfolgreich sein soll, müssen alle an einem Strang ziehen.»

«Sie haben absolut recht, Daniel», erwiderte Richard. «Ich kann Ihnen versichern, dass eine sehr motivierte Gruppe hinter uns steht, eine Gruppe mit einer nahezu prophetischen, heiligen Vision, wenn ich das so sagen darf. Sie müssen jeden Einzelnen treffen. Der Zeitfaktor ist von größter Wichtigkeit. Wir wollen sobald wie möglich anfangen. Wie schnell könnten Sie in Dallas, Texas, sein?»

«Lassen Sie mich mit meinem Partner Gregg reden, dann komme ich wieder auf Sie zu», antwortete ich.

«Selbstverständlich», sagte Richard. «Aber warten Sie nicht zu lange. Wir sehen uns auch nach anderen Firmen um. Sie wären meine erste Wahl. Doch den Luxus einer langen Wartezeit können wir uns nicht leisten.»

«Verstehe», sagte ich. «Sie werden sehr bald von mir hören.»

Ich legte auf und ging gleich in Greggs Büro. Wir steckten beide bis zum Hals tief in der Arbeit, und die anliegenden Geschäftsabschlüsse ließen eine längere Abwesenheit vom Büro nicht zu. Andererseits war Richard Mutures Vorschlag zu verlockend, um ihn entgehen zu lassen. Gregg war der gleichen Meinung. Da ich in der folgenden Woche ins Ausland fliegen musste, kam als einzige Möglichkeit, diese Gruppe zu treffen, nur der nächste Tag infrage. Ich war mir der Gefahr bewusst, dass dies einen übereifrigen Eindruck erwecken konnte, aber ich hoffte, Richard würde es als Ausdruck unserer Begeisterung und unserer Bereitschaft ansehen, seinem dringlichen Anliegen entgegenzukommen.

Ich rief Richard an und teilte ihm mit, dass Gregg und ich am nächsten Morgen nach Texas fliegen könnten, um den Tag mit ihm und seinen Kollegen zu verbringen. Richard war hocherfreut und klang richtig aufgeregt, als er uns den genauen Ort gleich außerhalb des Flughafenterminals beschrieb, wo er und sein Partner uns abholen würden.

Wir fanden einen Flieger, der morgens kurz nach sechs in Newark starten und gegen neun Uhr dreißig in Dallas landen sollte. Gregg und mir war klar, was das bedeutete: Wir mussten die Nacht durcharbeiten, dann schnell nach Hause, duschen, umziehen und gegen vier Uhr in der Früh zum Flughafen aufbrechen. Aber wir waren zu aufgeregt über diese fantastische Gelegenheit, um an unseren Schlaf zu denken.

Wir landeten in Dallas kurz vor zehn und verließen eilig das Flugzeug. Sobald wir aus dem Terminalgebäude heraustraten, erkannte ich Richard und seinen Partner auf den ersten Blick; sie standen vor einem grünen Minivan und waren schwer zu übersehen – Richard klein und drahtig, gekleidet in einen braunen Nadelstreifenanzug mit blassrosa Hemd und glänzend grüner Krawatte, sein Partner ein riesiger Koloss in Jeans, Cowboystiefeln, kurzärmeligem Hemd und mit einem großen weißen Stetson. Ein zierlicher Afrikaner neben einem gigantischen Redneck, genau wie Richard es ausgedrückt hatte.

«Meine Herren, Willkommen in Texas!» rief Richard, als er mit offenen Armen auf uns zukam. «Ich darf Ihnen meinen Partner Kyle vorstellen.»

Wir schüttelten uns die Hände, und ich machte Richard mit Gregg bekannt.

«Wollen wir?», sagte Richard und deutete auf den Wagen.

Gregg nahm vorne auf dem Beifahrersitz neben Kyle Platz, während ich mich mit Richard nach hinten setzte.

«Wohin fahren wir?», fragte ich Richard, als wir den Flughafen hinter uns ließen.

«Daniel, gleich werden Sie den Zauber von Big Sandy, Texas, erleben», antwortete Richard.

«Big Sandy? Wo ist das?», fragte ich.

«Big Sandy liegt rund zwei Stunden von hier entfernt in Richtung Louisiana. Kommt auf den Verkehr an», sagte Kyle, ohne sich umzudrehen.

«Was gibt es in Big Sandy?», wollte ich wissen.

«In Big Sandy befindet sich die Ambassador Universität», antwortete Richard.

Ich erinnerte mich, dass er die Ambassador Universität bei unserem ersten Telefongespräch erwähnt hatte. Das war mir völlig entfallen, und jetzt bedauerte ich, nicht mehr über diese Institution zu wissen. Ich versuchte, Richard in ein Gespräch über die Universität und das geplante Projekt zu verwickeln, aber er gab mir zu verstehen, dass er darüber erst sprechen wollte, wenn wir unser Ziel erreicht hatten. Mit halbem Ohr lauschte ich dem etwas seltsamen Smalltalk zwischen Gregg und Kyle. Kyle sprach mit schwerem Südstaatenakzent, und ich hatte Mühe, ihn zu verstehen.

«Also, Gregg», hörte ich Kyle fragen, «womit verdienen Sie Ihren Lebensunterhalt?»

«Ich bin ein Jurist», antwortete Gregg.

«Ein was?», fragte Kyle.

«Ein Jurist, ein Rechtsanwalt», erläuterte Gregg.

«Aha, Rechtsanwalt», sagte Kyle in übertriebener Erleichterung, als ob ein Anwalt dem Juristen weit vorzuziehen wäre.

«Und was machen Sie denn so, Kyle, wenn ich fragen darf?», fragte Gregg.

«Ich arbeite im Ölgeschäft», antwortete Kyle.

«Was genau ist Ihre Aufgabe im Ölgeschäft?», fragte Gregg.

«Ich finde Ölquellen», sagte Kyle.

«Oh, interessant. Und wie finden Sie die?»

«Gott zeigt mir den Weg.»

«Tatsächlich?»

«Ja, tatsächlich. Gott führt mich geradewegs zu den Quellen.»

Gregg drehte sich um und sah mich mit einem vorwurfsvollen das-darf-doch-wohl-nicht-wahr-sein Blick an. Alles was ich aufbringen konnte, war ein verlegenes Lächeln, und nach einem kurzen Kopfschütteln wandte sich Gregg wieder Kyle zu.

«Und warum hat Gott gerade Sie auserkoren?», fragte Gregg.

«Weil er mich liebt, weil er meinen Glauben über alles schätzt, und weil er an unseren guten Pastor Richard glaubt», kam Kyles Antwort.

Ich sah Richard an. «Sie sind Pastor?»

«Ich habe meine Herde, ja», sagte Richard mit gedämpfter Stimme. «Aber ich prahle nicht gern. Kyle gehört zu den ergebensten Schafen meiner Herde. Und dafür wurde er reichlich belohnt.»

Allmählich dämmerte mir, dass sich dieser Tag erheblich anders gestalten würde, als ich es mir vorgestellt hatte. Daran konnte ich im Moment nicht viel ändern; ich saß einfach fest in einem Minivan unterwegs in den abgelegenen Osten von Texas. Also beschloss ich, die Reise so gut es ging zu genießen. Der Verkehr lichtete sich allmählich, und Kyle trat aufs Pedal. Schließlich erreichten wir Big Sandy.

Unmittelbar unter dem kleinen Schild «Willkommen in Big Sandy» am Ortseingang fand sich das sehr viel größere Schild der Ambassador Universität mit der Überschrift «Weltweite Kirche Gottes». Gregg drehte sich erneut um und sah mich mit einem süffisanten Lächeln an.

Als wir an das Hauptgebäude heranfuhren, trat ein tief orange-gebräunter Mann in den Vierzigern heraus und kam mit einem breiten Grinsen auf uns zu.

«Willkommen in der Ambassador Universität! Willkommen in Big Sandy! Es ist mir eine Freude, Sie begrüßen zu dürfen. Ich bin Ned.»

Richard machte Gregg und mich mit Ned bekannt. «Diese Herren sind den ganzen Weg von New York gekommen, um uns zu helfen.»

Ehe ich etwas sagen konnte, schloss Ned uns beide kräftig in die Arme. «Vielen, vielen Dank. Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie viel euer Besuch uns bedeutet.»

Gregg würdigte mich mit einem weiteren Blick. Das Lächeln von vorhin war nun verschwunden.

«Ihr Jungs müsst hungrig sein», sagte Ned. «Lasst uns doch hinein und das Brot brechen. Wir haben eine bescheidene Mahlzeit vorbereitet.»

Ned führte uns in den Speisesaal, wo der Tisch bereits zum Lunch gedeckt war, und stellte uns seiner Assistentin Savannah vor.

«Lasset uns beten», sagte Ned und fügte mit Blick auf Richard hinzu: «Reverend, wären Sie so freundlich, das Gebet zu übernehmen?»

Ehe ich mich versah, hielt Savannah meine linke und Richard meine rechte Hand fest.

Richard sprach: «Segne, Vater, unser Essen; segne, Vater, unser Brot. Und segne diese beiden Männer, die gekommen sind, in unsrer Not. Gekommen sind sie, statt zu ruhn, uns zu helfen, Dein Werk zu tun. Amen.»

Wie sehr die Erwartungen zwischen der Big Sandy-Gruppe und uns auseinanderklafften, ließ sich an Greggs Gesichtsausdruck ablesen, der sich bestenfalls als verdattert beschreiben ließ. Die Atmosphäre in diesem Speisesaal war befangen und angespannt. Ich beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen.

«Vielen Dank für den herzlichen Empfang», begann ich vorsichtig. «Bitte verzeihen Sie mir, es tut mir sehr leid, dieser guten Stimmung einen Dämpfer zu versetzen, aber ich kann nicht ganz nachvollziehen, wieso wir heute hier sind. Ich wäre sehr dankbar, und ich glaube, ich spreche auch für Gregg, wenn einer von Ihnen etwas Licht auf den Zweck unseres Treffens werfen könnte.» Ich hatte während der letzten Worte Richard angesehen, der meinem Blick jedoch auswich.

«Ned, übernimm doch du das Zepter.» sagte Richard.

«Nur zu gerne», sagte Ned aufgeräumt. «Wie Ihnen Richard sicher berichtet hat, hatte das Ambassador College in den vergangenen Jahren mit einigen Herausforderungen zu kämpfen.»

«Nein, das hat Richard mir nicht berichtet», warf ich dazwischen.

«Wie Sie sich sicher vorstellen können», fuhr Ned ungeachtet meines Einwands fort, «war ich hocherfreut zu erfahren, dass Sie und Ihre Klientel den Erwerb des Ambassador Colleges finanzieren können.»

Ich war verblüfft. «Können Sie das bitte wiederholen?»

«Ja, natürlich. Wir waren hocherfreut, regelrecht begeistert», führte Ned weiter aus, ohne meine Bestürzung zur Kenntnis zu nehmen.

«Bitte, Ned», sagte ich etwas lauter. «Ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie von Anfang an beginnen könnten. Wer kauft das Ambassador College und wer verkauft es? Ich fürchte, hier fehlen uns einige wesentliche Informationsstücke.»

«Ja, zum Beispiel was zum Teufel wir hier tun», hörte ich Gregg murmeln.

«Oh, natürlich, warum haben Sie das nicht gleich gesagt», erwiderte Ned. Er hatte Gregg entweder nicht gehört oder ignorierte ihn absichtlich. «Wo soll ich anfangen?»

«Beginnen wir mit dem Essentiellen», sagte ich. «Wer verkauft das Ambassador College, wer kauft es, und welche Rolle können wir Ihrer Meinung nach in dieser Sache spielen?»

«Wie vertraut sind Sie mit der Weltweiten Kirche Gottes?», fragte Ned.

«Nicht besonders vertraut», erwiderte ich. «Genauer gesagt, mein Wissen beschränkt sich auf das Schild, das ich am Ortseingang gesehen habe.»

Ned bedachte mich mit einem mitleidigen Blick. Ich tat ihm offenbar leid, weil ich mein Leben bisher in solch bedauernswertem Unwissen verbracht hatte.

«Tja, Sie in die Kirche Gottes einzuweihen, überlasse ich unserem lieben Pastor Richard», sagte Ned. «Vielleicht kann er Sie später einweihen.»

«Das wäre nett», sagte ich und sah Richard an, der meinen Blick nach wie vor hartnäckig vermied.

«Also gut», fuhr Ned fort, «das Ambassador College gehört der Weltweiten Kirche Gottes. Sie besitzt zwei weitere Universitätsgelände, eines in Kalifornien und eines in England. Die Kirche Gottes hat beschlossen, das Gelände in Big Sandy aufzugeben.»

Ned schwieg plötzlich und sah Richard und Kyle an, als wollte er sie auffordern, sich ins Gespräch einzuschalten. Kyle kaute fleißig, und Richard machte keine Anstalten, auch nur das Geringste zu Neds Ausführungen beizutragen.

«Okay, und was hat all das mit uns zu tun?», fragte ich, um das unangenehme Schweigen am Tisch zu brechen.

«Sie, Ihre Partner und Ihre Mandanten werden den Kauf des Ambassador Colleges durch unsere Gruppe finanzieren, so Gott will», sagte Ned mit einem allwissenden Lächeln.

Ich vermied es Gregg anzusehen, damit wir nicht beide in Gelächter ausbrechen würden.

«Tut mir leid, da scheint ein kleines Missverständnis vorzuliegen», sagte ich. «Von dieser ganzen Sache höre ich zum ersten Mal. Nur mal aus Neugier, rein hypothetisch gefragt, wie würden wir denn diesen Kauf der Universität durch Ihre Gruppe finanzieren? Und, noch wichtiger, warum sollten wir das tun?»

«Warum? Weil Sie Gottes Werk tun, genau wie wir», erwiderte Ned. «Richard hat große Pläne für diesen Ort. Wir werden arme Kinder aus Afrika herbringen, werden sie kleiden, ausbilden und in Gottes Wegen unterweisen. Dies ist eine heilige Mission.»

Ich sah Richard an, und diesmal war ich entschlossen, ihn so lange zu fixieren, bis er reagierte.

Richard fühlte sich sichtlich unwohl. «Ned spricht für uns alle», murmelte er kleinlaut.

«Nun denn, Ned, da Sie für alle sprechen», sagte ich, Richards Akzent und Tonlage imitierend, «muss ich Sie leider enttäuschen. Das alles hörte sich ein wenig anders an, als Richard mich gestern anrief.»

Ned ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. «Das ist Schnee von gestern, Daniel. Lasst uns nicht mit der Vergangenheit hadern, sondern stattdessen in die Zukunft schauen. Lasst uns tun, was immer wir können, um diese armen afrikanischen Seelen zu retten.»

«Amen», nuschelte Kyle mit vollem Mund.

«Sehen Sie, Ned», sagte ich. «Ich bin nur ungern der Bote schlechter Nachrichten. Aber diese Geschichte hat überhaupt nichts zu tun mit dem, was Richard und ich am Telefon besprochen haben. Hätte ich gewusst, was Sie von uns erwarten, hätten wir uns den Flug erspart. Wir haben weder die Absicht noch die Mittel, Ihnen bei der Finanzierung dieses Unterfangens zu helfen. Wir sind keine Geschäftsleute, die Universitäten kaufen.»

«Sagen Sie das nicht, Daniel, Sie sollten nichts überstürzen», erwiderte Ned herablassend. «Überlegen Sie sich die Sache gut. Dies ist Ihre Chance auf Erlösung, Ihre Gelegenheit, Gottes Werk zu tun!»

«Oh Mann», hörte ich Gregg murmeln.

«Ich will versuchen, es so freundlich wie möglich zu formulieren, Ned», sagte ich und gab mir dabei große Mühe, nicht die Beherrschung zu verlieren. «Es gibt viele Wege, Gottes Werk zu tun. Dieser ist nicht meine erste Wahl, auch nicht meine zweite oder dritte. Tatsächlich fällt diese Angelegenheit nicht einmal unter meine Top fünfzig.»

«Sind Sie sicher?», fragte Ned in einem letzten Versuch, meine verlorene Seele zu retten.

Ich war versucht zu sagen «Verdammt sicher», sagte aber nur «Vollkommen sicher».

Ned schwieg eine Weile. Nur Kyles Kaugeräusche waren zu hören. Selbst die angespannte Stimmung im Raum konnte diesen großen Jungen nicht von seinem Essen abhalten.

«Schön und gut, Daniel», sagte Ned schließlich in bester Laune. «Was uns Menschen von den Tieren unterscheidet ist, dass Gott uns die Freiheit der Wahl gegeben hat. Was mich betrifft, so respektiere ich Ihre Wahl.»

«Zu freundlich.»

«Ist doch selbstverständlich», fügte er hinzu, «auch wenn Sie vom richtigen Weg abgekommen sind. Zum Glück verlieh mir, verlieh uns, der Barmherzige gleichzeitig auch die Kraft der Vergebung.»

Er konnte es einfach nicht lassen. Ich beschloss darüber hinwegzusehen. Zu diesem Zeitpunkt machte ich mir eher Sorgen, ob denn Gregg auch barmherzig genug war, mir zu vergeben.

Wir verbrachten den Rest der Mahlzeit in trivialer Unterhaltung über Sport – Kyle war ein großer Fan der Dallas Cowboys, Gregg war Anhänger der Detroit Lions – und gegen Ende war die Stimmung so angenehm, als wären wir nur eine Gruppe alter Freunde, die sich zum Lunch trafen. Bevor es zurück nach Dallas ging, bestand Ned auf einer ausgiebigen Tour quer durch den Ambassador College Campus, vielleicht in der Hoffnung, wir könnten es uns anders überlegen, sobald wir den himmlischen Zauber des Ortes erlebten.

In der nächsten Stunde fuhren wir über einen völlig verlassenen Campus, der sich wie eine Geisterstadt anfühlte. Während der gesamten Tour begegneten wir keiner einzigen Seele. Unsere Gastgeber zeigten uns die Schlafsäle, die Turnhalle, die Bibliothek, das große Auditorium und sogar ein kleines Rollfeld, das von Unkraut überwuchert war.

«Wozu dient diese Landebahn?», fragte ich.

«Ausländische Würdenträger besuchten uns hier von Zeit zu Zeit», sagte Ned. «Sie landeten hier und schätzten den direkten Zugang zum Campus. Der letzte prominente Besucher war der Chef von Israels Likud Partei. Haben Sie davon gehört?»

«Ich denke schon», antwortete ich, «was wollte er hier?»

«Die Kirche Gottes setzt sich sehr für die israelische Siedlerbewegung in Judäa und Samaria ein», antwortete Ned und benutzte dabei die biblischen Namen der besetzten Gebiete im Westjordanland. «Wir alle sind Kinder Gottes, wie Sie wissen, und Er hat uns alle gleich geschaffen. Aber vielleicht sind einige etwas gleicher als andere, im Sinne von rechtschaffen, verstehen Sie.»

«Klar», sagte ich, «selbst wenn sie irregeführt sind.»

Wir fuhren zum Hauptgebäude zurück. Ned und Savannah stiegen aus dem Minivan.

«Es hat mich sehr gefreut, Sie zu kennenzulernen», sagte Ned. «Kommen Sie gut nach Hause. Und wer weiß, vielleicht sehen wir uns ja einmal wieder.»

«Vielleicht, wer weiß», antwortete ich. «Vielleicht im nächsten Leben.» Ich war mir nicht sicher, wie die Weltweite Kirche Gottes zur Katechese der Seelenwanderung und Wiedergeburt stand.

Die Rückfahrt nach Dallas verlief ereignislos. Kein Wort über das bizarre Treffen in Big Sandy. Ich sprach Richard nicht darauf an, es wäre zwecklos gewesen. Er hatte mich zu ködern versucht in der Hoffnung, das imposante Ambassador College und die Aussicht auf ewige Belohnung im Himmelreich würde mich dazu bringen, ihm und seinen Freunden zu helfen. Richards Plan war nicht aufgegangen, und seinem Gesichtsausdruck nach zu schließen, fühlte er sich viel schlechter als ich.

Als wir uns Dallas näherten, drehte sich Kyle um und fragte: «Ich kriege ein bisschen Hunger. Hättet ihr Jungs Lust, irgendwo anzuhalten für ein frühes Abendessen vor eurem Flug?»

«Nein, danke», platzten Gregg und ich wie aus einem Mund heraus.

Kyle und Richard setzten uns am Flughafen ab. Gregg und ich stiegen aus dem Wagen und machten uns so schnell wir konnten davon. Im Terminal angelangt, blieben wir stehen und brachen in Gelächter aus.

Wir fanden eine Bar und bestellten ein paar Drinks.

«Auf die Ambassador Universität und die Kirche Gottes», sagte Gregg, als wir mit unseren Gläsern anstießen.

«Darauf trinke ich!»

Der Scotch schmeckte gut. Sündhaft gut.

Dubai-Träume

Ich brauchte eine ganze Weile, um über meine Leichtgläubigkeit beim Big-Sandy-Abenteuer hinwegzukommen. Jedes Mal, wenn die Erinnerungen an diesen peinlichen Tag zu meiner Erleichterung zu verblassen begannen, wies Gregg mit spöttischer Anerkennung meines beeindruckenden Geschäftsentwicklungstalents nochmals auf meine scharfsinnige, hochentwickelte Menschenkenntnis hin, die es mir ermöglicht hatte, Scharlatane schon von weitem zu erkennen und umsichtig zu vermeiden. Ich hatte seinen Spott reichlich verdient.