Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Carl Ritter (1779-1859) gilt zusammen mit Alexander von Humboldt als Begründer der wissenschaftlichen Geographie und hat sich besonders durch seine Lehre an der Allgemeinen Kriegsschule und der Universität in Berlin sowie seinen zahlreichen Publikationen zur Erdkunde hervorgetan. Im vorliegenden Buch wird neben Ritters Beitrag zur militärischen Ausbildung in Geographie unter dem Schlagwort »zivile Geographie« auch der Einfluss seiner Universitätslehre im In- und Ausland untersucht. Am Beispiel Karl Haushofers wird aufgezeigt, wie Ritters Hochschullehre von Preußen aus ihren Weg ins Ausland fand und über die Schul- und Offiziersausbildung auch im Königreich Bayern verbreitet wurde. Des weiteren wird erstmals auf die Gründung der Geographischen Gesellschaft in München und des Deutschen Alpenvereins Sektion München im Jahr 1869 eingegangen, in der sich neben interessierten Laien sowohl Geographen der Militärbildungsanstalten als auch Schulgeographen engagierten und sich zu einem Zeitpunkt, als es noch keinerlei Hochschulgeographie in München gab, auf vielfältige Art und Weise austauschten und fortbildeten.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 234
Veröffentlichungsjahr: 2019
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
CARL RITTER
Ausschnitt einer Lithographie von G. Engelbach nach einem Gemälde von Carl Begas (1844)
Vorwort
E
RSTER
T
EIL
Ritters Geographie in Berlin
Einleitung
1. Vorgeschichte und Gründung der Allgemeinen Kriegsschule
2. Ritters geographisches Arbeiten vor 1820
3. Ritters Wechsel nach Berlin 1820
4. Ritters Lehrtätigkeit in Berlin
5. Geographieausbildung an der Allgemeinen Kriegsschule
6. Ritter als Studiendirektor im Kadetten-Corps (1825-1831)
7. Geographie an der Allgemeinen Kriegsschule seit 1827
8. Ritters methodische Aufsätze und Veröffentlichungen seiner Kollegen und Offiziersschüler
9. Änderungen im Unterricht an der Allgemeinen Kriegsschule seit 1835
10. Geographie an der Kriegsschule nach Ritters Zeit
Z
WEITER
T
EIL
Ritters Nachwirkung auf Haushofers Geopolitik in München
11. Ritters Wirken als Hochschulgeograph
12. Ritters Publikationen
13. Die Kolosse von Bamiyan – ein Beispiel aus Ritters Publikationen
14. Ritter-Rezeption im Ausland
15. Gründung der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin
16. Entwicklung von Schulatlanten
17. Geographieunterricht an Münchner Gymnasien
18. Gründung der Geographischen Gesellschaft in München
19. Gründung des Deutschen Alpenvereins Sektion München
20. Geographie an Münchner Hochschulen
21. Geographische Einflüsse während Haushofers Schulzeit
22. Geographische Einflüsse während Haushofers Ausbildung an der Bayerischen Kriegsakademie
23. Anfänge von Haushofers Geopolitik
Anhang
1. Lehrer der Allgemeinen Kriegsschule/Kriegsakademie in Berlin
2. Unterschiedliche Einteilungen der Geographie (1) und Militärgeographie (2) im Jahr 1869
3. Entwurf des Geographischen Vortrags in der Allgemeinen Kriegsschule auf ein Jahr
4. Entwurf des Geographischen Vortrags in der Allgemeinen Kriegsschule auf zwei Jahre
5. Chronologische Übersicht über Ritters Ausbildung, seine Unterrichtsorte und seine Aufgaben
Anmerkungen
Literatur
Unveröffentlichte Quellen
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Personenindex
Danksagung
Über die Autorin
Im Jahr 2019 begehen wir nicht nur den 250. Geburtstag des Forschungsreisenden und Universalgelehrten Alexander von Humboldt, sondern auch den 240. Geburtstag des um zehn Jahre jüngeren Geographen Carl Ritter, der sich besonders durch seine Lehre an der Allgemeinen Kriegsschule und der Universität in Berlin sowie seinen zahlreichen Publikationen zur Erdkunde hervorgetan hat. Aus diesem Anlass sollte ein überarbeiteter Reprint meiner nicht mehr im Buchhandel erhältlichen Schrift über »Carl Ritters Lehrtätigkeit an der Allgemeinen Kriegsschule in Berlin (1820-1853)« aus dem Jahr 2002 in erweiterter und veränderter Form herausgegeben werden. Nachdem darin unter dem Schlagwort »militärische Geographie« vor allem Ritters Beitrag zur militärischen Ausbildung in Geographie beschrieben wurde, ergänze ich im vorliegenden Buch im zweiten Teil auch den Einfluss von Ritters Universitätslehre im In- und Ausland unter dem Schlagwort »zivile Geographie«. Als Grundlage diente mein Aufsatz »Carl Ritters (1779-1859) Einfluss auf die Geographie bis hin zur Geopolitik Karl Haushofers (1869-1946)« aus dem Jahr 2004. Darin wird am Beispiel Karl Haushofers aufgezeigt, wie Ritters Hochschullehre von Preußen aus ihren Weg ins Ausland fand und über die Schul- und Offiziersausbildung auch im Königreich Bayern verbreitet wurde. Im erweiterten Aufsatz gehe ich zudem erstmals auf die Gründung der Geographischen Gesellschaft in München und des Deutschen Alpenvereins Sektion München im Jahr 1869 ein, in der sich neben interessierten Laien sowohl Geographen der Militärbildungsanstalten als auch Schulgeographen engagierten und sich zu einem Zeitpunkt, als es noch keinerlei Hochschulgeographie in München gab, auf vielfältige Art und Weise aus tauschten und fortbildeten.
Daneben werfe ich auch ein Blick auf Ritters literarische Arbeitsweise und füge beispielhaft seine Beschreibung der »Colosse von Bamiyan« mit ein. Nach der Zerstörung der Buddhastatuen durch Taliban-Milizen im März 2001 dürfte Ritters authentische Beschreibung dieses Weltkulturerbes aus der Sicht ihrer Entdeckung im Jahr 1832 allgemein von Interesse sein. Zusätzlich wird das neue Buch mit weiteren Abbildungen teilweise auch farbig illustriert. In den wörtlichen Zitaten wird übrigens die Originalschreibweise beibehalten.
München, im April 2019
Cornelia Lüdecke
»Wenn eine Zeitlang gutes militärgeographisches Wissen die preußische Armee vor allen anderen auszeichnete, so war dies die Frucht Ritters.«1 So lobte man noch 150 Jahre nach seinem Geburtstag den ersten deutschen Hochschulgeographen Carl Ritter (1779-1859), »der zu Berlin an der Universität und an der Kriegsakademie, wo u. A. ein v. Roon und v. Sydow seine Schüler wurden, anregend begeisternd über Geographie gesprochen und geschrieben hat.«2 Gemäß Ritters Auffassung gehörte die Geographie zu den historischen Wissenschaften im weiteren Sinn, wobei die Erde sich nicht ohne ihre Bewohner und diese nicht ohne jene denken lasse, denn »beide wirken beständig aufeinander, und Geschichte und Geographie bleiben darum immer unzertrennlich«.3
Bisher wurde Carl Ritter (1779-1859) unter verschiedenen Gesichtspunkten hauptsächlich als geographischer Schriftsteller und Universitätslehrer betrachtet. Unter anderem behandelten Schmitthenner (1951) Ritters geographisches Werk und Müller (1965) seine Beiträge zur kulturhistorischen Völkerkunde.
Ritters 200. Geburtstag im Jahr 1979 gab den Anlass zu mehreren Tagungen und Publikationen in Ost- und Westdeutschland, in denen verschiedene Aspekte seines Lebenswerkes und sein Einfluss auf die Entwicklung der Geographie vorgestellt wurden.4Beck (1979, 1981) betrachtete Ritter unter dem Gesichtspunkt »Genius der Geographie«, während Schultz (1980, 1981, 2010) Ritters Bedeutung als Gründer der Geographie mehrfach in Frage stellte.5 Büttner (1980) präsentierte Ritter im Zusammenhang der europäischen-amerikanischen Geographie, während Lenz (1981) Ritters Geltung und Deutung herausarbeiten ließ. Schließlich stellte Schach (1995) erkenntnistheoretische Überlegungen zu Ritters Geographie und Naturphilosophie an und Schmutterer (2018) beschäftigte sich mit Ritters »Erdkunde von Asien« im Zusammenhang mit den Anfängen der wissenschaftlichen Geographie.
Ritters 33jährige Lehrtätigkeit an der Allgemeinen Kriegs schule in Berlin ist in der heutigen Forschung weitgehend unbeachtet geblieben, obwohl sie eigentlich seine Hauptaufgabe in Berlin gewesen war.6 Nur sein Biograph und Schwager Gustav Kramer (1806-1888) ging im Kapitel »Ritter als Lehrer« auf 21 Seiten darauf ausführlicher ein, während Ritters Universitätslehre nur auf 3 Seiten Erwähnung findet.7 Kramers Buch blieb die einzige Quelle für die nachfolgenden Biographien von Ratzel (1879), Beck (1979) und Büttner (1980), welche jedoch den militärischen Zusammenhang von Ritters Tätigkeit nur kurz streiften. Hier soll nun Ritters Wirken an der Kriegsschule erstmals unter Bezugnahme auf weitere gedruckte Quellen ausführlich vor dem Hintergrund der politischen und bildungspolitischen Entwicklung in Berlin behandelt werden. Eine interessante Quelle liefert in diesem Zusammenhang Hauptmann a. D. v. Scharfenort. Er war Professor und Vorstand der Kriegsbibliothek in Berlin und hatte im dienstlichen Auftrag ein Buch über die königlich preußische Kriegsakademie geschrieben. Durch die Verwendung amtlicher Unterlagen hat er eine einzigartige Quelle für den Zeitraum 1810 bis 1910 geschaffen, denn laut Auskunft des Miltitärarchivs in Freiburg/Br. und des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz in Berlin aus dem Jahr 1995 heißt es, dass der Aktenbestand der Allgemeinen Kriegsschule bzw. der nachmaligen Kriegsakademie, der 1935 in das Heeresarchiv nach Potsdam übergegangen war, im April 1945 verbrannt ist.8
An der Kriegsschule hatte Ritter einige talentierte Schüler, mit denen er im engsten Kontakt stand und die er sehr förderte. Insbesondere sollen im 1. Teil Ritters methodische Beiträge referiert werden, die auf Vorträgen an der Akademie der Wissenschaften basieren und sich inhaltlich aus der Behandlung des geographischen Stoffes sowohl an der Kriegsschule als auch an der Universität ergeben hatten. Diese Veröffentlichungen stellen grundlegende Inhalte seines Unterrichts vor, die wohl inhaltlich an beiden Ausbildungsstätten prinzipiell identisch waren, siehe Anhang 3 und Anhang 4. Dabei unterschieden sich die Vorlesungen an beiden Unterrichtsstätten im Stil erheblich, indem sie an der Universität weniger zu eigenem Studium anregten als die eher praktisch orientierten Vorträge vor den Offizieren an der Allgemeinen Kriegsschule. Es ist bemerkenswert, dass an der Universität keine unmittelbare Ritterschule entstanden war. Im akademischen Bereich hatte Ritter eher durch seine umfangreiche, aber auch als schwer lesbar bezeichnete, erdkundliche Literatur gewirkt.
Friedrich Ratzel (1844-1904), der sich selbst als ideeller Ritterschüler betrachtete, wurde 1997 anlässlich des 100. Jubiläums seines maßgebenden Lehrbuches über Politische Geographie während einer Tagung zum Thema »Europa zwischen politischer Geographie und Geopolitik« in Triest gedacht.9 Seine Vorstellung vom geographischen Raum war Leitfaden einer Veranstaltung zu seinem 100. Todestag in 2004, die in Leipzig organisiert wurde.10 Dazwischen reihen sich zwei Tagungen ein, die sich mit den unterschiedlichsten Facetten der Geopolitik beschäftigten, deren bekanntester Vertreter Karl Haushofer (1869-1946) war, ein Bewunderer Ratzels und Anhänger Ritters.11
Die von Haushofer mit geprägte Raumwissenschaft, die in der Weimarer Republik und dem Dritten Reich unter dem Schlagwort »Geopolitik« bekannt wurde, sowie ihre Kritik wurden in einigen Dissertationen thematisiert, die auch seine vermutete Rolle als Hitlers Lehrmeister und Vater der NS-Ideologie untersuchten.12 Neuere Bücher behandeln Deutschlands Geopolitik oder Volk ohne Raum, ohne jedoch im Detail auf die Ursprünge der Geopolitik einzugehen.13 Die Entwicklungslinie von Ritters »Vergleichender Erdkunde« über die bayerischen Militär- und Schulausbildung sowie über Ratzels Politische Geographie bis hin zu Haushofers Entwicklung der Geopolitik in München wird im 2. Teil näher ausgeführt. Dabei wird auch auf die Rolle der 1869 in München gegründeten Geographischen Gesellschaft und des im selben Jahr gründeten Deutschen Alpenvereins Sektion München eingegangen, die als frühe geographische Foren einen populärwissenschaftlichen Austausch von Weltreisenden bzw. alpinen Erschließern ermög lichten in einer Zeit, als es in München noch keine Hochschulgeographie gab.
Nach der Auflösung des Deutschen Reiches durch Napoleons Sieg bei Jena und Auerstedt (1806) gab es im Zuge der großen preußischen Reformen in den Bereichen Verwaltung, Heer und Bildung starke Veränderungen. König Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) stiftete 1810 die Königliche-Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, an deren Aufbau Wilhelm Frhr. von Humboldt (1767-1835) sich maßgeblich beteiligte und der auch die ersten Professoren ernannte.14 Darunter befand sich auch eine außerordentliche Professur für Geographie, die von August Zeune (1778-1853) bekleidet wurde, der über historische Geographie promoviert hatte.15
Die Reformen auf militärischem Gebiet waren schon früher sichtbar. Zunächst sollte der exerziermäßige Drill des bisherigen friderizianischen Heeres durch Übungen unter kriegsähnlichen Bedingungen ersetzt werden.16 Es galt nun das Ziel, Offiziere zum selbständigen Denken und Handeln zu erziehen und das alteingefahrene System durch das Leistungsprinzip abzulösen.17 Dafür mussten neue Ausbildungsanstalten eingerichtet werden, die das benötigte Wissen vermittelten. In der Kabinetsordre vom 20. März 1809 wurden erstmals bürgerliche Zöglinge zugelassen, die jedoch Söhne von Offizieren sein mussten. Aber nur ein geringer Teil der Offiziersanwärter wurde in Kadettenschulen erfasst. Die übrigen Anwärter mussten die erforderlichen Kenntnisse in der Schule oder durch Hauslehrer erwerben. Im darauffolgenden Jahr richtete Gerhard von Scharnhorst (1755-1813) aufgrund der Kabinetsordre vom 3. Mai 1810 in Berlin, Breslau und Königsberg Kriegsschulen ein, nicht um das Gedächtnis zu schulen, sondern den Verstand und die kritische Urteilskraft. Diese Schulen bereiteten Portepéefähnriche (Offiziersaspiranten, welche die Fähnrichsprüfung bestanden und mindestens ein halbes Jahr gedient hatten) in neun Monaten auf das Offiziersexamen vor, während jungen Offizieren in einem dreijährigen Kurs eine höhere militärische und wissenschaftliche Ausbildung geboten wurde.18
Die Vorlesungen an der Kriegsschule begannen gleichzeitig wie an der Universität am 15. Oktober und endeten am 15. Juli. In der ersten Oktoberhälfte des 1. und 2. Kurses und der letzten Julihälfte des 3. Kurses waren praktische Übungen vorgesehen. Für die nicht militärischen Fächer wurden überwiegend zivile Dozenten eingesetzt. Unter den Lehrern der Offiziersklasse befanden sich Major Carl von Clausewitz (1780-1831) für die Fächer Kleiner Krieg und Generalstabsdienst und Professor Christian August Stützer (1765-1824) für Militärgeographie und Kriegsgeschichte.19 Militärische Geographie wurde im ersten Kurs gelesen, darauf folgte in den beiden nächsten Kursen Kriegsgeschichte, während mathematische Geographie nur Thema des 3. Kursus war.20 »In Geschichte, Geographie und Statistik seien die Vorträge nicht unmittelbare Fortsetzungen des Unterrichts in den allgemeinen Lehranstalten. /…/ In Geographie und Statistik müssen die Vorkenntnisse vorhanden sein, welche von militärischem Standpunkte aus zu erteilender Unterricht bedinge.«21
Der Unterricht in Militärgeographie und Kriegsgeschichte war darauf ausgerichtet, beispielhafte Feldzüge der wichtigsten Kriege und lehrhafte Operationen darzustellen, wobei jedem Feldzug eine militär-geographische Beschreibung des Kriegsschauplatzes vorausging.22 Der Schwerpunkt lag in der »Darstellung der Entwicklung und Beschaffenheit der Erdoberfläche und der Beziehungen, in denen diese sowie die verschiedenen Erzeugnisse des Anbaues mit den militärischen Bedürfnissen stehen.«23
Im ersten Jahr wurde Terrainlehre gelesen, die sich aber auf die Besprechung der wichtigsten Kriegsschauplätze (»Kriegstheater«) beschränkte. Im zweiten Jahr folgte die Kriegsgeschichte. Da in dem Vorlesungen »nur eine Anleitung zum Studium der Kriege überhaupt« gegeben wurde, mussten die Offiziersschüler zusätzlich mit den Grundsätzen der Militärgeographie, politischer Geographie und Statistik vertraut gemacht werden. Damals verstand man unter Statistik die Staatskunde, in der die wichtigsten Fakten der einzelnen Staaten zusammengefasst wurden. In Preußen wurde dafür erst 1805 das Statistische Bureau eingerichtet.
Als Preußen im Februar 1812 offiziell ein Militärbündnis mit Napoleon (1769-1821) einging, wurden im darauffolgenden März alle Offiziere in ihre Regimenter zurückgeschickt, während die Fähnriche noch an der Kriegsschule blieben.24 Auf Empfehlung des Heerführers Graf August Gneisenau (1760-1831) trat Clausewitz als Berater in russische Dienste, um sich von dort aus aktiv am Sturz Napoleons zu beteiligen.25 Im Russischen Feldzug wurde Napoleons »Große Armee« Ende 1812 schließlich vernichtend geschlagen.
Im Januar 1813 schloss die Kriegsschule endgültig, denn jetzt wurden alle Kräfte für die Erhebung Preußens gegenüber Napoleon gebraucht.26 Die Völkerschlacht bei Leipzig (16. bis 19. Oktober 1813) brachte Deutschlands Befreiung. Es gilt als gesichert, dass Clausewitz maßgeblich daran beteiligt war, ein französisches Armeekorps in Norddeutschland zu isolieren und sein Eingreifen in die Schlacht bei Leipzig zu verhindern.27 Hier setzte er die seit 1810/11 für seine Vorlesung an der Allgemeinen Kriegsschule entwickelte Konzeption des Kleinen Krieges erfolgreich in die taktische Praxis um. Die Kriegserlebnisse bildeten die Basis für Clausewitz’ hinterlassenes Werk »Vom Kriege«.28 Nach dem Sieg über Napoleon wurde im Wiener Kongress (1814/15) die Neuordnung Europas geregelt, worauf sich die deutschen Einzelstaaten im Juni 1815 zum Deutschen Bund zusammenschlossen.
Im Zeitalter der industriellen Revolution, in der Bildung, Wissenschaft und Technik gefragt waren, reichte die Ausbildung an den Kadettenschulen bei weitem nicht mehr aus.29 1815 wurde Karl Wilhelm Georg von Grolman (1777-1843) der neue Chef des Generalstabes. Er folgte auf Gneisenau, der wiederum seinen Posten kurzfristig nach Scharnhorsts Tod am 28. Juni 1813 angetreten hatte. Grolman sah seine Aufgabe nun darin, möglichst viele wissenschaftlich gebildete Führungskräfte zu stellen. Diese wurden dringend für die neuen anspruchsvollen Aufgaben im Generalstabsdienst gebraucht. Die Haupttätigkeit bestand jetzt in der kartographischen Aufnahme des neugeordneten Reiches, die Zeichentalent und mathematische Kenntnisse verlangte. Brauchbare Kriegskarten für neue Verteidigungs- und Angriffspläne sollten geschaffen werden. Die Kriegsgeschichte als Lehrmittel spielte im Generalstabsdienst eine ebenso große Rolle wie die Kenntnis des »Westlichen, Mittleren und Östlichen Kriegstheaters«, welche die französischen, österreichischen und russischen Heeresverhältnisse behandelten. Wichtig war die kriegsgeschichtliche Analyse der jüngeren Feldzüge, denn Preußen hatte ohne jegliche natürliche Grenzen eine unglückliche geographische Lage, die zum Ausgleich ein gut funktionierendes Straßennetz verlangte.
Aufgrund der politischen Umordnung erfolgte im Jahr 1816 auch eine Neustrukturierung des militärischen Ausbildungswesens. Ab sofort sollten nur diejenigen Offiziere die jetzt amtlich »Allgemeine Kriegsschule« genannte Ausbildungsstätte besuchen, die schon über ausreichende Grundkenntnisse verfügten und deren weitere Ausbildung sie zu höheren Dienststellungen im Generalstab vorbereiten sollte.30 Neben den Militärwissenschaften lag der Schwerpunkt nunmehr auf einer allgemeinen wissenschaftlichen Ausbildung.
Als Vorbildung wurden Grundkenntnisse in Geographie und Statistik verlangt, die für einen weiteren militärischen Unterricht notwendig waren. Ebenso sollte für die Terrainlehre das Verständnis für Begriffe und Ansichten über den Bau der Erdoberfläche vorhanden sein. Wer die drei jährige Ausbildung bestanden hatte, »war zu weiterem sechsjährigen Dienst im stehenden Heere verpflichtet.«31 Diese Bestimmung wurde erst am 14. Mai 1850 aufgehoben.
Die Vorlesungen, damals »Vorträge« bezeichnet, wurden akademisch gehalten, um der Kriegsschule einen universitären Anstrich zu geben. Clausewitz, der nach dem großen Befreiungskrieg am 9. Mai 1818 zum Militärdirektor der Allgemeinen Kriegsschule ernannt worden war, vertrat jedoch die Ansicht, dass der Unterricht eher den Charakter einer polytechnischen Schule haben müsste, die mehr praktisch ausgerichtet war, als der einer akademisch ausgerichteten Universität.32 Jedoch hatte Clausewitz als militärischer Leiter keinen Einfluss auf die Gestaltung der Studienpläne, die in den Händen der im August 1816 eingerichteten Militär-Studien-Kommission lag. Im Gegensatz zur militärischen Fortbildung wurde dem universitätsähnlichen Unterricht in den allgemeinen Fächern aber der Vorwurf gemacht, dass einzelne Disziplinen ohne ihren Zusammenhang und ihr Verhältnis untereinander unterrichtet würden.33 Der Offizier dürfe kein Stubengelehrter werden, denn »es müsse also alle Militärbildung von dem Gesichtspunkt der einst zu erfüllenden Pflicht ausgehen, die Wissenschaft immer als das Mittel zu Zweck, als Dienerin der zu erfüllenden Pflicht bezeichnet werden.«34
Die Studienkommission gab wertvolle Empfehlungen für die im September 1816 beschlossenen Instruktionen.35 Nachdem der Elementarunterricht zur Voraussetzung des Schulbesuchs gehörte, sollten die gehaltenen Vorträge nun mehr in die Tiefe gehen und insbesondere »in Geschichte, Geographie und Statistik /…/ niemals lediglich die Tatsachen zum Gegenstande haben, sondern Ursache und Wirkung nachweisen.«36
Der Leiter der Studienkommission Oberst August Rühle von Lilienstern (1780-1847) galt als einer der Lieblingsschüler Scharnhorsts.37 Er wusste genau um den Bedarf an gut ausgebildeten Offizieren Bescheid, denn nach dem Ausscheiden Grolmans im Jahr 1819 versah er interimistisch bis Anfang 1821 die Geschäfte des Chefs des Generalstabes. Im Gegensatz zu seinen Vorgängern legte Rühle von Lilienstern viel Wert auf eine mathematische und philosophische Ausbildung. In den Plänen der Jahrgänge 1818 bis 1820 wurden zunächst für das erste Jahre die mathematischen Fächer auf 10 Stunden pro Woche erhöht, wobei die militärischen Fächer nur eine Stunde zusätzlich erhielten. Dazu gab es noch 4 Stunden Enzyklopädie (Wissenschaftskunde), die vom damalige Kriegsminister Hermann von Boyen (1771-1848) eingebracht worden waren, aber mit dem Stundenplan von 1818/19 wieder abgeschafft wurden. Im zweiten Jahr war das Verhältnis noch drastischer: 13 Stunden für mathematische Fächer und 4 Stunden für deutsche Literaturgeschichte standen insgesamt nur fünf Stunden für militärische Fächer gegenüber. Dadurch entfernte sich Boyen immer mehr von dem eigentlichen Wesen einer Militärfachschule.38
Gemäß dem neuen Lehrplan blieb die Militärgeographie inhaltlich unverändert, während Prof. Stützers Vorträge wegen ihrer Weitschweifigkeit allerdings sehr bemängelt wurden.39 Auch konnte der Unterricht in den Fächern Geographie und Geschichte keinesfalls als Fortsetzung des vorhergehenden Elementarunterrichts der anderen Anstalten angesehen werden. Ziel sollte es jedoch sein, dass die Offiziersschüler »den Überblick über größere Systeme von Weltbegebenheiten sowohl den chronologischen und geographischen Verhältnissen nach als auch in ihren gegenseitigen Beziehungen als Ursachen und Wirkungen für die politischen Erscheinungen vollkommen in ihrer Gewalt haben.«40
Im geschichtlichen Unterricht wurden insbesondere berühmte Männer und ihre Werke als Vorbilder viel zu ausführlich behandelt. Nachdem Geographie und Statistik vom militärischen Gesichtspunkt unterrichtet wurden, sollte die Orientierung auf der Erdkugel und vor allem in Europa vorausgesetzt werden können.41 Damit würden in der Geländelehre die Vorbereitung zur physischen und militärischen Länderkunde wesentlich fruchtbarer sein. Der nachfolgende Unterricht in Militärgeographie und die sich gegenseitig ergänzende Kriegsgeschichte würden darauf aufbauen. Insgesamt musste festgestellt werden, dass der Unterricht an der Allgemeinen Kriegsschule die in sie gesetzten Erwartungen bisher bei weitem nicht erfüllte. »Die Mängel der Anstalt lagen teils in der Auswahl der vorgetragenen Gegenstände, teils in der Methode des Unterrichts und zum Teil auch in der Persönlichkeit einiger Lehrer.«42
Auch wurde zu viel vorausgesetzt, obwohl die Vorbildung sehr ungleich und unvollständig war.43 Die Offiziere brachten nur ihre geographischen Grundkenntnisse aus der Sekundarstufe mit, die allgemein als ziemlich dürftig angesehen wurden.44 Erschwerend kommt hinzu, dass der Geographieunterricht an den Gymnasien noch sehr mangelhaft war und geeignete Lehrbücher fehlten. Auch war der gebotene Stoff in der Kriegsschule zu umfangreich und wurde auch zu kompakt vorgetragen. Schließlich fehlte darüber hinaus der Ansporn der Schüler zu mehr Selbständigkeit.
Seit 1798 war Carl Ritter im Frankfurter Bankiershaushalt von Johann Jakob Bethmann-Hollweg (1741-1809) als Lehrer und Erzieher für dessen Söhne Philipp (1792-1813) und Moritz August (1795-1877) tätig. Nebenbei arbeitete er an seiner ersten Publikation. 1804 trat Ritter schließlich erstmals mit einem geographischen Werk über Europa an die Öffentlichkeit, dessen zweiter Band 1807 herauskam.45 Diese Veröffentlichungen waren ein Produkt seines Privatunterrichts, wobei er die Geographie als Basis der Geschichte vermittelte.46
»[M]eine schriftstellerischen Versuche sind keine fremdartigen Arbeiten, sondern blos aus diesem Geschäfte entstanden und nothwendig mit ihm zusammenhängend, schon zum Unterricht meiner Zöglinge ausgearbeitet und nachher erst der Presse übergeben.«47
Der erste Band behandelte den »bisher ruhigen Norden« mit Russland, Schweden, das Dänische Reich und Preußen, alles Länder, die nicht von den Napoleonischen Kriegen beeinträchtigt worden waren.48 Unabhängig zum Buch sollten Karten dazu erscheinen. Im zweiten Band, dessen Herausgabe für Ostern 1805 geplant war, wollte Ritter den südlichen Teil Europas nach Osten hin vorstellen und in einem weiteren dritten Teil das westliche Europa besprechen. Über Deutschland wollte er erst dann publizieren, wenn es nach den Koalitionskriegen politisch zur Ruhe gekommen wäre und keine Veränderung der Grenzen mehr stattfinden würden.
Ritter gab in seiner Europadarstellung keine Zahlen- und Faktensammlung, wie es damals noch üblich war, sondern er wollte »alles so viel als möglich in Zusammenhang bringen, und als Ursache und Folge darzustellen; ich suchte die Geographie, /…/, pragmatisch zu machen. Die Erde und ihre Bewohner stehen in der genannten Wechselverbindung, und ein Theil läßt sich ohne den anderen nicht in allen seinen Verhältnissen getreu darstellen. Daher werden Geschichte und Geographie immer unzertrennliche Gefährtinnen bleiben müssen. Das Land wirkt auf die Bewohner, und die Bewohner auf das Land.«49
Es ging um die »Veredelung des Geistes« und nicht um eine »bloße Sammlung für das Gedächtnis«, denn Ritters Zweck war, »den Leser zu einer lebendigen Ansicht des ganzen Landes, seiner Natur- und Kunstproducte, der Menschen und Naturwelt zu erheben, und dieses alles als ein zusammenhängendes Ganze so vorzustellen, dass sich die wichtigsten Resultate über die Natur und die Menschen von selbst, zumal durch die gegenseitige Vergleichung entwickeln.«50
Der Einfluss der Naturbeschaffenheit sei bisher viel zu oberflächlich behandelt worden. »So wie Chronologie die Basis der Geschichte ist, ohne deren Hülfe alle Facta verwirrt sind, eben so nothwendig schien mir die physicalische Beschaffenheit, die Basis der Geographie (im Raume, so wie jene in der Zeit) zu seyn.«51
Für jedes Land gab er zunächst einen ausführlichen geschichtlichen Abriss, der von der Beschreibung seiner physischen Beschaffenheit und seiner Naturprodukte gefolgt wurde. Dann besprach er Industrie und Handel sowie Einwohner und Städte. Europa sollte auf Grund seines gegliederten und küstenreichen Baus, seiner Naturausstattung und seiner Weltstellung gemäß Ritters Anschauung eine »vorzügliche Stätte menschlicher Gestaltung werden«.52 »Am rechten Ort zur rechten Zeit der rechte Mensch, d. h. das rechte Volk«, so wurde Ritters Grundgedanke schlagwortartig zusammengefasst. Jedem Erdteil war nach seiner Vorstellung durch seine Gestaltung und Weltstellung schon seit Anbeginn eine bestimmte Funktion in dem Gange der Weltentwicklung zugeteilt. Als Ergänzung des Werkes erschien im darauffolgenden Jahr die erste thematische Karte, welche die Kulturgewächse von Europa geographisch nach Klimaten darstellte.53
1806 ließ Ritter eine Abhandlung über den methodischen Unterricht in der Geographie folgen.54 Auch hier vertrat er den Grundsatz, dass die Geographie zu den historischen Wissenschaften im weiteren Sinne gehörte und dass es ihr Zweck sei, den Menschen mit dem Schauplatz seiner Wirksamkeit bekannt zu machen. Die Geographie definierte er als die »Beschreibung des gegenwärtigen /…/ Zustandes der Erde, in allen ihren Verhältnissen, als Theil des Weltgebäudes und als Ganzes für sich betrachtet.«55
Dabei behandelte die mathematische Geographie ihr Verhältnis zur Weltgeschichte, die physische Geographie beschrieb die Erdoberfläche und die ökonomische Geographie die Kulturverhältnisse.56 Letzteres könnte nach Ritter auch mit der politischen Geographie vereint werden, die ja von den Einrichtungen der Menschen abhing. Auch sollte die Völkerkunde mit eingeschlossen werden, »da Verbreitung der Völker, Bevölkerung und Nationalcharakter so bestimmt durch das Locale charakterisiert werden.«57
Der erste Kurs in seiner Abhandlung beschäftigte sich mit der natürlichen Erdbeschreibung. Kontinente, Inseln und Meere, sowie Gebirgsgrenzen und Wasserscheiden teilten die Erdoberfläche in »natürliche Ländergebiete«. (Abb. 1) Das eigene Zeichnen von Karten sollte den Lehrstoff vertiefen.
Abb. 1: Oberfläche von Europa als ein Bas-Relief von Ritter dargestellt
»Das Orientieren auf der Erdfläche nach den natürlichen Abtheilungen, welche sie uns selbst darbietet, ist hingegen überaus fruchtbar für Geographie und alle mit ihr verwandten Wissenschaften, /…/ Die natürlichen Abtheilungen, welche wir genau dadurch kennen lernen, machen zugleich die Basis der ganzen politischen Geographie aus, welche, auf sie angewandt, erst einer pragmatischen Behandlung überhaupt fähig wird.«58
Der zweite Kurs war der politischen Erdkunde gewidmet.59 Hier wurden Namen und Grenzen von Königreichen bis hin zu Provinzen und Kreisen behandelt und erläutert, »was die Menschen taten«. »Der Schüler wird sich an den philosophischen Gesichtspunkt gewöhnen, daß nicht das Land an den Staat, sondern der Staat an das Land gebunden ist; /…/. Kurz die große Weltansicht, das Detail nicht als Detail, sondern in Bezug auf das Ganze zu denken«.60
Zusammen mit dem zweiten Europa-Band erschienen sechs weitere thematische Karten von Europa.61 Sie dienten gleichfalls als Hilfsmittel in Ritters Geographieunterricht. Darin veranschaulichte er die wichtigsten geographischen Verhältnisse und den Zusammenhang der Erdoberfläche mit dem Entwicklungsgang des Lebens.62 Er war damit der erste, der in Karten die Erdoberfläche zusammen mit der belebten Welt, seien es Pflanzen, Tiere oder Menschen, darstellte. Ritter widmete die ersten beiden Tafeln den wichtigsten europäischen Gebirgen und ihrem Vergleich mit den Höhen und der Vegetation der südamerikanischen Kordilleren. Solche Darstellungen existierten bislang noch nicht. Die dritte Tafel zeigte die wildwachsenden Bäume und Sträucher, die vierte die Kulturgewächse (Abb. 2) und die fünfte die Verteilung der zahmen und wilden Säugetiere.
Die letzte Karte gab eine Übersicht über die »Bewohner von Europa, über Volksmenge und Bevölkerung«, in der die Namen aus der im Text beigelegten Völkertafel eingetragen waren (Abb. 3).63 Diese Tafel war insbesondere für politische und militärische Überlegungen von großem Interesse.
Abb. 2: Ausschnitt aus Ritters Tafel über die Verbreitung der Kul turgewächse in Europa, geographisch und klimatisch dargestellt
Die häufigen Veränderungen der Grenzen durch die Napoleonischen Kriege hatten es Anfang des 19. Jahrhunderts unmöglich gemacht, Bücher und Karten der politischen Geographie auf aktuellem Stand zu halten. Damit war die reine Staatenkunde, wie sie bislang im Rahmen der Statistik behandelt wurde, nicht mehr durchführbar und es musste ein neuer Weg gefunden werden. Ritter löste sich deshalb von der Betrachtung der Einzelstaaten und wollte in seinem künftigen Werken nur die »natürlichen Abtheilungen der Erdoberfläche« gelten lassen.64 »So ist die ganze Erdoberfläche nach ihren eigenen Gesetzen auf das genaueste in physikalische Erdtheile, Gebiete und Districte eingetheilt.«65
Während der Befreiungskriege (1812-13) war Carl Ritter noch immer als Lehrer im Hause Bethmann-Hollweg beschäftigt. Schweren Herzens entschloß er sich, Madame Susanna Elisabeth Bethmann-Hollwegs (1763-1831) Wunsch Folge zu leisten und nichts »zur Beförderung der großen Volksangelegenheit« beizutragen,66 denn sie brauchte nach dem Tod ihres Mannes 1809 weiterhin seine Unterstützung als Erzieher. Ritter hingegen wäre eine Beteiligung am Freiheitskampf seines Vaterlandes die »heiligste Angelegenheit« gewesen, denn sein Motto war: »Liebe zum Vaterlande, Treue gegen das Oberhaupt, Glaube an Gott«.67 Ihre Notlage einsehend beugte er sich ihrem Wunsch und ging als Mentor seines jüngeren Zöglings August mit an die Universität nach Göttingen.68 Dort hörte Ritter nicht nur Vorlesungen sondern trat auch mit einigen Universitätsprofessoren in persönlichen Kontakt. Insbesondere mit dem Geologen Johann Friedrich Ludwig Hausmann (1782-1859) entwickelte sich eine enge Freundschaft.69
Ritter nutze sein neues Wirkungsfeld auch für sich selbst und arbeitete jetzt unter dem Gesichtspunkt der natürlichen Erdeinteilung an seiner neuen »Erdkunde« weiter, für die er vor allem die geographische Literatur der Bibliothek in Göttingen auswertete. In einem Brief an seinen Frankfurter Freund Samuel Theodor von Sömmering (1755-1830, Arzt und Professor für Anatomie und Physiologie), dessen »Allgemeine Anatomie« und Johann Friedrich Blumenbachs (1752-1840) »Vergleichende Anatomie« Ritter wichtige Anstöße für die Entwicklung seiner Erdkunde gaben,70 erläuterte er die Ausarbeitung seiner allgemeinen physikalischen Geographie, »deren Hauptcharacter darin besteht, daß sie eine vergleichende (im Sinne der Anatome coparata) und das Wechselverhältniß der anorganischen und organischen Natur wie zur Völkergeschichte darzustellen bemüht ist.«71 In der Einleitung zu seiner Erdkunde – so schrieb er an einen ungenannten Freund – hatte er »in den wesentlichsten Punkten auch das Verhältniß zum Vaterlande, zum Volke, zum Staate, zur Kultur, und zur Geschichte mir entwickelt.«72
Abb. 3: Ausschnitt aus Ritters Tafel über die Bewohner von Europa, über Volksmenge und Bevölkerung dieses Erdteils
In einem Brief an seinen Bruder Johannes (1775-1863) erläuterte Ritter, dass er den Zweck seiner Erdkunde nicht darin sah, »die große Menge von Materialien und unendliche Mannigfaltigkeit und den überschwänglichen Reichthum dieses Fachs zu sammeln und zu ordnen, sondern die allgemeinen Gesetze, welche aller dieser Mannigfaltigkeit zu Grunde liegen, aufzusuchen, in jeder einzelnen Thatsache nachzuweisen, und so auf rein historischem Wege die große Einheit und Harmonie in der scheinbaren Vielheit und Willkür auf der Oberfläche unseres Erdballs und in seinen Verhältnissen zu Natur= und Menschenwelt nachzuweisen. Hierdurch entsteht nun eine physikalische Geographie, in welcher alle die Gesetze und Bedingungen vorkommen, unter deren Einfluß sich die große Mannigfaltigkeit der Dinge und der Völker und der Menschen auf der Erde erzeugt, verwandelt, verbreitet, fortbildet.«73
