Minihorror - Barbi Marković - E-Book

Minihorror E-Book

Barbi Marković

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Beschreibung

AUSGEZEICHNET MIT DEM PREIS DER LEIPZIGER BUCHMESSE 2024 In "Minihorror" werden die ganz gewöhnlichen Albträume wahr – mit Humor, schräger Fantasie und dem Wissen um die Zerbrechlichkeit unserer Existenz. In "Minihorror" erzählt Barbi Marković die Geschichten von Mini und Miki und ihren Abenteuern im städtischen Alltag. Mini und Miki sind nicht von hier, aber sie bemühen sich, dazuzugehören und alles richtig zu machen. Trotzdem – oder gerade deswegen – werden sie verfolgt von Gefahren und Monstern, von Katastrophen und Schwierigkeiten. Es geht um die großen und kleinen Albträume des Mittelstands, um den Horror des perfekten Familienfrühstücks, um Mobbing am Arbeitsplatz und gescheiterten Urlaub, um den Abgrund, der sich im Alltag öffnet und nicht mehr schließen will. In "Minihorror" setzt Barbi Marković den Angstarbeiter*innen unserer Gesellschaft ein Denkmal aus Perfidie und Mitgefühl, bei dessen Lektüre wir uns gleichermaßen ertappt und verstanden fühlen.

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Barbi Marković

Residenz Verlag

Wir danken für die Unterstützung

© 2023 Residenz Verlag GmbH

Salzburg – Wien

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

www.residenzverlag.com

Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten.

Umschlagbild und Illustrationen: Ivana Kličković

Gesamtgestaltung, Typedesign: Ekke Wolf, typic.at

Lektorat: Jessica Beer, Harald Lenzer

ISBN Print 978 3 7017 1775 0

ISBN eBook 978 3 7017 4692 7

INHALT

COUSINE JENNIFER

MINI WIRD LEBENDIG BEGRABEN

EIN STARKES WIR

ADA BOJANA

MINIS ROUTINE

SMALL AXE

ALS MIKI JUNG WAR

TIERE

MIKI LEBT WIE JEDER ANDERE

SPÄT IM KAPITALISMUS

DIE RENTE

ORDNUNG

DAS HAUS NEBENAN

AUSSITZEN

DIÄT

GURKENFLIEGER

SELBSTSTÄNDIG

LUGNER CITY

FIRMENAUSFLUG SONNENGOTT

PERFECT DAY

DAS KITZELMONSTER

MIKI WIRD GURU

BLOND

DER FREUND

DIE BESTIE

CO₂

SUPERKRÄFTE IM INTERNET

DAS VERSCHWINDEN DER MINIPINGUINE

BONUSMATERIAL

Wenn ich klein wäre

Gute Unterhaltung

105 WEITERE MÖGLICHE HORRORS MIT MINI UND MIKI

COUSINE JENNIFER

Mini und Miki wollen nett sein, aber nichts ist einfach. Die Welt ist schrecklich, alles muss sterben. Die beiden müssen ziemlich viel erleiden, und genau dafür lieben wir sie.

Mini erzählt ungern über ihre Familie.

»Warum bist du so geheimnisvoll, wenn es um deine Verwandten geht?«, fragt Miki an einem langweiligen Regentag, während Mini gerade mit einer Packung Linsenchips an ihm vorbeihuscht, um zu der Serie zurückzukehren, die sie schon seit sechs Stunden schaut.

»Sind sie Kriegsverbrecher?«, fragt Miki.

»Nein, ich glaube nicht«, sagt Mini.

Mini und Miki lachen unsicher, weil solche Scherzfragen leicht daherkommen, aber zu unangenehmen Situationen führen können, wenn die Antwort Ja ist. Mini ist heute schlecht drauf, deshalb muss sie den ganzen Tag Serien schauen. Der Regen tropft in den Schlamm, aber wenn es nicht regnen würde, dann wäre da gar kein Schlamm: Minis Stimmung funktioniert ähnlich, und heute ist der Boden ihres Geistes einfach Gatsch, in dem man kaum Halt findet und nach einer Weile auf jeden Fall ausrutschen und hinfallen muss. Auch wenn man es dann irgendwie schafft, aufzustehen, sind die geistigen Beine verdreckt, nass und kalt, also insgesamt ist alles kontaminiert und die Existenz eine einzige Mühsal. Das geht aber vorbei, und Mini wird nach der Serie weitermachen wie zuvor.

Am nächsten Tag… Das Wetter ist schön, und Mini und Miki entscheiden sich, zum Supermarkt zu gehen. Ihnen fehlen einige häusliche Produkte. Sie brauchen unbedingt Küchenrollen, außerdem Hafermilch, Gemüse, Rotwein, Brot und Eier. Sie versichern einander, dass sie fokussiert einkaufen werden, damit sie nicht das halbe Leben im Supermarkt verbringen, aber sobald sie den Laden betreten, vergessen sie auf die Küchenrollen. Auf Küchenrollen zu vergessen ist normalerweise kein Drama, nur in dieser Geschichte werden sie später gebraucht. Miki geht zum Weinregal, um Rotweine zu studieren, und Mini wird von verschiedenen bunten Trash- und Fertigprodukten aus der Gefriertruhe verführt. Sie hat den Traum von einem nie da gewesenen, unfassbaren Fertiggericht-Mix, der ihre Sinne umhauen wird, noch nicht verworfen. Ein glitzernder, im Mund explodierender Pizzaburger würde sie auf jeden Fall neugierig machen. Im Glas der Vitrine, in der Mini ihre Traumprodukte sucht, spiegelt sich Mikis Weinregal. Mini beobachtet den gespiegelten Miki, wie er die Rotweinetiketten sorgfältig liest. Die beiden haben ein sehr unterschiedliches Kaufverhalten. Er versucht, seine Impulse zu rechtfertigen und als trotzdem-sparsam zu rationalisieren, mit Qualität zu argumentieren. Mini nicht. Mini erfüllt sich Wünsche, von denen sie nicht wusste, dass sie sie hatte.

Im Vitrinenglas sieht Mini, wie Miki auf einmal den Wein stehen lässt und zu einer kleinen Person mit langen Haaren geht. Von der unbekannten Person sieht man aus Minis Perspektive nur die blonden, langen Haare und zwei dünne Beine in engen Jeans. Die Person wirkt gebrechlich, sie steht in der Ecke mit der Nase zum Proteinbrot.

»Warum würde jemand so nahe beim Regal stehen«, fragt sich Mini, »außer…«

Mini realisiert, wer das sein könnte, sie stopft die Pizza zurück in die Vitrine und läuft zum Weinregal:

»Achtung, Miki! Komm ihr nicht näher!«

Zu der Person, die immer noch mit dem Rücken zu ihnen gedreht da steht, sagt sie mit einer ungewöhnlich tiefen Stimme:

»Jennifer. Odlazi.«

Die Person zittert ein wenig, entweder weint sie oder kichert, dreht sich aber nicht um.

Mini sagt: »Nemaš šta da tražiš ovde. Znam da ne živiš u ovom becirku.«

Miki mit seinem A2-Level BKS versteht nicht, was los ist. Er hat gerade einen Wein in der Hand gehalten, hat versucht, durchs Glas hindurch den Geschmack zu eruieren, während er gleichzeitig gerechnet hat, ob das Preis-Leistungs-Verhältnis stimmt, als er dieses Wesen in der Ecke zittern gesehen hat und nachfragen wollte, ob er helfen kann.

»Mini«, sagt Miki, »was machst du?«

»Miki«, sagt Mini, »du musst aufpassen.«

Mini schiebt Jennifer zum Ausgang und droht ihr, dass sie nächstes Mal nicht so einfach davonkommen und dass sie, Mini, die Polizei rufen werde. Jennifer ist von der Drohung wenig beeindruckt.

Dann schreit Mini nur noch einen schroffen Befehl: »Odlazi, Jennifer, odlazi!«

Jennifer geht, und Mini und Miki treffen einander bei der Kassa und zahlen die Produkte, die sie vor dem Vorfall gesammelt haben.

Auf dem Rückweg fragt Miki, was zum Teufel passiert sei, warum Mini diese kleine Frau aus dem Supermarkt geschmissen habe.

Mini sagt: »Jennifer ist meine Cousine. Ich weiß, dass du mir das nicht glauben wirst, aber sie ist gefährlich. Sie hat schon Dutzende… konsumiert.«

»Häh?«, sagt Miki.

»Bitte, halte dich einfach fern von ihr. Wenn du leben willst.«

»Was hat sie getan?«

»Sie ist leider ein fleischfressendes Monster. Aber das glauben die Leute erst, wenn es zu spät ist.«

Miki denkt, dass Mini wieder mal zu wenig über ihre Familie erzählt. Er vermutet, dass die Beschreibung »fleischfressendes Monster« eine Metapher ist, weil wir doch in einer Stadt leben und im 21. Jahrhundert und in Europa, also im Westen, hier in Österreich, und nicht anderswo, das heißt im Mittelalter oder auf dem Balkan oder irgendwo hinter allen Bergen in Rumänien, wo schwarze Magie zu anderen Problemen hinzukommt. Miki ist genervt. Er hinterfragt seine Beziehung zu Mini.

Zwei Straßen weiter bleibt Jennifer stehen und schnüffelt die Luft.

»Miki«, sagt sie sehr leise.

Am nächsten Tag in Mikis Großraumbüro… Schüchtern steht jemand in der Ecke neben der Kaffeemaschine, Kopf zur Wand, Haare vorm Gesicht. Miki bemerkt die Gestalt erst nach ein paar Stunden, als ihn eine Kollegin darauf aufmerksam macht. Er erkennt sie sofort, geht zur Kaffeemaschine und fragt:

»Warum bist du hier? Ist dein Name Jennifer? Kannst du nirgendwo anders hingehen?«

Nur bei der letzten Frage winselt Jennifer und zittert stärker, und es bleibt unklar, ob sie weint oder lacht. Miki weiß nicht, was er tun soll. Seine Kolleg:innen überlegen, welche Notrufnummer sie rufen sollen, um das zittrige Wesen zu entsorgen, aber sie können sich nicht entscheiden, ob Jennifer ein Fall für die Rettung oder die Polizei ist. Sie stört nicht, scheint nicht krank zu sein und auch nicht an Berufsgeheimnissen interessiert, sie steht nur in der Ecke. Als Mikis Schicht zu Ende ist und Jennifer immer noch bei der Kaffeemaschine hockt, nimmt er sie mit nach Hause. Eigentlich folgt sie ihm ohne Absprache und er tut nichts dagegen, nicht nur, weil er nicht weiß, wie er sie loswerden kann, sondern auch, weil sie Minis Cousine ist. Er will sich nicht einmischen, Minis Familie scheint anders zu funktionieren als seine.

»Aber Jennifer zu verjagen wäre trotzdem respektlos«, denkt er.

Später… Mini kommt nach Hause und wirft ihre Jacke auf den Boden.

»Ich bin müde«, sagt sie.

Die Wohnung riecht nach Suppe, die Miki in seiner Verlegenheit die ganze Zeit zubereitet hat, um nicht mit Jennifer reden zu müssen. Mini ist froh, dass es etwas zu essen gibt. Sie geht ins Wohnzimmer, um ihr Handy anzustecken, dort legt sie ihren Rucksack ab.

Plötzlich… Mini erblickt Jennifer und friert auf der Stelle ein.

»Miki, du Idiot«, sagt sie und sieht sich vorsichtig um, ob es nicht schon zu spät ist.

Sie hört Toilettenspülgeräusche.

»Oh, Gott sei Dank«, flüstert sie, die Luft einsaugend.

Aus dem WC kommt der noch unverletzte Miki und versucht sich zu erklären:

»Ich konnte sie nicht bei der Kaffeemaschine im Großraumbüro stehen lassen.«

Mini spuckt auf den Boden:

»Jetzt wirst du alles sehen müssen.«

Mini nimmt den Stock, der die riesige Zimmerpflanze stützt, streckt ihn aus sicherer Entfernung zu Jennifers Kopf und schiebt vorsichtig die langen Haare weg. Das rote Fleisch. Und die Augen… Jennifers Gesicht.

»Oh Mini, was ist das?«, fragt der arme Miki, der das, was er gerade erblickt hat, nie wird vergessen können und der keine Ahnung hatte, dass es auf der Welt so etwas Schreckliches gibt.

Jennifer bleibt ruhig stehen, als hätte sie nicht bemerkt, dass ihre Camouflage aufgeflogen ist, aber Minis Körpersprache zeigt, dass es gleich heikel werden könnte. Von der Hüfte hinunter ist Minis Körper schon in die andere Richtung gedreht und bereit zur Flucht. Das, was sich unter Jennifers Haaren versteckt, ist gar kein Gesicht, sondern eine Ansammlung von triefendem Fleisch, mit Löchern an den Stellen, wo Augen und Nase wären. Zwei Fleischhemisphären bewegen sich auseinander, und die abgerissenen Fetzen trennen sich in der Mitte. Ein Maul mit drei Reihen Zähnen klafft auf wie bei einem Hai. Jennifer schnappt nach dem Stock und zerbeißt das harte Holz in einer Millisekunde. Mini springt zurück, sie sagt zu Miki:

»Ich habe dich gewarnt. Das ist, was Jennifer immer macht. Sie frisst Familien.«

Mini läuft zum Regal, um die Küchentücher zu suchen. Sie findet keine. Dann holt sie zwei Packungen Toastbrot, die sie an dem Tag im Supermarkt zum Glück eingekauft haben.

Und dann… Mini nähert sich ihrer gefährlichen Cousine vorsichtig und beginnt ein Lied zu singen.

»Zurück, zurück, Jennifer-Mädchen. Komm nicht zu uns, wir haben hier Frau und Kinder. // (In der Stimme Jennifers:) Die Frau werde ich töten, die Kinder werde ich hüten, für immer die deine werde ich sein … // Zurück, zurück, Jennifer-Mädchen…«

Jennifer gibt winselnde Töne von sich und bewegt sich wie ein glücklicher Hund. In einem günstigen Moment, während der letzten Strophe, stopft Mini ihrer Cousine den Mund voll mit Toastbrot, damit sie nicht beißen kann, und schiebt sie aus der Wohnung hinaus.

»Hier hast du keine Chance, Jennifer«, sagt Mini und sperrt ab.

Ein paar Minuten noch kratzt es leise an der Tür, dann hört das auf, und als Mini durchs Guckloch schaut, ist niemand mehr zu sehen.

Mini und Miki geben einander einen High Five.

Der restliche Abend verläuft ruhig und harmonisch auf der Couch. Nur als Miki auf die Toilette gehen will … Es raschelt. Miki erkennt eine kleine Silhouette im Dunkeln, das Maul klafft auf. Miki will weglaufen, aber er schafft es nicht so schnell. Jennifer steht vor ihm. Sie schnappt nach seinem Kopf. Er spürt ihre warmen Zähne an den Schläfen und seiner Stirn. Spucke und Blut laufen ihm hinter den Ohren in den Nacken und den Rücken hinunter. Miki schreit.

Nur ein Traum… Miki wacht auf der Couch auf.

»Eben«, sagt er zu sich selbst, »das war nur ein Traum, ein Albtraum, um das, was geschehen ist, zu verarbeiten, damit das Leben nachher weitergeht ohne Monster.«

Mini sitzt neben ihm auf der Couch und sieht fern. Ohne ihn anzusehen, sagt sie:

»Auf dem Klo zu warten ist ein klassischer Move von Jennifer.«

Miki nickt und lehnt sich zurück, aber er kann sich nicht entspannen.

MINI WIRD LEBENDIG BEGRABEN

Der Winter kommt, und die Seelen erkälten sich. Mini hat in der Zwischenzeit vier Bücher gelesen, einmal die Frisur geändert und eine Kung-Fu-Prüfung bestanden. Leider laufen ihr Pass und ihre Aufenthaltserlaubnis ab, und eines Tages werden auch ihre Organe versagen.

Mini und Miki fahren gemeinsam in Minis Heimatstadt, unter anderem, damit Mini ihren Pass verlängert. Der Flug würde 100 Euro kosten und eine Stunde dauern. Die Busfahrt kostet 50 Euro und dauert sieben bis zwölf Stunden. Während Mini der Meinung ist, dass sie genug Lebenszeit im Bus verbracht hat und all das nur eine Qual sein wird, ist Miki aufgeregt über seine erste Busfahrt auf dieser Strecke und freut sich auf das Abenteuer. Außerdem denkt er, dass kurze Flüge sehr schlecht für das Klima sind.

Am Reisetag stehen die beiden mit ihren Rucksäcken und Koffern am Busbahnhof. Sie reichen dem Fahrer ihre Karten, und der Fahrer fragt Mini in Minis Muttersprache, ob sie mit Miki zusammen ist und ob sie nicht einen von den Unsrigen hätte finden können. Zu Miki sagt er aufgrund von dessen Staatsbürgerschaft schlicht:

»Heil Hitler!«

Und so… Jedes Mal, wenn der Fahrer Miki erblickt, zum Beispiel beim Grenzübergang, sagt er zu Miki Heil Hitler. Dabei zeigt er die entsprechende Bewegung mit der Hand.

Am Tag danach… Mini und Miki spazieren durch Minis Heimatstadt, und Mini zeigt, wo sie als junge Person am liebsten gekifft hat. Es ist ein schöner, sogar sonniger Nachmittag. Die beiden haben Spaß: Miki, weil für ihn hier alles neu und exotisch ist, Mini, weil sie durch Miki einen gewissen Abstand zu ihrem Herkunftsort bekommt.

Während sie im Park stehen und auf den Fluss schauen, sagt Miki: »Lass uns deine Mutter besuchen.«

Das Lächeln verschwindet aus Minis Gesicht. Natürlich fühlt sie irgendwo tief in ihrer Psyche eine Verpflichtung und hat nur einen kleinen Push gebraucht. Aber eigentlich wollte sie diesmal niemanden anrufen.

»Du wirst sehen.«

Während sie das sagt, wählt sie schon die Festnetznummer, und als sich ihre Mutter meldet, macht sie ein Treffen aus.

»Sehr gut«, sagt Miki.

»Ich wollte dir so viel zeigen. Jetzt ist es zu spät, jetzt wissen sie, dass wir hier sind«, sagt Mini.

Die Atmosphäre ändert sich schlagartig. Der lokale Smog legt sich über die Stadt. Mini hängt nur noch am Handy, telefoniert und schickt Nachrichten. Der Anruf aus Pflichtgefühl führt zu der größten Versammlung, die es in Minis dysfunktionaler Familie jemals gegeben hat. Sechs Menschen auf einmal.

Am Tag der Familienversammlung… Mini und Miki kommen früh an und sofort merken sie, dass Minis Mutter zu wenige Sitzgelegenheiten organisiert hat. Sie sagt, dass sie sich um die restlichen Plätze kümmern werde, wenn die anderen ankommen.

»Falls sie überhaupt kommen«, sagt sie.

Mini kichert, sie findet das typisch, und geht auf die Toilette. Minis Mutter und Miki bleiben allein. Sie lächeln und nicken einander zu. Minis Mutter und Miki stoßen an. Sie versuchen zu reden, aber sie haben keine gemeinsame Sprache. Sie stoßen noch mal an.

Als die ersten Gäste (Minis Tante Kitty und deren Sohn Niki) klingeln, läuft Mini aus der Toilette, um die Tür aufzumachen. Miki ist zu dem Zeitpunkt schon erschöpft von der Pantomime und vielen Missverständnissen. Außerdem ist er leicht betrunken vom Anstoßen. Minis Tante Kitty sagt zu Miki, dass er sehr nett und höflich aussehe und dass sich Mini glücklich schätzen könne, so einen Partner gefunden zu haben. Die Tante wundert sich sogar, dass die tollpatschige kleine Mini, die ihren eigenen Rotz gegessen habe und bis zur Volljährigkeit flach wie ein Brett gewesen sei, überhaupt einen Freund finden konnte. Sie schubst Mini und sagt:

»Übersetz ihm das.«

Die Atmosphäre ist heiter und angespannt. Minis Mutter serviert kaltes Essen. Gefüllte Paprika mit Polenta. Dazu gibt es warmes Bier und viele lustige Geschichten über Mini. Mini übersetzt: Wie sie sich als Kind blamiert hat, wie sie Dinge falsch ausgesprochen hat, wie sie bis zum fünften Lebensjahr Windeln getragen hat und Ähnliches.

Mehrere Stunden zu spät kommt schließlich auch Minis Vater, ein Mann mit Sonnenbrille. Er sagt:

»Hallo, Miki! Mini, frag ihn, wie ich ihm gefalle.«

Mit der Zeit wird Miki auf eine Dynamik aufmerksam. Mini wird ständig eingespannt und kritisiert. Sie muss Fernsehkanäle einstellen und das Essen für den Vater (doch) aufwärmen, Computer reparieren und unnötige Apps löschen. Sie muss saure Gurken schneiden. Mit jeder Aufgabe wächst die Unzufriedenheit der Anwesenden und Minis Frustration. Der Vater lacht Minis Gurkenscheiben aus, und der Cousin und seine Mutter finden, dass die Fernsehkanäle die falsche Reihenfolge haben.

»Zuerst Pink, dann Studio B, das ist die einzige logische Reihenfolge«, sagt der Cousin.

Miki überlegt, was er tun kann, um Minis Lage zu verbessern.

»Brauchst du Hilfe?«, fragt er, aber Mini hat keine Zeit.

»Miki, nicht jetzt, ich muss noch Kaffee kochen, und danach müssen wir alle in den Garten.«

Zehn Minuten später… Miki bemerkt, dass alle Verwandten ihre Jacken anziehen, und da ihm niemand mehr irgendwas erklärt und übersetzt, macht er das, was alle machen. Er zieht auch seine Jacke an. Die Familie geht hinaus, um die Ecke, in einen ungepflegten, verlassenen Garten. Die Anwesenden versammeln sich um eine große Grube. Jeder der Verwandten sagt etwas und zeigt auf Mini.

»Nisi bolja od nas!«

»Ne umeš da kuvaš!«

»Uvek si bila smotana!«

»Nisi lepa!«

»Ugojila si se!«

»Ne znaš ti kako mi ovde živimo!«

Miki versteht nicht, was sie sagen, aber hier im Buch gibt es natürlich eine Übersetzung.

»Du bist nicht besser als wir!«

»Du kannst nicht kochen!«

»Du warst immer tollpatschig!«

»Du bist nicht schön!«

»Du hast zugenommen!«

»Du weißt nicht, wie wir hier leben!«

Mini muss ins Loch. Das Ganze sieht wie ein schnelles Begräbnis aus, nur dass Mini selbst in die Grube hinabsteigen kann, weil sie am Leben ist. Die Mutter schaut und spuckt hinein, die anderen machen ihr das nach. Miki geht selbst zur Grube und will Mini die Hand reichen.

»Nein«, zischt Mini, »was machst du da?«

Plötzlich dreht sich Minis Mutter zu Miki. Sie ist wütend, sie nimmt einen Stock und läuft, so schnell sie kann, auf Miki zu. Die anderen Anwesenden folgen ihr. Miki rennt zur Straße und durch den Park, zum anderen Stadtteil, er schaut gar nicht, ob sie noch hinter ihm sind. Die Verwandten haben ihn eigentlich nur bis zum Zaun verfolgt. Dann sind sie zum Ritual zurückgekehrt.

Sie chanten weiter: »Du bist undankbar!«

»Du sollst nicht über uns lachen!«

»Du sollst nicht über uns urteilen!«

»Du kannst nicht gehen!«

»Du kannst nicht bleiben!«

»Du nervst!«

Miki ist inzwischen in Sicherheit… Er muss kurz über das nachdenken, was gerade passiert ist. Mini hat tatsächlich manchmal gesagt:

»Sie versuchen mich in ein tiefes Loch zu stürzen«, »Sie ziehen mich nach unten«,

… aber er hat klarerweise nicht an ein konkretes Loch im Nachbarsgarten gedacht. Während Miki sich noch hilflos um die eigene Achse dreht in der Hoffnung, einen Orientierungspunkt zu finden oder einen Menschen, den er nach der nächsten Polizeistation fragen könnte, bekommt er eine SMS. Die Nachricht kommt von Mini und entschärft die Lage.

»Bin nicht tot. Alles beim Alten. Wir treffen uns am Abend im Apartment.«

Und zwei Minuten später schreibt sie noch eine Zeile:

»Familie, hach! :-)«

Auf dem Weg zum Apartment… Miki bleibt beim Hauptbahnhof stehen und verbindet sich mit einem offenen WLAN, um den genauen Weg herauszufinden. Er war noch nie auf diesem Bahnhof, deshalb weiß er nicht, worauf er aufpassen soll. Wäre Mini dabei, würde sie sagen:

»Vermeide um jeden Preis den Blickkontakt mit den Taxifahrern.«

Aber sie ist nicht da, sie sitzt in der Grube und wird von ihren Verwandten beleidigt. Die Taxifahrer vom Bahnhof fixieren Miki bereits, da er wie ein typischer Tourist aussieht und perfekt in ihr Beuteschema passt. Kurz legt Miki das Handy weg und schaut naiv und ungeschützt auf – PAM – direkt in die Augen eines rauen, riesigen Mannes. Der Mann macht den Mund auf und sagt:

»TAXI!«

EIN STARKES WIR

Mini stellt sich sonst immer der niederschmetternden Ambivalenz des Lebens, sie zieht sich vor dem Absurden nicht zurück, sie nimmt keine Schmerzmittel, glaubt nicht an Gott und backt keine Kekse, obwohl sie Angst hat wie alle anderen auch. Normalerweise. Dieses Jahr war in vieler Hinsicht anders. Wegen der Pandemie sind Urlaube und Konferenzen ausgefallen. Menschen haben sich anpassen müssen.

Miki und Mini besuchen Mikis Eltern in einer österreichischen Kleinstadt, wo zur Zeit ihrer Ankunft schon Schnee auf den Dächern liegt und Sterne, Engel und Tannenbäume auf hochwertigem Papier gezeichnet werden, damit sie an die eigenen Nachbarn und die wenigen Touristen als Postkarten verkauft werden. Der Vorweihnachtsmarkt ist voll.

»Alles duftet«, sagt eine begeisterte Person am Glühweinstand.

Tatsächlich riecht Mini übertriebene Mengen an Zimt in allen Produkten.

»Mini, des passt guat, des isch fein«, sagt Miki, um seiner Freundin die lokale Sprechweise zu demonstrieren.

»Guat«, versucht Mini. »Guat, guat, guat, guat, guat.«

Sie muss noch viel üben, bis das richtig rüberkommt.

Später in einer Marktbaracke… Mini wird in die lokalen Bräuche eingebunden. Sie gestaltet Postkarten. Infrage kommen Sterne, Tannenbäume und Engel, aber Mini zeichnet einen Hund. Als eine der Frauen, mit denen Mini bastelt, bemerkt, was Mini gemacht hat, lächelt sie falsch und angespannt und sagt:

»Es gehört ganz schön viel Mut dazu, einen Hund auf eine Weihnachtskarte zu zeichnen.«