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Wie weit würden wir gehen, um unsere schamvollsten Geheimnisse zu bewahren? „Mit durchdringender Menschenkenntnis führt Angie Kim tief in das Innenleben ihrer Charaktere.“ (Los Angeles Times) In der Kleinstadt Miracle Creek in Virginia geht ein Sauerstofftank in Flammen auf. Zwei Menschen sterben – Kitt, die eine Familie mit fünf Kindern zurücklässt, und Henry, ein achtjähriger Junge. Im Prozess wegen Brandstiftung und Mord sitzt Henrys Mutter Elizabeth auf der Anklagebank. Und die Beweise sind erdrückend. Hat sie ihren eigenen Sohn ermordet? Während ihre Freunde, Verwandten und Bekannten gegen sie aussagen, wird klar: In Miracle Creek hat jeder etwas zu verbergen.
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Seitenzahl: 650
Veröffentlichungsjahr: 2020
»Flammen. Rauch.
Die hintere Wand der Scheune – sie brannte. Ich weiß nicht, warum ich nicht losgerannt bin oder geschrien habe, und Mary auch nicht. Ich wollte. Aber ich konnte nur langsam gehen, vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzen, den Blick starr auf die Flammen in Orange und Rot gerichtet.
Dann der Knall. Meine Knie gaben unter mir nach, und ich fiel hin. Aber meine Tochter ließ ich keine Sekunde aus den Augen. Jeden Abend, wenn ich das Licht ausmache und die Augen schließe, sehe ich sie in diesem Augenblick. Wie eine Stoffpuppe fliegt ihr Körper in hohem Bogen durch die Luft. Anmutig. Zart. Kurz bevor sie dumpf auf dem Boden aufschlägt, sehe ich, wie ihr Pferdeschwanz wippt. So wie früher, als sie klein war, beim Seilspringen.«
ANGIE KIM
MIRACLE CREEK
Roman
Aus dem Englischen von Marieke Heimburger
Carl Hanser Verlag
Für Jim, auf ewig
und
für Um-ma und Ap-bah,
für eure vielen Opfer und
all eure Liebe
HYPERBARE OXYGENIERUNG: Therapieform, bei der unter einem erhöhten Umgebungsdruck (der Luftdruck ist höher als der normale Atmosphärendruck) reiner Sauerstoff verabreicht wird. … Die Behandlung findet in speziellen Druckkammern statt, in denen unter dreifachem Atmosphärendruck 100%iger, medizinisch reiner Sauerstoff eingeatmet wird … Ein Risiko bei der hyperbaren Oxygenierung ist die Brand- und Explosionsgefahr … Auch hyperbare Sauerstofftherapie, HBO, HBO-Therapie.
Mosby’s Medical Dictionary, 9. Auflage (2013)
DER VORFALL
Miracle Creek, Virginia, USA
Dienstag, 26. August 2008
Mein Mann bat mich zu lügen. Keine große Lüge. Für ihn war es wahrscheinlich noch nicht einmal eine richtige Lüge, und für mich am Anfang auch nicht. Er bat mich nur um einen kleinen Gefallen. Die Polizei hatte gerade die Demonstrantinnen auf freien Fuß gesetzt, und er wollte, dass ich seinen Platz einnahm, während er hinausging und dafür sorgte, dass sie nicht wiederkamen. Ich sollte für ihn einspringen, so, wie Kollegen das eben tun, so, wie wir es im Lebensmittelladen auch immer getan hatten, während ich aß oder er rauchte. Doch als ich mich auf seinen Stuhl setzte, stieß ich gegen den Schreibtisch, und das Diplom darüber an der Wand verrutschte und hing plötzlich schief, fast als wollte es mich darauf hinweisen, dass das nicht normal war und es einen triftigen Grund dafür geben musste, dass mein Mann mir an diesem Abend zum ersten Mal die alleinige Verantwortung überlassen wollte.
Pak streckte den Arm über mich hinweg aus und rückte den Rahmen gerade, den Blick auf den englischen Diplomtext gerichtet: Pak Yoo, Miracle Submarine LLC, Zertifizierter Techniker für Überdruckbehandlung. Er wandte den Blick nicht von dem Zertifikat ab, als würde er mit ihm sprechen, nicht mit mir, als er sagte: »Läuft alles. Die Patienten sind drin, die Kammer ist dicht, der Sauerstoff an. Du musst einfach nur hier sitzen.« Er sah mich an. »Das ist alles.«
Mein Blick wanderte zur Schalttafel, zu den mir fremden Knöpfen und Schaltern für die Kammer, die wir hellblau angestrichen und erst letzten Monat in dieser Scheune aufgestellt hatten. »Was, wenn die Patienten auf den Rufknopf drücken?«, sagte ich. »Dann sage ich, du kommst gleich wieder, aber – «
»Nein, sie dürfen nicht wissen, dass ich weg bin. Wenn irgendjemand fragt: Ich bin hier. Die ganze Zeit gewesen.«
»Aber wenn was schiefläuft und – «
»Was sollte denn schieflaufen?« Paks Kommandoton. »Ich bin gleich wieder da, und keiner wird den Rufknopf drücken. Es wird nichts passieren.« Er ging Richtung Ausgang, als sei das Thema damit erledigt. An der Tür sah er sich noch einmal nach mir um. »Es wird nichts passieren«, wiederholte er etwas sanfter. Es klang wie eine Bitte.
Kaum fiel die Scheunentür zu, wollte ich schreien, dass er verrückt war, zu glauben, dass an diesem Tag nichts schieflaufen würde, ausgerechnet an diesem Tag, an dem schon so viel schiefgelaufen war – die Demonstrantinnen, ihr Sabotageplan, der Stromausfall deswegen, die Polizei. Glaubte er, es sei schon genug passiert heute, und dass darum nicht noch mehr passieren konnte? Aber so läuft das Leben nicht. Eine Tragödie macht einen nicht immun gegen weitere Tragödien, und Schicksalsschläge werden nicht gerecht hier und da verteilt – mit Unglück wird klumpenweise, gebündelt nach einem geworfen, unkontrollierbar und chaotisch. Wie konnte er das nicht wissen, nach allem, was wir durchgemacht hatten?
Von 20:02 Uhr bis 20:14 Uhr saß ich da, sagte nichts und tat nichts, wie er mich gebeten hatte. Mein Gesicht feucht von Schweiß, dachte ich an die sechs Patienten, die wegen des Stromausfalls ohne Klimaanlage in der Druckkammer saßen (das Notstromaggregat versorgte nur das Überdrucksystem, die Sauerstoffzufuhr und die Gegensprechanlage), und dankte Gott für den tragbaren DVD-Player, der die Kinder da drin bei Laune hielt. Ich ermahnte mich, meinem Mann zu vertrauen, und wartete. Ich sah auf die Uhr, zur Tür, wieder auf die Uhr und betete, er möge wiederkommen (er musste einfach!), bevor Barney vorbei war und die Patienten nach einer neuen DVD verlangten. Just, als das Schlusslied erklang, klingelte mein Telefon. Pak.
»Sie sind hier«, flüsterte er. »Ich muss bleiben und aufpassen, dass sie nicht wieder was anstellen. Du musst den Sauerstoff abdrehen, wenn die Zeit um ist. Siehst du den Drehregler für das Ventil?«
»Ja, aber – «
»Den musst du gegen den Uhrzeigersinn drehen, immer weiter, bis zum Anschlag. Stell dir den Wecker, damit du es nicht vergisst. Für 20:20 Uhr auf der Wanduhr.« Er legte auf.
Ich berührte den Regler aus verblasstem Messing, auf dem Sauerstoff stand, er hatte genau dieselbe Farbe wie der quietschende Wasserhahn in unserer alten Wohnung in Seoul. Ich war überrascht, wie kühl er sich anfühlte. Ich synchronisierte meine Armbanduhr mit der Wanduhr, stellte die Weckzeit auf 20:20 Uhr und legte die Fingerspitze auf den winzigen Knopf, um den Alarm zu aktivieren. Gerade, als ich draufdrücken wollte, gaben die Batterien im DVD-Player den Geist auf, und ich ließ erschrocken die Hände sinken.
Über diese Sekunden denke ich sehr viel nach. Die Toten, die Lähmung, der Prozess – hätte all das vermieden werden können, wenn ich den kleinen Knopf noch gedrückt hätte? Ich weiß, es ist merkwürdig, in Gedanken immer wieder zu diesem kleinen Moment zurückzukehren, nachdem ich mir doch am selben Abend viel größere, viel unverzeihlichere Fehler geleistet hatte. Vielleicht ist es gerade die Winzigkeit, die scheinbare Belanglosigkeit, die diesem Lapsus Macht verleiht und die Spekulationen befeuert: Was, wenn ich mich nicht von dem DVD-Player hätte ablenken lassen? Was, wenn ich eine Mikrosekunde schneller gewesen wäre und den Alarm aktiviert hätte, bevor die DVD mitten im Schlusslied erstarb? I love you, you love me, we’re a hap-py fam-i–
Totale Leere, totale Stille, dicht und drückend – erdrückend, von allen Seiten. Als endlich wieder ein Geräusch erklang – jemand klopfte von innen gegen das Bullauge der Druckkammer –, war ich fast erleichtert. Doch das Klopfen verstärkte sich, es wurde zu einem Hämmern, immer dreimal hintereinander, als würde es Lass mich raus! rufen, bis es schließlich ein einziges Dröhnen war und mir klar wurde: Das musste TJs Kopf sein, der gegen die Wand schlug. TJ, der autistische Junge, der den lila Dinosaurier Barney über alles liebte, der bei unserer ersten Begegnung auf mich zugerannt kam und mich fest in den Arm nahm. Seine Mutter war verblüfft gewesen, sie sagte, sonst nimmt er nie jemanden in den Arm (er hasst Körperkontakt), aber vielleicht lag es ja an meinem T-Shirt, das war nämlich genauso lila wie Barney. Seitdem habe ich das T-Shirt jeden Tag getragen. Jeden Abend wasche ich es mit der Hand und ziehe es für seine Behandlung an, und er nimmt mich jeden Tag in den Arm. Alle finden das wahnsinnig nett von mir, aber in Wirklichkeit tue ich das für mich, weil ich mich so danach sehne, wie er die Arme um mich schlingt und mich an sich drückt – genau wie meine Tochter früher, bevor sie meine Umarmungen nicht mehr erwiderte und sich schnell herauswand. Ich küsse ihn so gerne auf den Kopf, seine roten Haare kitzeln meine Lippen. Und jetzt schlägt der Junge, dessen Umarmungen ich so liebe, seinen Kopf gegen eine Stahlwand.
Er war nicht verrückt. Seine Mutter hatte erklärt, TJ leide aufgrund einer Darmentzündung unter chronischen Schmerzen, aber er kann nicht sprechen, und wenn es ihm zu viel wird, tut er das Einzige, das ihm irgendeine Erleichterung verschafft: Er schlägt den Kopf gegen die Wand, er verursacht sich selbst neuen, größeren Schmerz, um den alten zu vertreiben. Das ist, wie wenn einen etwas fürchterlich juckt und man so heftig kratzt, dass es anfängt zu bluten, wie gut sich dieser Schmerz anfühlt, nur mal hundert. Einmal, erzählte sie mir, hat TJ mit dem Gesicht eine Fensterscheibe durchschlagen. Die Vorstellung, dass dieser Achtjährige so große Schmerzen hatte, dass er seinen Kopf gegen Stahl schlagen musste, quälte mich.
Und dann dieses für den Schmerz stehende Geräusch – das Schlagen, das Dröhnen, immer wieder. Beharrlich. Zäh. Drängend. Jeder Schlag löste Vibrationen aus, die hin und her schwangen und körperlich wurden, Form und Masse annahmen. Es durchdrang mich. Ich spürte es auf meiner Haut scheuern, in meinem Innern rütteln, ich spürte, wie es von meinem Herzen verlangte, sich seinem Rhythmus anzupassen, schneller, immer schneller.
Ich musste dafür sorgen, dass es aufhörte. Das ist meine Entschuldigung. Dafür, dass ich aus der Scheune rannte und sechs Menschen zurückließ, gefangen in einer luftdichten Kammer. Ich wollte den Druck in der Kammer reduzieren, wollte sie öffnen, TJ da rausholen, aber ich wusste nicht, wie. Und über die Gegensprechanlange hatte TJs Mutter mich (beziehungsweise Pak) gebeten, die Sitzung nicht abzubrechen, sie würde ihn schon wieder beruhigen, aber bitte, um Himmels willen, bitte legen Sie neue Batterien ein, damit die Barney-DVD weiterläuft, jetzt gleich! Irgendwo im Haus, keine zwanzig Sekunden im Laufschritt entfernt, hatten wir Batterien, und ich sollte den Sauerstoff erst in fünf Minuten abdrehen. Also ging ich. Ich hielt mir die Hand vor den Mund, senkte die Stimme und sprach mit einem Akzent, der dem von Pak ähneln sollte: »Wir holen Batterien. Sie warten.« Dann lief ich hinaus.
Unsere Haustür stand einen Spalt offen, und ich schöpfte kurz Hoffnung, dass Mary vielleicht da war und aufräumte, wie ich es ihr aufgetragen hatte, und dass heute doch noch etwas gut gehen würde. Doch als ich reinkam, war niemand zu Hause. Ich war allein, hatte keine Ahnung, wo die Batterien aufbewahrt wurden, und niemanden, der mir half. Damit hatte ich ja die ganze Zeit gerechnet, aber die eine Sekunde der Hoffnung hatte meine Erwartungen in die Höhe schießen lassen – und jetzt stürzten sie ab und zerschellten. Ruhig bleiben, sagte ich mir, und fing an, in dem grauen Stahlschrank zu suchen, in dem wir alles Mögliche aufbewahrten. Mäntel. Betriebsanleitungen. Verlängerungskabel. Keine Batterien. Als ich die Tür zuschlug, wackelte der Schrank, das dünne Metall wobbelte und dröhnte wie ein Echo von TJs Schlägen. Ich sah seinen Kopf vor mir, wie er immer wieder gegen Stahl schlug und aufplatzte wie eine reife Wassermelone.
Ich schüttelte den Kopf, um den Gedanken loszuwerden. »Meh-hee-yah.« Ich rief Marys koreanischen Namen, den sie nicht leiden konnte. Keine Antwort. Ich hatte nichts anderes erwartet, trotzdem machte es mich wütend. Ich rief noch einmal »Meh-hee-yah«, lauter, zog die Silben in die Länge, ließ sie in meiner Kehle knirschen, denn ich brauchte den Schmerz, um das in meinen Ohren klingende Phantomecho von TJs Schlägen loszuwerden.
Ich suchte weiter, im ganzen Haus, Kiste für Kiste. Mit jeder Sekunde, in der ich keine Batterien fand, wurde ich frustrierter, und ich dachte an unseren Streit an dem Morgen, als ich Mary sagte, sie solle mehr im Haushalt helfen – sie war siebzehn! –, und sie wortlos das Haus verließ. Ich dachte an Pak, der sie, wie immer, in Schutz nahm. (»Wir haben doch nicht alles in Korea aufgegeben und sind nach Amerika gekommen, damit sie hier kocht und sauber macht«, sagte er immer. »Nein, dafür haben wir ja mich«, will ich jedes Mal sagen. Aber ich tu’s nie.) Ich dachte daran, wie Mary die Augen verdrehte, Kopfhörer auf den Ohren, und tat, als würde sie mich nicht hören. Ich dachte an alles, was meinen Ärger weiter nähren konnte, was mich im Kopf beschäftigt halten und das Dröhnen der Schläge ausblenden konnte. Mein Zorn auf meine Tochter war etwas Vertrautes, Behagliches, wie eine alte Wolldecke. Er dämpfte meine Panik, bis sie nur noch eine diffuse Angst war.
Ich nahm den Karton, der in Marys Schlafecke stand, riss die ineinander gesteckten Deckelklappen auf und kippte den kompletten Inhalt aus. Typischer Teenager-Kram: abgerissene Kinokarten für Filme, die ich nie gesehen hatte, Fotos von Freunden, die ich nicht kannte, ein Stapel Notizzettel, auf den obersten hatte jemand Ich hab auf dich gewartet. Vielleicht morgen? gekritzelt.
Ich wollte schreien. Wo waren die Batterien? (Und irgendwo in meinem Hinterkopf: Wer hatte das geschrieben? Ein Junge? Warum hatte er auf sie gewartet? Wofür?) Da klingelte mein Telefon – Pak schon wieder –, und ich sah, dass es 20:22 Uhr war, und da fiel es mir ein. Der Alarm. Der Sauerstoff.
Als ich abnahm, wollte ich ihm erklären, dass ich den Sauerstoff noch nicht abgedreht hatte, es aber jetzt gleich tun würde, das sei doch kein Problem, er hätte ja auch schon mal über eine Stunde Sauerstoff zugeführt, oder nicht? Aber meine Worte kamen irgendwie anders raus. Als würde ich sie erbrechen – in einem einzigen heftigen, unkontrollierbaren Strom. »Mary ist nicht da«, sagte ich. »Wir machen das hier alles für sie, und sie ist nie da, und ich brauche sie, sie muss mir helfen, Batterien für TJs DVD-Player zu suchen, bevor TJ sich den Kopf aufschlägt.«
»Du denkst immer so schlecht von ihr, dabei ist sie doch hier, bei mir, und hilft«, sagte er. »Und Batterien sind unter der Spüle in der Küche, aber lass bitte die Patienten nicht allein. Ich schicke Mary rüber, sie soll sie holen. Na, los, Mary, schnell. Bring mal ein paar von den großen D-Batterien in die Scheune. Ich bin auch gleich – «
Ich legte auf. Manchmal ist es besser, nichts zu sagen.
Ich lief zur Küchenspüle. Die Batterien waren dort, genau, wie er gesagt hatte, in einer Tüte, in der ich Müll vermutet hatte, unter mit Erde und Ruß verdreckten Arbeitshandschuhen. Gestern waren sie doch noch sauber gewesen. Was hatte Pak damit gemacht?
Ich schüttelte den Kopf. Die Batterien. Ich musste so schnell wie möglich zurück zu TJ.
Als ich hinauslief, war die Luft schwanger von einem mir unbekannten Geruch – wie verkohltes nasses Holz –, der mir scharf in die Nase stieg. Es dämmerte, aber in einiger Entfernung erkannte ich Pak, der auf die Scheune zurannte.
Mary lief ihm voraus, sie spurtete. Ich rief: »Langsam, Mary, langsam. Ich hab die Batterien gefunden«, doch sie rannte weiter, nicht auf das Haus zu, sondern zur Scheune. »Bleib stehen, Mary«, sagte ich, aber sie blieb nicht stehen. Sie lief an der Scheunentür vorbei zum hinteren Ende des Gebäudes. Ich wusste nicht, warum, aber es machte mir Angst, dass sie hier war, und ich rief sie noch einmal, dieses Mal mit ihrem koreanischen Namen und etwas sanfter. »Mie-hie-jah«, und ich lief zu ihr. Sie drehte sich um. Ich sah ihr Gesicht und blieb stehen. Es leuchtete so seltsam. Orangefarbenes Licht bedeckte ihre Haut und schimmerte, als stünde sie direkt vor einem Sonnenuntergang. Ich wollte ihr Gesicht berühren und ihr sagen, dass sie schön ist.
Ich hörte ein Geräusch aus ihrer Richtung. Es klang wie ein Prasseln, nur leiser und gedämpft, vielleicht wie ein Schwarm Gänse, wenn er abhebt, wenn Hunderte von Flügeln gleichzeitig himmelwärts schlagen. Ich meinte, die Vögel zu sehen, einen grauen Vorhang, der im Wind wehte und sich immer höher in den violetten Himmel erhob, doch als ich blinzelte, war der Himmel leer. Ich lief dem Geräusch entgegen, und da sah ich es, ich sah, was sie schon vor mir gesehen hatte, worauf sie zugerannt war.
Flammen.
Rauch.
Die hintere Wand der Scheune – sie brannte.
Ich weiß nicht, warum ich nicht losgerannt bin oder geschrien habe, und Mary auch nicht. Ich wollte. Aber ich konnte nur langsam gehen, vorsichtig, einen Fuß vor den anderen setzen, den Blick starr auf die Flammen in Orange und Rot gerichtet, die flatterten, sprangen und die Plätze tauschten wie Tanzpartner beim Steppen.
Dann der Knall. Meine Knie gaben unter mir nach, und ich fiel hin. Aber meine Tochter ließ ich keine Sekunde aus den Augen. Jeden Abend, wenn ich das Licht ausmache und die Augen schließe, sehe ich sie, meine Meh-hee, in diesem Augenblick. Wie eine Stoffpuppe fliegt ihr Körper in hohem Bogen durch die Luft. Anmutig. Zart. Kurz bevor sie dumpf auf dem Boden aufschlägt, sehe ich, wie ihr Pferdeschwanz wippt. So wie früher, als sie klein war, beim Seilspringen.
EIN JAHR SPÄTER
DER PROZESS: TAG EINS
Montag, 17. August 2009
YOUNG YOO
Sie kam sich vor wie eine Braut, als sie den Gerichtssaal betrat. Ihre Hochzeit war das letzte – und bisher einzige – Mal gewesen, dass ein ganzer Raum voller Menschen verstummt war und sich nach ihr umgedreht hatte, als sie hereinkam. Wenn hier nicht so viele unterschiedliche Haarfarben versammelt und die geflüsterten Kommentare, während sie den Mittelgang hinunterschritt, nicht auf Englisch gewesen wären – »Sieh mal, die Besitzer«, »Die Tochter lag monatelang im Koma, die Ärmste«, »Er ist gelähmt, wie schrecklich« –, hätte sie glatt meinen können, noch in Korea zu sein.
Der kleine Gerichtssaal sah sogar aus wie eine alte Kirche, mit knarzenden Holzbänken beiderseits des Mittelgangs. Sie ging mit gesenktem Kopf, wie bei ihrer Hochzeit vor zwanzig Jahren. Normalerweise stand sie nie im Mittelpunkt des Interesses, es fühlte sich falsch an. Bescheidenheit, Anpassungsbereitschaft, Unsichtbarkeit: Diese Eigenschaften machten eine gute Ehefrau aus, nicht Auffälligkeit und Allbekanntheit. Trugen Bräute nicht genau deshalb Schleier? Um sie vor aufdringlichen Blicken zu schützen, um die Röte ihrer Wangen zu dämpfen? Sie sah zu beiden Seiten. Rechts, hinter der Staatsanwaltschaft, entdeckte sie ein paar bekannte Gesichter, es waren die Angehörigen ihrer Patienten.
Nur ein einziges Mal waren die Patienten zuvor alle zusammengekommen: letztes Jahr im Juli, als sie vor der Scheune eine Einführung erhielten. Youngs Mann hatte die Türen geöffnet, um ihnen die frisch blau gestrichene Druckkammer zu zeigen. »Das«, sagte Pak und sah dabei sehr stolz aus, »ist unser Miracle Submarine – das U-Boot der Wunder. Reiner Sauerstoff. Überdruck. Heilung. Gemeinsam.« Alles klatschte. Mütter weinten. Und jetzt saßen dieselben Leute hier, mit düsteren Mienen, in denen keine Hoffnung auf Wunder mehr stand, sondern die Neugier von Menschen, die an der Supermarktkasse nach den Boulevardblättern griffen. Und Mitleid – ob mit ihr oder mit sich selbst, wusste sie nicht. Sie hatte Wut erwartet, aber die Patienten lächelten, als Young vorbeiging, und sie musste sich in Erinnerung rufen, dass sie eins der Opfer war. Sie war nicht die Angeklagte, ihr wurde nicht zur Last gelegt, für die Explosion verantwortlich zu sein, bei der zwei Patienten ums Leben kamen. Sie sagte sich das, was Pak ihr jeden Tag sagte: Dass sie beide an jenem Abend nicht in der Scheune gewesen waren, war nicht der Grund für das Feuer, und er hätte die Explosion auch nicht verhindern können, wenn er bei den Patienten geblieben wäre. Young versuchte, das Lächeln dieser Menschen zu erwidern. Ihre Unterstützung tat gut. Und war wichtig, das wusste Young. Aber diese Unterstützung fühlte sich unverdient an, falsch, wie ein Preis, den sie durch Mogeln gewonnen hatte, und darum gab sie Young keinen Auftrieb, sondern belastete sie zusätzlich, weil sie befürchtete, Gott würde die Ungerechtigkeit sehen und korrigieren, sie in irgendeiner Weise für ihre Lügen bezahlen lassen.
Als Young das Holzgeländer erreichte, kämpfte sie gegen den Impuls an, drüber zu springen und am Tisch der Verteidigung Platz zu nehmen. Sie setzte sich zu ihrer Familie hinter der Staatsanwaltschaft, neben Matt und Teresa, zwei der sechs Personen, die an jenem Abend im Miracle Submarine feststeckten. Sie hatte die beiden lange nicht gesehen, seit dem Krankenhaus nicht. Aber keiner grüßte. Alle sahen zu Boden. Sie waren die Opfer.
*
Das Gericht befand sich in Pineburg, der Nachbarstadt von Miracle Creek. Die Namen beider Städte waren kurios – genau das Gegenteil dessen, was man erwartet hätte. Miracle Creek sah nicht aus wie ein Ort, an dem sich je Wunder zutrugen, außer vielleicht jenes, dass Menschen hier jahrelang lebten, ohne vor Langeweile durchzudrehen. Aber das Wunder im Namen und die damit verbundenen Marketingmöglichkeiten (sowie billiges Land) hatten Pak und sie überzeugt, sich dort niederzulassen, obwohl sonst keine Asiaten – wahrscheinlich überhaupt keine Einwanderer – dort lebten. Es war nur eine Autostunde von Washington entfernt, von dicht konzentrierter Modernität wie dem Dulles Airport, fühlte sich aber so isoliert an wie ein Dorf weitab jeglicher Zivilisation, wie eine ganz eigene Welt. Unbefestigte Straßen statt betonierter Gehsteige. Kühe statt Autos. Heruntergekommene Holzscheunen statt Hochhäuser aus Stahl und Glas. Es war, als würde man in einen alten Schwarz-Weiß-Film stolpern. Miracle Creek wirkte wie einmal benutzt und weggeworfen; als Young es zum ersten Mal sah, hatte sie Lust, jedes Fitzelchen Abfall aus ihren Taschen zu kramen und so weit zu schmeißen, wie sie nur konnte.
Pineburg dagegen nahm sich seinem schlichten Namen und seiner Nähe zu Miracle Creek zum Trotz sehr reizvoll aus, die schmalen Kopfsteinpflasterstraßen wurden von Läden in bunt gestrichenen Holzhäusern gesäumt. Der Anblick der Geschäfte auf der Main Street erinnerte Young an ihren Lieblingsmarkt in Seoul und seine legendären Auslagen – spinatgrün, paprikarot, beterot, persimoneorange. Das hörte sich ziemlich grell an, doch das Gegenteil war der Fall – als würde das Nebeneinander der Knallfarben ihren jeweiligen Effekt dämpfen und so eine elegante, angenehme Wirkung entstehen.
Das Gerichtsgebäude lag am Fuß einer Anhöhe, zu beiden Seiten flankiert von Weinstöcken, die in geraden Linien den Hügel hinauf gepflanzt waren. Diese geometrische Präzision strahlte eine gewisse Ruhe aus, und es wirkte angemessen, dass ein Gebäude, in dem Recht gesprochen wurde, inmitten ordentlicher Reihen von Wein stand.
Als Young an diesem Morgen das Gerichtsgebäude mit den hohen weißen Säulen betrachtete, war ihr durch den Kopf gegangen, dass sie dem Amerika, das sie sich früher vorgestellt hatte, noch nie so nah gewesen war. Als Pak seinerzeit in Korea beschlossen hatte, dass sie zusammen mit Mary nach Baltimore ziehen sollte, war Young in verschiedene Buchhandlungen gegangen und hatte sich Bilder von Amerika angesehen – das Kapitol, die Wolkenkratzer von Manhattan, der Inner Harbor. Seit fünf Jahren war sie nun schon in den USA, und sie hatte keinen dieser Orte mit eigenen Augen gesehen. Die ersten vier Jahre hatte sie in einem Lebensmittelgeschäft zwei Meilen vom Inner Harbor entfernt gearbeitet, in einem Viertel, das die Leute »Ghetto« nannten, mit verrammelten Häusern und Glasscherben überall auf der Straße. Eine winzige Höhle aus Panzerglas: Das war ihr Amerika gewesen.
Schon seltsam, wie dringend sie dieser schäbigen Welt entkommen wollte – und wie sehr sie ihr jetzt fehlte. Miracle Creek war eine Insel, die Einwohner lebten schon sehr lange dort (seit Generationen, hieß es). Young dachte, sie bräuchten bloß etwas länger, um aufzutauen, und konzentrierte sich darauf, mit einer besonders nett wirkenden Nachbarsfamilie Freundschaft zu schließen. Im Laufe der Zeit begriff Young aber, dass die Familie nicht nett war, sondern auf höfliche Weise unfreundlich. Young kannte die Sorte. Ihre eigene Mutter hatte zu dieser Art Mensch gehört, die ihre Unfreundlichkeit mit guten Manieren kaschierte, wie manche Leute mit Parfum versuchten, ihren Körpergeruch zu überdecken – je schlimmer der war, desto mehr künstlichen Duft benutzten sie. Ihre steife, übertriebene Höflichkeit – die permanent zu einem Lächeln zusammengekniffenen Lippen der Frau, das zuvorkommende Ma’am am Anfang oder am Ende jedes Satzes des Mannes – sorgte für Distanz und unterstrich Youngs Position als Zugereiste. Ihre Stammkunden in Baltimore waren streitsüchtig gewesen, hatten geflucht und sich immer über irgendetwas beschwert – mal über die viel zu hohen Preise, mal über die zu warmen Getränke, mal über die zu dünnen Aufschnittscheiben –, aber ihre Ruppigkeit hatte etwas sehr Ehrliches an sich gehabt, ihr Gezeter eine angenehme Vertrautheit. So wie sich zankende Geschwister. Geradeheraus. Unverstellt.
Als Pak dann letztes Jahr auch nach Amerika kam, wollten sie gerne nach Annandale ziehen, die »Koreatown« im Großraum Washington, von Miracle Creek aus mit dem Auto gut zu erreichen. Das Feuer hatte alle diese Pläne durchkreuzt, sie befanden sich immer noch in ihrer »vorübergehenden« Bleibe. Eine heruntergekommene Hütte in einer heruntergekommenen Kleinstadt, die so gar nichts mit den Bildern in den Büchern zu tun hatte. Bis heute war das schickste Gebäude, das Young auf amerikanischem Boden betreten hatte, das Krankenhaus gewesen, in dem Pak und Mary nach der Explosion mehrere Monate verbrachten.
*
Im Gerichtssaal war es laut. Nicht die Menschen – die Opfer, die Anwälte, die Journalisten und so viele andere –, sondern die beiden altmodischen, in die Fenster hinter dem Richtertisch montierten Klimaanlagen lärmten. Sie knatterten wie Rasenmäher, wenn sie sich ein- und ausschalteten, was sie natürlich, da sie nicht aufeinander abgestimmt waren, immer zu unterschiedlichen Zeitpunkten taten – erst die eine, dann die andere, dann wieder die eine, wie die Balzrufe seltsamer mechanischer Tiere. Wenn beide Apparate liefen, ratterten und brummten sie auf verschiedenen Frequenzen, und Young juckten die Trommelfelle. Am liebsten hätte sie den kleinen Finger tief ins Ohr gesteckt, bis zum Gehirn, und hätte sich gekratzt.
Auf der Tafel in der Eingangshalle stand, dass das Gerichtsgebäude zweihundertfünfzig Jahre alt und von großer historischer Bedeutung war, und dass Spenden an den »Verein zur Erhaltung des Gerichtsgebäudes in Pineburg« willkommen waren. Young hatte beim Gedanken an diesen Verein den Kopf geschüttelt – eine Gruppe von Menschen, die sich nur darum kümmerten, die Modernisierung dieses Gebäudes zu verhindern. Die Amerikaner waren so wahnsinnig stolz auf alles, was ein paar Hundert Jahre alt war, als hätten Dinge einen besonderen Wert, nur weil sie eben alt waren. (Diese Philosophie bezog sich allerdings nicht auf Menschen.) Ihnen schien nicht bewusst zu sein, dass die Welt Amerika gerade deshalb wertschätzte, weil es nicht alt war, sondern modern und neu. Koreaner waren da ganz anders. In Seoul hätte man einen Verein zur Modernisierung gegründet, dessen Ziel es gewesen wäre, die »antiken« Holzfußböden und Kiefernholztische im Gerichtsgebäude durch Marmor und kalten Stahl zu ersetzen.
»Bitte erheben Sie sich. Das Strafgericht von Skyline County eröffnet seine Sitzung, der vorsitzende Richter ist der ehrenwerte Frederick Carleton III«, verkündete der Gerichtsdiener, und alle standen auf. Außer Pak. Seine Hände umklammerten die Armlehnen des Rollstuhls, die Adern an seinen Händen schimmerten grün und traten hervor, als wollten sie seine Arme dazu bringen, den Körper aus dem Sitz zu stemmen. Young wollte ihm gerade helfen, hielt sich dann aber zurück, als ihr einfiel, dass Pak es viel schlimmer fände, bei etwas so Grundlegendem wie Aufstehen Hilfe zu benötigen, als gar nicht aufzustehen. Pak legte enorm großen Wert auf Äußerlichkeiten, Regelkonformität und Erwartungserfüllung – diese typisch koreanischen Dinge, für die Young sich seltsamerweise nie interessiert hatte (weil ihre Familie so wohlhabend war, dass sie sich diesen Luxus leisten konnte, hätte Pak jetzt gesagt). Aber sie verstand seinen Frust darüber, der einzige Sitzende inmitten einer ihn hoch überragenden Menschenmenge zu sein. Er wirkte verletzlich, wie ein Kind, und sie musste den Impuls unterdrücken, die Arme wie einen Mantel um ihn zu legen und seine Scham zu verhüllen.
»Die Verhandlung ist hiermit eröffnet. Strafsache Nummer 49.621, Bundesstaat Virginia gegen Elizabeth Ward«, sagte der Richter und schlug den Hammer auf den Tisch. Als sei es so beabsichtigt gewesen, schwiegen beide Klimaanlagen gerade, und das Geräusch von Holz, das auf Holz klackte, hallte von der schrägen Decke wider und erfüllte die Stille.
Jetzt war es offiziell: Elizabeth war die Angeklagte. Young spürte ein Kribbeln in der Brust, als sei eine schlafende Zelle der Hoffnung und Erleichterung geplatzt und würde elektrische Funken durch ihren Körper schicken und die Angst tilgen, die ihr Leben bestimmt hatte. Obwohl fast ein ganzes Jahr vergangen war, seit Pak von Schuldvorwürfen befreit und Elizabeth festgenommen wurde, hatte Young es bis heute nicht recht glauben können; ständig hatte sie sich gefragt, ob das bloß ein Trick war und ob man heute, bei der Eröffnung des Verfahrens, plötzlich sie und Pak als die Angeklagten aufrufen würde. Doch jetzt hatte das Warten ein Ende, und nach einigen Tagen der Zeugenvernehmung – mit »erdrückender Beweislage«, wie der Staatsanwalt sagte – würde Elizabeth für schuldig befunden werden, und sie würden das Geld von der Versicherung bekommen und ein neues Leben anfangen können. Der Stillstand würde ein Ende haben.
Die Geschworenen betraten den Saal. Young sah sie an, diese Menschen – insgesamt zwölf, sieben Männer und fünf Frauen –, die an die Todesstrafe glaubten und schworen, dass sie bereit waren, für den Tod durch die Spritze zu stimmen. Das hatte Young vergangene Woche erfahren. Der Staatsanwalt war ausgesprochen gut gelaunt gewesen, und als sie ihn fragte, warum, hatte er erklärt, diejenigen potenziellen Geschworenen, die am ehesten mit Elizabeth sympathisiert hätten, seien entlassen worden, weil sie gegen die Todesstrafe waren.
»Todesstrafe? Durch Hängen?«, hatte sie gefragt.
Ihr Entsetzen und ihre Abscheu mussten sehr offenkundig gewesen sein, denn Abes Lächeln war erstorben. »Nein, durch eine Spritze. Gift, das intravenös gegeben wird. Schmerzfrei.«
Er hatte ihr erklärt, dass Elizabeth nicht unbedingt ein Todesurteil bekommen würde, dass das nur eine von mehreren Möglichkeiten sei, und doch hatte Young sich davor gefürchtet, Elizabeth hier zu sehen, die panische Angst in ihrem Gesicht den Menschen gegenüber, in deren Macht es stand, ihr Leben zu beenden.
Young zwang sich, den Blick auf Elizabeth am Tisch der Verteidigung zu richten. Sie sah aus, als wäre sie selbst Anwältin – das blonde Haar zu einem Dutt gedreht, dunkelgrünes Kostüm, Perlen, Pumps. Young hätte sie fast nicht erkannt, sie sah überhaupt nicht mehr so aus wie früher – zotteliger Pferdeschwanz, zerknitterte Jogginghose, zwei unterschiedliche Socken.
Es war schon grotesk – von allen Eltern ihrer Patienten war Elizabeth die ungepflegteste Erscheinung gewesen, obwohl sie das bei Weitem pflegeleichteste Kind hatte. Henry, ihr einziges Kind, war ein wohlerzogener Junge gewesen, der im Gegensatz zu vielen anderen Patienten laufen und sprechen konnte, der sauber war und keine Wutanfälle bekam. Während der Einführung, als die Mutter der Zwillinge mit Autismus und Epilepsie Elizabeth fragte: »Entschuldigung, aber was macht Henry hier? Er scheint doch ganz normal zu sein.«, hatte sie die Stirn gerunzelt, als sei sie gekränkt. Sie leierte eine ganze Liste von Diagnosen herunter – Zwangsstörungen, ADHS, sensorische sowie Autismus-Spektrum-Störung, Angst – und erklärte dann, wie kräftezehrend es sei, ständig auf der Suche nach experimentellen Therapien zu sein. Ihr war offenbar überhaupt nicht bewusst, wie sich ihr Jammern ausnahm, während sie von Kindern umgeben war, die in Rollstühlen saßen und künstlich ernährt wurden.
Richter Carleton bat Elizabeth, sich zu erheben. Young dachte, Elizabeth würde anfangen zu weinen, wenn die Anklageschrift verlesen wurde, oder zumindest erröten und den Blick senken. Doch Elizabeth sah die Geschworenen erhobenen Hauptes an, sie errötete und blinzelte nicht. Young betrachtete Elizabeths Gesicht, in dem sich keine Gefühlsregung abzeichnete, und fragte sich, ob sie vielleicht unter Schock stand. Doch Elizabeths Blick war nicht leer, er war gelassen. Fast glücklich. Vielleicht war Young einfach so sehr an Elizabeths Sorgenfalten auf der Stirn gewöhnt, dass schon deren Abwesenheit sie zufrieden aussehen ließ.
Oder aber die Zeitungen hatten recht. Vielleicht hatte Elizabeth ihren Sohn wirklich unbedingt loswerden wollen, und jetzt, wo er tot war, hatte sie endlich Ruhe. Vielleicht war sie die ganze Zeit ein Ungeheuer gewesen.
MATT THOMPSON
Er hätte alles dafür gegeben, heute nicht hier sein zu müssen. Na ja, vielleicht nicht alles, aber doch sehr viel. Vielleicht einen seiner drei verbleibenden Finger an der rechten Hand. Durch die zwei fehlenden Finger war er ohnehin schon ein Freak – da machte einer mehr oder weniger auch nichts mehr aus. Er hatte keine Lust auf Reporter, auf blitzende Kameras, wenn er aus Versehen die Hände vors Gesicht hielt – ihn widerte die Vorstellung an, wie das Blitzlicht das glänzende Narbengewebe aufleuchten ließ, das den unförmigen Klumpen bedeckte, der einmal seine rechte Hand gewesen war. Er wollte das Geflüster nicht hören – »Guck mal, der unfruchtbare Arzt« – oder Abe Patterley, dem Staatsanwalt, gegenübertreten, der ihn einmal angesehen hatte, den Kopf zur Seite geneigt, als betrachte er ein Rätsel, und fragte: »Haben Sie und Ihre Frau schon mal über eine Adoption nachgedacht? Ich habe gehört, in Korea gibt es jede Menge halbweiße Babys.« Er hatte keine Lust, mit seiner Schwiegerfamilie, den Chos, zu plaudern, die betreten den Blick senkten, sobald sie seine Versehrung sahen. Er wollte auch nicht hören, wie seine Frau Janine ihre Eltern dafür beschimpfte, dass sie im Angesicht eines körperlichen Defekts größte Scham empfanden, und wie Janine diese Verhaltensweise als eine weitere »typisch koreanische« Voreingenommenheit und Überempfindlichkeit bezeichnete. Und vor allem wollte er niemanden vom Miracle Submarine sehen, die anderen Patienten nicht, Elizabeth nicht und ganz sicher und vor allem nicht Mary Yoo.
Abe Patterley erhob sich und legte im Vorbeigehen die Hand auf Youngs auf dem Geländer ruhende Finger. Er tätschelte sie, und Young lächelte. Pak biss die Zähne zusammen, und als Abe ihn anlächelte, verzog Pak die Lippen im Versuch, zurückzulächeln, aber es wollte ihm nicht gelingen. Matt vermutete, dass Pak, genau wie Matts koreanischer Schwiegervater, nicht viel von Afroamerikanern hielt und es für ihn eine der größten Schwächen der USA war, dass sie einen afroamerikanischen Präsidenten hatten.
Er war überrascht gewesen, als er den Staatsanwalt zum ersten Mal gesehen hatte. Miracle Creek und Pineburg waren doch so provinziell und weiß. Die Geschworenen – alle weiß. Der Richter war weiß. Polizei, Feuerwehr – weiß. Hier hätte er nun wirklich keinen schwarzen Staatsanwalt erwartet. Aber hier hätte sicher auch niemand einen koreanischen Einwanderer erwartet, der ein Mini-U-Boot als ein sogenanntes medizintechnisches Gerät betrieb, und doch gab es das.
»Meine Damen und Herren Geschworenen, mein Name ist Abraham Patterley. Ich bin der Ankläger. Ich vertrete den Bundesstaat Virginia gegen die Angeklagte, Elizabeth Ward.« Mit dem rechten Zeigefinger deutete Patterley auf Elizabeth, die zusammenzuckte, als hätte sie nicht gewusst, dass sie die Beschuldigte war. Matt fixierte Abes Zeigefinger und fragte sich, was der Staatsanwalt tun würde, wenn er ihn, wie Matt, verlieren würde. Kurz vor der Amputation hatte der Chirurg gesagt: »Gott sei Dank hat das keine großen Auswirkungen auf Ihre berufliche Tätigkeit. Stellen Sie sich mal vor, Sie wären Pianist oder Chirurg.« Darüber hatte Matt sehr viel nachgedacht. Gab es einen Beruf, auf den die Amputation des rechten Zeige- und Mittelfingers keine großen Auswirkungen hätte? Anwälte, hätte er gedacht, aber als er jetzt sah, wie Elizabeth angesichts Patterleys schlichter Geste zusammenschrumpfte, als er sah, welche Macht in diesem Finger steckte, war er sich doch nicht mehr so sicher.
»Warum ist Elizabeth Ward heute hier? Sie haben die Anklagepunkte gehört: Brandstiftung, Körperverletzung, versuchter Mord.« Patterley sah Elizabeth durchdringend an, dann wandte er sich den Geschworenen zu. »Mord.«
»Die Opfer sitzen hier und sind bereit, Ihnen zu erzählen, was passiert ist. Ihnen« – er machte eine Handbewegung Richtung erste Reihe – »und den beiden größten Opfern der Angeklagten: Kitt Kozlowski, eine langjährige Freundin der Angeklagten, und Henry Ward, der achtjährige Sohn der Angeklagten, die beide heute nicht hier sein und für sich selbst sprechen können, weil sie tot sind.
Der Sauerstofftank des Miracle Submarine explodierte am 26. August 2008 gegen 20:25 Uhr und löste ein unkontrollierbares Feuer aus. Sechs Personen befanden sich in der Druckkammer, drei in der unmittelbaren Nähe. Zwei starben. Vier wurden schwer verletzt – monatelange Krankenhausaufenthalte, Lähmungen, Amputationen.
Die Angeklagte hätte sich ebenfalls in der Druckkammer befinden sollen, zusammen mit ihrem Sohn. Aber sie war nicht da. Angeblich war sie krank. Sie erzählte allen was von Kopfschmerzen. Sie bat Kitt, die Mutter eines anderen Patienten, ein Auge auf Henry zu haben, während sie sich hinlegte. Mit einer Flasche Wein ging sie runter zum Fluss. Sie rauchte eine Zigarette von derselben Sorte und Marke, mit der das Feuer gelegt worden war, sie zündete sie mit derselben Sorte und Marke Streichhölzer an, mit denen das Feuer gelegt worden war.«
Patterley sah die Geschworenen an. »Alles, was ich Ihnen bis hierher gesagt habe, ist unbestritten.«
Er schloss den Mund und legte eine Kunstpause ein. »Un-be-strit-ten«, sagte er und sprach die vier Silben wie einzelne Wörter aus. »Die Angeklagte« – wieder richtete er den Zeigefinger auf sie – »gibt all das zu: dass sie an dem Abend einfach nicht in die Druckkammer wollte, dass sie vorgab, krank zu sein. Und während ihr Sohn und ihre Freundin darin verbrannten, trank sie Wein und rauchte, benutzte dabei die Streichhölzer und die Zigaretten, mit denen auch der Brand ausgelöst wurde, und hörte auf ihrem iPod Beyoncé.«
*
Matt wusste, weshalb er der erste Zeuge war. Patterley hatte ihm erklärt, dass zunächst ein Überblick nötig war. »Überdruck, Sauerstoff und alles, das ist ganz schön kompliziert. Sie sind Arzt, Sie können dazu beitragen, dass die Leute das verstehen. Und außerdem waren Sie dabei. Sie sind perfekt.« Perfekt oder nicht, Matt passte überhaupt nicht, dass er als Erster an der Reihe war und damit den Ton setzte. Er wusste, was Patterley dachte, dass diese Heilungsgeschichte mit dem U-Boot vollkommener Quatsch war und dass er den Geschworenen sagen wollte, Sehen Sie mal hier, ein ganz normaler Amerikaner, ein echter Doktor der Medizin, mit abgeschlossenem Studium, und der hat das auch gemacht, also kann es ja doch nicht völlig unsinnig sein.
»Legen Sie die linke Hand auf die Bibel und heben Sie die rechte Hand«, sagte der Gerichtsdiener. Matt legte die rechte Hand auf die Bibel, hob die linke Hand und sah dem Gerichtsdiener direkt ins Gesicht. Sollte er doch glauben, dass Matt zu blöd war, um rechts von links zu unterscheiden. Das war immer noch besser, als seine entstellte Hand zur Schau zu stellen, zu sehen, wie alle entsetzt zurückwichen und die Blicke umherhuschen ließen wie Vögel über einer Müllkippe, die nicht wussten, wo sie landen sollten.
Patterley fing mit ganz harmlosen Fragen an. Woher Matt stammte (Bethesda, Maryland), College (Tufts), Medizinstudium (Georgetown), Assistenzarztzeit (ebenda), Akademiemitgliedschaft (ebenda), Fachgebiet (Radiologie), Krankenhausreferenzen (Fairfax). »Ich werde Ihnen jetzt die erste Frage stellen, die mir kam, als ich von der Explosion hörte. Was ist Miracle Submarine, und wozu braucht man mitten in Virginia, wo es weit und breit kein Meer gibt, ein U-Boot?« Einige der Geschworenen lächelten, als seien sie erleichtert, dass auch andere sich darüber gewundert hatten.
Matt verzog die Lippen zu einem Lächeln. »Miracle Submarine ist kein echtes U-Boot. Es sieht nur so aus, mit Bullaugen und einer luftdichten Luke und Stahlwänden. In Wirklichkeit ist es ein medizintechnisches Gerät, eine Kammer für hyperbare Sauerstofftherapie, auch hyperbare Oxygenierung, kurz HBO.«
»Erklären Sie uns, wie das funktioniert, Dr. Thompson.«
»Man sitzt in der Kammer, der Luftdruck darin wird auf das eineinhalb- bis dreifache des normalen Atmosphärendrucks erhöht, und man atmet reinen Sauerstoff ein. Durch den Überdruck löst sich der Sauerstoff besser im Blut und in anderen Körperflüssigkeiten sowie im Gewebe. Beschädigte Zellen benötigen Sauerstoff, um zu heilen, und der erhöhte Gehalt gelösten Sauerstoffs kann zu schnellerer Heilung und neuem Zellwachstum beitragen. HBO wird von vielen Krankenhäusern angeboten.«
»Miracle Submarine wird privat betrieben. Unterscheidet es sich von in Krankenhäusern angebotener HBO?«
Matt dachte an sterile Krankenhauskammern, die von Technikern in OP-Bekleidung betreut wurden, und dann an die rostige Kammer der Yoos in einer alten Scheune. »Eigentlich nicht. Krankenhäuser bieten in der Regel durchsichtige Röhren an, in denen eine einzelne Person liegen kann. Miracle Submarine ist eine größere Kammer mit Platz für vier Patienten und ihre Betreuer auf einmal, was die Kosten dramatisch senkt. Private HBO-Anbieter behandeln auf Wunsch auch Indikationen, die Krankenhäuser nicht abdecken.«
»Welche Art von Indikationen?«
»Eine ganze Menge. Autismus, Zerebralparese, Unfruchtbarkeit, Morbus Crohn, Nervenleiden.« Matt glaubte, von den hinteren Reihen ein Kichern zu hören, als er die Indikation nannte, die er in der Mitte der Aufzählung verstecken wollte – Unfruchtbarkeit. Oder vielleicht war es auch nur Einbildung, vielleicht hallte sein eigenes Lachen in ihm wider, mit dem er nach der Spermienanalyse auf den Vorschlag seiner Frau reagiert hatte, es mit HBO zu versuchen.
»Vielen Dank, Dr. Thompson. Sie selbst waren Miracle Submarines erster Patient. Können Sie uns ein wenig davon erzählen?«
Und wie er das konnte. Stundenlang könnte er das. Wie Janine das alles sehr geschickt eingefädelt hatte, indem sie ihn zum Abendessen zu ihren Eltern einlud, ohne die Yoos oder HBO mit einer Silbe zu erwähnen oder – noch viel schlimmer – den »Beitrag«, der von Matt erwartet wurde. Das war ein mieser Hinterhalt gewesen.
»Ich habe Pak Yoo letztes Jahr bei meinen Schwiegereltern kennengelernt«, berichtete Matt dem Ankläger. »Seine Familie ist mit der Familie meiner Frau befreundet, mein Schwiegervater und Paks Vater stammen aus demselben Dorf in Korea. An dem Abend erfuhr ich, dass Pak in Privatregie HBO anbieten und dass mein Schwiegervater in das Projekt investieren wollte.« Sie hatten alle um den Esstisch gesessen, und als Matt hereinkam, waren die Yoos schnell aufgesprungen, als gehörte er zur königlichen Familie. Pak sah nervös aus, ein verkrampftes Lächeln betonte die scharfen Kanten seines Gesichts, und als er Matt die Hand schüttelte, stachen seine Knöchel hervor wie ein zerklüfteter Bergkamm. Young, seine Frau, verneigte sich ein wenig und sah zu Boden. Mary, die sechzehnjährige Tochter, war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, mit für das zarte Gesicht viel zu großen Augen, aber sie lächelte so leise und spitzbübisch, als wüsste sie ein Geheimnis und könnte nicht abwarten, Matts Reaktion zu sehen, wenn er es erfuhr – und genau das stand ihm natürlich bevor.
Kaum hatte Matt sich an den Tisch gesetzt, sagte Pak: »Wissen Sie, was HBO ist?« Der Satz klang wie das Stichwort für eine gut vorbereitete Theatervorstellung. Alle scharten sich um Matt, neigten sich ihm verschwörerisch zu und redeten nacheinander ohne Pause. Matts Schwiegervater erzählte, wie beliebt HBO bei asiatischen Akupunkturpatienten war; in Japan und in Korea gab es Wellnesscenter mit Infrarot-Saunen und HBO-Kammern. Matts Schwiegermutter erzählte, dass Pak in Seoul mehrere Jahre Erfahrung mit HBO gesammelt hatte. Janine erzählte, jüngste Studien hätten gezeigt, dass HBO eine vielversprechende Behandlungsform für eine Vielzahl von chronischen Erkrankungen sei, ob er das schon gehört hätte?
»Wie haben Sie auf diese Geschäftsidee reagiert?«, fragte Abe Patterley jetzt.
Matt sah, wie Janine sich den Daumen in den Mund steckte und an der Haut rund um den Nagel herumknabberte. Das tat sie immer, wenn sie nervös war, und sie tat es auch bei jenem Abendessen, natürlich, weil sie genau wusste, wie er darüber denken würde. Wie alle ihre Freunde vom Krankenhaus darüber denken würden. Absoluter Quatsch. Wieder mal eine von den alternativen, ganzheitlichen Therapieideen ihres Vaters, mit denen verzweifelte und verrückte Patienten für dumm verkauft werden sollten. Aber das hatte Matt natürlich nie gesagt. Er war in Mr Chos Augen ohnehin schon nicht gut genug für dessen Tochter, allein deshalb, weil er kein Koreaner war. Wenn der dahinterkäme, dass Matt seinen ganzen Berufsstand – ja, die gesamte östliche »Medizin« – für Quacksalberei hielt? Nein. Das wäre nicht gut. Und darum war es wirklich genial von Janine gewesen, die ganze Sache in Anwesenheit ihrer Eltern und weiterer Freunde zu verkünden.
»Alle waren ganz aufgeregt«, erklärte Matt dem Staatsanwalt. »Mein Schwiegervater arbeitet seit dreißig Jahren als Akupunkteur, er stand voll dahinter, und meine Frau, die Internistin ist, bestätigte das Potenzial der HBO. Mehr musste ich nicht wissen.« Janine hörte auf, an ihrer Nagelhaut herumzukauen. »Meine Frau«, fügte Matt hinzu, »hat im Medizinstudium nämlich deutlich bessere Noten geschrieben als ich.« Janine und die Geschworenen lachten.
»Sie haben sich dann für eine Behandlung angemeldet. Erzählen Sie uns davon.«
Matt biss sich auf die Lippe und sah weg. Natürlich hatte er mit dieser Frage gerechnet und seine Antwort darauf geübt: schön sachlich. Genauso, wie Pak an jenem Abend erzählt hatte, dass Matts Schwiegervater in das neue Geschäft investierte und dass sie Janine zur medizinischen Beraterin auserkoren hatten – als handele es sich um die Ernennung zur Präsidentin oder so. Woraufhin sich alle einig waren: »Dr. Matt Thompson muss erster Patient sein.« Matt dachte, er hätte sich verhört. Paks Englisch war gut, aber er sprach mit Akzent und nicht ganz fehlerfrei. Vielleicht hatte er sich bei der Übersetzung vertan und meinte eigentlich »Direktor« oder »Vorsitzender«. Doch dann fügte Pak sinngemäß hinzu: »Die meisten Patienten werden Kinder sein, aber es ist gut, wenigstens einen Erwachsenen dabeizuhaben.«
Matt hatte an seinem Wein genippt und geschwiegen, während er überlegte, wie um alles in der Welt Pak wohl darauf gekommen war, dass ein gesunder Mann wie Matt HBO gebrauchen könnte. Dann kam ihm ein Gedanke: Ob Janine ihm von ihrem – seinem – »Problem« erzählt hatte? Er versuchte, den Gedanken zu ignorieren und sich auf das Essen zu konzentrieren, aber seine Hände zitterten, er hatte Schwierigkeiten, die Galbi aufzunehmen, die glitschigen Happen marinierter Rippchen rutschten ihm immer wieder zwischen den dünnen silbernen Essstäbchen hindurch. Mary bemerkte das und sprang ihm bei. »Ich kann auch nicht so gut mit den Metallstäbchen umgehen«, sagte sie und reichte ihm hölzerne, wie man sie beim Take-away-Chinesen bekommt. »Mit denen geht es leichter. Probier mal. Meine Mutter sagt, das ist der Grund, weshalb wir aus Korea weg sind. Weil niemand ein Mädchen heiraten würde, das nicht mit Stäbchen essen kann. Stimmt’s, Mom?« Alle anderen wirkten ein wenig beleidigt und schwiegen, Matt dagegen lachte. Mary fiel ein, und so lachten die beiden inmitten der vielen ernsten Mienen wie zwei kleine Kinder, die in einem Raum voller Erwachsener über die Stränge schlugen.
Und genau in dem Moment, als Matt und Mary lachten, sagte Pak: »HBO gibt gute Ergebnisse bei Unfruchtbarkeit, besonders bei geringer Spermienbeweglichkeit, wie bei Ihnen.« Also hatte seine Frau nicht nur ihren Eltern, sondern auch diesen Menschen, denen Matt noch nie zuvor begegnet war, nicht nur medizinische, sondern höchst private Details verraten. Matt wurde es unerträglich heiß in der Brust, als sei ein mit Lava gefüllter Ballon in seinen Lungen geplatzt und habe jeglichen Sauerstoff verdrängt. Matt hatte Pak in die Augen gestarrt und versucht, normal zu atmen. Seltsamerweise war es nicht Janines Blick, dem er ausweichen musste, sondern Marys. Er wollte nicht wissen, wie diese Begriffe – Unfruchtbarkeit, geringe Spermienbeweglichkeit – ihre Sicht auf ihn änderten. Ob ihr eben noch neugieriger (vielleicht sogar interessierter?) Blick jetzt ein klein wenig angewidert oder – noch schlimmer – mitleidig war.
Matt erklärte dem Staatsanwalt: »Meine Frau und ich hatten Schwierigkeiten, schwanger zu werden, und die HBO galt als eine experimentelle Behandlungsmethode für Männer in einer solchen Situation, darum erschien es uns sinnvoll, diese neue Unternehmung für unsere Zwecke zu nutzen.« Er ließ aus, dass er zuerst nicht einverstanden gewesen war, dass er sich sogar den Rest des Abends geweigert hatte, darüber zu reden. Janine sagte Dinge, die sie ganz sicher vorher einstudiert hatte: dass Matt, wenn er sich als Patient zur Verfügung stellte, dabei helfen würde, das neue Geschäft anzuschieben, dass ein »richtiger Arzt« (Janines Worte) als Patient potenzielle Klienten von der Sicherheit und Effizienz der HBO überzeugen könnte. Sie schien gar nicht zu bemerken, dass er nichts entgegnete, dass er den Blick starr auf den Teller gerichtet hielt. Mary dagegen bemerkte es. Und kam ihm immer wieder zu Hilfe, lachte über seine Versuche, mit den Stäbchen zu essen, und warf lustige Bemerkungen dazu ein, wie sich der Kimchi-Knoblauch-Geschmack mit Wein vertrug.
Tagelang nervte Janine ihn mit der Sache, erzählte, wie sicher die HBO sei, wie vielseitig anwendbar blablabla. Als er nicht nachgab, versuchte sie, ihm ein schlechtes Gewissen zu machen, schließlich würde seine Weigerung den Verdacht ihres Vaters erhärten, dass Matt nicht an sein Geschäft glaubte. »Tue ich ja auch nicht. In meinen Augen hat das, was er da tut, nichts mit Medizin zu tun, und das hast du auch von Anfang an gewusst«, hatte er gesagt und damit die bisher schmerzlichste Bemerkung seiner Frau provoziert: »Du tust das doch alles nur deshalb ab, weil du per se gegen alles Asiatische bist.«
Doch bevor er sie anherrschen konnte, was ihr einfiele, ihm Rassismus vorzuwerfen, und sie darauf hinweisen, dass er sie schließlich geheiratet hatte, Herrgottnochmal (und überhaupt, redete sie sonst nicht immer davon, wie rassistisch und konservativ-koreanisch ihre Eltern waren?), seufzte Janine und sagte flehentlich: »Einen Monat. Wenn es funktioniert, machen wir keine In-vitro-Befruchtung. Du musst nicht in einen Plastikbecher wichsen. Wäre es das nicht wert?«
Er sagte nicht Ja. Aber sie legte sein Schweigen als Zustimmung aus, und er ließ es zu. Sie hatte ja recht – oder zumindest nicht unrecht. Und vielleicht würde sein Schwiegervater ihm dann endlich langsam verzeihen, dass er kein Koreaner war.
»Wann haben Sie mit der HBO begonnen?«, fragte Patterley.
»Am Tag der Eröffnung von Miracle Submarine, am 4. August. Ich wollte die vierzig Behandlungen alle im August hinter mich bringen – da ist weniger Verkehr –, und darum habe ich mich für zwei Tauchgänge pro Tag eingetragen, den ersten um neun Uhr morgens, den zweiten um Viertel vor sieben abends. Es gab sechs Termine pro Tag, und diese beiden waren für Patienten reserviert, die zweimal am Tag kommen wollten.«
»Wer außer Ihnen kam noch zweimal am Tag?«, fragte Abe.
»Drei weitere Patienten: Henry, TJ und Rosa. Plus deren Mütter. Wenn nicht gerade jemand krank war oder im Stau steckte oder sonst was, waren wir alle zweimal am Tag da.«
»Erzählen Sie uns von den anderen.«
»Gerne. Rosa ist die Älteste. Sie ist sechzehn, glaube ich. Hat Zerebralparese. Sitzt im Rollstuhl und wird künstlich ernährt. Ihre Mutter ist Teresa Santiago.« Er zeigte auf sie. »Wir nennen sie Mutter Teresa, weil sie so unfassbar liebevoll ist und eine Engelsgeduld hat.« Teresa errötete, wie immer, wenn man sie so nannte.
»Und außerdem TJ, der ist acht. Autist. Spricht nicht. Und seine Mutter Kitt – «
»Sie meinen Kitt Kozlowski, die letzten Sommer ums Leben kam?«
»Ja, genau.«
»Kennen Sie dieses Bild?« Abe stellte ein Porträt auf eine Staffelei. Ein gestelltes Foto, ganz ähnlich den Baby-Blumen-Fotos von Anne Geddes, mit Kitt in der Mitte, aber nicht umringt von Blütenblättern, sondern von den Gesichtern ihrer Familie: oben Kitts Mann (hinter ihr stehend), unten TJ (auf ihrem Schoß), zwei Mädchen rechts, zwei links, alle fünf Kinder mit denselben wilden roten Locken wie ihre Mutter. Ein Tableau des Familienglücks. Und jetzt war die Mutter weg, das Zentrum der Blume, die den Blütenblättern Halt gegeben hatte.
Matt schluckte und räusperte sich. »Das ist Kitt. Mit ihrer Familie. Mit TJ.«
Abe stellte ein weiteres Bild daneben. Henry. Kein steifes, im Fotostudio entstandenes Porträt, sondern eine etwas unscharfe Aufnahme von ihm, wie er an einem sonnigen Tag vor blauem Himmel und grünem Laub lacht. Die blonden Haare ein wenig zerzaust, den Kopf in den Nacken gelegt und die blauen Augen zu schmalen Schlitzen verengt vor lauter Lachen. Eine Zahnlücke vorn in der Mitte, als wollte er sie allen präsentieren.
Matt schluckte wieder. »Das ist Henry. Henry Ward. Elizabeths Sohn.«
Abe sagte: »Hat die Angeklagte ihren Sohn bei den Tauchgängen begleitet, wie die anderen Mütter?«
»Ja«, sagte Matt. »Sie war immer mit dabei, nur nicht beim letzten Mal.«
»Sie hat jeden einzelnen Tauchgang mitgemacht, und ausgerechnet bei dem Mal, als alle sich in der Druckkammer befindlichen Personen verletzt oder getötet wurden, war sie ausnahmsweise nicht mit dabei?«
»Ja. Das war das einzige Mal.« Matt sah Abe an und bemühte sich, nicht auf Elizabeth zu achten, aber sie war da, in seinem Augenwinkel. Sie starrte die Bilder an, saugte die Lippen ein und biss darauf herum, der rosa Lippenstift war weg. Das sah verkehrt aus: ihre durch Schminke betonten blauen Augen, die Röte auf den Wangen, die hervorgehobene Nase, und darunter dann nichts – weiß. Wie ein Clown, der vergessen hatte, sich einen Mund zu malen.
Auf einer zweiten Staffelei platzierte Abe ein Plakat. »Dr. Thompson, könnte uns diese Skizze dabei helfen, den technischen Aufbau von Miracle Submarine zu erklären?«
»Auf jeden Fall«, sagte Matt. »Diese Skizze von der Anlage habe ich angefertigt. Das Ganze befindet sich in der Kleinstadt Miracle Creek, zehn Meilen westlich von hier. Miracle Creek ist der Name eines Flusses – er fließt durch die Stadt, die nach ihm benannt ist. Der Fluss fließt auch durch den Wald in der Nähe der Therapiescheune.«
»Entschuldigung, sagten Sie ›Therapiescheune‹?« Abe machte ein verwirrtes Gesicht, als hätte er die Scheune nicht schon viertausendmal gesehen.
»Ja. In der Mitte der Anlage befindet sich eine Holzscheune, und in dieser Holzscheune befindet sich die Überdruckkammer. Wenn man reingeht, ist gleich links die Schalttafel, an der Pak immer saß. Und ein paar Ablagefächer, wo wir alles lassen konnten, was nicht mit in die Kammer durfte – Schmuck zum Beispiel, elektronische Geräte, Papier, synthetische Kleidung, alles, was Funken hätte auslösen können. Bei Pak galten sehr strenge Sicherheitsregeln.«
»Und was ist außerhalb der Scheune?«
»Davor ein Kiesplatz für vier Autos. Rechts der Wald und der Fluss. Links ein kleines Haus, in dem die Yoos wohnen, und dahinter ein Lagerschuppen und die Stromleitungen.«
»Danke«, sagte Abe. »Und jetzt erzählen Sie uns bitte, wie so ein typischer ›Tauchgang‹, wie Sie das nennen, vor sich ging. Wie müssen wir uns das vorstellen?«
»Wir sind durch die Luke in die Kammer geklettert. Ich war normalerweise der Letzte und saß direkt am Ausgang. Da hing auch der Kopfhörer der Gegensprechanlage, falls man mit Pak in Kontakt treten musste.« Die Erklärung klang plausibel, aber in Wirklichkeit wollte Matt sich einfach lieber am Rand der Gruppe halten. Die Mütter redeten immer gerne miteinander, tauschten sich über experimentelle Behandlungsmethoden aus, erzählten sich ihre Lebensgeschichten. Wunderbar für sie, aber er war anders. Zum einen war er Arzt und glaubte nicht an alternative Therapien. Außerdem hatte er selbst keine Kinder, und erst recht keine mit besonderen Bedürfnissen. Er hätte zu gerne Zeitschriften oder Papierarbeit mit in die Kammer genommen, um sich gegen ihre ständigen Fragen abzuschirmen. Welche Ironie des Schicksals: Er saß in der Kammer, um endlich ein Kind zu bekommen, und wenn er sich in der Kammer umsah, dachte er eigentlich nur – Scheiße, will ich wirklich Kinder haben? Dabei kann so viel schiefgehen.
»Dann wird der Druck erhöht«, sagte Matt. »Analog zu einem richtigen Tauchgang.«
»Und wie fühlt sich das an? Es gibt hier vielleicht den einen oder anderen, der noch nie in einem U-Boot mitgefahren ist«, sagte Abe und löste damit bei ein paar der Geschworenen dankbares Lächeln aus.
»Wie wenn ein Flugzeug landet. Druck auf den Ohren, es kann knacken. Pak hat den Druck sehr langsam erhöht, damit es nicht so unangenehm war, das hat ungefähr fünf Minuten gedauert. Wenn der Druck eins Komma fünf ata betrug – das entspricht in etwa einer Tauchtiefe von fünf Metern –, setzten wir uns die Sauerstoffhelme auf.«
Einer von Patterleys Gehilfen reichte dem Staatsanwalt ein etwas unförmiges Ding aus durchsichtigem Weichplastik. »Solche?«
Matt nahm das Gebilde entgegen. »Ja.«
»Wie funktionieren die?«
Matt wandte sich den Geschworenen zu und zeigte auf den blauen Ring mit dem Latex unten am Helm. »Man stülpt sich das Ding über den Kopf, und das hier legt sich wie ein Kragen eng um den Hals.« Er führte es vor, bis sein Kopf komplett in der transparenten Plastikhaube steckte.
»Fehlt noch der Schlauch«, sagte Matt, und Abe reichte ihm eine durchsichtige Plastikspirale, die sich entrollte und immer länger zu werden schien, wie eine dieser kleinen Schlangen, die mehrere Meter lang werden, wenn sie sich aufrollen.
»Wozu ist der gut, Dr. Thompson?«
Matt steckte das Ende des Schlauchs in eine kinnnahe Öffnung des Helms. »Der Schlauch verbindet den Helm mit dem Sauerstoffhahn im Inneren der Kammer. Hinter der Scheune befinden sich Sauerstofftanks, die ebenfalls über Schläuche mit den Hähnen verbunden sind. Wenn Pak die Sauerstoffventile aufdrehte, strömte der Sauerstoff durch die Schläuche in unsere Helme. Der Sauerstoff dehnte sich dann aus und blähte die Helme auf, wie wenn ein Ball aufgepumpt wird.«
Abe lächelte. »Und dann sieht man aus, als hätte man ein Goldfischglas auf dem Kopf.« Die Geschworenen lachten. Sie mochten den Staatsanwalt, das war Matt klar. Er sprach Klartext und behandelte sie nicht von oben herab. »Und dann?«
»Ganz einfach. Wir vier mit den Helmen atmeten ganz normal weiter und atmeten sechzig Minuten lang hundert Prozent reinen Sauerstoff ein. Wenn die Stunde um war, drehte Pak den Sauerstoffhahn zu, wir nahmen die Helme ab, der Druck wurde wieder gesenkt, und wir gingen raus.« Matt nahm den Helm ab.
»Danke, Dr. Thompson, für diesen kurzen Überblick. Sehr hilfreich. Jetzt würde ich gerne über das sprechen, was am 26. August letzten Jahres passiert ist, denn das ist ja der Grund dafür, dass wir heute hier sind. Können Sie sich an den Tag erinnern?«
Matt nickte.
»Tut mir leid, Sie müssten Ihre Antwort bitte hörbar aussprechen. Fürs Gerichtsprotokoll.«
»Ja.« Matt räusperte sich. »Ja.«
Abe kniff die Augen ein wenig zusammen und weitete sie dann wieder, als sei er unschlüssig, ob er sich zaghaft oder erregt geben sollte. »Erzählen Sie uns bitte in Ihren eigenen Worten, was an jenem Tag passiert ist.«
Der gesamte Gerichtssaal bewegte sich, kaum wahrnehmbar, aber alle Anwesenden auf der Geschworenenbank und im Publikum neigten sich ein winziges bisschen nach vorn. Jetzt kam das, worauf sie alle gewartet hatten, weshalb sie überhaupt hier waren: die grausamen, blutigen Details – die vergrößerten Nahaufnahmen und die verkohlten Überreste der Geräte –, und natürlich das menschliche Drama, die Tragödie. Matt erlebte es jeden Tag im Krankenhaus: Knochenbrüche, Autounfälle, Krebsangst. Natürlich weinten die Menschen – der Schmerz, die Ungerechtigkeit, der Stress –, aber in jeder Familie gab es auch mindestens einen, den es befeuerte, dem Leiden nur zusehen zu müssen, als würde jede einzelne Zelle seines Körpers ein bisschen schneller schwingen, als würde er aus dem dumpfen Dämmerzustand seines Alltags erwachen.
Matt betrachtete seine kaputte Hand, Daumen, Ringfinger und kleiner Finger ragten aus dem roten Klumpen hervor. Wieder räusperte er sich. Er hatte seine Version schon so oft erzählt. Der Polizei, den Ärzten, den Versicherungsleuten, Abe. Ein letztes Mal, sagte er sich. Ein letztes Mal musste er die Explosion durchleben, die sengende Hitze des Feuers spüren, mit ansehen, wie der Kopf des kleinen Henry verbrannte. Danach würde er nie wieder darüber sprechen müssen.
