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Die Gassen und Hinterhöfe der Hansestadt Stralsund bieten der Streunerkatze Misa den idealen Lebensraum. Sie liebt das freie, ungebundene Leben, mit den menschlichen Bewohnern will sie nichts zu tun haben. Doch nicht einmal 1872 leben Streunerkatzen ungefährlich. Bei einer Rettungsaktion gerät Misa unter die Räder einer Kutsche – und erwacht als Geisterkatze. Machtlos muss sie mit ansehen, wie ihre Katzenfamilie von einer Menschenfrau verschleppt wird. Wie soll sie die anderen retten, wenn sie nicht einmal imstande ist, sich bemerkbar zu machen? Und das ist nicht die einzige Herausforderung, der Misa sich in ihrem neuen Leben stellen muss.
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Für Calypso Du lehrst mich Geduld.
© Janika Hoffmann 2020
Machandel Verlag Haselünne
Charlotte Erpenbeck
Cover-Gestaltung: Charlotte Erpenbeck
Coverkatze: lunokat/shutterstock.com
Innen-Illustration: Diana Finch/shutterstock.com
1. Auflage 2020
ISBN 978-3-95959-271-0
Es heißt, ein guter Geist wache über Stralsund. Niemand spricht offen darüber, kein Stadtführer erwähnt es in seinen Vorträgen. Aber wer abseits der großen Straßen wandert und jene Leute fragt, deren Familien bereits seit Generationen in der Stadt leben, der wird vielleicht mit einer Geschichte belohnt. Einer Geschichte, die von einer einfachen Streunerkatze erzählt, vom Misstrauen gegenüber Menschen und einem Leben nach dem Tod. Einer Geschichte, wie Stralsund eine unsichtbare Patronin bekam …
Das Maunzen war weithin zu hören. Klagend klang es, kündete von Verwirrung und Furcht. Die schmalen Gassen trugen den Laut bereitwillig weiter, warfen ihn zurück und füllten den Stadtteil damit. Fast hörte es sich an, als würden etliche Stimmen ihr Miauen gen Himmel richten, nicht nur eine einzelne Katze.
Ein Schauer lief über Misas Körper, als sie die Not in dem Ruf des Artgenossen vernahm. Wer war das, der sie in ihrer Ruhe aufstörte? So gerne sie vor einer der Fensteröffnungen ihres Speichers lag, sich die Sonne auf den Pelz scheinen ließ und das Gefühl genoss, ihren Magen mit einer fetten Maus gefüllt zu haben, dieser Ruf hatte Vorrang.
Misa setzte sich auf und spielte mit den Ohren. Womöglich konnte sie bereits von hier aus erahnen, woher der Hilferuf stammte. Tatsächlich hatte sie bereits eine Vermutung, und mit dieser schien sie richtigzuliegen. In der Richtung, aus der das Maunzen erklang, lag der kleine Markt nahe des Hafens. Einer jener Orte, an dem die Menschen neuerdings härter gegen Katzen vorgingen. Allein bei dem Gedanken daran sträubte sich Misa der Pelz. Flüchtig fuhr sie sich mit der Zunge über das Fell an der Brust und auf dem Rücken. Wer ein Fellkleid trug, das so lang und dicht wie ihres war, musste es in Ordnung halten.
Sobald sie fertig war, machte sie sich auf dem Weg die Treppen und Leitern hinab und hinaus auf die Straße. Die Menschen mochten halb taub sein, doch dieses Maunzen würden vermutlich selbst sie hören. Besser, sie beeilte sich.
Sie hielt sich abseits der großen, gepflasterten Straße, auf der die Pferde mit ihren eisenbeschlagenen Hufen trampelten und die Kutschen der Menschen zogen. In den kleinen Wegen und Gassen war es ruhiger und sicherer. Hier liefen nur selten Menschen, und so konnte sie sich fortbewegen, ohne den Felllosen ausweichen zu müssen. Einzig die Hunde, die in einigen der Hinterhöfe zu Hause waren, galt es auf leisen Pfoten zu umrunden. Nicht ganz einfach, natürlich waren auch die Kläffer auf das Maunzen aufmerksam geworden und hatten ihre kleinen, menschengemachten Verschläge verlassen. Doch Misa kannte die Gassen und wusste, wo sie über Mauern und Zäune ausweichen konnte, und so kam sie schnell und unbemerkt voran.
Kurze Zeit später war das Miauen deutlich lauter geworden, ertönte jetzt unmittelbar vor ihr. Misa war nicht überrascht. Sie wusste genau, dass die Menschen hier einen ihrer Käfige aufgestellt hatten. Gewissermaßen war das die Schuld einiger Streuner. Misa hatte sie zigfach ermahnt, sich den Menschen auf dem Markt nicht so offen zu zeigen und nicht dauernd zu betteln, den Menschen nicht so sehr zu trauen. Doch die Alten, aber auch die unbesonnenen Halbstarken hatten nicht auf sie gehört, der Hunger war stärker gewesen und der Markt hatte leichtere Beute versprochen als die Lagerhäuser mit ihren Mäusen. Und so waren sie immer vorwitziger geworden, bis die Menschen sich gegen sie gestellt und Fallen rund um den Markt verteilt hatten.
In einer dieser Fallen saß nun offenbar die Katze in Not. Misa spähte umher, doch noch schien kein Mensch dem Wehklagen folgen zu wollen. Also duckte sie sich kurz, visierte eine halb zerfallene Mauer an und sprang dann mit zwei Sätzen hinauf auf den noch intakten Teil des steinernen Walls. Von dort aus schlich sie weiter auf das niedrige Flachdach eines Unterstands, der unmittelbar neben dem Käfig aufragte. Stumm spähte sie über die Kante.
Der Käfig war mit einigen Brettern und Unrat getarnt, ganz wie Misa es in Erinnerung hatte. Viel Mühe hatte die Gefangene sich offenbar nicht gegeben, sich zu befreien. Erst vor einigen Tagen hatte Misa gesehen, wie ein gefangener Kater den Abfall in dem Versuch, sich aus dem Gefängnis zu befreien, fortgestoßen hatte. Doch diese Kätzin hatte nichts dergleichen getan. Stattdessen drehte sie sich hektisch im Inneren des Käfigs hin und her, machte zwei Schritte zur einen, dann zur anderen Gitterwand. Dann und wann hielt sie inne, um an der zugefallenen Klappe zu scharren und ihre Krallen sinnlos an dem Metall abzuschaben. Die ganze Zeit über stieß sie ein herzzerreißendes Miauen aus.
Misa zuckte mit der Schwanzspitze. Was versuchte diese Katze da? Auf diese Weise würde sie niemals freikommen, sondern höchstens die Menschen in den umliegenden Häusern alarmieren. Wollte sie denn gefunden werden?
Diese Frage konnte Misa sich einen Moment später selbst beantworten, als die Gefangene kurz innehielt, um den Kopf gegen das Gitter zu pressen. Deutlich war jetzt das Geflecht um ihren Hals sichtbar. Eine Hauskatze! Kein Wunder, dass die Kleine so einen Aufstand machte – sie rief tatsächlich nach den Menschen und hoffte auf Hilfe von ihnen!
Angespannt spähte Misa noch einmal die enge Gasse entlang, ehe sie sich vorbeugte. Es galt, keine Zeit zu verlieren. Wenn die Kleine weiter so schrie, würde es hier bald nur so von den Felllosen wimmeln. Also sprang Misa zurück auf die Mauer und von dort auf den Abfallberg hinter dem Käfig. Sicher balancierte sie über die Müllstücke, bis sie vor der Falle stand. „Nun sei endlich ruhig, oder willst du fortgebracht werden?“, zischte sie eindringlich.
Die fremde Kätzin schloss tatsächlich das Maul und erstarrte. Mit geweiteten Pupillen blickte sie Misa an. Bis auf das Halsband, das sie verunstaltete, war sie eine durchaus hübsche Katze, braun getigert mit ebenmäßigen weißen Pfoten und einem ebenso weißen Latz. Nur von den Menschen schien sie leider weniger Ahnung zu haben, als sie vermutlich glaubte.
„Geht doch.“ Misa ließ den Blick aufmerksam über die Falltür gleiten, dabei hatte sie ein Ohr immer auf die Gasse in ihrem Rücken gerichtet. „Weißt du eigentlich, wie weit du zu hören warst? Wolltest du alle Menschen zwischen hier und den fauchenden Dampfmonstern anlocken?“
„D…Dampfmonstern?“ Die Stimme der Kätzin klang dünn, sie kauerte sich in ihrem Gefängnis zusammen. „Was meinst du damit?“
„Nicht so wichtig“, entgegnete Misa. Wenn der Katze die Metallwege der Menschen mit ihren großen, stinkenden Dampfmonstern noch nie aufgefallen waren, würde es schwer sein, ihr diese zu erklären. Ohnehin hatten sie jetzt nicht die Zeit dazu. „Sei einfach leise, während ich dich hier heraushole.“
„Ich danke dir!“, erwiderte die Tigerkätzin, ehe sie tatsächlich brav schwieg.
Es war noch immer dieselbe Falle wie einige Tage zuvor. Das erleichterte Misa, denn so wusste sie, wie die Falltür zu öffnen war. Sie stützte sich mit einer Pfote an der Kante des Käfigs ab, mit der zweiten Pfote tastete sie nach der Metallspirale auf der Oberseite. Es kostete sie einige Mühe, das Ding aus seiner Verankerung zu lösen, doch schließlich sprang es mit einem unangenehmen Klingen zurück. Misa sank wieder auf alle vier Pfoten. „Fertig“, verkündete sie. „Du kannst dich jetzt von innen dagegenstemmen.“
Die Kätzin betrachtete sie verschüchtert. Sie verschenkte wertvolle Sekunden, ehe sie der Aufforderung folgte und den Kopf zögerlich gegen die Tür drückte. Das Metallstück klapperte leise, doch es öffnete sich nicht.
Ungeduldig peitschte Misa mit dem Schwanz. „Stärker“, kommandierte sie. „Die Tür wird sich nicht öffnen, nur weil du es dir wünscht. Willst du aus der Falle raus oder nicht?“
Die Tigerkätzin schrumpfte noch weiter in sich zusammen. Ihr Fell lag mittlerweile eng an ihrem Körper an und ließ sie beinahe so mager erscheinen wie eine Straßenkatze. Doch sie gab sich Mühe, übte mehr Druck auf die Falltür aus. Endlich bewegte sich die Klappe, öffnete sich einen Spalt breit. Die Gefangene schien dadurch neuen Mut zu schöpfen. Einen Moment später schob sie sich ins Freie – allerdings so zögerlich, dass sie sich um ein Haar die Schwanzspitze in der wieder zufallenden Falltür geklemmt hätte. Misa zuckte mit den Ohren über so viel Unvermögen.
Für eine Belehrung blieb jedoch keine Zeit. Misa kletterte über den Müllhaufen zurück zu der Mauer, dann sprang sie mit einem Satz hinauf und blickte sich um. „Nun komm schon“, rief sie der befreiten Kätzin zu. „Oder willst du warten, bis die Menschen dich doch noch finden?“ Tatsächlich vernahm sie Schritte, die sich in der Gasse näherten. Hatte das Scheppern des Käfigs die Felllosen endgültig darauf aufmerksam gemacht, dass ihnen etwas in die Falle gegangen war?
Die Tigerkätzin folgte nicht, sondern starrte mit großen Augen an der Mauer empor. „Aber natürlich“, maunzte sie verdattert. „Sie müssen mir helfen, zurück zu meinem Menschen zu finden!“
„Deinem Menschen!“ Misa musste sich zurückhalten, um die Worte nicht abfällig hervorzuspeien. „Kleine, den Felllosen ist nicht zu trauen. Und die Menschen, die diese Käfige aufgestellt haben, wollen dich nicht zurück in dein feines Zuhause bringen. Wer von ihnen mitgenommen wird, taucht nie wieder auf. Verstehst du?“
Offensichtlich verstand sie nicht. Hoffnung und Zweifel mischten sich in ihren grünen Augen, als sie abwechselnd die Mauer und das Ende der Gasse betrachtete, von wo die Schritte sich stetig näherten.
Misa unterdrückte ein gereiztes Knurren. „Wie heißt du, Kleine?“, fragte sie schicksalsergeben. Mit der Wahrheit allein würde sie bei dieser Hauskatze offenbar nichts erreichen – zumindest nicht auf die Schnelle.
„Amalia“, erwiderte die Kätzin zögerlich.
„Also gut, Amalia. Glaubst du, ich habe dich befreit, um dich jetzt zu belügen? Ich möchte dir ja gerne helfen, aber dazu musst du jetzt mitkommen, in Ordnung? Glaub mir, mit den Menschen vom Markt willst du nichts zu tun haben.“
Noch immer schien die Kleine nicht überzeugt, duckte sich unsicher. Erst als der Mensch um die Ecke bog, ein grobschlächtiger Kerl, der nach Schweiß stank, sprang sie wieder auf die Pfoten. Der Mann ging nicht etwa in die Hocke und flötete ihr Dinge ins Ohr, wie sie es sicher gewohnt war. Stattdessen brummte er wüste, unverständliche Worte und rannte mit ausgestreckten Händen los.
Nun endlich schien Amalia zu erwachen. Sie starrte dem Menschen entsetzt entgegen, dann fuhr sie herum. Als sie den Müllberg erklomm, gaben etliche lose Teile davon unter ihren Pfoten nach, verlangsamten sie und purzelten dann in die Gasse. Der Sprung auf die Mauer war nicht graziler. Sie visierte die Kante viel zu lange an und verfehlte sie dann doch, sodass sie mit den Hinterpfoten mehrere Sekunden über die Steine schabte, ehe sie sich gänzlich auf den Steinwall hieven konnte. Bereits jetzt wirkte sie etwas kurzatmig.
Misa war nicht überrascht. Es war doch immer das gleiche mit den Hauskatzen. Sie vergötterten die Menschen, vertrauten ihnen blind und hatten vergessen, was es bedeutete, Katze zu sein. Vielleicht hatten sie es auch nie erlernt. Misa erinnerte sich noch zu gut daran, dass sie selbst erst hatte begreifen müssen, worauf es in einem Leben auf den Straßen der Stadt wirklich ankam. „Komm jetzt!“, rief sie Amalia zu, dann rannte sie die Mauer entlang. Schon hinter der Biegung sprang sie wieder zu Boden, dort, wo sie zuvor hinaufgelangt war. Einen Sprung über das Loch im Gemäuer traute sie der Hauskatze deutlich weniger zu als einen kurzen Sprint außer Sichtweite des Menschen. Das leise Keuchen, das von Amalia kam, gab ihr außerdem Auskunft genug darüber, ob sich die Kätzin noch hinter ihr befand.
Misa führte ihre neue Begleiterin durch mehrere verwinkelte Gassen, ehe sie sich unter einem Zaun hindurchschob. Sie wusste, dass in dem kleinen, verkommenen Hinterhof kein Hund lauerte. Und die Menschen, die in diesen Häusern wohnten, kamen nur hierher, um sich durch die verwitterte Tür in den heruntergekommenen Keller zu schleichen und am nächsten Morgen wieder heraus. Misa hatte das Spiel oft genug beobachtet. Hier waren sie vorerst außer Gefahr.
Amalia zögerte eine ganze Weile, ehe sie sich ebenfalls unter dem Zaun hindurchschob. Halb entsetzt, halb angewidert betrachtete sie den Schmutz, der sich auf ihrem weißen Latz abzeichnete, und begann sich hektisch zu putzen. Ihr Fell sträubte sich leicht. Natürlich. Der Geschmack des Straßenschmutzes musste ihr fremd sein.
Misa ließ die Kätzin gewähren, beobachtete sie für eine Weile einfach nur und versuchte, sich einen näheren Eindruck von ihr zu verschaffen. Sie war wirklich hübsch gezeichnet, auch wenn das Weiß für eine Jagd im Zwielicht der Lagerhäuser eher ungeeignet war. Ansonsten ähnelte sie den feinen Katzen, die Misa in ihrem Leben bereits getroffen hatte, jedoch nur wenig. Amalias Fell war nicht lang wie Misas eigenes, sondern recht kurz und für eine Hauskatze vergleichsweise stumpf. Ihr Halsband sah gewöhnlich aus, keine funkelnden Steinchen waren daran befestigt. Dies war keine jener Rassekatzen, die die Menschen besonders gern verhätschelten und einsperrten. Ein gutes Zeichen – ihre Sinne würden sich schnell schärfen.
Während Amalia sich putzte, entspannte sie sich zunehmend. Sobald sie sich jedoch wieder ihrer Umgebung bewusst wurde, duckte sie sich; ihre Pupillen weiteten sich und ihr Fell schmiegte sich eng an ihren Körper. „Wo sind wir?“, fragte sie verschüchtert. „Wo ist mein Mensch?“
„Nicht hier“, sagte Misa ungerührt. „Und das ist auch gut so.“ Amalia warf ihr einen entsetzten Blick zu, doch sie ließ die Kätzin gar nicht erst zu Wort kommen. „Menschen ist nicht zu trauen. Sie sperren uns weg, fesseln uns mit Halsbändern oder anderen Dingen. Füttern uns mit seltsamem Fraß und lassen uns nie Katze sein. Sag, warst du ein einziges Mal hier draußen? Vor heute, meine ich?“
Amalia sah sie an, als habe Misa sich plötzlich in einen Hund oder eine Ratte verwandelt. „Das stimmt nicht!“, rief sie so leidenschaftlich aus, als sei sie selbst all dieser Dinge beschuldigt worden. „Mein Mensch kümmert sich um mich, sie sorgt dafür, dass ich nie hungrig bin! Und sie bürstet mein Fell bis es glänzt!“
„Das kannst du selbst viel besser.“ Misa legte ihren Schwanz gut sichtbar für Amalia um ihre Pfoten.
„Und natürlich war ich schon einmal draußen“, fuhr die Kätzin ungebremst fort. „Aber es ist ein wahrhaft grausiger Ort. Dreckig und laut und gefährlich. Wieso sollte ich freiwillig mein Zuhause verlassen?“
„Wieso hast du es getan?“, konterte Misa.
Diese Frage brachte Amalia tatsächlich aus dem Konzept. Sie zuckte zurück, sank gänzlich in sich zusammen und blickte zu Boden. „Mein Mensch“, wisperte sie zögerlich. „Sie hat sich einen Partner genommen. Solange sie da war, hat er mich nicht weiter beachtet, aber wenn sie weg war …“ Sie stieß ein leises Jammern aus, und mehr brauchte es für Misa nicht, um zu verstehen.
„Ich habe es dir ja gesagt“, meinte sie, sprach nun jedoch etwas sanfter. „Menschen sind grausam. Sie wollen uns Katzen nichts Gutes.“ Sie trat zu Amalia und schleckte ihr einmal über das linke Ohr. „Komm. Ich weiß, wo du dich ausruhen kannst. Und du wirst nicht die erste Katze sein, die ihr Selbst erst finden muss. Ich kann dir zeigen, was du wissen musst, und schon bald wirst du deine gewonnene Freiheit lieben, glaub mir.“
Amalia blickte zu ihr auf, Furcht und Hoffnung stritten in ihren Augen um die Vorherrschaft. „Wer bist du?“, fragte sie leise.
„Mein Name ist Misa. Und du bist nicht die erste Katze, der ich zur Freiheit verhelfe. Nun komm.“ Sie drehte sich um und trottete los. Dabei hielt sie ein Ohr hinter sich gerichtet, um sicherzugehen, dass Amalia ihr nach anfänglichem Zögern tatsächlich folgte.
Reglos hockte Misa auf einem Zaun und beobachtete ihren Zögling. Es waren etliche Sonnenläufe vergangen, seit sie Amalia zu sich geholt hatte, und in dieser Zeit hatte die Kätzin sich zunehmend gewandelt. Ihr Fell war dichter geworden, ihre Schritte setzte sie mittlerweile sicher und nahezu lautlos. Eine Mauer stellte längst kein Hindernis mehr für sie dar, und mittlerweile konnte sie beinahe ebenso weit und zielsicher springen wie Misa selbst.
An ihren Jagdkünsten musste sie freilich noch arbeiten, das zeigte sich gerade wieder. Die Kätzin kauerte am Eingang eines kleinen Innenhofs, den Misa von ihrer erhöhten Position aus gut überblicken konnte. Gleich mehrere Mäuse huschten zwischen dem Abfall der Menschen umher, suchten nach Futter und genossen die Sonnenstrahlen, die dann und wann durch die Wolkendecke drangen und den steinernen Boden wärmten.
Die kleinen Nager waren abgelenkt und damit leichte Beute – dennoch zögerte Amalia. Zwar kauerte sie bereits in Jagdhaltung, spielte immer wieder mit den Hinterläufen, als wolle sie jeden Moment losspringen und sich auf eines der Beutetiere stürzen. Doch sie verharrte am Eingang des Innenhofs, zögerte ihren Angriff immer länger hinaus. Ihre Ohren zuckten unruhig, obwohl sie sich nicht auf ihr Gehör zu verlassen brauchte, um die Mäuse zu orten – sie konnte sie doch sehen!
Misas Schwanzspitze zuckte. Es war immer dasselbe mit Amalia. Vielleicht war die Kätzin doch zu lange Schoßtier der Menschen gewesen. Sie konnte sich einfach nicht daran gewöhnen, zu töten. Viel lieber strich sie durch die Gassen und suchte nach fressbaren Überresten, die die Menschen fortgeworfen hatten. In solchen Momenten war sie mehr Maus als Katze.
Endlich überwand Amalia sich zum Sprung, machte einen großen Satz – viel zu hoch, dafür nicht weit genug. Sie landete zwei Schnurrhaarlängen vor der Maus, die sie sich ausgesucht hatte. Der kleine Nager erstarrte für den Bruchteil eines Herzschlags, dann fuhr er herum und flitzte davon.
Auch die Kätzin zögerte, kurz nur, aber doch zu lang. Erst dann nahm sie die Verfolgung auf, setzte dem kleinen Beutetier nach und trieb es immer wieder aus den Verstecken, die es im Müll fand. Vergeudete Energie. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Maus einen Fluchttunnel finden würde.
Schicksalsergeben wandte Misa den Blick gen Himmel. Sie würden sich auf die Suche nach einer neuen Futterquelle machen müssen. Schon wieder. Dabei waren die wärmsten Tage bereits vorbei. Nicht mehr lang, dann würde es merklich kühler werden. Ehe der erste Frost die Beutetiere in ihre Verstecke trieb, musste Misa dafür sorgen, dass eine bessere Jägerin aus Amalia wurde. Sonst würden sie beide im Winter Hunger leiden.
Als habe die Kätzin diese Gedanken gehört, kam ihre Hatz zu einem Ende. Schrilles Fiepen kündete davon, dass sie doch noch erfolgreich gewesen war. Misa blickte überrascht in den Innenhof hinunter. War das nun die Maus, die Amalia von Anfang an verfolgt hatte, oder eine andere? Egal – Hauptsache, einer der Nager war gefangen.
Erneut wurde Amalias Zurückhaltung deutlich. Sie hielt die Maus mit beiden Pfoten fest, machte aber keine Anstalten, zuzubeißen. Erst als Misa in den Innenhof sprang und sie mahnend anblickte, überwand die Kätzin sich zu einem Genickbiss. Das Fiepen der Maus erstarb, der Geruch frischer Beute erfüllte die Luft.
„Sehr gut“, lobte Misa die Jägerin. „Aber du musst schneller werden. Lass das Zögern sein.“ Sie wusste nicht, zum wievielten Mal sie diesen Ratschlag gab. Doch jedes Mal wurden Amalias Jagdversuche ein wenig besser, und so gab sie die Hoffnung nicht auf.
Amalia stieß ein kurzes Schnurren aus, dann beugte sie sich über die erlegte Maus. An den Geschmack frischer, noch warmer Beutetiere hatte sie sich sehr schnell gewöhnt. Mit großem Genuss vertilgte sie das Nagetier.
Misa mischte sich nicht ein. Das kleine Mäuschen würde sie nicht beide sättigen, und wenn sie die Wahl hatte, waren ihr die Nager in den Lagerhäusern lieber. Noch lieber war ihr Fisch – aber den konnte sie nicht selbst fangen, sondern musste ihn von den Menschen stehlen. Und das bedeutete ein Risiko. Dann und wann war sie bereit, einen Versuch zu wagen. Heute jedoch hatten sie anderes vor. Amalia hatte noch immer Probleme, sich in den Gassen der Stadt zurechtzufinden, daher wollte Misa sie erneut herumführen und ihr die Territorien anderer Streuner zeigen. Einige dieser Grenzen duften sie auf keinen Fall überschreiten – in einem Kampf würde Amalia definitiv unterliegen.
Ein leiser, hoher Laut unterbrach Misas Gedanken und ließ sie stutzen. Zuerst dachte sie, eine der geflohenen Mäuse hätte das Geräusch verursacht, doch als sie genauer lauschte, erkannte sie darin weniger ein Fiepen, sondern vielmehr ein verängstigtes Quengeln. Sie hob den Kopf, drehte die Ohren hin und her, um auszumachen, von wo der Laut kam.
Auch Amalia war auf das Geräusch aufmerksam geworden. „Was ist das?“, fragte sie verwundert und richtete sich auf; die halb vertilgte Maus war schlagartig vergessen.