Preis der Freundschaft - Janika Hoffmann - E-Book

Preis der Freundschaft E-Book

Janika Hoffmann

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Beschreibung

Als Sophie einer leibhaftigen Drachin begegnet, verändert sich ihr Leben für immer. Schnell erkennt sie, dass Minerva keine Bestie, sondern vielmehr hilflos und einsam ist. Entgegen jeder Vernunft beschließt sie, die junge Drachin nicht ihrem Schicksal zu überlassen. Ihre Familie und ihr Dorf begegnen ihr für dieses Tun mit Abneigung und Misstrauen, doch Sophie hält an der wachsenden Freundschaft zu Minerva fest. Komme, was wolle … Erlebt das Kennenlernen von Sophie und Minerva bis hin zu den Ereignissen, die sie auf Simon und seine Freunde treffen lassen. Bei diesem Buch handelt es sich um eine unabhängig lesbare Vorgeschichte zur Drachenkralle-Trilogie.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Teil 1:

Freundschaft

Begegnung

Heimatlos

Drachenjäger

Geheimnis

Flugversuche

Blut und Wasser

Gefährten

Kampf

Teil 2:

Verbannung

Wiedersehen

Familie

Blut

Entscheidung

Epilog

Danksagung

Die Autorin

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Leseprobe aus

Die Drachenkralle-Trilogie

Janika Hoffmann

Preis der Freundschaft

Geschichten aus der Welt von Drachenkralle

1. Auflage April 2020

Copyright © 2020 by Janika Hoffmann.

Janika Hoffmann c/o Pohlmann, Hermann-Claudius-Str.3, 25746 Heide

Titel- und Umschlaggestaltung: Christian Günther, Atelier Tag Eins

Buchgestaltung: Medienagentur Holger Kliemannel

Lektorat & Korrektorat: Sabrina Železný

Printed in EU

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung der Autorin reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN der Druckausgabe: 978-3-9821083-4-6

Für alle, die sich eingesperrt fühlen. Ihr seid niemals allein.

Prolog

Minerva roch das Blut als Erste.

Den ganzen Vormittag über hatte sie am Eingang der Höhle gekauert, hinausgestarrt und darauf gewartet, dass ihre Mutter und ihr Vater mit Vakim zurückkehren würden. Ein wenig ärgerte es sie noch immer, dass ihr Bruder das Jagen vor ihr lernen durfte. Er mochte kräftiger und größer sein als sie, aber deswegen war sie doch nicht schwach! Am liebsten hätte sie ihn begleitet. Stattdessen war sie zusammen mit ihrer Schwester Suva in der Höhle zurückgeblieben.

Natürlich war sie nicht nur verärgert. Vakim konnte immerhin nichts dafür. Sie war gespannt auf seine Heimkehr. Ob er wohl Beute mitbringen würde?

Je höher die Sonne jedoch gestiegen war, desto heißer war es auch geworden. Minerva liebte es, wenn das Gestein um sie herum erwärmt wurde, doch es machte sie auch schläfrig. Also hatte sie sich vom Eingang der Höhle zurückgezogen und die Augen geschlossen. Vakim würde sie schon wecken, wenn er zurückkehrte.

Nun jedoch war sie hellwach. Der Blutgeruch strömte in ihre Schnauze, brachte ihren Körper zum Kribbeln und vertrieb die Müdigkeit. Ob das Vakim war? Doch das Blut roch ungewöhnlich kräftig, wie sie es noch nie gewittert hatte. Verwundert rappelte sie sich auf und stieß ihrer noch schlafenden Schwester in die Seite. »Suva. Suva, wach auf!«

Die kleine Drachin blinzelte verschlafen. Dann jedoch sog sie tief Luft ein und hob den Kopf. Ihre Pupillen zogen sich zu Schlitzen zusammen, dann weiteten sie sich wieder. »Sind das Mutter und Vater?«, fragte sie leise.

Minerva antwortete nicht, trat jedoch vor ihre Schwester. Langsam pirschte sie auf den Ausgang der Höhle zu, spähte zwischen einigen Felsbrocken hindurch. Nichts rührte sich in der näheren Umgebung, und auch zwischen den Bäumen in einiger Entfernung blieb alles ruhig. Verwundert witterte Minerva noch einmal. Der Blutgeruch war stärker geworden, fast schon beißend. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit in die Richtung, aus der der Wind den Geruch herantrug, und lauschte angestrengt.

Ja, da war etwas. Sie hörte Trampeln und das Brechen von Zweigen. Etwas Großes näherte sich der Höhle. Erst wollte Minerva zurückweichen, doch dann mischte sich eine zweite Duftnote unter die erste, diesmal wohlvertraut. Erleichtert wandte Minerva den Kopf. »Suva, komm her«, rief sie in die Höhle hinein. »Es ist Mutter!«

Ihre Schwester trat an ihre Seite, ein freudiges Strahlen stand in ihren Augen. Suva verspürte noch keine Lust, auf die Jagd zu gehen oder sich in besonderen Flugmanövern zu probieren, doch wenn ihre Mutter oder ihr Vater heimkehrten, lebte sie stets auf. Minerva wunderte sich jedes Mal wieder darüber. Es wäre doch viel spannender, mit den beiden gemeinsam die Umgebung zu erkunden und Beutetieren nachzustellen! Doch Suva war ruhiger als sie selbst.

Ihre Mutter hatte ihr einmal gezeigt, dass die Schuppen der kleineren Schwester mehr von ihrem eigenen Cremebraun trugen als vom Rot des Vaters. Minerva hatte umgekehrt mehr von dem flammenden Rot übernommen, und ihre Mutter hatte ihr erklärt, dass ihr Wesen deshalb auch feuriger und neugieriger war. Minerva hatte zwar nicht verstanden, was das mit der Farbe ihrer Schuppen zu tun haben sollte, aber wenn ihre Mutter das sagte, würde es schon stimmen.

»Sind Vater und Vakim gar nicht bei ihr?«, fragte Suva verwirrt.

Minerva stutzte und nahm noch einmal Witterung auf. Ihre Schwester hatte recht – es lag nur der Geruch ihrer Mutter in der Luft. Verwundert reckte sie den Kopf ins Freie, um besser sehen zu können. Das Trampeln war mittlerweile deutlich hörbar. Wieso flog ihre Mutter nicht, sondern bahnte sich einen Weg durch den Wald?

Nur wenige Herzschläge später brach die Gesuchte zwischen den Bäumen hervor und preschte in weiten Sprüngen über die freie Fläche vor der Höhle. Ihre cremebraunen Schuppen waren von roten Streifen überzogen, und Minerva brauchte einen Moment, um zu erkennen, dass dies das Blut war, das sie zuvor gewittert hatte. Drachenblut.

Erschrocken rannte Minerva ins Freie. »Mutter!«, rief sie alarmiert aus. »Was ist passiert?«

Die Altrachin antwortete nicht, sondern bremste vor Minerva ab und schob sie energisch zurück in die Höhle. Minerva verstand nicht, was hier geschah. »Lass das!«, protestierte sie und spähte an dem muskulösen Leib ihrer Mutter vorbei. »Wo sind Vater und Vakim?«

»Sei leise«, wies die Altdrachin sie an. Sie keuchte und musste sich offenbar kurz sammeln. Halbherzig begutachtete sie ihre Wunden, tastete die Risse in der Schuppenhaut mit ihrer gespaltenen Zunge ab.

Minerva erschauderte, als sie sah, wie tief einige der Verletzungen waren. »Wer hat das getan?«, fragte sie entsetzt.

Ihre Mutter blickte gehetzt auf und wandte sich wieder zum Eingang der Höhle. »Ihr müsst mit mir kommen«, verkündete sie. »Wir müssen von hier verschwinden und uns verstecken.«

»Verstecken?«, rutschte es Minerva empört heraus. »Ein Drache versteckt sich nicht!«

»Ein Drache, der andernfalls sterben wird, schon«, grollte ihre Mutter überraschend heftig, dann lief sie halb geduckt zurück zum Höhlenausgang. »Kommt jetzt.«

Minerva zuckte zusammen, ihre Fragen verebbten für den Moment. Kleinlaut folgte sie ihrer Mutter ins Freie.

Auch Suva wirkte verschüchtert, jedoch hatte sie ihre Worte noch nicht verloren. »Was ist mit Vater und Vakim?«, fragte sie leise. »Kommen sie nach?«

Ihre Mutter blickte sich kurz um, und in ihren Augen stand tiefer Schmerz. »Vakim wird nicht kommen«, erklärte sie mit gepresster Stimme. »Und was euren Vater angeht … lasst es uns hoffen.« Sie schloss kurz die Augen und senkte kummervoll den Kopf.

Minervas Angst wuchs mit jedem Herzschlag. Was war geschehen? Wie konnte es sein, dass ihrem Bruder etwas zugestoßen war – und ihrem Vater womöglich auch? Sie waren Drachen, und sie waren zu dritt auf der Jagd gewesen! Kein Beutetier konnte ihnen die Stirn geboten haben!

»Was hat dich verletzt?«, wagte sie zaghaft zu fragen. Sie hielt sich dicht an der Seite der größeren Drachin, betrachtete die Wunden eingehend.

Ihre Mutter stöhnte tief und ließ sich in den Staub sinken. »Nicht was, wer«, entgegnete sie knapp. »Jäger. Menschliche Drachenjäger. Und sie wissen genau, was sie tun. Kommt jetzt, klettert auf meinen Rücken.«

Drachenjäger. Allein das Wort weckte einen tiefen Schrecken in Minervas Innerem – aber auch große Wut. Sie hatten den Menschen nichts getan. Wieso also sollten diese Jagd auf sie machen und ihren Bruder verletzen? Als sie begriff, dass diese Jäger Vakim mehr als nur verletzt haben mussten, wurde ihr kalt.

Schnell breitete sie die Schwingen aus. »Ich kann selbst fliegen«, verkündete sie. Sie hatte jeden Tag geübt und war immer besser geworden. Ihre Flügel würden sie tragen. Außerdem war ihre Mutter verletzt.

»Kommt nicht infrage«, fauchte die Drachin jedoch mit einer Schärfe, die keinen Widerspruch duldete. »Wir müssen uns beeilen. Ihr seid für einen solchen Sprint noch zu ungeübt.« Sie presste sich zu Boden, während Suva bereits auf ihren Rücken krabbelte. Die Jungdrachin war dafür eigentlich schon zu groß; sie hatte Mühe, Halt zu finden und sich zugleich die Schuppenhaut, die noch deutlich dünner als bei ihrer Mutter war, nicht an deren Halszacken zu verletzen. Angestrengt zog sie Schwanz und Flügel eng an den Körper und spähte zu Minerva herunter.

Dieser blieb keine andere Wahl. Einen Moment lang verharrte sie noch unschlüssig, dann reckte sie sich an der Flanke ihrer Mutter empor. Sie versuchte, behutsam vorzugehen, doch es war nicht einfach, von hinten auf den Rücken der großen Drachin zu klettern. Mehrmals konnte sie spüren, wie ihre Mutter unter ihr zusammenzuckte, wenn sie mit ihren Krallen versehentlich über eine der Wunden fuhr. Verzagt bemühte sie sich, noch vorsichtiger zu sein. Endlich hatte sie den Rücken ihrer Mutter erreicht, doch deren Zacken setzten hier bereits wieder an und machten es Minerva schwer, eine Position zu finden, in der sie sich an die Schuppenhaut schmiegen konnte.

Ihre Mutter fragte nicht einmal, ob sie bereit waren, sondern richtete sich auf und trug die beiden einige Schritte von der Höhle fort. Einen Moment lang lauschte sie aufmerksam, dann breitete sie die Schwingen aus, stieß sich kraftvoll vom Boden ab und erhob sich in die Luft.

Der Ruck, mit dem sie abhoben, hätte Minerva beinahe abrutschen lassen. Sie wollte sich nicht festkrallen, doch zugleich versuchte sie verzweifelt, Halt zu finden. Als ihre Mutter erneut aufstöhnte und der Geruch nach frischem Blut sich verstärkte, erkannte Minerva, dass Suva sich offenbar sehr wohl dafür entschieden hatte, ihre Krallen zu benutzen.

Minerva hielt tapfer stand. Ihre Mutter flog, als würden die menschlichen Jäger sie jeden Moment einholen. Dabei konnten Menschen doch gar nicht fliegen!

Einen Moment später zischte etwas an ihnen vorbei und stürzte zurück in die Tiefe. Minerva war einen Augenblick lang abgelenkt, blickte dem länglichen Etwas verwundert nach. Was war das für ein Ding gewesen?

Ihre Mutter schien die Antwort auf die unausgesprochene Frage zu kennen. »Festhalten!«, kommandierte sie barsch, dann legte sie noch einmal an Geschwindigkeit zu und beschrieb zugleich eine Linkskurve. Keinen Augenblick zu früh: Nur einen Herzschlag später flog ein zweites Ding an ihnen vorbei, so dicht, dass es sie ohne das Manöver der Drachin getroffen hätte. War das eine Waffe der Menschen? Aber wie konnte das Ding so hoch fliegen? Und was sollte es ihnen anhaben? Für Minerva hatte es ausgesehen wie ein besonders gerader Ast. Sollte ein solches Geschoss wirklich so schwere Wunden wie die ihrer Mutter hinterlassen können? Diese schien davon jedenfalls überzeugt zu sein, denn sie legte sich gleich in die nächste scharfe Kurve.

Zu spät erkannte Minerva, dass sie ihr Gleichgewicht vernachlässigt hatte. Sie spürte, dass sie zu rutschen begann. Reflexartig wollte sie die Krallen in etwas schlagen, das ihr Halt geben würde – doch da war nur der Körper ihrer Mutter. Unter größter Anstrengung hielt sie sich davon ab, zuzupacken. Sie würde ihre Mutter nicht noch zusätzlich verletzen. Sie konnte selbst fliegen – auch so schnell, wenn sie sich nur wirklich Mühe gab! Also ließ sie es geschehen, dass sie abrutschte, versuchte den Moment abzupassen, in dem sie sich abdrücken und die eigenen Flügel entfalten konnte.

Ihre Mutter schien das anders zu sehen. »Halt dich fest!«, brüllte sie.

Minerva wollte ihr erklären, dass alles gut werden würde. »Mutter, ich kann selbst –«, hob sie an, doch sie konnte ihren Satz nicht zu Ende führen.

»Sie werden dich töten!«, rief ihre Mutter verzweifelt. Sie beschrieb eine Kurve in die entgegengesetzte Richtung, als wolle sie Minerva helfen, wieder zurück auf ihren Rücken zu kriechen.

Und dann durchfuhr sie ein Ruck, und sie riss das Maul zu einem Schmerzensschrei auf.

Minerva verlor endgültig den Halt, taumelte durch die Luft. Sie wollte die Schwingen ausbreiten, doch im selben Moment prallte ihre Mutter gegen sie, schleuderte sie fort. Benommen blinzelte Minerva, brauchte einen Moment, ehe sie hektisch mit den Flügeln zu schlagen begann. Es war unfassbar schwer, ihren Sturz abzufangen. Der Wind zerrte von allen Seiten an ihren Schwingen, als wolle er verhindern, dass sie die Orientierung zurückerlangte. Es war anstrengend und schmerzhaft, ihren Körper dennoch aus dem Trudeln zu bringen.

Sobald sie sicher war, dass sie nicht fallen würde, strebte sie voran. Dabei blickte sie sich nach ihrer Mutter um.

Da! Sie flog viel höher als Minerva selbst. Einer der langen Holzstecken ragte aus ihrer Seite. Sie blickte sich hektisch um.

Minerva schlug mit den Schwingen, so schnell und stark sie konnte. »Mutter!«, quiekte sie. Dass die Wurfgeschosse solchen Schaden anrichten konnten, erschreckte sie, außerdem schien sie einfach nicht an Höhe zu gewinnen.

Zu ihrem Entsetzen verlangsamte ihre Mutter ihren Flug nicht. »Versteck dich!«, brüllte sie herunter. »Such einen Ort, an dem sie dich nicht aufspüren können!«

»Mutter!«, schrie Minerva in heilloser Furcht.

Dann bohrte sich ein Geschoss in das Flügelgelenk ihrer Mutter. Die Drachin brüllte ihren Schmerz und ihren Zorn hinaus. Ihr Kopf wandte sich dem Erdboden zu, sie gewann weiter an Geschwindigkeit. Der getroffene Flügel wickelte sich nutzlos um ihren Körper, und auch wenn sie die zweite Schwinge anlegte und in einen Steilflug überging, schien sie wenig Kontrolle über ihren Fall zu haben.

Das Letzte, was Minerva von ihrer Mutter und ihrer Schwester hörte, war ein zweistimmiger Schmerzensschrei, als die beiden durch die Baumkronen brachen und im Inneren eines Wäldchens verschwanden.

Teil 1:

Freundschaft

Begegnung

»Na, Schwesterchen, bist du etwa schon müde?«

Sophie hatte nur kurz die Hände auf die Oberschenkel stützen und etwas zu Atem kommen wollen, doch Darik hatte sie sofort durchschaut. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, griff zu und zog sie herum, dass sie ins Taumeln kam. Sie kämpfte um ihr Gleichgewicht, richtete sich auf und starrte ihn empört an. »He, lass das!« Sie hob ihre Sense vom Boden auf und tat so, als wolle sie damit nach ihm schlagen. Darik sprang außer Reichweite, aber er lachte dabei.

»Was denn, willst du mich herausfordern?« Er hob seine eigene Sense etwas höher.

Sophie hob eine Augenbraue. »Ich hatte einen guten Lehrer.«

»Zwei gute Lehrer«, korrigierte Sorek und gesellte sich zu ihnen. Er stützte sich auf seine Sense und betrachtete sie beide kopfschüttelnd. »Ihr werdet mich doch wohl nicht vergessen haben?«

»Wieso, wolltest du meine Sense auch zu spüren kriegen?« Sophie blickte ihn keck an, ließ ihr Werkzeug dann jedoch zu Boden sinken. Die Klinge an der langen Holzstange war einfach zu schwer, um sie auf Dauer in die Höhe zu recken. Und um sich mit ihren Brüdern zu messen, war Sophie ein Schwert ohnehin viel lieber. Sorek schmiedete sie selbst. Er sagte zwar, dass er nur diejenigen behielt, die nicht gut genug für den Verkauf waren, doch in Sophies Augen waren die Waffen makellos. Und sie waren in jedem Fall gut genug, um damit zu üben.

Auch Darik ließ seine Sense sinken und wurde wieder ernst. »Ist ganz schön harte Arbeit auf dem Feld, was?«, meinte er gutmütig. »Aber wenn die Pferde und das Vieh im Winter genug Futter haben sollen, müssen wir jetzt den ersten Schnitt zum Trocknen ausbreiten. Und dafür muss dieses Feld heute noch fertig geschnitten werden.« Er deutete hinter Sophie.

Sie wandte sich um und betrachtete missmutig den sanften Hügel. Den ganzen Morgen über hatte sie gemeinsam mit ihren Brüdern das Feld gesenst, und doch war noch immer fast die Hälfte der Wiese übrig. Dabei brannte die Mittagssonne mittlerweile senkrecht auf sie herab und versengte ihr die Schultern.

Sophie streckte sich demonstrativ und versuchte ein Ächzen zu unterdrücken, als ihre Gelenke protestierten. »Vielleicht sollten wir dann erst einmal das schon geschnittene Gras ordentlich ausbreiten?«, schlug sie vor. »Wenn wir bis heute Abend mit dem Schnitt beschäftigt sind, geht uns doch das Sonnenlicht eines ganzen Tages verloren.«

»Netter Versuch«, kommentierte Darik vielsagend. Er blickte sie an, als erwartete er, dass sie ihre versuchte Mogelei selbst aufdecken würde. Als sie schwieg, seufzte er gespielt verbittert. »Da haben wir schon eine Schwester, die sich nicht zu schade ist, anzupacken und sich im Schwertkampf zu üben«, flötete er übertrieben, »und dann mimt sie das schwächliche Püppchen, sobald es um richtige Arbeit geht.«

»Das ist doch überhaupt nicht wahr!«, empörte sich Sophie, doch sie konnte ein Kichern nicht unterdrücken. Insgeheim malte sie sich aus, wie sie ihren Bruder beim Schwertkampf schlagen würde. Das kam zwar nicht häufig vor, aber immer noch häufiger als bei Sorek. Außerdem war sie wild entschlossen, ihm seinen Kommentar heimzuzahlen. »Lass uns heute Abend ein Duell austragen, dann zeige ich dir, wer von uns beiden das Püppchen ist«, forderte sie ihn heraus.

»Oh, das würde ich nur zu gerne annehmen«, entgegnete Darik, dann packte er seine Sense wieder fester. »Aber wenn du so weitermachst, werden wir mit dem Schnitt vor Einbruch der Nacht nicht mehr fertig. Also sieh zu, dass du vorankommst, dann können wir auch über einen Übungskampf sprechen.«

Sophie verzog schmollend die Unterlippe, doch sie fügte sich und machte sich ebenfalls wieder an die Arbeit. Darik hingegen blieb noch eine Weile stehen und beobachtete sie. Sophie gab sich Mühe, ihn zu ignorieren, schwenkte die Sense einfach so gleichförmig wie möglich von einer Seite zur anderen. Doch als Darik leise zu lachen begann, war es mit ihrer Konzentration vorbei. »Was hast du?«, fragte sie ihn bissiger als geplant.

Darik musste darüber nur noch mehr prusten. »Komm, geh nach Hause«, brachte er hervor, während er sich zu beherrschen versuchte. »Hol uns allen etwas zu essen und vor allem Wasser. So, wie du das Gras senst, gehen uns ja fast zwei Handbreit Heu verloren!« Er trat einen Schritt auf sie zu und machte Anstalten, sie beiseitezuschieben.

Sophie wich behände aus und versetzte ihm mit der stumpfen Kante der Sense einen Schlag in die Kniekehle. »Sag das nochmal!«, forderte sie. Insgeheim hoffte sie nur darauf, dass er auf ihre Aufforderung eingehen und ihr damit eine gute Gelegenheit geben würde, sich für die Stichelei zu rächen.

Stattdessen kam Sorek zu ihnen zurück. »Habe ich mich unklar ausgedrückt?«, fragte er nachdrücklicher als zuvor. »Ich habe gesagt, dass ihr weitermachen sollt!«

»Ich habe Sophie gebeten, uns Brot und Wasser aus dem Dorf zu holen«, erklärte Darik schulterzuckend. »Aber irgendwie wollte sie nicht loslaufen.«

»Es reicht jetzt«, rief Sorek sie zur Ordnung. »Und das gilt für euch beide. Bei allem Spaß muss der Grasschnitt trotzdem fertigwerden. Also: Darik, du machst jetzt weiter. Und Sophie, geh und hol uns die Verpflegung, ja?« Er hob eine Hand, um Sophie zu bremsen, ehe sie aufbegehren konnte. »Danach hilfst du wieder mit wie bisher. Und wenn wir das Feld rechtzeitig fertig geschnitten haben, könnt ihr heute Abend euer Duell austragen. Ich werde euch die Schwerter dafür geben, in Ordnung?«

Sophie grummelte etwas Unverständliches. Eigentlich konnte sie mit dieser Lösung sogar sehr gut leben und freute sich über die Pause und die Aussicht auf den Übungskampf. Aber sie wollte Sorek nicht das Gefühl geben, sein Ziel so einfach erreicht zu haben. Also tat sie, als würde sie ein wenig schmollen, nickte knapp und wandte sich ab. Sie legte die Sense am Rand des Feldes ab, streckte sich noch einmal und machte sich dann auf den Weg in Richtung Ranis. Ihr Dorf lag ein gutes Stück entfernt; sie hatten beim Schnitt mit den äußeren Wiesen begonnen. Also schlug sie ein zügiges Tempo ein, das sie aber gut durchhalten können würde.

Während sie zwischen den Feldern hindurchlief und das kleine Wäldchen durchquerte, das sie von Ranis trennte, überlegte sie sich, mit welcher Taktik sie ihren Bruder am Abend würde überrumpeln können. Darik war ein talentierter Schwertkämpfer, und er übte sich schon länger im Kampf als sie selbst. Immerhin war er ja auch drei Jahre älter als sie, und als Mann hatte er sowieso schon früh die Schwerter austesten dürfen.

Sophie selbst hatte sehr lange darum kämpfen müssen, sich ebenfalls im Schwertkampf üben zu dürfen, und es war ihren Brüdern zu verdanken, dass sie die Erlaubnis erhalten hatte, als sie fünfzehn geworden war. Seitdem war etwas über ein Jahr vergangen – und sie hatte sich alle Mühe gegeben, die Jahre, die ihre Brüder ihr an Erfahrung voraus hatten, mit besonderem Ehrgeiz aufzuwiegen. Sie wollte allen beweisen, dass sie nicht schlechter war, nur weil sie ein Mädchen war. Sie würde eine Schwertkämpferin werden, die das Dorf und seine Bewohner verteidigen konnte!

Nicht, dass das besonders häufig nötig gewesen wäre. Schon so mancher Wegelagerer hatte ein Auge auf Ranis’ Vieh und Waffenschmiede geworfen, doch ihr Dorf lag in einem kleinen Tal. Die halbhohen Berghänge, die sie umgaben, gaben ihnen Sicherheit. Es gab zu wenige Pfade, diesen Ort zu verlassen. Das Risiko, nach einem Überfall ergriffen zu werden, war zu hoch.

Gleichzeitig bot das Dorf seinen Bewohnern jedoch alles, was sie brauchten, und genug fruchtbare Erde, um sich selbst und ihr Vieh zu versorgen. Sophie wusste, dass dies ein Privileg war, das zu verteidigen sich lohnte. Sie hatte es auf den Ausflügen gesehen, auf denen sie ihre Brüder hatte begleiten dürfen. Hinter den Hügeln lagen andere Dörfer, denen es zwar nicht schlecht ging, die es jedoch deutlich härter hatten als die Leute in Ranis. Zumindest hatte Sophie das so empfunden. Die Menschen dort hatten oft unter Überfällen zu leiden, aber auch unter Überflutungen oder umherziehenden Wildschweinhorden, die ihren Weg auf die Felder fanden. Alles Dinge, die in Ranis nur selten geschahen.

Sophie rüttelte sich aus ihren Gedanken auf und schüttelte verwundert den Kopf. Was war denn heute mit ihr los? Sie hatte sich doch nur eine Strategie für den Übungskampf mit ihrem Bruder zurechtlegen wollen, nicht über das Leben selbst nachgrübeln. Amüsiert setzte sie ihren Weg fort. Das musste an der harten Arbeit in der Sonne liegen. Vermutlich würde es ihr besser gehen, wenn sie erst im Dorf angelangt war und etwas getrunken hatte.

Einen kleinen Umweg erlaubte Sophie sich aber. Einen Umweg, den sie immer einschlug, wenn sie allein hier entlangkam. Der sie an ihre Kindheit erinnerte, als dieser Pfad für sie ein Abenteuer bedeutet hatte, und der sie dadurch bis heute dem Alltag für einen kurzen Moment entfliehen ließ. Es war genau das, was sie nun brauchte, um sich einen kurzen Moment von der anstrengenden Arbeit auf dem Feld abzulenken.

Zielsicher bog sie auf den halb zugewucherten Pfad ab, der zum alten Steinbruch führte. Hier wurde schon lange nichts mehr aus dem Fels gehauen, das Steinvorkommen war erschöpft. Nur noch wenige Felswände ragten in die Höhe, bildeten den letzten Halt für den dahinterliegenden Waldboden. Im Laufe der Jahre war der Steinbruch nach und nach überwuchert, als habe der Wald sich zurückholen wollen, was sein war.

Sophie liebte diesen Ort. Er hatte etwas Magisches. Außerdem gab es eine Stelle, an der ein schmaler Steingrat wie eine Brücke am Rand des Bruchs entlangführte. Links und rechts fiel der Grat mehrere Meter tief ab, auf der einen Seite durch den früheren Abbau bedingt, auf der anderen Seite, weil Wind und Regen die Erde dort nach und nach fortgewaschen hatten.

So leichtfüßig wie möglich betrat Sophie die steinerne Brücke, breitete die Arme aus und balancierte hinüber. Moos hatte sich auf dem Stein festgekrallt, doch bei diesem Wetter war es trocken. So hatte Sophie wenig Sorge, abzurutschen. Sie kannte diesen steinernen Bogen in- und auswendig. Schon als Kind war sie hinüberbalanciert und hatte dabei an die Geschichten vom Waldvolk gedacht. Jeder wusste, dass das nur Legenden waren, aber hier oben waren die Geschichten für sie für einige Minuten zum Leben erwacht. Ein wenig dieses Zaubers hatte Sophie sich bis heute bewahrt.

Diesmal jedoch hatte sie keine Gelegenheit, sich in die Kindergeschichten hineinzuversetzen. Sie war erst wenige Schritte weit auf dem steinernen Übergang gelaufen, als sie etwas hörte. Steine und Erdreich gingen irgendwo im Steinbruch nieder, der Aufprall hallte gut hörbar wider. Verwundert hielt Sophie inne, balancierte auf der Stelle und wandte den Blick dem Bruch zu. Hatte sich ein Reh hierher verirrt? Mitten am Tag? Wenn einmal eines der Tiere hier hineinstürzte, fand es oft den Weg nicht mehr hinaus. Wenn es zudem noch verletzt war, musste es erlöst werden. Und es würde Sophie und ihrer Familie gutes Fleisch liefern.

Bedauernd senkte Sophie die Arme und klopfte ihre Hosenbeine ab, auch wenn sie schon wusste, dass sie an ihrem Gürtel nichts vorfinden würde. Wozu hätte sie beim Grasschnitt auch ein Messer benötigt? Außerdem wäre es viel zu riskant, sich einem panischen Wildtier mit einem Messer zu nähern. Sophie hatte einmal einen Tritt von einem Hirsch abbekommen – ein Erlebnis, das sie nicht unbedingt wiederholen musste. Nein, sie würde einen Bogen oder wenigstens einen Speer benötigen.

Aber zumindest nachschauen, was sich da in den Steinbruch verirrt hatte, konnte sie ja schon einmal. Wenn sie wusste, was sie erwartete, konnte sie sich immer noch eine Waffe aus dem Dorf mitbringen. Und Unterstützung. Irgendjemand würde das Tier ja ausnehmen müssen, und ihre Brüder würden es mit Sicherheit nicht lustig finden, wenn sie einfach nicht zum Feld zurückkehrte.

Geschwind breitete Sophie die Arme wieder aus und balancierte zum Ende des Übergangs. Dort angekommen, ging sie in die Hocke, suchte mit den Händen Halt und begann ihren Abstieg. Auch das war etwas, das sie schon unzählige Male getan hatte, und so benötigte sie für die paar Meter nicht lange. Das letzte Stück sprang sie hinab und kam sicher auf dem steinernen Boden auf. Ein leises Keuchen entwich ihr bei der Landung, doch das war in Ordnung. Das Reh – oder was auch immer es war, das sich dort in die steinerne Falle verirrt hatte – würde sie sowieso bemerken.

Kurz hielt sie inne und lauschte. Das Geräusch war verstummt, tatsächlich war nichts mehr zu hören, nicht einmal ein Vogelzwitschern. Verwundert zog Sophie die Augenbrauen in die Höhe. War sie wirklich so laut gewesen, dass sie alles Leben in der Nähe verschreckt hatte? Schmunzelnd tat sie die ersten Schritte in Richtung des Bruchkessels.

Offenbar hatte ihre Ankunft das gefangene Tier tatsächlich vor Schreck innehalten lassen. Als sie sich jetzt näherte, hörte sie erneut Geräusche, ein hektisches Schaben auf steinernem Boden. Offenbar versuchte das Tier zu flüchten, sich in Sicherheit zu bringen. Sophie konnte nicht umhin, leises Bedauern zu verspüren. Unnötig in Panik versetzen wollte sie das Reh natürlich nicht. Oder den Hirsch. Nicht nur, weil verängstigte Tiere gefährlich werden konnten.

Sie verlangsamte ihre Schritte und ging leicht in die Hocke, als sie den eigentlichen Felskessel erreichte. Statt sofort vorzutreten, spähte sie behutsam um die Kurve. Verwundert blickte sie sich um. Da war nichts, das steinerne Rund war leer!

Mit gerunzelter Stirn trat sie in den Kessel hinaus. Aufmerksam studierte sie die Hänge. Dort, das musste der Punkt sein, an dem das Tier heruntergefallen war. Steinbrocken und lose Erde lagen auf dem Boden verstreut. Es waren erstaunlich große Steine, und an der Felswand waren lange Schürfspuren zu sehen. Sophie stockte. Sie konnte sich keine Position vorstellen, ob im Sturz oder bei der Suche nach einem Ausweg, bei der ein Huftier solche langen Kratzer hinterlassen würde. Und erst recht keine so tiefen. Genau genommen konnte sie sich überhaupt kein Tier vorstellen, das dazu in der Lage wäre.

Ein leises Poltern in ihrem Rücken ließ Sophie zusammenzucken. Langsam wandte sie sich um, während ihre Nackenhärchen sich aufstellten. Sie hatte nicht mehr das Gefühl, dass sie hier den Braten für das Abendessen finden würde – aber etwas war offenbar noch mit ihr im Steinbruch. Sie hoffte inständig, dass es ein Hase oder ein Vogel war, doch der Stein, der ein Stück entfernt lag und noch leicht zitterte, war so groß wie ihre Faust. Kein Kleintier hätte ihn ins Rollen bringen oder gar aus der Felswand lösen können.

Als sie sich den Ort, an dem der Stein lag, genauer ansah, kam ihr eine Erinnerung. Nachdem die Menschen aus Ranis den Steinbruch aufgegeben hatten, hatte der Regen unermüdlich weiter an den Wänden gewaschen, und nach einem Unwetter vor vielen Jahren hatten Sorek und sie entdeckt, dass ein großer Felsbrocken aus der Wand herausgebrochen und in mehrere Stücke zersprungen war. Hinter diesen Bruchstücken, die mittlerweile von Gräsern überwuchert waren, befand sich eine kleine Höhle, wo der Fels zuvor Teil der Wand gewesen war. Der Hohlraum war nicht tief und mochte knapp hoch genug für ein Pferd sein, hätte es denn jemand hier herunterbringen können. Sophie hatte sich lange Zeit nicht getraut, die Höhle zu erkunden, aus Angst, weitere Teile könnten einstürzen.

Langsam machte sie einen Schritt auf die Felsbrocken zu, dann noch einen. Es sah alles aus wie immer, und doch prickelte es unangenehm in Sophies Nacken. Sie beschloss, dass es hier nichts zu entdecken gab und sie besser gehen sollte. Sie würde hier kein Reh finden, und ihre Brüder würden sie bald zurück auf dem Feld erwarten. Sie atmete tief durch, um die Starre abzuschütteln, die sie erfassen wollte. Dann machte sie einen großen Schritt an der Höhle vorbei, um zurück zum vorderen Teil des Bruchs zu gelangen und dort hinauszuklettern.

In diesem Augenblick kehrte das Schaben zurück – und eine massige Gestalt schob sich aus dem Hohlraum ins Freie. Den Kopf tief gesenkt, den Körper sprungbereit geduckt, ließ das Wesen ein drohendes Grollen hören.

Gerade hatte Sophie noch von hier verschwinden wollen, doch nun sah sie sich einem Drachen gegenüber, der zwischen ihr und ihrem Ausweg stand.

Heimatlos

Sophie konnte ein erschrockenes Keuchen nicht unterdrücken. Sie taumelte ein Stück zurück, dann blieb sie stocksteif stehen. Furcht wallte in ihr auf. Was hatte sie vorhin noch festgestellt? Sie hatte keine einzige Waffe bei sich? Nicht, dass ein Messer gegen den Drachen etwas genützt hätte. Selbst mit einem Speer hätte sie einer solchen Bestie nicht gegenüberstehen wollen. Sie wusste, was Drachen anrichten konnten.

Angespannt betrachtete sie die Kreatur, die ihr gegenüberstand und sie anknurrte. Der Drache reichte ihr kaum bis zur Brust, es musste sich um ein Jungtier handeln. Dass der Jungdrache in der Lage sein würde, sie zu töten, daran zweifelte Sophie dennoch nicht. Die gebleckten Zähne und die langen Krallen sprachen für sich. Auch die blutrote Schuppenfarbe machte deutlich, dass sie hier keine streunende Katze vor sich hatte. In einem Kampf würde sie zweifelsohne den Kürzeren ziehen.

Innerlich schalt Sophie sich für ihre Neugier, in den Steinbruch hinabgeklettert zu sein. Hätte sie doch bloß gewartet, bis sie sich Waffen und Unterstützung aus dem Dorf geholt hätte! Zu zweit oder zu dritt hätten sie ein Jungtier womöglich einschüchtern und vertreiben können. Zumindest wäre Sophies Leben damit gerettet gewesen. Darauf, dass jemand zufällig hier vorbeikommen und ihr zur Hilfe eilen würde, brauchte sie jedenfalls nicht zu hoffen.

Die Sekunden zogen sich in die Länge. Sophie verharrte halb gebeugt, bereit, jeden Moment auszuweichen, sollte der Drache sich auf sie stürzen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Wie sehr wünschte sie sich eines von Soreks Schwertern herbei! Doch so oder so würde sie nicht kampflos aufgeben. Sie würde zumindest versuchen, einem Angriff zu entgehen und aus dem Steinbruch zu klettern. Egal, wie schlecht ihre Chancen standen.

Doch nichts geschah. Der Drache kauerte einfach nur vor ihr und knurrte sie an, ein an- und abschwellendes Geräusch, das von den Felswänden zurückgeworfen wurde. Allmählich machte der Klang Sophie verrückt, zerrte an ihren Nerven. Irgendwann konnte sie sich nicht mehr beherrschen und machte einen kleinen Schritt zur Seite.

Der Drache reagierte sofort, machte einen Satz, landete jedoch wieder an beinahe exakt derselben Stelle wie zuvor. Dabei breitete er jedoch die Flügel ein Stück aus, als wolle er größer erscheinen. Die Kreatur unterbrach ihr Knurren kurz, bewegte den Kiefer und –

»Bleib weg von mir!«

Sophie blieb der Mund offen stehen. Sie starrte den Drachen an, der mit seinem Knurren fortfuhr, dann erlaubte sie sich einen hektischen Blick hoch zu den Kanten des Bruchs. Doch da war niemand, nur sie selbst – und der Drache.

Sie brauchte drei Anläufe, bis sie es über sich brachte, ihrerseits den Mund zu öffnen. »Du … du sprichst?«, fragte sie fassungslos. Sie kam sich ziemlich albern vor bei diesen Worten.

Der Drache spannte die Krallen an, dass sie mit einem unangenehm lauten Geräusch über den steinernen Boden schabten. »Verschwinde!«, schnappte er – nein, sie. Die Stimme war tief, aber weiblich. »Komm mir nicht zu nahe!«

Sophie kam nicht umhin, zu staunen. Die Kreatur konnte tatsächlich sprechen! Und ihren Worten nach wollte sie nicht angreifen, sondern sich verteidigen. »Ich … ich wollte dir nichts tun«, brachte Sophie schnell hervor. »Ich dachte, ein Reh –«

»Sehe ich aus wie ein Reh?«, knurrte das halbwüchsige Drachenweibchen. Sie schmatzte leise, dann machte sie einen Schritt auf Sophie zu. »Ich bin keine Beute«, zischte sie leise.

Sophie wich zurück. Aber du schon. Die Worte hingen unausgesprochen und doch in aller Deutlichkeit in der Luft. Dieses kurze Gespräch verlief definitiv nicht so, wie Sophie einen Herzschlag lang zu hoffen gewagt hatte. Sie schluckte. Während sie aus dem Augenwinkel abzuschätzen versuchte, wie viele Schritte sie zum vorderen Ende des Steinbruchs benötigen würde, hob sie langsam die Hände. »Ich bin nicht bewaffnet«, startete sie einen letzten, verzweifelten Versuch. »Willst du wirklich ein wehrloses Mädchen fressen?« Sich als schwach darzustellen, bloß weil sie ein Mädchen war, war ihr zuwider, erst recht, da die Worte wirkungslos sein würden. Wieso sollte ein Drache ein Gewissen haben?

Das Drachenweibchen verengte die Augen zu Schlitzen, dann legte es den Kopf leicht schief. Argwöhnisch betrachtete es die in die Höhe gerichteten Hände. »Du willst mich nicht töten?«, fragte sie schließlich.

Sophie stutzte. Mit dieser Antwort hatte sie nicht gerechnet. Unsicher betrachtete sie die Kreatur ihr gegenüber. Konnte sie den Worten eines Drachen Vertrauen schenken? »N…nein«, antwortete sie schließlich zögerlich. »Ich dachte, ein Reh sei in den Steinbruch gefallen.«

»Steinbruch …«, wiederholte das Drachenweibchen langsam und gedehnt. Das Wort war ihr ganz offensichtlich fremd. Suchend schaute sie sich um. »Hier ist kein Reh.« Beinahe anklagend wandte sie sich wieder Sophie zu.

Sophie schluckte. »In Ordnung«, sagte sie langsam. »Du willst mich nicht töten und ich will dich nicht töten. Habe ich das richtig verstanden?« Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals, und sie flehte, dass sie nicht wieder die falschen Worte gewählt haben mochte.

Die Kreatur betrachtete sie kurz, dann zog sie sich ein Stück zurück. »Versprochen?«, fragte sie deutlich leiser als zuvor.

In diesem Augenblick verlor das Wesen viel von seinem furchterregenden Aussehen. Das halbwüchsige Drachenweibchen kam Sophie plötzlich deutlich kleiner vor – und irgendwie sah es verloren aus. Vorsichtig ging sie in die Hocke und betrachtete die vermeintliche Bestie, auch wenn ihr Herz noch immer voller Angst pochte. »Hast du einen Namen?«, fragte sie vorsichtig. Sie wusste nicht, ob Drachen so etwas hatten, aber da sie auch sprechen konnten, wollte sie es zumindest versuchen.

Die kleine Drachin blickte sie misstrauisch an, fast, als vermutete sie eine Falle hinter dieser Frage. »Minerva«, verkündete sie schließlich.

»Minerva?« Sophie nickte langsam. »In Ordnung. Ich bin Sophie. Und wenn du mir nicht wehtust, werde ich dir auch nicht wehtun. Einverstanden?«

Die Drachin überlegte kurz, dann neigte sie zögerlich den Kopf, ohne Sophie dabei aus dem Blick zu lassen. Sie schien darauf zu warten, dass etwas passierte, doch als Sophie an Ort und Stelle verharrte und selbst fieberhaft überlegte, wie es jetzt weitergehen könnte, setzte das halbwüchsige Raubtier sich in Bewegung.

Sophie wich weiter zurück, stolperte dabei jedoch über einen Stein und landete auf dem Hosenboden. Zittrig schnappte sie nach Luft, dann hielt sie den Atem an, als die Drachin sich über sie beugte und sie beschnupperte.

Minerva ließ sich Zeit in ihrem Tun, dann zog sie sich ein Stück zurück und betrachtete Sophie zweifelnd. »Du bist ein Mensch?«, fragte sie skeptisch. »Du siehst nicht aus wie ein Drachenjäger.«

»Bin ich nicht«, rutschte es Sophie heraus. Hastig korrigierte sie sich: »Also, doch, ich bin ein Mensch. Aber kein Drachenjäger.« Als Minerva nachdenklich den Kopf schieflegte, wagte Sophie es, sich wieder aufzurappeln. »Wieso denkst du, dass ich auf der Jagd nach dir bin?«

Die kleine Drachin sank noch weiter in sich zusammen. »Meine Mutter«, jammerte sie, und es überraschte und erschreckte Sophie gleichermaßen, Furcht in der Stimme dieser Kreatur zu hören. »Sie hat gesagt, wir müssen verschwinden. Sie hat gesagt, ich soll mich festkrallen, und dann …« Minerva gab ein Wimmern von sich und rollte sich zusammen. »Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen«, brachte sie leise hervor.

Mitleid wallte in Sophie auf. Sie konnte sich nur ausmalen, was geschehen sein mochte, aber entweder war die Drachin von ihrer Mutter getrennt worden – oder sogar Schlimmeres. Sophie wusste, dass die Drachenjäger, die durch diesen Teil Sarmelas reisten, oft nicht zimperlich waren. Zu oft gingen Geschichten um, wie viele Leben Drachenangriffe jedes Jahr kosteten. Wohin die Drachenjäger auch kamen, sie wurden gefeiert wie die Helden, die sie waren.

Waren sie das? In diesem Moment kamen Sophie Zweifel. Sie hatte erst einmal einen ausgewachsenen Drachen gesehen, aus sicherer Entfernung und ohne dass er angegriffen hätte. Sie hatte in ihm ein erschreckend großes und starkes Wesen erkannt, keine Frage – aber waren Drachen wirklich so wilde, grausame Kreaturen, wie die Geschichten aus den anderen Dörfern besagten? In diesem Augenblick war Sophie sich da nicht mehr so sicher. Sie hatte nicht gewusst, dass Drachen sprechen konnten, dass sie offensichtlich intelligent waren. Und dass sie denselben Schmerz über den Verlust der Mutter empfinden konnten, wie ein Menschenkind es getan hätte. Ein Schmerz, der Sophie nicht unbekannt war.

Zögerlich beugte sie sich vor, streckte eine Hand aus und lief geduckt auf das Drachenweibchen zu. »Das tut mir leid«, sagte sie leise. »Ich wusste nicht, dass gerade Drachenjäger in der Gegend unterwegs sind.«

Minerva gab ein Schnaufen von sich und rollte sich noch enger zusammen. »Sie hat gesagt, ich soll mich verstecken«, sprach sie leise, und Sophie war sich nicht sicher, ob die Worte überhaupt an sie gerichtet waren.

---ENDE DER LESEPROBE---