Miss Emergency 3&4 (Doppelband) - Antonia Rothe-Liermann - E-Book

Miss Emergency 3&4 (Doppelband) E-Book

Antonia Rothe-Liermann

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Beschreibung

Band 3: Gynäkologie – ich komme! Selbstbewusst erobert Lena ihr neues Gebiet: den Kreißsaal. Und diesmal wird sie nicht an Liebesfragen herumdoktern, das steht fest! Sie konzentriert sich auf die Karriere, Herzenschaos ade! Dabei wäre Alex eigentlich der perfekte Kandidat. Schade, dass man sich das Verlieben nicht einfach verschreiben kann ... Band 4: Hammerexamen – ich komme! Bewaffnet mit Glückskuli und tausend Karteikarten stürzt Lena sich kopfüber in den Prüfungsstress, um endlich die weltbeste Ärztin zu werden. Doch zwei gute Gründe halten sie vom Pauken ab: eine unwiderstehliche Liebeserklärung von Alex und die Blicke von Dr. Thalheim … Die Krankenhausserie mit Herzklopfen-Garantie

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Danke

an Dr. Maria, die auf allen Stationen zu Hause ist, und die Mehmets, die überall mein Zuhause sind.

Auf ein neues Leben!« Im Kerzenschein klingen unsere Gläser aneinander. Meine Freundin Jenny strahlt. »Auf ein neues Tertial, unser letztes! Und dass wir uns mal wieder beispiellos gut schlagen werden!«

Isa und ich müssen ein wenig grinsen – »beispiellos gut« ist eine typische Jenny-Übertreibung. In den beiden vergangenen Tertialen unseres Praktischen Jahres ist absolut nicht alles glattgelaufen, aber Jenny hat das beneidenswerte Talent, überstandene Unannehmlichkeiten sofort auszublenden.

Sie wirft ihre blonden Locken zurück und ergänzt: »Und natürlich auf die Liebe!«

Oh Mann, ja – die Liebe! Jenny, bisher ein echter Schmetterling, hat sich endlich niedergelassen. Zum ersten Mal seit Langem hat sie einen festen Freund, eine richtige Beziehung. Und die schüchterne, vorsichtige Isa hat das letzte Tertial mit einer Verlobung gekrönt. Sie wird ihren Freund Tom heiraten – und nach München ziehen, sobald wir unser Praktisches Jahr am St.-Anna-Krankenhaus beendet haben. Und was hast du, Lena?!

»Auf Felix!« Jenny strahlt über das ganze Gesicht, wenn sie seinen Namen sagt. »Und Tom!« Sie prostet Isa zu, die entzückend rot wird. Ganz hat sie sich noch nicht an ihren neuen Status als Braut gewöhnt – und schon gar nicht an das Aufheben, das alle Welt darum macht. Der Mittelpunkt ist nicht gerade ihr Wohlfühlplatz. Dann wendet Jenny sich mir zu, immer noch mit erhobenem Glas. Isa kneift die Lippen zusammen. Wir sind beide gespannt, wie die generaloptimistische Jenny wohl meine Liebessituation so hinbiegen will, dass es nicht nach absoluter Katastrophe klingt. (Auf einen Oberarzt in 10 000 Kilometern Entfernung! Darauf, dass drei Monate himmelhochjauchzend-abgrundtieftraurig überstanden sind und jetzt nur noch ab-und-an-traurig übrig ist!)

»Auf deine neue Unabhängigkeit, liebe Lena!« Hmpf. Für mich klingt das wie ein Trostpflaster. Aber Jenny ist noch nicht fertig. »Und darauf, dass du dich sofort Hals über Kopf verliebst, sobald du sie satthast! Hals über Kopf und beidseitig!«

Ja, damit könnte ich leben.

»Und jetzt schneiden wir endlich die Torte an!«

Die Torte ist eine Wucht. Auf der silbernen Platte liegt ein zuckersüßes, lebensgroßes, marzipanüberzogenes Baby. »Ist das nicht abartig?«, grinst Jenny.

»Ich schneide das nicht an!« Isa findet die Torte auch grenzwertig.

»Etwas zu zimperlich für eine zukünftige Chirurgin!« Jenny hält Isa das Kuchenmesser hin.

»Säuglinge fallen aber in dein Metier.« Isa gibt ihr entschieden das Messer zurück. Ja, an Schlagfertigkeit und Durchsetzungskraft hat sie im letzten halben Jahr enorm zugelegt. Na klar – jetzt sehen die beiden mich an. Aber ich kann dem goldigen Marzipanbaby auch kein Füßchen abschneiden!

Das Klingeln an der Wohnungstür erlöst mich. Jenny springt auf. (Es ist keine vier Wochen her, dass sie spöttisch die Augen verdreht hat, wenn Isa so zur Tür gestürzt ist, um ihren Freund in die Arme zu schließen!)

Jenny drückt den Türöffner, dann erscheint sie noch einmal in der Küchentür. »Psst!« Sie legt den Finger auf die Lippen. »Ich muss Felix mal kurz zu Tode erschrecken!«

Eine Sekunde später hören wir eine tiefe Stimme im Flur »Hallo, Baby« sagen – und gleich darauf Jenny: »Du wirst nicht glauben, was passiert ist! Aber ich hoffe, dass du dich genauso freust wie ich!« (Wenn sie da mal nicht zu dick aufgetragen hat.) Felix kommt zu uns in die Küche, grüßt, grinst … und erstarrt, als er die Babytorte sieht. Seine Gesichtsfarbe wird noch blasser als seine hellblonden Haare. Sein Blick wandert hilflos von Isa zu mir – dass wir beide ein Sektglas in der Hand halten, lässt ihn offenbar sofort darauf schließen, dass keine von uns die werdende Mutter sein kann – dann endet sein Blick bei Jenny.

»Na, freuste dich?«, säuselt sie und schmiegt sich an ihn. Unsicher blinzelt er uns an. Ich kann es mir nicht verkneifen, ihm zu gratulieren. »Herzlichen Glückwunsch!«, lächle ich. »Dein Leben wird sich jetzt natürlich gravierend verändern.«

Felix sieht zu Isa. Man kann förmlich hören, was er denkt: Isa kann nicht lügen. Falls das hier ein Witz ist, wird sie Mitleid haben und den Scherz auflösen. Doch auch Isa prostet ihm zu, ihre Miene wirkt sehr erwachsen. »Ja, Felix, dein Motorrad muss selbstverständlich weg«, setzt sie nach. »Und die Tattoos lässt du besser auch entfernen, damit das Baby dir gegenüber kein elterliches Entfremdungssyndrom entwickelt.« (Herrlich! Jenny und ich wechseln einen begeisterten Blick. Seit wir Isa aus der Reserve gelockt haben, ist unser Trio unschlagbar.)

Felix sinkt an den Küchentisch. »Okay …«, murmelt er tonlos, nimmt mir mein Glas ab und trinkt es auf einen Zug aus.

Jenny hat immer noch nicht genug. »In der Bäckerei haben sie mich allerliebst beglückwünscht«, strahlt sie. »Und von dir kriege ich nur ein ›Okay‹?«

»Entschuldige.« Felix wirkt zerknirscht. »Aber ich hänge so an meinem Motorrad; und dass die Tattoos wegsollen …« Ganz hat er seine Fassung noch nicht wiedergefunden. Aber – hey – es klingt nicht, als sei ein Baby grundsätzlich ein Problem. Felix schenkt sich Sekt nach, trinkt, atmet durch, gießt sich noch mal nach.

»Lass uns noch was übrig!«, lacht Jenny.

»Aber du darfst nicht mehr …«, widerspricht ihr Freund, was Jenny noch mehr zum Lachen reizt. Und endlich, endlich wird Felix klar, dass wir uns einen Spaß mit ihm gegönnt haben.

»Du Biest!« Er schnappt sich Jenny und haut sie zum Spaß ein bisschen mit einem Kuchenlöffel.

Jenny entwindet sich lachend. »Ich verspreche dir, falls es irgendwann so kommt, musst du weder auf deine Maschine noch auf deine Tattoos verzichten. Aber jetzt will ich erst mal mindestens hundert fremde Babys auf die Welt bringen!«

Ich schwöre, Felix sah nie erleichterter aus. Kopfschüttelnd mustert er das Marzipanbaby … und dann Jenny. »So viel Aufwand für so einen blöden Joke. Das fällt auch nur dir ein!« Aber ganz so verdreht ist nicht mal Jenny. Die Babytorte hat sie zur Feier unseres letzten PJ-Abschnitts gestiftet. Denn Jenny und ich werden das letzte Tertial auf der Gynäkologie verbringen.

Nach zwei Pflichtstationen durften wir uns für den dritten Teil des PJs eine Station aussuchen. Meine Entscheidung ist schnell und eindeutig gefallen. Ich gebe zu, ich habe vorher nie an die Gynäkologie gedacht. Eine eindrucksvolle Ärztin hat mich dazu bewegt: die schmale, schweigsame Oberärztin Dr. Al-Sayed, zu der ich, ohne zu wissen wie, in den vergangenen zwei Tertialen eine besondere Verbindung entwickelt habe …

Kaum hatte ich meine Entscheidung getroffen, hat Jenny sich angeschlossen. »Ist doch glasklar«, hat sie gesagt. »Auf HNO und Orthopädie hab ich keine Lust, Neurologie ist mir zu traurig, Dermatologie zu eklig und Allgemeinmedizin ist ja quasi das Innere Tertial in grün.« Sehr erwachsen, Jenny, überaus professionell! Aber – ganz ehrlich – ich bin froh, die temperamentvolle Frohnatur auch im letzten Tertial an meiner Seite zu haben. Nichts ist richtig mies, solange man Verstärkung von Jenny hat.

Nur Isa wird uns nicht begleiten. »Seid ihr mir böse?«, fragt sie zum gefühlt tausendsten Mal. Und wir bestätigen wie die 999 Male zuvor, dass sie sich vollkommen richtig entschieden hat. Isa bleibt auf der Chirurgie. Im letzten Tertial hat sie erkannt, wie sehr ihr dieses Fach liegt. Sie möchte Chirurgin werden. Und ihre Ausgangssituation ist denkbar gut. Als Einzige hat sie es geschafft, den Oberarztdrachen der Chirurgie für sich einzunehmen.

»Bekommt man hier nun noch mal ein Stück Torte oder ist die nur zum Ansehen und Schocken?«, fragt Felix. Aber den Kuchen anzuschneiden schafft nicht mal er. Und deshalb essen wir schließlich nur die rosa Haarschleife des Tortenbabys. Es ist bloß ein winziges Stück für jeden. Aber wir sind eben ausgezeichnete Ärzte: mit Respekt, Einfühlungsvermögen und Verantwortungsgefühl. Selbst wenn unsere Patienten wortwörtlich aus Zucker sind.

»Auf dass alle Babys, die wir ab morgen auf die Welt holen, genauso süß und rosig und unversehrt sind!«, bringt Jenny den letzten Trinkspruch des Abends aus.

»Auf hundert glückliche neue Leben!«

Wir beginnen das neue Tertial mit einem überpünktlichen Frühstart. Schon eine Viertelstunde vor Dienstbeginn schlagen wir unsere Spinde zu und verlassen mit frisch gestärkten Kitteln den Umkleideraum. Nicht aus Pflichtgefühl – es ist, als könnten wir es alle drei kaum erwarten …

Isa verabschiedet sich mit Küsschen und muss nur noch ein Mal versichert kriegen, dass sie auch ohne uns bestens mit der straffen Dr. Thiersch und ihrem rigorosen Regiment zurechtkommen wird. (Wenn man ehrlich ist und sich ganz, ganz kurz das letzte Vierteljahr ins Gedächtnis ruft, wird sie es ohne uns wohl sogar leichter haben.) Wir verabreden uns für die Mittagspause oder spätestens für den Feierabend, dann trennen sich unsere Wege.

»So«, Jenny reibt sich die Hände, als wir den Seitenflügel der Gynäkologie betreten, »dann wollen wir mal ein paar Babys zur Welt bringen!«

Nun, ganz so schnell geht es leider nicht. Zuerst kommt die uns schon bestens vertraute Vorstellung. Wir bauen uns brav am Empfangstresen auf und nennen der diensthabenden Schwester unsere Namen. Schwester Evelyn trägt eine Hochsteckfrisur, die Stunden gekostet haben muss, und dunkelroten Lippenstift. Überhaupt wirkt sie, als könnte sie auch den Empfang eines Hotels leiten. Eines sehr teuren Hotels. Ihr Tresen ist glänzend weiß und mustergültig aufgeräumt. »Willkommen«, nickt sie und lächelt unverbindlich, als sie unsere Namensschilder über den Tresen schiebt und uns die Logbücher aushändigt. Genauso gut könnte sie uns Zimmerschlüssel und Stadtpläne überreichen. Dann zückt sie einen Stationsplan und erklärt uns mithilfe eines geschlossenen Fineliners den Aufbau der Gynäkologie.

Arztraum, geburtshilfliche Abteilung, Kreißsäle, Frühgeborene, Wöchnerinnen, allgemeine Gynäkologie. Der Fineliner zieht Kreise, ohne Spuren auf dem Papier zu hinterlassen, und tippt dann ein Stakkato auf dem Arztraum. »Jetzt melden Sie sich bitte hier.«

Ich bedanke mich und greife nach dem Blatt, doch Evelyn hält es entschlossen fest. »Tut mir leid, das ist mein Exemplar.« Hä? Sie zieht zwei identische Pläne unter dem Tresen hervor und schiebt sie uns zu. Ich kann zwar keinen Unterschied zwischen ihrem und meinem erkennen, aber bitte. »Viel Erfolg bei uns!«, lächelt sie und macht eine Stewardessengeste in Richtung Arztraum. Damit sind wir entlassen.

Jenny und ich schlendern grinsend davon. »Moneypenny«, zwinkert Jenny mir zu. »Sie glaubt wohl, sie managt die Chefetage von Sony.« Meinen Vergleich mit dem Hotelempfang findet sie noch treffender.

Wir passieren die Büros der Stationsärztin und der Oberärztin (ich habe zum ersten Mal kein mulmiges Gefühl, wenn ich das Wort »Oberarzt« lese!) und finden den Arztraum.

Hinter dieser Tür beginnt ein Babywunderland. Alle Wände sind übervoll behängt mit Geburtsmeldungen, Babyfotos, Dankeskarten. Babys in Stramplern, nackte Babys, mit Mutter und ohne, schlafende, schreiende und gähnende Babys. Selbst gebastelte Karten und Photoshop-Arbeiten, quietschbunte und schwarz-weiße.

»Mann, Mann, Mann«, japst Jenny überfordert, »die ganze Wand ist nur von DIESEM JAHR!« Das sind mindestens 40 Bilder. Und wir haben erst Februar. Jenny lacht fassungslos. »Das ist ja herrlich! Wir werden Säuglinge aus Frauen ziehen wie am Fließband! Wo bitte ist meine Wand?!« Jenny würde sich am liebsten schon mal mindestens 2 mal 2 Meter Tapete frei machen, um Platz für ihre eigenen Geburtshilfedankeskarten zu schaffen. Aber ich glaube nicht, dass Entbindungen zu unseren Hauptaufgaben gehören werden.

Direkt vor mir an der Wand hängt eine kleine gelbe Karte. Zwei Fotos desselben Babys sind darauf zu sehen; auf dem ersten sieht es aus wie ein kleines Vögelchen, winzig, ein Beatmungsschlauch ist an seiner Nase festgeklebt. Auf dem zweiten Bild ist der Wurm schon ein wenig größer, seine Gesichtsfarbe ein gesundes Rot, kein Schlauch mehr, der Kleine lächelt. »Danke«, steht auf der Karte, mehr nicht. Das will ich auch!

Mein persönliches Ziel für dieses Tertial steht in diesem Moment felsenfest. Wenigstens EINEM EINZIGEN Baby möchte ich auf die Welt helfen. EIN Foto von so einem winzigen lächelnden Wesen möchte ich im Mai mit nach Hause nehmen können. Ich brauche keine ganze Wand voll. Nur eins. Aber das unbedingt.

Die Tür öffnet sich; eine Frau kommt herein, die ich vom Sehen kenne, burschikoser Kurzhaarschnitt, Augenringe. Hinter ihr ein junger Mann und ein Mädchen in unserem Alter. »Dann sind wir ja komplett«, sagt der müde Kurzhaarschnitt. Es stellt sich heraus, dass sie die Stationsärztin ist, Dr. Seidler. Ihr Gefolge sind unsere Mit-PJler, nur diese beiden. Auf einer Wahlstation ist die PJler-Riege also viel kleiner. Na klar, alle sind freiwillig hier.

Das Mädchen betrachtet die Babyausstellung so fasziniert wie wir, der Junge aber würdigt die Fotos keines Blickes. Ich frage mich, was ihn auf die Gynäkologie verschlagen hat, wenn er sich nicht mal für Babys zu interessieren scheint. Will er der Arzt werden, dem die Frauen vertrauen?

Kurze Vorstellung – er heißt Patrick, sie Johanna, beide haben die Pflichttertiale an anderen Kliniken absolviert. Sie wirken nett, alles okay, können wir jetzt loslegen? Ach, halt, ich bin noch dran. Als ich meinen Namen sage, nickt Dr. Seidler. »Ach, Sie sind das.« WUSCH. Die kalte Dusche.

Ich bin auf einer neuen Station. Mit einer Stationsärztin, die ich zum ersten Mal aus weniger als 3 Metern Entfernung sehe –und man dürfte doch meinen, dass das umgekehrt auch gilt. Ich bin Lena Weissenbach, geboren in Lübeck, Medizinstudium in Lübeck, PJ in Berlin, drittes Tertial. DAS REICHT DOCH! »Ach, Sie sind das!« Warum nicht gleich: »Ach, waren Sie nicht im letzten Jahr mit dem Oberarzt der Inneren liiert?« Oder: »Ach, Sie sind die Liebeskranke, wegen der hier immer die Oberärzte kündigen!«

Ich wollte doch neu anfangen! Jemand hat ein unerträglich großes Opfer gebracht, damit ich es kann! Okay, Lena, gelassen bleiben.

»Ja, ich bin das«, antworte ich kühl. »Der Grund für Dr. Thalheims Auswanderung.«

Dr. Seidler zieht die Augenbrauen zusammen. »Finden Sie das richtig, so damit umzugehen? Es klingt ja, als wollten Sie sich darüber definieren …«

Nein! NEIN UND NEIN! SIE HAT DOCH ANGEFANGEN!

Sie lächelt. »Okay, vielleicht tun Sie doch recht daran. Es ist immer besser, so einer Sache offen zu begegnen, bevor Gerüchte aufkommen, die alles viel mehr aufbauschen.« (Was denn? Dass ich die liebeskranke PJlerin bin, wegen der hier bald keine Oberarztstelle mehr besetzt ist?) »Aber ich kann Ihnen versichern, bis zu uns hatte sich davon gar nichts rumgesprochen. Ich meinte nur, dass Sie diejenige sind, die Dr. Al-Sayed bereits bei einer Hysterektomie assistiert hat.«

Ja, nee, ach so. Ich atme tief aus und lächle schief. Wenn nichts mehr hilft, dann Selbstironie. »Ach, wissen Sie«, stottere ich, »ich sag immer lieber erst mal was Peinliches, dann klingt das andere nicht so nach Angabe.«

»Na, das haben Sie geschafft!« Dr. Seidler lächelt zurück. Puh, ausatmen, Lena. Könnten wir dann jetzt zum Wesentlichen kommen?

Dr. Seidler erklärt, was uns erwartet. Wir müssen Patientinnen aufnehmen und den Ärzten vorstellen, Untersuchungen durchführen, Diagnosen stellen und Entlassungsbriefe schreiben. So weit, so gut. Aber wir dürfen auch bei den Gyn-OPs assistieren, Schwangere betreuen, bei Entbindungen helfen und Neugeborene erstversorgen. »In der Gynäkologie werden Ihnen harte und schwer erträgliche Schicksale begegnen«, warnt Dr. Seidler. »Tumore und Karzinome machen einen Großteil der Diagnosen aus. Aber ich verspreche Ihnen, dass Sie auf unserer Station gleichzeitig auch die schönsten und bewegendsten Erfahrungen Ihres PJs machen werden.« Sie sieht uns offen an. »Für mich zumindest gibt es nichts Erfüllenderes, als in der Geburtshilfe zu arbeiten.« Dann lächelt sie. »Und, ja, Sie werden Babys zur Welt bringen.« Na also, sagt Jennys zufriedener Blick.

Dr. Seidler winkt uns aus dem Arztraum. Nein, wir fangen nicht gleich mit einer Entbindung an. Bloß mit einer Visite.

Deutschland bekommt zu wenig Kinder. Ja, das habe ich auch gehört. Aber glauben kann ich es seit heute nicht mehr. Nach einer halben Stunde habe ich mehr Schwangere gesehen als in meinem ganzen bisherigen Leben zusammengenommen. Dr. Seidler stellt uns die Patientinnen vor und mein Glückskuli fliegt nur so über den Notizblock. Die Stationsärztin sagt Dinge wie »Frau Kramer, 36 + 4« und »Frau Wehrt, 38 + 0, wir lassen heute einleiten«. Damit meinen wir Gynäkologen, dass Frau Kramer die 36. Schwangerschaftswoche um 4 Tage überschritten hat oder dass bei Frau Wehrt, 38. Woche, jetzt die Geburt eingeleitet werden soll.

Die Schwangeren wirken fast alle reichlich nervös. »Morgen früh haben Sie Ihr kleines Wunder sicher schon im Arm«, lächelt Dr. Seidler der Patientin Wehrt zu. Frau Wehrt aber schüttelt den Kopf. »Ich hab’s mir anders überlegt. Meinetwegen kann es für immer drin bleiben.« Oh Mann, ich kann sie verstehen: Sie liegt da, ganz rot im Gesicht und mit einem Umfang, dass ein Blauwal erschrocken den Rückzug antreten würde. Ihr Baby wiegt fast 4 Kilo und hat partout keine Lust, auf die Welt zu kommen. Nur verständlich, dass Frau Wehrt sich nicht allzu überschwänglich auf die Geburt des kleinen Riesen freut.

Dr. Seidler lacht. »Darüber reden wir morgen noch mal. Wenn er draußen ist.« Damit verlässt sie das Zimmer und winkt uns mit sich. »Keine Sorge, meine Herrschaften«, nickt sie uns zu. »Das sagen sie dauernd und am Ende hat sich noch jede gefreut.«

Dr. Seidler gefällt mir recht gut. Als sie uns über die Flure vorauseilt, hat sie dasselbe Tempo drauf wie Dr. Thiersch, unsere Oberärztin aus der Chirurgie. Aber bei ihr ist es kein Stechschritt, dessen Absatztackern »Ich-bin-die-Chefin-ich-bin-die-Chefin« auf den Fußboden pocht. Es ist einfach das notwendige Tempo einer Ärztin, die zu viele wichtige Aufgaben vor sich hat, um zwischendurch die bunten Wandbilder zu besichtigen. Ihr Tonfall den Patienten gegenüber ist nicht so betörend wie der unseres Sonnyboy-Stationsarztes auf der Chirurgie, aber auch nicht so kühl und gemessen wie bei Dr. Ross von der Inneren. Dr. Seidler wirkt einfühlsam und verständnisvoll, aber sie ist definitiv keine »Tante Doktor«. Ich schätze, wir können mit ihr zufrieden sein.

Als Nächstes besuchen wir die Wöchnerinnen: erschöpfte, müde Frauen, aber fast alle überglücklich. Das Strahlen, mit dem sie ihre Neugeborenen füttern oder einfach nur im Arm halten, lässt mein Verständnis für die geburtsverweigerungsentschlossene Frau Wehrt sofort verpuffen. Was kann denn schöner sein?!

Doch es gibt auch Mütter, die ohne ihr Baby hier liegen. Die die Geburt überstanden und trotzdem das schlimmste Bangen noch vor sich haben. Denn Säuglinge, die nicht trinken, nicht aus eigener Kraft atmen können oder sonstige Hilfe benötigen, dürfen nicht bei der Mutter bleiben. Sie liegen zur Beobachtung auf der Frühchenstation. Als Dr. Seidler diese Glastür öffnet, macht mein Mädchenherz einen richtigen Satz. Ja, ich habe »Oh« gemacht. Und nicht nur ich, selbst der resoluten Jenny entschlüpft ein höchst weiblicher Seufzer. Diese winzigen Geschöpfe, so hilflos und anrührend …

Mein Blick stockt an einem Inkubator. Das Frühgeborene darin wirkt durchsichtig, seine Haut ganz dünn. Mein Baby-Entzücken verschwindet in einem schwarzen Loch aus Mitleid. Es ist so winzig, viel zu klein für all die Schläuche.

»Wird er … es schaffen?«, fragt Johanna leise neben mir.

»Ich hoffe es doch«, entgegnet Dr. Seidler. Das tut weh, »hoffen«. Wir sind doch Ärzte; wir sollten nicht »hoffen« müssen.

»Können wir irgendetwas für ihn tun?«, frage ich.

Dr. Seidler schüttelt den Kopf. »Es wird alles getan. Und Sie werden auf der Frühchenstation sowieso nicht eingesetzt. Ich zeige es Ihnen nur, damit Sie wissen, was das Ziel unserer Arbeit ist.« Sie sieht uns ernst an. »Dass so wenig Würmchen wie nur irgend möglich hier liegen müssen.« Wir nicken alle.

Dr. Seidlers Pieper geht. »Ich muss«, ruft sie und ist schon auf dem Weg zur Tür. »Die allgemeine Gynäkologie zeige ich Ihnen später. Und den Kollegen stellen Sie sich bitte einfach selbst vor.« Hä? Okay … und unsere Aufgaben?

Etwas verwirrt trotten wir zurück zum Arztraum. »Dann machen wir jetzt erst mal Mittag?«, schlägt Patrick vor. Aber davon wollen wir anderen nichts hören. Einfach irgendwo anfangen können wir natürlich auch nicht, selbst wenn Jenny grinsend erklärt, wir könnten ja die erste Schwangere, die uns über den Weg rollt, schon mal entbinden. Wir beschließen, uns wie empfohlen bei den anderen Ärzten vorzustellen – vielleicht wissen die ja, wie wir uns nützlich machen sollen.

Der Arztraum ist leer. Die drei Schwestern, die auf dem Gang an uns vorbeihetzen, nicken uns knapp zu und stürmen weiter.

Im Empfangsbereich erwartet uns dieselbe sterile Stille wie heute Morgen, Schwester Evelyn tippt zwar in Windeseile etwas in ihren Computer, dies jedoch völlig geräuschlos. Sie hebt den Kopf und sieht uns erwartungsvoll an. »Wie kann ich helfen?«

Wir sind alle vier etwas sprachlos. WIR sind doch die, die helfen wollen. Jenny grinst sie an. »Wir brauchen Ärzte, Schwestern, irgendwelches Personal. Wir sollen uns vorstellen.«

Schwester Evelyn formt ihren dunkelroten Lippenstiftmund zu einem empörten O. »Ich kann doch niemanden anpiepen, nur um Ihnen Unterhaltung zu verschaffen.«

Also langsam kriege ich einen kleinen Anflug von Irrenhaus-Gefühl. »Wir sind zum Arbeiten hier«, sage ich ruhig und deutlich. »Die Vorstellung können wir gern verschieben, aber vielleicht können Sie uns ja wenigstens sagen, was wir tun sollen, bis Dr. Seidler zurückkommt?«

»Natürlich. Es wird ja auch höchste Zeit, dass Sie sich nützlich machen.« Evelyn erhebt sich, stapelt sich einen Schwung Akten auf den Arm und stolziert uns voran zum Vorbereitungsraum. Und da sind sie – die obligatorischen Stationswagen.

»Blutentnahme«, lächelt Evelyn Patrick zu und schiebt ihm einen Wagen hin. »In der allgemeinen Gyn. Bitte berücksichtigen Sie die individuellen Befunde, TSH, T3, T4, Tumormarker.« Oho, plötzlich so ärztlich. Hat Evelyn doch mehr drauf als das tadellose Abheften von Stationsplänen? Patrick nickt und schiebt ab.

»Sie gehen auch auf die allgemeine Gyn«, wendet Evelyn sich an Johanna und überreicht ihr einen Stapel Akten. »Postoperative Betreuung. Vitalparameter, Drainagen- und Verbandkontrolle.« Dann lächelt die Schwester Jenny an und schiebt auch ihr einen Wagen vor die Füße. »Ebenfalls Blutentnahme. Sie übernehmen bitte die Pränatalen und die Wöchnerinnen.« Jenny sieht nicht so begeistert aus; na klar, sie hat schon ein bisschen gehofft, gleich im Kreißsaal eingesetzt zu werden.

»Und Sie …« Ich rechne damit, ebenfalls erst einmal einen Auftrag zu erhalten, den wir insgeheim vermessen als Schwesternaufgabe deklarieren würden. Doch Evelyn kommt nicht dazu, mir etwas zuzuteilen. Denn in diesem Moment ertönt vom Empfang her ein gewaltiger Lärm.

Evelyn eilt nach vorn, ich folge ihr. Am Tresen lehnt eine hochschwangere Frau. Aber es ist nicht sie, die das Getöse verursacht, es ist ihr Begleiter. Ein groß gewachsener Mann, kreidebleich und vollkommen überdreht.

»Das Kind kommt!«, ruft er uns zu, seine Stimme bricht. »Und ich steh im Halteverbot!«

Seine Frau oder Freundin scheint sich nicht ganz so im Ausnahmezustand zu befinden wie er – sie stützt sich auf den Tresen und wirkt eher überrascht denn panisch. »Die Wehen haben eingesetzt«, sagt sie. »Jetzt schon …«

»Welche Woche?«, frage ich, so ruhig ich kann. Der panische Mann macht mich ziemlich nervös; jetzt wuchtet er eine Tasche auf den Tresen und macht Anstalten, sie hier und sofort auf dem Empfangstresen auszupacken. »35«, antwortet die Frau. 35. Dann wird die Geburt sicher nicht mehr aufgehalten.

»Es sind vielleicht nur Vorwehen«, sagt Schwester Evelyn hinter mir und ihre Stimme ist gelassen. »Wir kümmern uns darum.« Aus dem Nichts hat sie einen Rollstuhl herbeigezaubert und setzt die Frau hinein.

»Jetzt schon Wehen!«, ruft der Mann, als hätte er nichts gehört, und zieht einen Strampelanzug aus der Tasche. Wofür, glaubt er wohl, dass der jetzt gebraucht wird?!

»Das ist viel zu früh! Und ich steh im Halteverbot!« Sein Gebrüll ist ohrenbetäubend. Doch Schwester Evelyn bringt er nicht aus der Ruhe. Sie nimmt ihm die Tasche weg und stopft den Strampler wieder hinein. »Sie haben alle Zeit der Welt, Ihren Wagen umzuparken.« Schwups, hat sie schon wieder einen ihrer Pläne auf dem Tresen platziert. Jetzt wird mir klar, dass ihre Hotel-Management-Attitüde unbezahlbar ist. Denn als sie ihren Fineliner zückt und auf dem Plan die Parkplätze zeigt, wird der Paniker endlich ruhiger. Zwar rauft er sich immer noch die Haare, doch richtet er jetzt offenbar all seine Kraft und Konzentration darauf, mit Evelyns Hilfe das Halteverbotsproblem zu lösen. »Okay, okay, okay«, nickt er über dem Plan, als würde sie ihm gerade erklären, wie er ganz allein und mit einem einzigen wohlgesetzten Handgriff sein Baby problemlos und pfeilgeschwind selbst auf die Welt bringen könnte.

»Na los«, raunt Evelyn mir über die Schulter des Mannes zu. »Aufnahme, Anamnese. Gehen Sie in die 2. Ich schicke Ihnen gleich einen Arzt.« Da ist er, der Sprung ins kalte Wasser. Und diesmal trifft es mich. Hurra!

Ich schnappe mir die Tasche der Frau und schiebe ihren Rollstuhl los. »Keine Sorge«, sage ich professionell. »Vielleicht sind es wirklich nur Vorwehen. Und wenn nicht, haben wir trotzdem noch alle Zeit der Welt.«

Die Frau nickt. »Jetzt hat es auch gerade aufgehört …« Ich tätschele ihr mit der Taschenhand die Schulter – und sage nicht, dass auch bei mir der Schmerz sofort nachgelassen hat, seit wir aus der Reichweite ihres brüllenden Mannes gekommen sind.

Wieder begegnen mir eilige Schwestern auf dem Flur, wieder spricht mich keine an. Die denken offenbar auch, dass ich das hier prima mache. Oder sie denken gar nicht darüber nach, was ich hier tue. ICH aber denke, und zwar hastig. Wo die 2 ist, weiß ich. Anamnesen habe ich in den vergangenen Tertialen schon zur Genüge gemacht. Aber was kommt danach? Untersuchung, Ultraschall, Fruchtwasserindex, Plazentabeurteilung, Kindslagekontrolle, CTG anlegen, CTG auswerten. Bis dahin wird der Arzt doch hoffentlich da sein?!

Ganz cool, Lena, das wirst du nicht laut sagen! Wie beruhigend für die Patientin, ihrem hysterischen Mann zu entkommen – nur um dann einer Fastärztin ausgeliefert zu sein, die ebenfalls das Zittern kriegt, sobald sie den Rollstuhl loslässt! Der Arzt WIRD da sein, alles, was nach der Anamnese kommt, darfst du ja gar nicht allein tun. Und wenn er nicht kommt, fährst du die Schwangere einfach ein bisschen über die Flure in Richtung Kreißsaal, das kann bei Hochschwangeren mit Wehen nie verkehrt sein. Jetzt reiß dich zusammen, Lena, du hast noch nicht mal nach ihrem Namen gefragt.

Die Schwangere heißt Nadja Perkins, 29, Erstgebärende, verheiratet, der Paniker ist also ihr Ehegatte. Glückwunsch! Doch Frau Perkins kann über seinen Auftritt tatsächlich lächeln. »Ist er nicht rührend?«, fragt sie. Na, ich sage nichts dazu. Frau Perkins findet es ganz beruhigend, dass ihr Mann aufgeregter ist als sie. Das kann ich verstehen, verkneife mir nur, dass es schwierig sein könnte, jemanden zu finden, der aufgeregter ist als der Schreihals da vorn. Wie nett wird das sein, zwei davon zu haben, die um die Wette brüllen, wenn sich einer von beiden am Papier eines Parkscheins geschnitten hat! (Nicht so fies, Lena! Sei froh, dass die Schwangere gelassen ist! Denn wenn du ehrlich bist, ist sie nicht nur ruhiger als ihr Mann – sondern auch cooler als DU!) Frau Perkins überlegt sogar, ob ihr Mann nicht besser zu uns in den Aufnahmeraum kommen sollte, damit sie ihn beruhigen kann. Aber mein Trommelfell ist froh über jeden Moment, in dem er noch nicht hier eintrifft.

Frau Perkins hat sich in der Vorgeburtsphase noch nicht in unserem Kreißsaal angemeldet, ihre Daten sind also noch nicht aufgenommen worden. Trotzdem müssen wir nicht hetzen, während ich ihren Bogen ausfülle, scheint es ihr recht gut zu gehen. Ich messe Blutdruck, Puls und Temperatur, trage alle Daten ein und bitte um ihren Mutterpass. Gerade überfliege ich die zweite Seite des Anamnesebogens – als der Mutterpass vor mir auf den Boden klatscht. Nadja Perkins krümmt sich auf der Liege, die Hände in den Bezug gekrallt, und ist plötzlich leichenblass.

»Verdammt!« Sie atmet schwer. »Jetzt geht es wieder los!«

Okay, Lena. Geburtswehen sind stärker als Senkwehen – und regelmäßig. Als Frau Perkins ausatmet und wieder lächelt, warte ich nervös, wie lange die Ruhephase anhält. »Ganz ruhig …« Mehr bleibt mir nicht zu sagen. Ich klingle trotzdem schon mal – besser zu früh als zu spät. Nicht dass der Paniker Schwester Evelyn unter den Arm geklemmt und in sein verboten abgestelltes Auto verschleppt hat, bevor sie uns einen Arzt schicken konnte!

Schon verzieht Frau Perkins wieder vor Schmerz das Gesicht. Ja, das sind dann wohl richtige Wehen.

»Versuchen Sie, ruhig und tief zu atmen und sich nicht zu verkrampfen«, sage ich. (Ach ja, und für dich, Lena, gilt das Gleiche!) Frau Perkins nickt verbissen. Wenn jetzt nicht sofort der Arzt kommt, muss ich mit ihr losfahren. Falls meine Beine mich tragen …

Aber er kommt. In diesem Moment. Ein lächelnder Mann mit Pferdeschwanz öffnet die Tür, nimmt mir den Bogen ab und sagt: »Das haben Sie beide schon sehr gut gemacht!« Dann legt er Frau Perkins den Bauchgurt des Wehenschreibers um, schließt den Monitor an und setzt sich. Soll ich jetzt gehen? Werde ich noch gebraucht?

Der Arzt lächelt. »Sie können ruhig hierbleiben. PJlerin?«

Ich nicke und erfahre, dass er Luis Berger heißt und kein Arzt ist, sondern Hebamme. Oha. Meine erste männliche Hebamme. Okay, die erste, die ich überhaupt kennenlerne – und gleich ein Mann. Frau Perkins scheint das gar nichts auszumachen. Luis Berger sieht nett aus, nicht gerade wie ein Frauenschwarm, aber seine Stimme klingt sehr beruhigend. Während der Wehenschreiber arbeitet, unterhält er sich mit mir und Frau Perkins, als wären wir drei nur deswegen hier – um es uns ein wenig gemütlich zu machen. Luis erzählt von seinem letzten Indienurlaub, Sonne, Saris, Taj Mahal, und tätschelt der Patientin zwischendurch die Hand. Und als sie wieder schmerzverzerrt durch die Zähne atmet, sagt er doch tatsächlich: »Jede Wehe bringt Sie Ihrem Kind näher!« Ich überlege, wie dieser Harmonie-Buddha wohl auf den fahrigen Baldvater reagieren wird, der über kurz oder lang unser Zimmer stürmen muss.

Der Schreiber zeichnet Kurven auf ein Blatt. Luis reicht mir die Ergebnisse. »Können Sie so was auswerten?«

Ich kann es nicht und hoffe, dass die Frage nicht bedeuten sollte, dass er es auch nicht kann. Denn Frau Perkins hat sich zwar von seinem sanften Zuspruch beruhigen lassen, mittlerweile scheinen die Wehen aber nicht nur regelmäßig, sondern auch ziemlich heftig zu sein. Er lächelt, als ich den Kopf schüttle. »Ich zeige es Ihnen.« Als hätten wir alle Zeit der Welt! Luis erklärt, wie man die Wehentätigkeit nach Stärke, Dauer und Regelmäßigkeit beurteilt. Ich versuche aufzupassen und trotzdem Frau Perkins’ Hand nicht loszulassen. Der Herzschlag des Babys ist erhöht, doch das ist normal. Zur Zeit des Entbindungstermins kann er auf bis zu 160 Schläge pro Minute steigen.

Luis bereitet die nächsten Untersuchungen vor. Es muss festgestellt werden, in welcher Position sich das Kind befindet und ob sich der Muttermund schon geöffnet hat. Er fragt Frau Perkins, ob es ihr etwas ausmacht, wenn ich dabeibleibe. Mich fragt er nicht. Also schiebe ich jede falsche Scheu beiseite und greife beherzt zu, als er mir die Ultraschall-Sonde in die Hand drückt. Ich bewege die Sonde über den dicken Bauch und vergesse auch nicht, die Patientin zu fragen, ob der Druck in Ordnung ist. Und dann schaue ich auf den Monitor und bin vollkommen sprachlos.

Ja, ich habe schon jede Menge Ultraschall-Babyfotos gesehen. Aber das hier ist etwas ganz anderes. Ich kriege Lehre und Wirklichkeit mal wieder überhaupt nicht zusammen. Dieses Babymädchen, das ich in ruckelndem Schwarz-Weiß auf dem Bildschirm sehe, wird morgen schon auf der Welt sein, lebendig und in Farbe. Ob sie schon irgendwie ahnt, was in den nächsten Stunden auf sie zukommt? Ist es möglich, dass sie eine Vorstellung davon hat, was bald passieren wird? Dass sie morgen hier draußen bei uns ist?

»Und?«, fragt Luis Berger.

»Sie ist wunderschön«, flüstere ich.

Luis lächelt. Oh Mann, Lena! Er wollte nicht hören, wie du das Baby findest. Du sollst beurteilen, wie es liegt! Ich kriege es nur stotternd hin, aber das macht nichts. Luis hat Verständnis für meinen Faszinationsaussetzer – und Frau Perkins hätte ich wohl keine größere Freude machen können als diese unprofessionelle Antwort.

Luis hilft ihr hoch. »Es geht frühestens morgen los«, lächelt er sie an. »Aber Sie können hierbleiben. Und Sie auch«, wendet er sich an mich. »Gut gemacht.«

Ich weiß weder was ich Besonderes getan habe, noch warum ein Hebammen-Hippie entscheidet, ob ich auf dieser Station bleiben darf, aber ich bedanke mich artig. Erstens, weil ich seine Bemerkung nicht unter »Gönnerhaftigkeit«, sondern unter »Freundlichkeit« abhefte – und zweitens, weil ich bei meiner ersten Begegnung mit einer Hochschwangeren immerhin mehr Nerven gezeigt habe als ihr eigener Mann.

Nach der Untersuchung fahre ich Frau Perkins und ihre Tasche im Rollstuhl in ein Patientenzimmer und beauftrage eine Schwester, ihr beim Auspacken und Einrichten zu helfen. Es fühlt sich großartig an, sachlich und wie nebenbei Ärztinnen-Anweisungen zu treffen. »Bitte gehen Sie Frau Perkins zur Hand, sie hat noch ein wenig Zeit, um sich auszuruhen« klingt zwar nicht so lebenswichtig wie während eines Schlussspurts über den Intensiv-Flur »Intubieren, 0,5 mg Suprarenin, 3 mg Atropin« zu rufen. Trotzdem, die Schwester, die mich nicht kennt, antwortet: »Alles klar, Frau Doktor!« Und ich werde 5 Zentimeter größer.

Im nächsten Moment tut mir der Stolz-Wachstumsschub schon leid, denn damit werde ich sichtbar für den fahrigen Ehemann der Patientin, der in dieser Sekunde vor mir um die Ecke biegt.

»Da sind Sie ja!«, brüllt er, immer noch kein bisschen leiser. »Wo ist meine Frau?« Ein Wunder, dass bei seinem Dröhnen nicht die bunten Beruhigungsgemälde von der Flurwand poltern. (Mir fällt jedenfalls fast das Namensschild vom Kittel.)

Ich könnte ihm sagen, wo sie steckt – und ihn los sein. Aber jede Sekunde, in der er seiner Frau nicht mit seiner Nervosität auf die Füße tritt, ist Gold wert. Deswegen erkläre ich ihm, dass sie sich gerade einrichtet und er auf jeden Fall gleich zu ihr darf – aber vielleicht mit einem schönen Blumenstrauß? Der Krankenhausshop ist gleich da unten …

»Blumen, jetzt schon?«, ruft er. Aber er lässt sich überzeugen und ich gewinne noch mindestens 10 ruhige Minuten für Frau Perkins, indem ich ihm den umständlichsten Weg zum Shop erkläre. Zum Glück hat ER ja keinen von Evelyns Stationsplänen.

Evelyn empfängt mich übrigens mit wissendem Lächeln. »Also hat er Sie gefunden?«, fragt sie und hat ihn offenbar bis hierher brüllen hören. Als ich nicke, zuckt sie bedauernd die Schultern. »Ich habe mich bemüht, den Weg zu Zimmer 2 möglichst kompliziert zu beschreiben.« Ich gestehe, dass ich dasselbe mit dem Weg zum Blumenladen versucht habe. Ihr Lächeln bleibt professionell, aber wir verstehen uns.

»Falls Sie noch Interesse haben, ein paar Kollegen kennenzulernen«, Evelyn gönnt sich eine formvollendete Empfangschefgeste in Richtung Arztraum, »Ihre Vorgesetzten beenden gerade eine Fallbesprechung.«

Ich eile dorthin, klopfe wohlerzogen und stehe, als die Tür geöffnet wird, scheinbar der ganzen Gynäkologie-Belegschaft gegenüber, deren Besprechung sich soeben auflöst. Alle drängen an mir vorbei und verteilen sich. Zwar gibt mir jeder die Hand und stellt sich vor, aber es ist mal wieder zu viel und zu schnell für mich, ich kann mir auf keinen Fall all die Namen merken.

Dr. Seidler will wissen, wo ich gewesen bin. »Ihre Kommilitonen sind gerade vorgestellt worden und inzwischen beim Mittag.«

Ich erzähle knapp von Frau Perkins und habe schon nach dem zweiten Satz das Gefühl, dass sie mir nicht mehr zuhört. »Gut. Weitermachen«, ist alles, was sie sagt.

Womit? Soll ich mir von Lippenstiftschwester Evelyn eine neue Aufgabe geben lassen? Oder zurück zu Frau Perkins gehen und schon mal ihr Kind auf die Welt bringen?

»Mittagessen«, nickt Dr. Seidler. Gut, Mittagessen kommt mir nicht ungelegen. Aber danach? Doch die Stationsärztin ist schon verschwunden.

Also mache ich mich erst mal auf den Weg in die Cafeteria. Schließlich ist das die erste und einzige Anweisung, die ich heute von meiner Stationsärztin bekommen habe, und da will man ja nicht widersprechen. Und mein Magen hängt in den Kniekehlen; unser extrapünktlicher Neues-Tertial-Frühstart heute Morgen ging nämlich zulasten des Frühstücks.

Jenny gibt unumwunden zu, dass sie neidisch ist. Schließlich habe ich schon richtig gearbeitet, während sie nur mit dem Kanülenwagen herumfahren durfte. Aber erstens kann ich sie an den Start des letzten Tertials erinnern, als einfach jeder in den OP durfte außer mir, und zweitens hat sie die Abgabe der Blutproben sicher für eine kleine Knutscherei mit ihrem Liebsten genutzt, der bei uns im Labor arbeitet. Jenny gibt es grinsend zu und ich hebe ihre Laune vollends mit der Schilderung »meines« ersten Elternpaares. Über »Und ich steh im Halteverbot!« lacht sie sich schier kaputt – ich wusste, dass das nach ihrem Geschmack ist.

Dann aber will ich endlich wissen, welche Überraschung Ruben – der blauhaarige Koch und mein bester Freund unter den Klinikangestellten – wohl für uns parat hat. Als er meinen Teller über die Theke schob, hat er mich mit verheißungsvollem Grinsen aufgefordert, nach dem größten Andrang wiederzukommen. Seitdem behalte ich die Essensausgabe im Auge – und sobald die erste Ruhephase eintritt, hechten wir neugiergehetzt an seinen Tresen.

Ruben sieht sich vorsorglich um, dann hebt er ein kleines Tablett auf den Tresen. »Der gute Onkel Ruben hat die ganze Nacht gebacken«, strahlt er. »Stellt euch mal ein bisschen davor, denn er hat keine Lust, das von nun an für jeden Anfängerfiffi tun zu müssen.«

Unsere Rücken verbergen das Tablett vor neugierigen Blicken, ein paar leise Ahs und Ohs entschlüpfen uns aber dennoch.

Auf einer babyblauen Serviette liegen wahre konditorische Meisterwerke ausgebreitet. Winzige Kinderwagen und Babyschuhe, Störche und Schnuller, allerliebst dekoriert und herrlich kitschig.

»Siehst du, SO muss Baby-Gebäck sein!«, sage ich stolz zu Jenny, als hätte ich die Kunstwerke selbst geschaffen, und erzähle Ruben von dem unessbaren Marzipanbaby.

»Es geht nicht um die Babys, ich hab es mehr symbolisch gemeint«, sagt Ruben und prostet mir mit einem Kinderwagenkeks zu. »Ein neuer Anfang! Alles, was war, soll vergessen sein.«

Ich könnte ihn küssen.

»Und was ist das?« Jenny greift nach einem Keks in Form eines etwas verunglückten Ps und steckt ihn in den Mund.

»Seid ihr sicher, dass ihr in der Gyn richtig seid?«, fragt Ruben verletzt. »Wenn ihr nicht mal eine Nabelschnurklemme erkennt?«

Mit erstarrter Miene zieht Jenny das Gebäck wieder aus ihrem Mund. Ruben grinst über ihr leicht entgleistes Lächeln. »Ich hoffe, das ist nur Respekt vor der neuen Aufgabe – und keine Berührungsangst. Schließlich sollt ihr mit den Dingern bald so selbstverständlich hantieren wie mit euren Zahnbürsten!«

»Stimmt auch wieder!« Jenny zuckt mit den Schultern und schlingt den Nabelschnurklemmen-Keks mit einem Satz hinunter. Ruben ist zufrieden. »Der beste Weg, sich eine Sache vertraut zu machen, ist, sie zu essen«, lächelt er weise. Hab ich schon gesagt, dass er einfach toll ist?! (Sollte ich mal fragen, ob er uns demnächst die Muskelgruppen backt, die wir zum Hammerexamen am Ende des Jahres auswendig können müssen?)

Für Isa hat er übrigens eine Schere gebacken, die er sorgfältig beiseitelegt. Unserer Chirurgen-Freundin ist sicher wieder keine geregelte Mittagspause vergönnt.

»Und jetzt hopp hopp, meine Schönen«, befiehlt Ruben und schlägt die letzten Gynäkologiekekse für uns in eine Serviette ein.

Auf dem Weg zurück zur Station versuche ich durch Jenny mein Wissen über die neuen Kollegen zu vervollkommnen. Vielleicht kann sie ja wenigstens ein paar Namen ergänzen? Immerhin ist sie in den Genuss einer richtigen Vorstellung gekommen.

»Kein Problem«, lächelt Jenny. »Bei den Fachärzten gibt es eine Große, eine Dicke und eine mit Brille, dann haben wir ein paar Assistenzärzte, eine leitende Hebamme und beim Hebammenteam gibt es wohl auch Männer.«

»Ähm, Jenny …« Ich kann nur den Kopf schütteln. »Wie HEISSEN die?!« Jenny versucht mir zu verkaufen, dass die Ärzte »Dr. Brille« und »Dr. Asien« heißen und erklärt auf meinen Protest hin unbekümmert, die Alias-Namen würden uns doch viel besser weiterhelfen. Immerhin sei doch gleich klar, wer mit »Dr. Dicke Fachärztin« gemeint ist.

Auf der Gyn steht eine Bürotür offen, eine warme Stimme ruft mich hinein. Dr. Al-Sayed, die sanfte, arabische Oberärztin, deretwegen ich mich für diese Station entschieden habe.

Ich betrete ihr Büro, ein aufgeräumter Schreibtisch, zwei Sessel, warme, dunkle Farben. An der Wand hängen vier gerahmte Bilder, die jeweils nur ein Schriftzeichen zeigen. Ich habe keine Ahnung, ob das Buchstaben oder ganze Sätze sind, aber es sieht schön aus, ganz klar und doch verwunschen.

Dr. Al-Sayed begrüßt mich herzlich und fragt, wie es mir geht. Ich weiß, dass sie eigentlich eher zurückhaltend ist und habe bis heute nicht herausgefunden, warum sie ausgerechnet mich ins Herz geschlossen und von ihrer sonst strikten Trennung zwischen Beruflichem und Privatem ausgenommen hat. Doch in diesem Moment hoffe ich, dass ihre Frage nach meinem Befinden rein dienstlich gemeint ist – und nicht darauf abzielt, wie ich SEINEN Rückzug verkraftet habe.

»Ich freue mich sehr, auf Ihrer Station zu sein«, sage ich. Und sie versteht entweder, dass ich über die andere Sache nicht sprechen möchte, oder hat überhaupt nichts anderes gemeint.

»Sehr schön«, sagt sie und steht schon wieder auf. »Sie können jederzeit zu mir kommen, falls Sie etwas auf dem Herzen haben.«

Ich zögere nur kurz, dann gebe ich zu, dass ich mit der hiesigen Aufgabenverteilung oder -suche noch ein wenig unsicher bin.

Dr. Al-Sayed zuckt die Achseln. »Dr. Seidler geht davon aus, dass Sie wissen, was zu tun ist. Wenn sie Sie übersieht, halten Sie sich einfach an die Fachärzte oder an unsere Pflegedienstleitung!«

Ich nicke. Dann nimmt die Oberärztin sich doch noch einen Moment Zeit und fragt, womit ich denn meinen Vormittag verbracht habe. Ich erzähle von Frau Perkins und ihrem Mann und ernte dabei selbst von der ernsthaften Ärztin ein Schmunzeln.

»Das passiert häufiger. Solange die werdende Mutter sich nicht anstecken lässt, kommen wir damit klar«, lächelt sie. »Nehmen Sie es mit Coolness und lassen Sie sich von den nervösen Vätern nicht ablenken. Im Ernstfall machen Sie es einfach wieder so und schicken die Herren ein bisschen im Park herum.«

Ich verspreche es. Damit ist das Gespräch beendet, sie entlässt mich. Ich hätte gern nach den Schriftzeichen an der Wand gefragt, doch ich weiß, dass ein fünfminütiges Gespräch – mit Erkundigung nach dem persönlichen Befinden – sehr viel mehr ist, als PJler normalerweise von der schweigsamen, konzentrierten Oberärztin erwarten dürfen, und will dieses besondere Entgegenkommen nicht überstrapazieren.

Als ich auf der Suche nach einer neuen Aufgabe am Arztraum vorbeikomme, lerne ich die Pflegedienstleiterin Kathi kennen, eine quirlige Mittfünfzigerin, die offenbar um die Lehr- und Anleitungsqualitäten ihrer Stationsärztin weiß. »Hey, sind Sie nicht auch PJ?«, ruft es hinter mir her, und als ich stehen bleibe und bejahe, fragt sie direkt: »Haben Sie was zu tun?«

Ich erkläre, dass ich mir soeben von Schwester Evelyn eine neue Aufgabe geben lassen wollte – und steche damit offenbar in ein Wespennest.

»Und was soll DIE Ihnen sagen?«, fragt Schwester Kathi, als hätte ich vorgehabt, den Gummibaum am Ende des Ganges zu befragen. Ich stottere überfahren, dass Schwester Evelyn uns immerhin heute Morgen mit den Erstaufgaben versehen hat – als von Pflegedienstleiterin Kathi übrigens keine Spur zu sehen war. (Das sage ich aber nicht.)

Kathi schnaubt abfällig und erklärt, dass sie allein hier neben den Ärzten die Weisungsgewalt hat. Bevor sie jedoch irgendetwas weisen kann, kommt Dr. Seidler über den Flur und bittet mich im Vorbeigehen, einer Frau Dr. Zu bei der Fetometrie zu assistieren.

»Dr. Zu« heißt in Wirklichkeit »Zhōu«. (Damit ist schon mal Jennys »Dr. Asien« identifiziert und ich muss nur noch herausfinden, wer »Dr. Brille« und »Dr. Dicke Fachärztin« sind.) Unter Dr. Zhōus Anleitung verbringe ich den Nachmittag im Ultraschallraum. Wir messen den Kopfumfang der Babys im Mutterleib, den Abdomenumfang sowie die Länge des Oberschenkelknochens, Dr. Zhōu beurteilt danach das etwaige Gewicht des Fötus.

Alle werdenden Mütter sind nervös bei dieser Untersuchung, doch zum Glück stellen wir bei keinem der Babys Fehlentwicklungen fest. Wir bewerten die Lage der Babys und ihren Herzschlag und Dr. Zhōu befragt mich jedes Mal nach meiner Einschätzung, ohne mich zu blamieren, wenn ich falschliege. Am Anfang darf ich nur aufschreiben, am Ende lässt sie mich fast eine ganze Untersuchung allein durchführen. Ich könnte den Nachmittag also als Erfolg verbuchen – trotzdem bin ich zum Feierabend ziemlich erledigt. Denn jedes Mal, wenn es an die Beurteilung der Monitorbilder geht, wird es mir mulmig. Ich sehe die furchtsamen, die hoffnungsvollen und die angespannten Blicke der Schwangeren – und habe immer aufs Neue Angst, ihnen eine schlechte Nachricht überbringen zu müssen … Es geht nicht darum, es ihnen beizubringen; ich weiß, das würde Dr. Zhōu übernehmen. Aber ich möchte einfach nicht, dass es überhaupt schlechte Nachrichten gibt! Ich will, dass bei all den Frauen, die heute erleichtert gestrahlt haben, einfach alles glücklich gelingt. Und das sind sicher keine guten Voraussetzungen für eine Ärztin. Denn so wird es möglicherweise nicht kommen.

Zum Dienstschluss warten Jenny und ich im Umkleideraum auf unsere Freundin Isa. Als sie kommt, lässt sie sich noch im Kittel auf die kleine Bank sinken. »Ich hoffe, Euer Tag auf der Gyn war lehrreich«, sagt sie entschlossen. »Ab morgen arbeitet ihr nämlich wieder auf der Chirurgie.«

Wir sind ein wenig erstaunt, Isa ist im letzten Tertial doch so gut in der Chirurgie zurechtgekommen! Sie seufzt. »Dr. Thiersch ist wie immer, kanzelt die Neuen ab und pfeffert Gemeinheiten raus, dass es nur so kracht. Ich bin die Einzige, die sie heute verschont hat.«

Wir finden das großartig. Von Dr. Thierschs Bosheiten ausgenommen zu sein, ist eine Adelung, die auf jeder anderen Station etwa einem »PJler-des-Monats«-Aushang am Schwarzen Brett entsprechen würde.

»Sie hat mich auch gleich für morgen zu einer OP eingeteilt«, fährt Isa fort, »nur mich allein. Aber dafür hassen mich jetzt die anderen. Ich bin die Sabrina des neuen Tertials!« Unglücklich sieht sie uns an. Ich erinnere mich sehr gut, wie argwöhnisch wir Sabrina, die Fortgeschrittene und Oberärztinnenbevorzugte des vergangenen Tertials, beobachtet haben – die immer eine OP und hinterher Extra-Ratschläge von Dr. Thiersch bekam. Um ehrlich zu sein, sie hatte wenig Chancen bei uns. Und jetzt fällt diese Rolle ausgerechnet Isa zu.

Der »Liebling« der eisigen Oberärztin und dadurch von der Verbrüderung mit den anderen PJlern ausgeschlossen zu sein, ist nicht einfach. Jenny findet, Isa sollte die Eifersucht der neuen PJler nutzen, um als Einzelkämpferin richtig durchzustarten, doch Isa ist keine Karrieristin – sie braucht Harmonie, um sich wohlzufühlen.

»Ihr müsst einfach zurückkommen und mich gernhaben!«, bettelt sie. Wir trösten sie, so gut es geht. Die Station zu wechseln, kommt aber leider nicht infrage. Wir versprechen gemeinsame Mittagessen und allabendliches Aufpäppeln, um ihr die blöde Situation zu erleichtern. Und zum Glück gibt’s auf der Chirurgie ja noch Dr. Gode, den fröhlichen und allzeit anteilnehmenden Sunnyboy-Stationsarzt, auf dessen Mitgefühl und Auffangbereitschaft sich Isa sicher auch jederzeit verlassen kann.

Jetzt aber raus aus der Klinik, Jenny ist ungeduldig, sie hat ein Date mit Felix. Ich selbst habe es gar nicht so eilig. Die Zeiten, an denen ich den Feierabend gar nicht erwarten konnte – weil ich das Gefühl hatte, dass der wertvollste Teil meines Lebens erst anfängt, sobald ich aus dem Einflussbereich der Klinik gelangt bin – sind vorbei. Na klar, jetzt wartet keiner mehr auf mich. Ich sammle nicht mehr den ganzen Tag Gedanken und Neuigkeiten, die ich erst abends unter vier Augen an jemanden loswerden kann, der in der Klinik gleichmütig an mir vorbeisehen muss. Ich zapple nicht mehr nervös wegen jeder verlorenen Feierabendsekunde, weil sie bedeuten könnte, dass ein gewisser grüner Wagen ohne mich vom Parkplatz fahren musste. Meinetwegen können wir im Krankenhaus übernachten. Vielleicht wäre das die Lösung für Isas Problem – ich könnte meine Arbeit auf der Gyn einfach nachts erledigen (geboren wird ja immer) und tagsüber zur moralischen Unterstützung meiner Freundin in der Chirurgie arbeiten. Vorsicht, Lena, Selbstmitleid ist eine fiese Falle. Jetzt gehst du heim und lernst; gegen Melancholie hilft nur Arbeit.

Aber Isa zieht es heute auch nicht heim. »Was?!«, sagt sie empört, als Jenny sich in ihre Jacke wirft. »Wir können noch nicht nach Hause!« Isa will die Babys sehen. Diesen Wunsch können wir ihr natürlich nicht abschlagen.

Als wären wir hier die Hausherrinnen, öffnen wir für Isa die Tür zu einem der Babyzimmer. Hier liegen die kleinen Knirpse, die nicht bei ihrer Mama schlafen dürfen, in Reih und Glied in kleinen Bettchen. Isa ist gerührt. Und sagt im selben Atemzug, dass sie uns beneidet – aber niemals mit uns tauschen würde. »Dass ihr es wagt, sie anzufassen«, flüstert sie, ganz Mädchen. »Ich hätte viel zu viel Angst, ihnen wehzutun.«

Einen Moment betrachten wir still die schlafenden Neugeborenen. »Verrückt, oder?«, lächelt Isa. »Ein ganzes Leben wartet auf sie. Und sie haben noch keine Ahnung. Was meint ihr, was aus dem hier zum Beispiel wird?« Sie zeigt auf einen kleinen Jungen im gelben Strampler. Ich finde, er sieht ziemlich nachdenklich aus. »Teilchenphysiker«, schlage ich vor. Leider sagt Jenny im selben Moment vollkommen überzeugt: »Kiffer.«

Im nächsten Bettchen liegt ein Baby mit fest geballten Fäusten. »Ups, schnell weiter«, grinst Jenny. »Der hier wird sicher Inkasso-Eintreiber.«

Doch trotz der Flachserei sind wir alle drei nachdenklich und bewegt. So viele Leben, so viele Möglichkeiten. Wer weiß, vielleicht liegt hier in einem der Bettchen die Astronautin, die als Erste den Mars betritt.

Isa liest die Namensschildchen der nächsten beiden Betten vor. »Kira« und »Bengt«. »In sechzehn Jahren könnten die beiden ein Liebespaar sein«, schlägt sie vor. »Und in zwanzig Jahren haben sie sich vielleicht aus den Augen verloren.«

Jenny lacht. »Und dann heiratet sie den da.« Sie zeigt auf ein pausbackiges Baby im Bett nebenan. Friedrich-Georg.

»Genau«, albere ich mit. »Weil er so gemütlich ist. Und so knallrot, wie er aussieht, wird er es im Bahnbeamtenmetier sicher sehr weit bringen.«

»Und dann, noch zwanzig Jahre später, treffen sie sich wieder«, spinnt Isa weiter. »Aber dann ist es zu spät.«

»Wieso?« Jenny mag keine traurigen Geschichten. »Kira kann sich doch scheiden lassen. Sie und Bengt sind nun mal füreinander bestimmt!«

»Wenn wir es ihnen doch jetzt schon sagen könnten«, lächelt Isa. Ja, wir könnten allen dreien viel ersparen. »Er ist der Richtige, Kira, lass dich nicht verunsichern«, flüstere ich dem winzigen, schlafenden Mädchen zu.

In diesem Moment erwacht Friedrich-Georg, der zukünftige Bahnbeamte im gehobenen Dienst und Vernunfts-Zwischen-Ehemann von Kira, und beginnt, wie am Spieß zu brüllen. Zehn Sekunden später steht eine Schwester in der Tür. Sie fragt, was wir hier zu suchen haben. Isa entschuldigt sich. Doch bevor die Schwester Friedrich-Georg beruhigen kann, hat der Bahnvorsteher in spe fast all seine Kumpels geweckt. Die Schwester wird jetzt richtig sauer und faucht uns an, ob wir sicher sind, dass so ein hirnfordernder Job das Richtige für uns ist und ob wir wüssten, wie viel Arbeit wir ihr mit unserem Besuch gemacht haben – dabei hatte sie sich gerade mal eine Minute hingelegt.

»Und ich steh im Halteverbot!«, jammert Jenny plötzlich mitten in die Schimpfkanonade der Schwester. Die nervöse Kinderschwester versteht natürlich nicht, warum wir daraufhin in unaufhaltbares Gekicher ausbrechen, aber wir müssen noch in der S-Bahn immer wieder loslachen.

Zu Hause verschwinden meine beiden Freundinnen in Liebesangelegenheiten; Jenny wird von Felix ausgeführt und Isa verbarrikadiert sich hinter ihrem Computer, um Tom im allabendlichen Skype-Telefonat von ihrem ersten Arbeitstag zu berichten. Ich bleibe in der Küche sitzen und führe mir – Vorsatz ist Vorsatz – das erste Buch von dem Gynäkologielehrbücherstapel zu Gemüte, den ich am Ende des Tertials abgearbeitet haben möchte. Von der Straße herauf dröhnt das Grollen von Felix’ Motorrad. Ich weiß, wie begeistert Jenny sich jetzt an ihn klammert, während sie durch Berlin brausen. Aus dem Nebenzimmer tönt Isas Stimme, ich höre sie lachen, das wird ein langes Gespräch. Und meine einzige Gesellschaft ist das Kapitel »Notfallsituationen in der Gynäkologie«. Ich werde es vor Isa und Jenny sicher nicht zugeben, aber ich bin definitiv ein bisschen neidisch auf die beiden.

Tja, wer zu spät kommt …«, begrüßt mich Schwester Evelyn am nächsten Morgen mit bedauerndem Halblächeln. Ich sehe zur Uhr – was meint sie? Es ist Punkt acht! Jenny, die sich meist nur dann angegriffen fühlt, wenn sie nicht gemeint war, schnaubt die Schwester an. Doch es stellt sich heraus, dass ich nicht zur Arbeit zu spät komme, sondern zu Frau Perkins’ Entbindung.

Heute Morgen gegen vier Uhr hat es angefangen, sie ist bereits seit fast vier Stunden im Kreißsaal. Oh Mann! Gibt es eine Chance, dass ich noch dabei sein darf?

Evelyn zuckt die Schultern, das kann sie nicht entscheiden. Ich eile auf die Station und finde Pflegedienstleiterin Kathi. Die Mitteilung, dass ich gern in den Kreißsaal ginge, Evelyn aber leider keine Entscheidungsgewalt darüber hat, ist genau die richtige Taktik.

»Geh ruhig«, sagt sie gönnerhaft. »Schließlich sollt ihr hier auch was lernen.« Ich muss nur versprechen, zur Visite wieder da zu sein. Die Allmacht, mich davon auszunehmen, scheint auch Kathi nicht zu haben. Ich bedanke mich und stürze Richtung Kreißsaal 3.

»Moment«, bremst die Gedankenstimme meinen Eilflug über den Flur. »Willst du das wirklich? Bist du schon bereit dafür?«

Aber ja! Deshalb bin ich doch hier! Trotzdem muss ich einen Augenblick Luft holen. Ich erinnere mich an meine erste OP-Erfahrung im letzten Tertial. Das wollte ich auch so unbedingt, doch dann hat mich der Unterschied zwischen theoretischer Vorbereitung und Selbst-Hand-Anlegen umgehauen: Ich bin am OP-Tisch zusammengeklappt wie eine dieser Spielzeug-Drückfiguren aus Holz.

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