Miss Emergency 5: Überdosis Schmetterlinge - Antonia Rothe-Liermann - E-Book

Miss Emergency 5: Überdosis Schmetterlinge E-Book

Antonia Rothe-Liermann

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Beschreibung

Exklusiv im E-Book: ein bisher unveröffentlichtes Kapitel aus Band 1, "Miss Emergency - Hilfe, ich bin Arzt" Ärzte-Olymp, ich komme! Mit frisch gestärktem Kittel tritt Lena endlich ihren Dienst am St. Anna an. Nicht als PJlerin, nicht als Aushilfe im Nachtdienst, sondern als echte und weltbeste Frau Doktor! Auf Augenhöhe mit Dr. Thalheim - da sind Komplikationen natürlich vorprogrammiert. Erste Hilfe wartet auf Wolke 7 bzw. in Person eines ganz besonderen Patienten im Wartezimmer ...

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Buchinfo

Patienten, ich komme! Als frisch gebackene Assistenzärztin tritt Lena endlich ihren Dienst am St. Anna an. Und zwar gleich mitten in der Notaufnahme! Doch es ist gar nicht so einfach, sich als weltbeste Ärztin zu beweisen – besonders, wenn man Seite an Seite mit Dr. Thalheim arbeitet. Und so stehen im Leben und in der Liebe noch einmal alle Zeichen unverhofft auf Anfang.

Die Krankenhausserie mit Herzklopfen-Garantie.

Autorenvita

© privat

Antonia Rothe-Liermann, geboren 1978 in Halle/Saale, studierte Film- und Fernsehdramaturgie an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) in Potsdam-Babelsberg. Danach arbeitete sie als Storyliner und Autorin für verschiedene Produktionen der Grundy UFA und teamworx. Seit 2007 schreibt sie als freie Autorin für Spielfilme und Serienproduktionen. Sie verfasste u. a. als Co-Autorin Drehbücher für die RTL-Erfolgsserie »Doctor’s Diary« (Chefautor: Bora Dagtekin).

Dankean Euch alle, die Ihr mit Lenadie Nächte durchwacht habt.

Noch ein Stück Kirschtorte, bitte!«

Kirschtorte, ah ja. Hab ich hier vorn in der Auslage. Jetzt nur schön vorsichtig auf das Papptellerchen heben. Wenn das Stück umfällt, vermatscht es. Und die Kundin sieht nicht sehr geduldig aus.

Moment mal, Lena, was tust du hier? Stehst du wirklich gerade im weißen Bäckerinnenkittel hinter einer Tortenauslage?

Ach ja, ich bin Verkäuferin geworden. Bäckereifachverkäuferin. Nachdem das mit dem Medizinstudium in letzter Sekunde gescheitert ist. Ich erinnere mich nicht mehr genau, WIE es kam. Aber DASS es so kam, beweist ja die Tatsache, dass ich hier stehe und um Torte gebeten werde.

Anstrengend ist er, mein neuer Beruf. Ich bin hundemüde. Kein Wunder, ich fange jetzt immer mitten in der Nacht an zu arbeiten.

»Schläft sie?«

Nein, liebe ungeduldige Kundin, sie schläft nicht. Sie ist nur langsam, weil müde. Und weil es nicht ganz leicht ist, Tortenstücke unfallfrei auf Papptellerchen zu heben, wenn einem vor Übermüdung die Hände zittern. Und man zu allem Überfluss statt eines Tortenhebers nur eine Diagnostik-Lampe zur Verfügung hat. Die zu rund ist und zu kurz, um damit Torte aus der Auslage zu hebeln. Sie ist für ganz andere Dinge geschaffen. Dafür, den Mund-Rachen-Raum zu untersuchen. Soll ich etwa der Kundin in den Rachen leuchten? Erst mal kontrollieren, ob da nicht noch ein Stück Torte quersteckt? Warum zur Hölle stehe ich mit einer Diagnostik-Lampe hinter dem Kuchentresen?!

»Frau Weissenbach, nein! Sie dürfen nicht schlafen!«

Ich schlafe doch nicht, ich ARBEITE! Nur langsam …

Jemand rüttelt mich an der Schulter.

»Möchten Sie auch noch ein Stück Kirschtorte?«

Mein linkes Auge öffnet sich einen winzigen Spalt. Das hier ist nicht der Bäckereitresen. Ich setze mich mit einem erschrockenen Satz gerade hin. Aua, mein Rücken! Die Nacht in der Backstube hat ihm einiges abverlangt.

Nein, Lena. Keine Backstube. Das hier ist der Arztraum. Schwester Rita beugt sich über mich, rüttelt noch einmal an meiner Schulter, sodass meine Zähne aufeinanderklappern.

»Sie dürfen nicht schlafen!«

ICH SCHLAFE DOCH GAR NICHT!

Schwester Anne hebelt ein Stück Torte auf ein Tellerchen und hält es mir unter die Nase. »Hier, nehmen Sie noch eins!«

Schwester Rita hat gebacken. Für mich. Zur Feier meiner ersten alleinverantwortlichen Nachtschicht.

Nein danke, Schwester Anne. Ich will keinen Kuchen mehr. Ich will schlafen.

Seit zehn Uhr abends bin ich hier. Mittlerweile zeigt die bunte Uhr, die im Arztraum über der Tür hängt, fast drei. Um drei ist mein toter Punkt. In den letzten vier Wochen, in denen ich an der Seite des jeweiligen Nachtschicht-Verantwortlichen meine Eingewöhnungszeit in der Notaufnahme verbracht habe, kam das fiese Tief immer gegen drei.

Aber heute bin ich es. Die Nachtschicht. Ganz allein. Zum ersten Mal. Und für die Nachtschicht-Verantwortliche Lena gibt es nur eine Regel: nicht einschlafen. Bis acht Uhr morgens.

Ungeklärt ist nur, warum dann so gemein-gemütliche Sessel im Arztraum stehen. Und warum ich mich hingesetzt habe.

One … two … three … Bevor der Ringrichter mich auszählt, bin ich wieder auf den Beinen. Ich schwanke … aber ich stehe. Der Kampf kann weitergehen.

Notaufnahmeärztin Lena Weissenbach. In der Facharztausbildung zur Internistin. Fünfte Woche. Leicht angeschlagen. Aber entschlossen.

Während des PJs habe ich nie ernsthaft geplant, Internistin zu werden. Schon gar nicht in meinem Tertial auf der Inneren. Doch kaum hatte ich meine Approbation in der Hand, schien alles klar. Dass ich zur Chirurgin nicht tauge. Dass Gynäkologin ein schöner, dankbarer Beruf ist, ich mir aber etwas Abwechslungsreicheres erhoffe. Innere Medizin ist ein Fach, das ich mir tatsächlich als lebenslange Aufgabe vorstellen kann.

Als ich meinen Plan kundtat, haben meine Freundinnen die Augenbrauen gerunzelt. Also Isa hat gerunzelt, still und nachdenklich. Jenny hat dazu ein lautes, entsetztes »Spinnst du?!« trompetet – und mir kopfschüttelnd vorgehalten, was meinem neuen Lebensplan entgegenstehen könnte. Nichts Fachliches, nein. Aber: Tobias, der Oberarzt der Inneren, wäre mein Vorgesetzter, mein Ausbilder.

Tobias, mit dem mich zugegeben eine etwas schwierige Geschichte verbindet. Ein Zusammen-Sein. Eine Trennung. Eine Rückkehr. Eine Absage. Eine schwierige Wiederannäherung als Freunde. Irritierende Traum-Besuche seinerseits, mitten in meinen Vor-Prüfungs-Nächten.

Aber ich bin überzeugt, dass die seltsame Nicht-Beziehung zum Oberarzt und unsere neue, noch etwas wacklige Freundschaft meinem Wunsch, Internistin zu werden, nicht im Weg stehen.

Okay, ich fange nicht nur in der Notaufnahme an, weil das die schwierigste Herausforderung ist. Sondern auch, weil selbst mir ein bisschen unwohl war bei dem Gedanken, vom ersten Tag an bis zum Ende meiner Facharztzeit rund um die Uhr mit Tobias zusammen zu sein.

Ja, ich hätte an eine andere Klinik wechseln können. Aber am St. Anna kenne ich schon alle Kollegen, ich will nicht noch mal umziehen und ich weiß, dass ich an diesem Krankenhaus eine erstklassige Ausbildung bekomme. Mit Tobias hat das nichts zu tun. Schon vergessen, Jenny – ich HABE einen Freund.

Alex. Der immer für mich da ist. Der jeden Tag zu etwas Besonderem machen kann. Den ich bloß in den vergangenen vier Wochen sehr selten gesehen habe.

Doch, GESEHEN habe ich ihn. Mit einem halben, müden Auge. Wenn ich abends nach der Tagschicht wie erschossen ins Bett fiel. Oder morgens nach der Nachtschicht schon im Bad eingeschlafen bin. Zweimal hat er mich nach den ersten drei Schlucken Wasser aus der Badewanne gezogen … bis ich eingesehen habe, dass Baden nach der Schicht nur von Weitem entspannend wirkt, tatsächlich aber lebensgefährlich ist.

Der Tagschicht-Nachtschicht-Wechsel ist das Gemeinste an meinem neuen Job. Nach einer Nachtschicht hat man den Rest des angebrochenen Tages zwar frei, verschläft den aber. Die wenigen verbleibenden Stunden sind dann im Verkehrte-Welt-Modus, Aufstehen am Nachmittag, Frühstück zur Kaffeestunde. Und am nächsten Morgen hat man dann meist schon wieder die Tagesschicht.

Tagschicht ist mein Stichwort. Noch fünf Stunden, dann beginnt sie. Knapp fünf Stunden bin ich hier noch allein. Bisher ist die Nacht gut verlaufen. Zwei Platzwunden, eine leichte Lebensmittelvergiftung, ansonsten blieb es bisher ruhig. Nichts, was ich nicht schon einmal gesehen habe.

Denn das wäre momentan das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann: dass mir ein Patient unterkommt, dem ich nicht allein helfen kann. Ja, ich weiß, theoretisch kann ich alles. Ich habe das Studium überstanden, das PJ, das Hammerexamen. Meine Approbation sagt: Konfrontieren Sie diese Ärztin mit was auch immer, sie kann Ihnen in jedem Fall helfen.

Aber ich schwöre, es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man als PJlerin ein paar Fälle nach Absprache betreuen darf oder plötzlich für eine ganze Station zuständig ist. Noch dazu für die Notaufnahme!

Natürlich kann ich mich mit den Oberärzten absprechen – als Alleinverantwortliche habe ich einen Arzt im Hintergrund, den ich jederzeit anrufen kann und der mir dann zu Hilfe eilt. In spätestens einer Viertelstunde wäre er hier und würde übernehmen.

Nur will man ja nicht bei jedem Schritt fragen. Und eigentlich muss ich das auch nicht … Es ist nur nicht ganz leicht, so schnell so viel Zutrauen in das eigene Können zu entwickeln, wenn man erstens Anfängerin ist, zweitens keinen Hang zu unbeschwerter Selbstüberschätzung hat und drittens enorm unter Druck steht, weil die Entscheidungen, die man möglicherweise falsch trifft, die Gesundheit oder gar das Leben der Patienten gefährden könnten!

Der »Hintergrund«, der mir heute zugeteilt wurde, ist Dr. Ross. Und die möchte ich wirklich nur anrufen, wenn mir ein Fall unterkommt, mit dem ich absolut nicht umgehen kann. Eine Diagnose, die ich noch nie außerhalb eines Lehrbuchs gesehen habe. Oder eine Therapie, die ich noch nie gemacht habe. Oder falls es einfach … schlimm ist. Mir Angst macht. Mich überfordert. Auf Anhieb fallen mir 50 Dinge ein, die mich überfordern könnten. Denk nicht daran, Lena!

Bisher hast du heute Nacht alles allein entscheiden können. Denk nicht darüber nach, was passiert, wenn du dich zwischen Ich weiß, was zu tun ist und Hier sollte ich lieber nachfragen falsch entscheidest.

Fest steht: Für Angst ist in meinem neuen Job kein Platz.

Zum Glück sind mir heute Nacht zwei erfahrene Schwestern zur Seite gestellt worden.

Im Vorhinein haben mich viele gewarnt: All die anderen Klinikangestellten, die mich bisher nur als Studentin kennen, schalten keineswegs plötzlich auf ernstzunehmende Ärztin um. Aber heute bin ich froh, dass Schwester Rita und Schwester Anne sehr gut wissen, dass es meine erste Nacht ist. Nicht nur, weil sie Torte für mich gebacken haben. Auch, weil Schwester Rita den gerade angekündigten Notfall mit den beruhigenden Worten übermittelt: »Alkoholvergiftung. Kein Problem. Offenbar nicht die schlimmste Sorte und kein Minderjähriger.«

Das Meldesystem informiert uns, dass der Patient 32 und männlich ist, 2,9 Promille hat und in drei Minuten hier sein wird. Er ist noch ansprechbar und kreislaufstabil, es wird kein Schockraum benötigt.

Wenn Patienten selbstständig in die Notaufnahme kommen, bin ich auch für die Erstdiagnose zuständig. Werden Patienten mit dem Rettungswagen gebracht, weiß ich wenigstens schon im Voraus, was mich erwartet. Zwei Minuten bleiben mir, um mein inneres Lehrbuch zu checken. Eine Alkoholintoxikation entsteht ausschließlich durch übermäßigen Alkoholgenuss. Ab 2 Promille kommt es zu eingetrübtem Bewusstsein bei aufgehobenem Erinnerungsvermögen. Lebensgefahr besteht bei Erwachsenen ab etwa 4 Promille, der Mann hat 2,9, ich muss also wirklich nicht mit dem Schlimmsten rechnen.

Vitalfunktionen sichern!, mahnt mein inneres Lehrbuch. Bei Bewusstlosen immer auch an Hypoglykämie denken! Moment, bewusstlos ist er nicht. Aber das hier könnte noch wichtig sein: Auf Verletzungen achten! Der Betrunkene könnte gestürzt oder vielleicht sogar in eine Schlägerei geraten sein. Die Leitstelle hat davon nichts erwähnt …

Noch eine Minute. Kannst du das, Lena? Sicher? Jawohl, nicke ich mir Mut zu, Alkoholintoxikationen habe ich schon etwa 18-mal behandelt. Ich muss mir nur noch einmal sagen, dass Schwester Rita so etwas schon 800-mal gemacht hat. Und Dr. Ross muss ich auch für diesen Fall nicht aus dem Bett klingeln.

Der Rettungswagen fährt vor.

Die Sanitäter schieben den Mann auf einer Trage in den Aufnahmeraum. Der Patient ist ansprechbar, auch wenn seine Antworten auf meine Fragen unzusammenhängend und nur schwer verständlich sind. Ihm scheint vor allem wichtig, mir mitzuteilen, dass er nur zwei Bier getrunken hat. Höchstens drei.

Ich überlege kurz, was es bedeuten würde, falls das stimmt. Es könnte sich um eine Doppelvergiftung handeln; vielleicht hat er noch etwas anderes eingenommen? Dank der Blutwerte können wir das ausschließen. Okay, dann waren es wohl doch mehr als zwei bis drei Biere.

Verletzungen oder Prellmarken von einem Sturz wurden nicht festgestellt; der Patient war allerdings leicht unterkühlt; das Rettungsteam hat ihn auf der Straße aufgelesen.

Wir halten die Atemwege frei und geben Sauerstoff. Ich kann bei der körperlichen und neurologischen Untersuchung keine gravierenden pathologischen Veränderungen feststellen. Also müssen wir auch nicht röntgen.

Der Mann muss seinen Rausch ausschlafen und wird währenddessen am Monitor überwacht. Wenn er wieder gangstabil und vollständig orientiert ist, dürfen wir ihn entlassen. Bis dahin bleibt er unter Beobachtung. Das Letzte, was ich von ihm sehe, bevor Schwester Anne die Liege aus dem Untersuchungsraum schiebt, ist seine zitternd erhobene Hand, mit der er mir zwei Finger zeigt. Schon klar. Nur zwei Bier.

Na bitte, Frau Weissenbach, das hast du doch ziemlich vorbildlich hingekriegt. Belohnung, Belohnung, BELOHNUNG! Ein Stück Kirschtorte. Eine Minute hinsetzen. BEIDES!

Die Kombination aus Sessel UND Torte bewahrt mich vor den gefährlichen Folgerisiken des Hinsetzens. Denn sollte die Sitz-Gemütlichkeit wieder unkontrolliertes Einschlafen provozieren, würde die Entspannung der Halsmuskulatur dazu führen, dass mein Gesicht mit dem auf meinen Knien abgestellten Torten-Teller kollidiert. Und die Aussicht, dann dem nächsten Patienten als Charlie-Chaplin-Sahnegesicht gegenübertreten zu müssen, ist so abschreckend, dass all meine Kopf-Stütz-Muskeln zur Verhinderung dieser Peinlichkeit ihre letzten Kräfte mobilisieren.

5 Uhr 52. Noch zwei Stunden bis Bett.

Es ist komisch. In einer Sekunde bin ich Schlaf-Augen-Lena, Schlurf-Lena, Halb-Traum-Lena … doch in der nächsten Sekunde wird der innere Einschlaf-Alarm vom äußeren Notfall-Alarm übertönt – und in mir richtet sich diese andere Lena auf, Frau-Weissenbach-ein-Kreislaufkollaps-Lena, Notärztinnen-Lena, Hellwach-Lena. Sie streckt sich einmal, bis sie meinen Körper vollständig ausfüllt, und übernimmt dann Denken und Handeln.

Ein Kollaps kann unterschiedliche Ursachen haben, Medikamente oder Unterzuckerung, aber auch Herzrhythmusstörungen oder gar Hirndurchblutungsstörungen. Notärztinnen-Hellwach-Lena eilt los zur Diagnostik.

Am Empfang steht ein nervöser junger Mann. Er bringt seine Freundin, sie ist vorhin kurz ohnmächtig geworden, beide machen sich Sorgen. Notarzt-Lena erläutert den Zusammenhang zwischen einem kurzen Abfall des Herzminutenvolumens und einer Ohnmacht. Die zwei waren in einer Disco und auf meine Frage, ob es dort heiß war, fächeln beide synchron illustrierend mit den Händen. Gut, dann vermute ich einen kleinen Hitzekollaps. Notarzt-Lena klärt trotzdem alles andere ab. EKG-Registrierung, Blutzuckermessung, neurologische Untersuchung. Ich finde keine Anzeichen für eine Herzrhythmus- oder gar eine Hirndurchblutungsstörung und kann die beiden beruhigen. »Gehen Sie nach Hause, legen Sie sich hin, trinken Sie viel und ruhen Sie sich einfach aus, okay?« Die zwei nicken, der Mann hakt seine Freundin unter und Arm in Arm verlassen sie das Zimmer. (Und weil Notarzt–Lena sich eine ganz kurze Verschnaufpause gönnt, ist in meinem Kopf eine Sekunde lang Platz für Mädchen-Lena, die sich wünscht, dass sie innerhalb der nächsten 24 Stunden auch mal Gelegenheit findet, ihren eigenen Freund zu sehen.)

Schwester Rita geht sich ein letztes Stück Torte einverleiben. Und ich darf meinen Weiterbildungskatalog mit einem EKG füttern.

In den kommenden fünf Jahren werde ich diesen Katalog vollsammeln. Alle Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die ich können muss, um Facharzt zu werden, sind hier eingetragen. Natürlich genügt nicht ein einziges EKG. Manche Behandlungen muss man 20-mal absolviert haben, andere 200-mal. Die Richtzahl für Elektrokardiogramme ist 500. 500 minus 1 sind 499. Du näherst dich deinem Ziel im Mars-Raketen-Tempo, Lena!

Nun gut, heute Nacht ist die Rakete ziemlich klein. Winzig. Sie hat höchstens Überraschungsei-Größe. Und auch nur die Beschleunigungskraft von einem dieser kleinen Plastik-Spielzeuge. Auch deren Stabilität. Aber man kann doch erkennen, dass es eine Rakete sein soll. Wenn ich noch Kraft übrig hätte, würde ich sie schieben.

Okay. Wenn man beginnt, sich ernsthaft Gedanken über die Schubkraft von schlecht zusammengebautem Überraschungsei-Spielzeug zu machen – das noch dazu nicht mal real vorhanden ist –, sollte man das definitiv als Warnsignal deuten. Wiu-wiu-nööt-nööt: Müdigkeits-Alarm, höchste Stufe! Jetzt bitte nicht mehr hinsetzen. Denn jetzt scheint ein Charlie-Chaplin-Arzt-Auftritt plötzlich ein durchaus akzeptabler Preis für eine Schlafminute zu sein.

Doch als ich den Arztraum verlasse, klingt das schönste Geräusch der Welt an mein Ohr. Das schönste, beruhigendste Geräusch für Anfänger-Ärztinnen. Stimmen und Schritte, eilige und verschlafene. Da kommt sie: die Tagschicht. Sie sind schon im Haus. Die Erfahrenen, die alten Hasen, die Durch-nichts-zu-Schreckenden. Noch haben sie ihren Dienst zwar nicht angetreten – aber sie sind schon hier. Was immer jetzt noch passiert: Ich bin nicht mehr allein damit.

Und das gibt mir so viel Kraft, dass ich den letzten Patienten meiner Schicht, eine Knöchelverstauchung, ganz allein und im Handumdrehen versorgen kann. Sogar ohne mich ein einziges Mal bei Schwester Rita zu versichern.

Und dann ist Schicht-Ende. Meine erste Alleine-Nachtschicht ist überstanden.

Fast.

Fast vergessen hätte ich die morgendliche Stationsübergabe. Noch einmal muss ich alle Konzentration zusammennehmen, die letzten Reserven mobilisieren. Und im Konferenzraum der Inneren antreten. Vor dem ausgeschlafenen Tagschicht-Team wiederhole ich noch einmal die ganze Nacht, jeden Patienten, jede Behandlung.

Nein, Tobias ist nicht da. In den letzten vier Wochen habe ich ihn nur zweimal gesehen. Einmal, als er mir gratuliert hat. Zu meiner Entscheidung, Internistin zu werden. Und einmal, als wir uns zum Schichtwechsel in der Halle begegnet sind. Ein »Guten Morgen« – »Gute Nacht« vor allen, dann ist er weitergegangen.

Ganz so stabil ist unsere Freundschaft also vielleicht doch noch nicht. Auf jeden Fall war es nicht das Allerverkehrteste, in der Notaufnahme anzufangen – und nicht auf SEINER Station …

Na ja, Lena, sooo übermüdet kannst du wohl doch nicht sein, wenn du noch Hirnraum frei hast, um über Tobias zu grübeln. Obwohl: besser jetzt, als nachher im Schlaf. Seine REM-Phasen-Besuche waren in den letzten Monaten nicht im angenehmsten Sinne der Traum meiner schlaflosen Nächte.

Schlafen. Jetzt. Bald.

Ich bin seit gefühlt einer Woche wach. Und nicht nur anwesend-wach. Knöchelverstauchungsversorgungs-wach. Erstes-Katalog-EKG-wach!

Ach ja, der Herr mit den zwei Bieren. Den muss ich noch erwähnen, dann dürfte das alles gewesen sein. Von der Inzision der Kirschtorte wollen sie ja wohl nichts hören. Mit einem Seufzer beende ich meinen Rapport.

Noch etwa neun Kilometer bis zu meinem Bett.

»Und?«, fragt der alte Dr. Stehlke. »Zwischendurch nicht eingeschlafen?«

»Wo denken Sie hin?!«, entgegne ich. Er klopft mir anerkennend auf den Rücken. Ich schaffe es gerade so, davon nicht umzufallen. Nicht, weil er so kräftig ist. Aber meine Beine sind nur noch zur Zierde da, sie schwanken bedenklich – und wenn ich jetzt hinfalle, bleibe ich hier als Konferenzraum-Dornröschen auf dem Linoleumboden liegen bis übermorgen.

Liegen. Herrlich. Mir wäre egal, wo.

Linoleum. Ist doch sicher ausreichend weich. Sieht regelrecht kuschelig aus. Ich leg mich einfach hier hin …

»Gehen Sie nach Hause«, sagt Dr. Ross. »Sie sind schon ganz durchsichtig.«

Weiß die, wie weit es bis nach Hause ist?! Und wie gemütlich der Linoleumfußboden im Konferenzraum?!

Nein, Lena, Haltung! Die erwachsene Ärztin, die du sein möchtest, hat auf jeden Fall so viel Kraft und Selbstbeherrschung, sich in ein Bett zu schleppen, und liegt ihren Kollegen nicht als komatöse Stolperfalle im Weg rum.

Ich schleiche zu meinem Spind. Kittel aus, Jacke an.

Auf dem Weg aus dem Umkleideraum steht mir plötzlich jemand gegenüber, der mir einen Heidenschreck einjagt. Ein grün-bleiches Gesicht, in dem lila Augenringe einen hübschen Farbkontrast bilden. Wie ein Vorhang aus dünnen Teppichfransen hängen die Haare in das Gesicht. Und nicht die gekämmte Art Teppichfransen.

Ich habe es geahnt: Als ich einen entsetzten Schritt zurücktrete, tut die Gruselgestalt dasselbe.

Wie kann jemand so grausam sein, einen Spiegel in den Umkleideraum zu hängen?! Wieso habe ich hineingesehen?! Ob ich den S-Bahn-Fahrgästen überhaupt noch zugemutet werden kann? Ich sehe aus, als sollte ich lieber mit der Geisterbahn heimfahren.

Heim. Mein Stichwort.

Ich wanke zur S-Bahn. Noch 28 Minuten bis Bett. Sich hinzusetzen und dem monotonen Geschunkel der S-Bahn zu überlassen, war ein Fehler, denn als ich erwache, sagt die automatische Stationsansage: »Ahrensfelde. Dieser Zug endet hier.« Und ich bin wieder 24 Minuten Fahrzeit von meinem Bett entfernt.

Ich bleibe sitzen, bis der Zug zurück in die Stadt fährt. Und versuche krampfhaft, nicht auszurechnen, wie viel von meiner knappen Zwischen-Schicht-Regenerationszeit dieser Extra-Ausflug verschlingt. Diesmal schlafe ich schon ein, bevor das Geschaukel einsetzt. Aber diesmal fahre ich nur eine Station zu weit. Glücklicherweise – sonst hätte ich gleich zurück zum Krankenhaus fahren können. Zwischen den Schichten ein bisschen S-Bahn-Schaukel-Schlaf, das genügt doch. Ich müsste nur ein paar frische Klamotten in verschiedenen Waggons deponieren. Und ich hätte mir etwas von der Kirschtorte einpacken lassen sollen.

Geschafft! Der Hundebesitzer aus dem ersten Stock hält mir die Haustür auf. Ich sehe ihm deutlich an, dass er mich für eine späte Party-Heimkehrerin hält – und unterdrücke den Reflex, zu fragen, ob er mich nach oben trägt. Stattdessen ziehe ich mich die Treppe hinauf. Noch höchstens zehn Meter Luftlinie trennen mich von meinem Bett.

Und eine Tür.

Zu der ich leider gerade den Schlüssel nicht finden kann. Wie immer sind unfassbar viele Dinge in meiner Tasche, von deren Besitz ich nur eine blasse Ahnung habe: Labello, Streichhölzer, Stifte, Fieberthermometer. Fieberthermometer?! Eine Kette, Kopfhörer, Handy, Taschentücher. Kein Schlüssel. Ich drücke die Klingel. Keine Reaktion. Ich klingle Sturm. Irgendjemand muss doch zu Hause sein! Isa und Jenny sind momentan beide Langschläfer – aber nicht taub! Mädels, wo seid ihr?!

Ich rufe unsere Telefonnummer an, höre es drinnen läuten, so nah und doch unerreichbar. Und unbeantwortet.

Ich sinke auf die Treppe. Ich werde hier bleiben, bis mich jemand abholt. Die Zuständigen für Lena Weissenbach werden gebeten, sie im Treppenhaus einzusammeln.

»Und wat soll det hier werdn, wennet fertich is?«

Ich schrecke hoch; ein Wischmob voller klebrig-nasser Staubflusen stoppt direkt vor meinem erschöpft-schweren Kopf, der kurz ans Geländer gesunken ist. Ich sehe hoch in das empörte Gesicht der Putzkraft und erkenne, dass ich der Hausreinigung im Weg bin. Sammeln Sie mich doch einfach mit ein. Die haben vergessen, mich abzuholen. Mich hat keiner lieb.

Lesen Sie weiter in der vollst?ndigen Ausgabe!

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