Miss Swans zauberhafte Pension für magische Gäste - Sangu Mandanna - E-Book

Miss Swans zauberhafte Pension für magische Gäste E-Book

Sangu Mandanna

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Beschreibung

Mürrische Hexe trifft wortkargen Historiker – die perfekten Voraussetzungen für einen bezaubernden Roman voller Wärme, Humor und Liebe.

Sera Swan hätte die mächtigste Hexe Englands werden können. Aber aus Liebe beging sie einen unverzeihlichen Fehler und verlor ihre Magie. Seither leitet sie eine kleine Pension in Lancashire und kümmert sich um ihre außergewöhnlichen Gäste. Da entdeckt sie eine Möglichkeit, ihre Fähigkeiten zurückzugewinnen. Doch dafür benötigt sie die Unterstützung des abweisenden Historikers Luke Larsen. Der hat allerdings ganz eigene Gründe, sich nicht in die Machenschaften einer gewissen grummeligen Gastwirtin zu verstricken. Und niemand ist überraschter als er selbst, als er es doch tut – und es genießt.


Herzerwärmend, magisch, geheimnisvoll – verpassen Sie auch nicht Sangu Mandannas in sich abgeschlossenen Roman »Miss Moons höchst geheimer Club für ungewöhnliche Hexen«.

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Seitenzahl: 456

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Buch

Sera Swan hätte die mächtigste Hexe Englands werden können. Aber aus Liebe beging sie einen unverzeihlichen Fehler und verlor ihre Magie. Seither leitet sie eine kleine Pension in Lancashire und kümmert sich um ihre außergewöhnlichen Gäste. Da entdeckt sie eine Möglichkeit, ihre Fähigkeiten zurückzugewinnen. Doch dafür benötigt sie die Unterstützung des abweisenden Historikers Luke Larsen. Der hat allerdings ganz eigene Gründe, sich nicht in die Machenschaften einer gewissen grummeligen Gastwirtin zu verstricken. Und niemand ist überraschter als er selbst, als er es doch tut – und es genießt.

Autorin

Sangu Mandanna war vier Jahre alt, als ein Elefant sie auf einem Waldweg verfolgte und sie beschloss, ihre erste Geschichte darüber zu schreiben. Siebzehn Jahre und viele, viele Manuskripte später unterzeichnete sie ihren ersten Buchvertrag. Sangu lebt heute mit ihrem Mann und ihren Kindern in Norwich, einer Stadt im Osten Englands.

Von Sangu Mandanna bereits bei Penhaligon erschienen

Miss Moons höchst geheimer Club für ungewöhnliche Hexen

Miss Swans zauberhafte Pension für magische Gäste

SANGU MANDANNA

Miss Swans zauberhafte Pension für magische Gäste

Roman

Deutsch von Wolfgang Thon

Die Originalausgabe erschien 2025 unter dem Titel »A Witch’s Guide to Magical Innkeeping« bei Berkley, New York 2025.

Der Verlag behält sich die Verwertung des urheberrechtlich geschützten Inhalts dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen

Copyright der Originalausgabe © 2025 by Sangu Mandanna

This edition published by arrangement with Berkley, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Penhaligon

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR.)

Redaktion: Angela Kuepper

Umschlaggestaltung und Illustration: © Max Meinzold,

www.meinzold.de

HK · Herstellung: fe

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 9783641338053

www.penhaligon.de

Dies ist für das vergangene Ich, für all die Male, die es trotzdem weitergemacht hat. Mein zukünftiges kriegt es endlich hin.

Kapitel 1

Es war nicht gerade das ideale Wetter für die Wiederauferweckung ihrer Großtante, aber auch wenn Sera Swans magische Kraft beeindruckend war, hatte sie nicht den geringsten Einfluss auf den unanständig blauen Himmel. Der Herbst war gerade erst im Nordwesten Englands angekommen und brachte einen für die Jahreszeit untypisch fröhlichen Himmel mit sich, Blätter in geröstetem Gold und verbranntem Orange und, das war das Schlimmste, eine Leiche im Garten hinterm Haus.

»Du solltest dir erst mal ein Tässchen Tee genehmigen«, merkte Clemmie an. »Du bist ja völlig durcheinander. Du kannst keine Leute auferstehen lassen, wenn du ganz fleckig im Gesicht und verheult bist.«

Sera beschloss, diese Beleidigung samt ihrer zweifelhaften Logik zu ignorieren. »Bist du sicher, dass es funktioniert?«

»Würde ich dich anlügen?«

»Du hast mich vor nicht mal einer Stunde angelogen, als du mir weismachen wolltest, dass die Zahnfee die letzte Erdnussbutter aufgegessen hat. Die Zahnfee? Für wie alt hältst du mich?«

»Jaja, in Ordnung«, ruderte Clemmie hastig zurück. »Möglicherweise hat man mir früher vorgeworfen, dass ich gelegentlich flunkere, aber diesen Teil meiner Vergangenheit habe ich jetzt hinter mir gelassen.«

Sera war sich ziemlich sicher, dass selbst ein völlig unbeweglicher Felsbrocken größere Chancen hätte, etwas hinter sich zu lassen, als Clemmie, beschloss jedoch, es nicht laut zu sagen.

Mit einem zischenden Schwung ihres buschigen roten Schwanzes drehte sich Clemmie um und trottete zum Haus. »Also, was ist? Kommst du? Jasmine ist ja nun tot, und ich habe keine opponierbaren Daumen. Der Tee bereitet sich nicht von selbst zu, weißt du?«

Nur gut, dass die Pension an diesem Wochenende keine Gäste hatte und es keine Schaulustigen gab, die diese Szene beobachten konnten. Denn was Szenen anging, war diese hier ausgesprochen merkwürdig. Sie ähnelte dem Anfang eines schlechten Witzes. Eine Leiche, eine Hexe und eine Füchsin kommen in eine Bar …

Obwohl es eigentlich eine Leiche und zwei Hexen waren und eine dieser Hexen rein zufällig in der Gestalt eines kleinen, pummeligen Rotfuchses gefangen war. Sera war sich allerdings nicht sicher, ob das den Witz unbedingt besser machen würde.

Sera war fünfzehn Jahre alt und offen gesagt ziemlich überfordert. Sie blieb zögernd neben der Leiche ihrer Großtante stehen. Sollte sie tatsächlich einen Zauber wirken und sich dabei nur auf Clemmies Wort verlassen? Auf dieselbe Clemmie, die vor ein paar Wochen wie aus heiterem Himmel aufgetaucht war und immer noch keine befriedigenden Antworten darauf gegeben hatte, wer sie war oder wie es kam, dass sie im Körper einer Füchsin gefangen war? Sie war das exakte Gegenteil von vertrauenswürdig, aber heute musste Sera ihr vertrauen. Sonst würde sie ihre Großtante Jasmine für immer verlieren.

Am Ende lief es darauf hinaus, dass Sera viel Macht und nicht genug Wissen besaß, während Clemmie viel wusste und nicht genug Macht hatte. Das war alles, was im Moment zählte. Und außerdem, selbst wenn Clemmie sie anlog, welchen Unterschied machte das schon? Jasmine war tot. Ein fehlgeschlagener Wiederbelebungszauber konnte sie kaum noch toter machen.

Der azurblaue Himmel strahlte immer noch aufdringlich fröhlich über ihr. Sera konnte nicht fassen, dass es erst ein paar Minuten her war, seit Clemmie zu ihr in die Küche gekommen war. »Draußen gibt es ein Problem, um das du dich kümmern musst«, hatte sie gesagt. »Und nur damit du es weißt: Ich hasse Tränen und Hysterie.« Dann hatte sie sie in den Garten geführt, zu der Stelle, an der Jasmine tot umgefallen war. Sera erinnerte sich nur noch an wenig von dem, was danach passiert war, aber ihre brennenden Augen verrieten ihr, dass es wohl viele Tränen und wahrscheinlich ein oder zwei hysterische Anfälle gegeben hatte.

Zumindest erinnerte sich Sera, dass sie sich aufgerappelt hatte, um das Handy zu suchen. Denn das Vernünftigste wäre es, sagte sie sich, den Notruf zu wählen und einen Erwachsenen die Sache übernehmen zu lassen.

Doch als sie Anstalten machte, das zu tun, hatte Clemmie tadelnd geschnalzt und sie aufgehalten. »Wie langweilig. Ich hätte erwartet, dass Jasmine mehr Verstand und vor allem bessere Manieren hätte, als ausgerechnet im Garten zu sterben. An einem so warmen Tag wie heute wird das sehr bald eine eklige Angelegenheit sein. Deshalb müssen wir schnell handeln.«

»Was redest du da?«

Daraufhin hatte Clemmie ihr verraten, dass sie wusste, wie man Tote wiederbelebt. Als Sammlerin von seltenen, mächtigen Zaubersprüchen von höchst zweifelhafter Legalität und noch weit fragwürdigerer Moral kannte Clemmie alle möglichen Zaubersprüche, die andere Leute nicht kannten. Das wusste Sera bereits, denn Clemmie konnte nicht widerstehen, es ihr bei jeder sich bietenden Gelegenheit unter die Nase zu reiben. Sie hätte zwar nie über genug Magie verfügt, die meisten dieser Zauber zu wirken, hatte sie leicht gereizt zugegeben, aber das hatte ihren Stolz darauf, mehr zu wissen als alle anderen, kein bisschen geschmälert.

Sera hatte allerdings nicht gewusst, dass sich auch dieser spezielle Zauber in Clemmies Wissenshort befand. Denn was die Legalität eines Auferstehungszaubers anging, gab es keinerlei Grauzone. Er war absolut und ausgesprochen illegal.

»Das Gesetz stammt aus der Zeit, als Hexen noch genug Magie besaßen, um einen solch bedeutenden Zauber zu wirken«, hatte Clemmie zu relativieren versucht. »Seit Ewigkeiten hat keine von uns so viel Macht mehr gehabt.« Dann hatte sie ihren Fuchskopf geneigt und Sera mit einem abschätzenden Blick aus ihren hellen Augen gemustert. »Du aber vielleicht schon. Du bist die begabteste Hexe, die die Gilde seit Albert Grey gesehen hat. Du könntest es tatsächlich schaffen, Jasmine zurückzuholen.«

»Sag mir, was ich tun soll!«, hatte Sera sofort geantwortet.

»Willst du nicht erst mal darüber nachdenken?«

»Nein.« Nachdenken war genau das, was Sera vermeiden wollte. Wenn sie damit anfing, würde ihr Herz schon bei dem Gedanken zerspringen, die Frau zu verlieren, die für sie mehr Familie gewesen war als ihre eigenen Eltern. Nein, nachdenken kam nicht infrage.

»Ein solcher Zauber wird einen großen Teil deiner Magie erfordern«, hatte Clemmie sie gewarnt.

»Ich habe genug davon.«

»Und was ist mit der Gilde? Was passiert, wenn sie es herausfinden?«

Die Wahl zwischen ihrer Liebe zu Jasmine und ihrer Loyalität zur »Britischen Gilde der Zauberei« fiel Sera nicht sonderlich schwer. Die Gilde war streng, spießig und rümpfte nur allzu gern über fast jeden die Nase. Ihr Snobismus und die über Generationen hinweg damit einhergehende Inzucht hatten zur Folge, dass von allen Hexen, die jedes Jahr im Land zur Welt kamen, die meisten in die etwa fünfzehn Familien hineingeboren wurden, die ihre magische Blutlinie bis zur Gründung der Gilde um 1600 zurückverfolgen konnten. Kaum hatten diese kostbaren Lieblinge ihre ersten Schritte gemacht, wurden sie auf das prachtvolle Anwesen der Gilde in Northumberland verschickt, um dort in Magie und ihrer Überlegenheit über alle anderen unterwiesen zu werden.

Es traf zu, dass auch junge Hexen, die außerhalb dieser erlauchten Kreise das Licht der Welt erblickten, eingeladen wurden, an der Ausbildung teilzunehmen – allerdings sollte erwähnt werden, dass diejenigen, die dieses Angebot annahmen, ganz und gar nicht die gleiche Behandlung erfuhren, wenn sie erst einmal dort waren. Glücklicherweise neigten die meisten vernunftbegabten Außenstehenden, nachdem sie erst einmal verdaut hatten, dass es tatsächlich Magie gab und sie sie auch noch wirken konnten, zu der Meinung, dass man geheimnisvollen, bisher unbekannten Gilden nicht trauen konnte. Also zogen sie es vor, zu Hause zu bleiben und die Lehrbücher zu studieren, die die Gilde ihnen schickte.

Seras Mutter hatte nicht mal einen einzigen magischen Haarfollikel an sich. Außerdem war sie Isländerin, ergo Ausländerin. Seras Hexenvater hingegen hatte – wenn auch nur begrenzte – Macht und war der erste bekannte Hexer in der Geschichte seiner indischen Familie. Und als Inder galt er als besonders ausländisch. Seras Mangel an einem von der Gilde anerkannten Stammbaum war der Grund dafür, dass sich niemand aus der renommierten Gesellschaft herabgelassen hatte, die Sache weiterzuverfolgen. Großtante Jasmine, die sich um die kleine, schelmische, schrecklich zweisprachige Sera kümmern musste, nachdem ihre Eltern zu einem ihrer vielen Abenteuer aufgebrochen waren, hatte das ohnehin nur symbolisch gemeinte Angebot der Gilde abgelehnt, sie auf dem Anwesen großzuziehen.

Acht Jahre verstrichen, und in dieser Zeit hatte Sera praktisch jedes Buch auswendig gelernt, das die Gilde ihr geschickt hatte. Schließlich fiel Albert Grey, dem bei Weitem mächtigsten Hexer des Landes, auf, dass in einem ihrer monatlichen Fortschrittsberichte die erfolgreiche Anwendung eines Zaubers erwähnt wurde, der die Fähigkeiten selbst der meisten ausgewachsenen Hexen weit überstieg. Ganz zu schweigen von denen einer Zehnjährigen. Er war mit dem Kanzler der Gilde im Schlepptau in der Pension aufgetaucht. Sie hatten sich über Jasmines Einwände hinweggesetzt und darauf bestanden, dass Sera sofort auf ihr Anwesen geschickt wurde, wo sie als Alberts Zauberlehrling angemessen ausgebildet werden sollte.

Das war vor fünf Jahren gewesen. Mehr als genug Zeit, um herauszufinden, was die Gilde genau war und was nicht.

Sera war klar, dass die Gilde sie erst dann wahrgenommen hatte, als sie sich als zu begabt erwiesen hatte, um sie zu ignorieren. Und was sie betraf, kam zuerst Jasmine, die sie bedingungslos seit dem Tag liebte, an dem sie sich kennengelernt hatten.

Jetzt wischte sich Sera die letzten Tränen aus dem Gesicht, wandte sich von der Leiche zu ihren Füßen ab und folgte Clemmie ins Haus.

Als sie die Küche durchquerte, um den Wasserkocher aufzusetzen, stiegen Sera der Geruch von Zucker, das Aroma des Sodabrotes, das sie und Jasmine am Morgen gebacken hatten, und der vertraute Duft von Jasmines Nivea Creme in die Nase. Ein Kloß setzte sich in ihrem Hals fest und machte es sich dort gemütlich. Was, wenn der Zauber nicht funktionierte?

Es war so furchtbar ungerecht. Jasmine war erst sechsundfünfzig Jahre alt. Sie hatte einen Klumpfuß und stützte sich beim Gehen auf einen Stock, aber Sera konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal eine Erkältung gehabt hatte! Warum waren ihr nicht noch dreißig Jahre vergönnt gewesen?

Eine übermäßig gesüßte Tasse Tee beruhigte ihre Nerven ein wenig und verbrannte ihr dank Clemmies ungeduldigem Gezeter fast die Zunge, weil sie die zu heiße Flüssigkeit zu schnell trank.

»Fertig?«, quengelte Clemmie. »Hast du ihn ausgetrunken? Los geht’s. Wir haben schon genug herumgetrödelt. Was, wenn jemand auftaucht und ein Zimmer buchen will? Auf Zeugen können wir wirklich verzichten.«

Ihr Handy klingelte, und Sera sprang auf.

»Ignorier es einfach«, riet Clemmie.

Sera ignorierte stattdessen sie. Die einzigen Menschen, die Sera jemals auf ihrem eigenen Telefon anriefen, waren ihre Eltern – wenn auch nur selten – und ihre beste Freundin Francesca – mindestens zweimal am Tag. Da sie genau wusste, dass beide so lange anrufen würden, bis sie abnahm, und dass ihr das ständige Bimmeln kaum helfen würde, sich auf den schwierigsten Zauber zu konzentrieren, den sie je in ihrem Leben gewirkt hatte, suchte sie das Telefon und nahm das Gespräch an.

»Hallo.« Seras Stimme war ein wenig rau von den Tränen und der Nervosität, aber sie sagte sich, dass sie weitgehend normal klang.

»Ich habe eine tolle Neuigkeit!«, quietschte Francesca am anderen Ende der Leitung. Ihre sonst so klaren Vokale und ihre makellose Aussprache gingen in der offensichtlich sehr großen Aufregung unter. »Das wirst du nie erraten!«

»Francesca, ich kann nicht …«

»Vater möchte, dass du dieses Weihnachten mit uns in Skiurlaub fährst!«

Sera brauchte einen Moment, um den Sinn dieser Worte zu begreifen. Sie war mit ihren Gedanken bei Tod und illegaler Zauberei, sodass ihr die Tätigkeit Skifahren wie ein Konzept aus einem völlig anderen Universum vorkam.

»Das ist sehr nett von ihm«, erwiderte sie höflich und zuckte zusammen, als sie den Mangel an Begeisterung in ihrer Stimme wahrnahm.

Seras Beziehung zu Albert Grey, der nicht nur ihr Ausbilder war, sondern auch Francescas Vater, war ziemlich kompliziert. Als er sie zum ersten Mal als Zauberlehrling annahm und sie in die strenge, aber schwindelerregend magische Welt der Gilde einführte, hatte sie die kindlich-naive Hoffnung gehabt, dass er für sie so etwas wie eine Vaterfigur werden würde. Immerhin waren sie die beiden mit Abstand mächtigsten Bannwirker des Landes. Das war ein ungeheures Privileg, machte allerdings auch sehr einsam. Es gab niemanden sonst, der so war wie sie.

Auf den ersten Blick wirkte Albert liebevoll und fürsorglich, aber Sera konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er nur so tat und es ihr in Wahrheit verübelte, dass sie in eine Sphäre eindrang, die er gerne allein beherrscht hätte.

Zum Glück war Francesca zu aufgeregt, um Seras Tonfall zu bemerken. »Bitte sag, dass du mitkommen wirst, Sera! Ich weiß, dass du Großtante Jasmine an Weihnachten nicht allein lassen willst, also habe ich Vater überredet, sie ebenfalls einzuladen. Ihr kommt doch beide, oder?«

Sera war gerührt von dieser Geste, da Clemmie jedoch vor ihr auf und ab paradierte und mit einer Pfote ständig auf die Uhr zeigte, war es schwierig, ihr die Antwort zu geben, die sie verdiente. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, als sie versuchte, ihre Freundin abzuwimmeln. »Es tut mir echt leid, aber können wir später darüber reden?«

»Was ist denn los?«

»Mir ist ein bisschen schlecht. Ich rufe dich heute Abend an, okay?«

»Mir ist durchaus aufgefallen, dass sie mich nicht zum Skifahren eingeladen haben«, bemerkte Clemmie, nachdem Sera das Gespräch beendet hatte.

»Sie wissen ja nicht mal, dass es dich gibt«, wies Sera sie zurecht. »Was du selbst so wolltest. Du erinnerst dich bestimmt. Oder hast du die achtzehnmal vergessen, die du mich gewarnt hast, ja niemandem außerhalb des Hauses etwas von dir zu erzählen?«

Clemmie knurrte verärgert. »Komm endlich. Wir haben genug Zeit verschwendet.«

Der spätsommerliche und grün überwucherte Garten fiel steil ab. Die Sonne und rosafarbene, gelbe und weiße Wildblumen überfluteten ihn. Am unteren Ende, hinter einem kleinen Obstgarten mit Bäumen, einem Bienenstock und dem kleinen Grashügel, unter dem sie Jasmines heißgeliebten Hahn begraben hatten, lagen jenseits einer niedrigen Steinmauer und eines Törchens mit Bogengitter ein schmaler Weg und sanft geschwungene grüne Hügel.

Während Clemmie den stummen Leichnam von Großtante Jasmine umkreiste und dabei etwas von Himmelsrichtungen und Grabhexerei murmelte, kniete sich Sera im Schatten der Zitrusbäume ins Gras und drückte die kalte Hand ihrer Großtante.

»Es wird alles gut«, flüsterte sie. »Ich verspreche es.«

Clemmie stellte sich neben Sera und setzte sich auf ihre Hinterbeine. »Fertig? Sprich mir nach!«

Magie ist eine seltsame Sache. Entweder wurde man mit ihr geboren oder nicht, aber wie viel man hatte und wie sie sich bemerkbar machte, war bei jeder Hexe, die sie ausübte, so einzigartig wie ein Fingerabdruck. Für Sera war es ein wilder, freudiger Aufwind, der sie in einen Nachthimmel schweben ließ, der von Tausenden winzigen, glitzernden Sternen erhellt wurde, von denen jeder so strahlend leuchtete wie eine Sonne. Für Clemmie waren es Zähne und Klauen gewesen, bevor sie die Fähigkeit verloren hatte, sie zu benutzen, was ziemlich passend war, wenn man bedenkt, dass sie jetzt buchstäblich beides in echt hatte.

Der Akt des Bannwirkens war nicht ganz so chamäleonartig wie die Magie selbst, Zaubersprüche konnten dennoch auf ein Dutzend verschiedene Arten beschworen werden. Manche ließen sich zum Beispiel mit einem Gedanken wirken, andere mit einem Fingerschnippen, mit dem sorgfältigen Knüpfen von Knoten oder mit einer bestimmten Liste von Zutaten. Und dann gab es noch diese seltenen Zaubersprüche, die nur von einer Handvoll Hexen beschworen werden konnten: Diese Zaubersprüche mussten laut gesprochen werden, sie mussten skandiert und von dem unheimlichen, musikalischen Dialekt der Zauberei kontrolliert werden, sonst konnten sie schrecklich schiefgehen.

Sera hatte schon früher solche Zauber gesprochen, aber noch nie hatte dabei so viel auf dem Spiel gestanden. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, und ihr Herz pochte so schnell, dass ihr fast schwindlig wurde. Doch sie sprach die Worte, ohne zu zögern.

In dem Moment, als Sera die Beschwörung zu Ende skandiert hatte, regte sich ihre Magie und antwortete ihr. Ganze Galaxien von Sternen explodierten hinter ihren geschlossenen Augenlidern, und sie fühlte sich sofort besser: Ihr Herz schien zu fliegen, ihr Kummer verlor seine Schärfe, und ihre Fingerspitzen kribbelten vor Freude.

Das. Genau das. Das war der Grund, warum sie die Magie so sehr liebte.

Sie öffnete die Augen.

Ihre Hände waren von Fäden aus warmem, weichem Licht umhüllt, jeder so zart, als wäre er aus der flüchtigen Substanz der Träume gesponnen. Der Bann hatte Gestalt angenommen und war bereit zu wirken.

Sera sammelte die Fäden, legte ihre Hände auf Jasmines Herz und drückte. Die leuchtenden Fäden glitten durch ihre Finger, als wäre sie selbst Rumpelstilzchen am Webstuhl.

Licht flutete von Seras Fingern zu Jasmines Herz und erfüllte die kalte Haut mit Wärme und Magie.

Schlage, befahl Sera dem stummen Herzen unter ihren Händen. Schlage!

Die glorreiche, schwindelerregende Freude wich einem stechenden Schmerz. Es war so ungewohnt und beunruhigend, dass Sera einen Moment lang Bedenken kamen. Dieser Bann verlangte ihr mehr Macht ab, als sie jemals zuvor hatte aufwenden müssen.

Es war noch nicht zu spät, es rückgängig zu machen, die Verbindung zu unterbrechen und die Magie zurückzuholen, doch das konnte sie nicht. Sie musste es durchziehen, für Jasmine.

Die Welt schien zu kippen. Sie stemmte eine Hand ins Gras, um sich abzustützen, und bemerkte nicht, dass sich ein kleiner Faden des Banns in die Erde grub.

Jasmines steife Glieder wurden wie durch ein Wunder weicher. Ihre graue Haut schimmerte in frischer Farbe, ein gesundes Rosa mischte sich mit dem warmen Braun ihrer Wangen. Ihr Herz tat einen kräftigen Schlag.

Ihre Augen öffneten sich, und ihr Blick richtete sich sogleich auf Sera. Er wirkte eine Spur vorwurfsvoll. »Aber, Liebes, wie konntest du mich einfach hier draußen einschlafen lassen? Die Sonne ist das Allerschlimmste für unsere Haut!«

Sera ließ erschöpft die Schultern sinken. Ein glückliches, überwältigtes Schluchzen saß in ihrer Kehle, doch sie schluckte es herunter, wischte sich mit einer Hand über die feuchten Augen und lächelte zaghaft.

»Du hast nicht geschlafen«, gestand sie und griff nach Jasmines am Boden liegenden Gehstock. »Du warst tot, also haben Clemmie und ich dich zurückgeholt.«

Jasmine, die nie gern viel Gewese um irgendetwas machte und gesunden Menschenverstand überaus schätzte, nahm diese Enthüllung gelassen hin. »Das war sehr klug von dir, Liebes«, sagte sie. »Du bist viel zu jung, um für dich selbst zu sorgen, und deine Eltern sind furchtbare Köche.«

»Schreckliche Eltern sind sie auch«, warf Sera ein.

Jasmine schnalzte tadelnd. Mit ihrem Stock in der einen und die andere Hand auf Seras Arm gestützt, rappelte sie sich langsam wieder auf die Füße. Sie war eine zierliche, knochige Frau, die aussah, als könnte eine starke Brise sie umwerfen. Tatsächlich hatten die starken Brisen von Lancashire das gelegentlich sogar geschafft … Trotz ihres vorzeitigen Ablebens war sie tadellos gekleidet. Ihr Haar, das durch das quasireligiöse Auftragen von Henna glänzend schwarz geworden war, steckte immer noch in seinem ordentlichen Dutt. Ihr beerenfarbener Lippenstift war nicht verschmiert, ihr langes, schickliches und mit Spitzen besetztes Nachtgewand hatte auf wundersame Weise keine Knitterfalten bekommen, und auch ihre speziell angefertigten Stiefel waren ihr in all dem Trubel nicht von den Füßen gerutscht.

Sera schlang die Arme um ihre Großtante und drückte sie fest an sich. »Tu mir das nie wieder an.«

»Ach, Liebling«, sagte Jasmine zärtlich.

Genau in diesem Moment ereignete sich ein kleiner Aufruhr im unteren Teil des Gartens. Die Bienen im Stock, normalerweise ruhig und sanftmütig, summten lautstark, weil sie sich über etwas sehr aufregten.

Dieses »Etwas« entpuppte sich als ein mittlerweile aufgewühlter Grasklumpen in der Nähe des Bienenstocks, aus dem ein schrilles, fröhliches, körperloses Krähen ertönte. Clemmie sprang entsetzt zurück. Dem Krähen folgte das Erscheinen eines energischen Knochenbündels, das geradewegs auf Jasmine zuklapperte.

»Gahk«, gackerte das Skelett, das auf den zweiten Blick eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einem Hahn hatte.

Sera blieb der Mund offen stehen. Jasmine stieß einen Schrei purer Freude aus. »Roo-Roo!«

»Toller Job«, wandte sich Clemmie an Sera. »Ich habe erst heute Morgen gedacht, dass wir in unserem Leben nicht etwa einen neuen Kamin oder ein schönes Auto brauchen, sondern einen wiederauferstandenen, dämlichen Gockel.«

Kapitel 2

Eigentlich hätte es ein Happy End geben sollen, aber das war leider nicht vorgesehen. Kaum zwei Tage waren vergangen, als Sera, die noch immer unter dem Eindruck von Jasmines Tod und der anschließenden Auferweckung stand, eine höchst beunruhigende Entdeckung machte.

»Clemmie.« Sera flüsterte, damit Jasmine sie nicht hören konnte. »Clemmie, die Sterne sind fast alle weg.«

Clemmie stand auf der anderen Seite des Zimmers und beäugte misstrauisch den Hahn, den Sera versehentlich wieder zum Leben erweckt hatte und der Clemmie geflissentlich ignorierte. Aber sie spitzte ihre Fuchsohren bei diesen Worten und sprang hastig zu Sera, die auf dem Sofa saß und ein Kissen an ihre Brust drückte. »Was meinst du mit: ›Die Sterne sind fast alle weg‹?«

»Die Sterne in mir.« Sera schluckte schwer und versuchte, nicht in Panik zu geraten. Egal, was passierte, das Einzige, worauf sie sich immer hatte verlassen können, waren die Sterne. »Die, die ich immer sah, wenn ich die Augen schloss. Früher gab es dort ganze Galaxien, jetzt sehe ich nur noch ein paar Sternbilder.«

Clemmie starrte Sera fassungslos an. »Mist, Mist und noch mehr Mist! Ich war mir so vollkommen sicher, dass das nicht passieren würde!«

Das war nicht gerade die Antwort, die Sera sich erhofft hatte. »Du warst dir sicher, dass was nicht passieren würde?«

»Du hast dich übernommen«, antwortete Clemmie. Ihr Tonfall ließ vermuten, dass sie diejenige war, der diese Entwicklung am meisten zu schaffen machte. »Magie ist wie alles andere. Sie erschöpft sich, wenn man sie benutzt, und dann füllen Zeit, Ruhe und eine schöne Tasse Tee sie wieder auf.«

»Heißt das, ich muss nur ein bisschen warten?«, erkundigte sich Sera hoffnungsvoll. »Weil der Auferweckungszauber so mächtig war?«

»Das hoffe ich verdammt noch mal sehr!«, entgegnete Clemmie. »Aber ich bin leider nicht sonderlich optimistisch. Du hättest aufhören sollen, als es anfing wehzutun. Ich glaube, du hast dich so angestrengt, dass du nicht nur die Sterne aufgebraucht hast. Ich fürchte, du hast den Himmel selbst geschwächt. Er kann nicht mehr alle Sterne halten, die du früher hattest. Diese Konstellationen, die du jetzt siehst, sind alles, was du noch hast.«

Seras Fingernägel gruben sich in den weichen Stoff des Kissens. Sie wollte Clemmies Worten widersprechen, sie abschmettern, doch sie spürte, dass etwas Wahres daran war. Sie nahm eine Schwere in ihren Gliedern wahr, die sie vorher nie empfunden hatte. Sie spürte, dass dort, wo der unendliche Himmel zuvor ihre Magie gehalten, sie bewahrt hatte, jetzt kleine Austrittswunden waren, aus denen sacht und unaufhaltsam Sternenstaub floss.

»Vielleicht brauche ich nur mehr Zeit«, sagte sie verzweifelt. »Meine Magie wird zurückkommen. Sie muss!«

»Das wäre auch besser«, murmelte Clemmie. »Ohne sie sitze ich hier für immer in dieser Gestalt fest.«

Sera blinzelte einen Moment verwirrt. »Du hast gehofft, ich würde den Fluch brechen, der dich in einen Fuchs verwandelt hat? Deshalb bist du hierher in die Pension gekommen? Warum hast du mich nicht schon längst gefragt?«

»Ich war ja gerade im Begriff, das zu tun!«, entgegnete Clemmie entrüstet. »Du kennst mich doch erst seit ein paar Wochen. Wenn ich dich zu früh damit bedrängt hätte, hättest du vielleicht Nein gesagt! Glaub mir, ich wünschte wirklich, ich wäre einfach damit herausgerückt und hätte dich darum gebeten!«

»Meine Magie«, beteuerte Sera grimmig, »wird zurückkommen.«

Sera gab vor, an einer Grippe erkrankt zu sein, und verschob die Rückkehr zum Anwesen der Gilde in der Hoffnung, dass ihre Magie nur ein paar Tage brauchen würde, bis sie sich erholt hatte. Sie wartete voller Hoffnung darauf, dass die Galaxien in ihren Himmel zurückkehrten.

Taten sie aber nicht. Die weiten Räume hinter ihren Augenlidern blieben unverändert dunkel, durchbrochen nur von einer Handvoll hartnäckiger, überlebender Sterne. Selbst alltägliche Zaubersprüche, die ihr stets so leichtgefallen waren wie das Atmen, zum Beispiel die Schmerzen in Jasmines Klumpfuß verschwinden zu lassen oder die Verwandlung von klebrigem Teig in köstlichen Kuchen in nur vier Sekunden, wirkten nicht mehr. Ihre Magie kam nicht zurück.

Panik wich Bestürzung, und die Erschütterung brach ihr fast das Herz. Sera schloss sich in ihrem Zimmer ein und schluchzte, lange und krampfhaft. Die Magie, die sie so sehr geliebt und für selbstverständlich gehalten hatte, hatte sie verlassen. Und sie wusste nicht, wer sie ohne sie war.

Wenn sie etwas in den letzten fünf Jahren bei der Gilde gelernt hatte, dann, dass ihre Macht alles war. Von dem Moment an, als sie in dem mächtigen, mit Wasserspeiern geschmückten Schloss in Northumberland ankam, hatten ihre Ausbilder, darunter Albert Grey, sie einem Test nach dem anderen unterzogen. Sie hatten herausfinden wollen, wie viel Macht sie besaß. Umgeben von zahlreichen Werkstätten, endlosen Bibliotheken und Magie, wohin sie auch blickte, hatte sie gebrochene Knochen geheilt, alchemistisches Metall in Gold verwandelt, Seidenballen so verzaubert, dass nicht einmal eine Pistolenkugel den Stoff durchbohren konnte.

»Du bist die Zukunft der Magie, Sera Swan«, hatte der alte, tattrige Kanzler Bennet gesagt, ohne zu bemerken, wie sich Alberts Blick verhärtete. »Meinen Sie nicht auch, Albert? Wahrlich, sie ist Ihre Nachfolgerin!«

Seras Zukunft, darin waren sich alle einig, würde außergewöhnlich sein.

Und jetzt war diese Zukunft Vergangenheit.

Die Tage vergingen in einem Sturm der Trauer, in die sich unausweichlich Angst einschlich. Sera fühlte sich noch lange nicht bereit für eine Zukunft ohne Magie, aber sie hatte keine Wahl. Sie konnte die Rückkehr in die Gilde nicht länger hinauszögern.

»Ich muss zurück«, sagte sie zu Clemmie.

»Natürlich musst du zurück. Falls es einen Weg gibt, wie du deine Magie zurückbekommst, wirst du ihn hier nicht finden. Du brauchst die Bibliothek der Gilde.«

»Und das hier?« Sera deutete mit dem Daumen auf ihr fast magieloses Ich. »Wie soll ich das erklären?«

»Du musst sie natürlich anlügen«, riet ihr Clemmie prompt. »Sag ihnen, dass du eines Morgens aufgewacht bist und deine Magie einfach weg war. Sie dürfen auf keinen Fall herausfinden, dass du einen extrem verbotenen Auferstehungszauber gewirkt hast. Vor allem deshalb nicht, weil sie sofort wissen werden, dass ich es war, die ihn dir beigebracht hat.«

Bevor Sera sie fragen konnte, wie sie zu diesem Schluss gekommen war, und vor allem, warum Clemmie Angst hatte, die Aufmerksamkeit der Gilde auf sich zu ziehen, steckte Jasmine ihren Kopf durch die Küchentür. »Liebes, könntest du Mrs. Cooper und ihrer kleinen Tochter ihr Zimmer zeigen?«

Sera war einverstanden. Jasmines Klumpfuß bereitete ihr große Schmerzen, wenn sie zu oft die vielen Treppen der Pension hinaufstieg. Deshalb hatte sie, als sie den Gasthof wiedereröffnet hatte, eine wortkarge Frau aus dem Dorf eingestellt. Die kam jeden Morgen für eine Stunde und hielt die vier Gästezimmer in Ordnung. Bryonys Fähigkeit, Waschbecken zum Glänzen zu bringen und Bettwäsche zu stärken, war geradezu beneidenswert. Aber sie gab sich große Mühe, allen außer Jasmine aus dem Weg zu gehen. Deshalb war sie nicht unbedingt die geeignetste Person, um Gäste willkommen zu heißen.

»Ich bin wirklich froh, dass Sie ein Zimmer frei haben«, sagte Mrs. Cooper leise zu Sera, als sie die Treppe zum Gästeflügel hinaufstiegen. Ihre Stimme klang erschöpft. »Ich bin so lange gefahren, dass ich dachte, ich könnte keine Minute mehr wach bleiben, und dann bin ich einfach in die nächste Straße eingebogen, und da waren Sie. Es war wie Magie.«

»Es gibt keine Magie, Mami«, sagte ihre kleine Tochter kichernd, und Sera lächelte zum ersten Mal seit Tagen.

Die Pension war magischer, als ihre Gäste je erfahren würden. Das eigentliche Haus war fast zweihundert Jahre alt und hatte sich im Besitz eines lebenslustigen Vicomte befunden, bevor es ein begeisterter Gastwirt erwarb und es aus Gründen, die Sera nie würde nachvollziehen können, Batty Hole nannte. Seitdem hatte es ein paarmal den Besitzer gewechselt, hatte zwischendurch als Pension für unverheiratete Mütter gedient, als Krankenhaus während des Ersten Weltkriegs und war anschließend erneut zu einer Pension umfunktioniert worden. Schließlich war es zu einem unwillkommenen und maroden Teil einer Erbschaft geworden.

Dann erschienen Seras Eltern. Sie waren von dem Namen und der Geschichte des baufälligen Gebäudes begeistert gewesen und hatten es gekauft. Sie hatten beschlossen, es zu ihrem nächsten großen Abenteuer zu machen, das Haus in seinem alten Glanz wiederherzustellen.

Mit der Magie von Seras Vater und dem Geld von Seras Mutter hatten sie das alte Haus in ein halbwegs bewohnbares Gebäude verwandelt. Sie hatten sich geweigert, den Namen zu ändern. Deshalb hatte Seras Postadresse ihr ganzes Leben lang Die unerträglich geschätzte Sera Swan, Batty Hole Inn, Briercliffe, Lancashire gelautet.

Wie es ihre Art war, waren Mom und Dad bald des Hauses und auch des Elterndaseins überdrüssig geworden. Als Sera zwei Jahre alt war, hatten sie Jasmine, die Lieblingstante ihres Vaters, eingeladen, den weiten Weg aus Südindien auf sich zu nehmen und in diese schöne, aber abgelegene Gegend im Nordwesten Englands zu ziehen. Jasmine hatte ihre Koffer kaum ausgepackt, als sich Seras Eltern auch schon aus dem Staub machten und sie für den Rest ihrer Kindheit nur ein paarmal im Jahr besuchten.

Im Nachhinein war das für alle das Beste. Sie bekamen ihre Abenteuer, Jasmine bekam Sera, und Sera bekam Jasmine.

Die pragmatische Jasmine war sich schnell darüber im Klaren, dass das Geld, das Seras Eltern für ihren Unterhalt schickten, gerade so die Hypothek abdeckte. Da sie eine sehr gesellige Natur besaß, kam sie zu dem Schluss, es wäre das Beste, die alte Pension wiederzubeleben. Sera, die ihre Magie kaum bändigen konnte, hatte ihr eifrig mit raffinierten Zaubertricks geholfen.

Dann, kurz nach Seras zehntem Geburtstag, machten sie ein paar schwierige Monate durch. Sie hatten eine wahre Epidemie an schwierigen Gästen erlebt. Die Art Gäste, die Kissenbezüge aus Maulbeerseide erwarteten und einen Wutanfall bekamen, wenn sie herausfanden, dass Bed-and-Breakfast nicht Frühstück-im-Bett bedeutete. Als ein besonders unverschämtes Pärchen Jasmine sogar zu Tränen genervt hatte, hatte Sera voller Wut einen Bann gewirkt.

Um was für einen Zauber es sich handelte, konnte sie danach nicht sagen. Das war das Außergewöhnliche daran. Er war von Herzen gekommen, war gewaltig und unerklärlich.

Jedenfalls kamen danach keine schwierigen Gäste mehr. Die Gäste, die sie empfingen, waren in der Regel gutmütig, oft von stürmischem Wetter oder stürmischen Umständen gebeutelt, jedoch immer erleichtert, bei ihnen zu logieren. Die Pension schien ein schützender Hafen im Sturm geworden zu sein. Ganz gleich, ob es sich um erschöpfte Eltern handelte, die einfach nur eine Nacht Pause von Kindern und Alltag brauchten, um Mrs. Cooper mit ihrer von einem Bluterguss geschwollenen Wange, die sie schon bei ihrer Ankunft zu verbergen suchte, oder um den Jungen, der sich zum ersten Mal von zu Hause in die Welt hinausgetraut hatte und dem vor Preston die Brieftasche gestohlen worden war – sie alle kamen wegen dem, was ihnen die Pension geben konnte.

Am besten konnte Sera ihren Zauberspruch folgendermaßen beschreiben: Wenn man die Pension nicht brauchte, fuhr man daran vorbei. Und falls man ein Arschloch war, fuhr man sowieso weiter.

Genau dieser Zauber hatte die Gilde auf sie aufmerksam gemacht. Einige Wochen, nachdem sie ihn geschaffen hatte, hatte sie in einem ihrer Fortschrittsberichte beschrieben, was der Bann bewirkt hatte. Das hatte Albert Greys Interesse geweckt. Als Kanzler Bennet und er sie aufsuchten, hatten sie einen Bann gewirkt, der das Vorhandensein anderer Zauber enthüllte. Sera würde nie den Ausdruck auf ihren Gesichtern vergessen, als sie entdeckten, dass die gesamte Pension warm, hell und blendend von Magie leuchtete, wie ein einzelnes erleuchtetes Fenster in einer dunklen Nacht.

»Du bist hier absolut fehl am Platz, Sera«, hatte Kanzler Bennet verkündet. Sie hatte ihm geglaubt.

Was sollte sie jetzt tun?

Die Türglocke der Pension ertönte und rettete Sera aus ihren zunehmend düsteren Gedanken. Sie rannte schnell die Treppe hinunter, und die abgenutzten Stufen knarrten unter ihren Füßen. Sie rief Jasmine im Laufen zu: »Ich geh schon!«

Sie öffnete die Tür.

Und erstarrte.

»Francesca?« Seras Herz setzte einen Schlag aus. Das war schlimm, sehr schlimm.

»Was ist hier los?« Francesca gestikulierte übertrieben dramatisch mit den Händen. »Du gehst nicht ans Telefon, du bist nicht zur Gilde zurückgekommen, du … Was zur Hölle ist denn das?«

Sera kniff verzweifelt die Augen zusammen. Ihr war natürlich klar gewesen, dass die Gilde früher oder später herausfinden würde, dass sie ihre Magie verloren hatte, auch wenn der Verlust der eigenen Magie kein Verbrechen war. Eine Person von den Toten auferstehen zu lassen, hingegen schon, doch selbst das hätte sie wahrscheinlich verheimlichen können.

Wäre da nicht der Hahn.

Jasmine war erst wenige Minuten tot gewesen, als Sera sie zurückholte, Roo-Roo dagegen war bereits vor einem ganzen Jahr gestorben. Er hatte sich … zersetzt und sah einfach nicht mehr so lebendig aus wie Jasmine. Zombifiziert war hier wohl das passende Wort.

Er lief jetzt klappernd zu Sera und hackte nach ihren Füßen, um seinen Wunsch zu signalisieren, hochgehoben zu werden. Sera tat ihm den Gefallen, aber nur, um ihn daran zu hindern, durch die offene Tür ins Freie zu flüchten.

Ihr blieb wohl nichts anderes übrig, als mit der Wahrheit herauszurücken.

»Leise«, zischte sie Francesca zu. »Wir haben oben Gäste! Ich erkläre dir alles, aber du musst mir versprechen, niemandem zu erzählen, was ich dir jetzt verrate. Vor allem nicht deinem Vater.«

»Versprochen!«, erwiderte Francesca prompt und betrachtete Roo-Roo mit großen Augen, als könnte sie ihren Blick nicht von ihm losreißen.

»Jasmine ist vor zwei Wochen gestorben. Ich habe sie … zurückgeholt.«

Francescas Augen zuckten zu Seras Gesicht. »Was meinst du damit, du hast sie ›zurückgeholt‹? Mit Herz-Lungen-Massage?«

»Nein, sie war richtig tot, nicht die Art tot, bei der eine Wiederbelebung funktioniert. Ich habe einen Auferstehungszauber gewirkt. Er hat sie ins Leben zurückgeholt, mir allerdings auch den größten Teil meiner Magie genommen.«

Ihren Worten folgte eine lange, ungläubige Stille. Sera beobachtete Francesca ängstlich. Schließlich brach diese das Schweigen. »Okay, das Wichtigste zuerst. Kann ich dein Klo benutzen?«

Sera atmete hörbar erleichtert aus. Sie mochte vielleicht den größten Teil ihrer Magie verloren haben, aber wenigstens nicht auch noch ihre Freundin. Sie würde wieder zur Gilde gehen und jedes Buch studieren, das sie in ihrer Bibliothek hatten, bis sie einen Weg fand, ihre Magie zurückzubekommen.

Sie war davon überzeugt, dass alles gut werden würde.

Drei Stunden später stürmte Albert Grey in die Pension, und Sera blieb keine andere Wahl, als zu akzeptieren, dass offenbar nichts wieder gut werden würde.

Sera wurde im Salon der Pension eingesperrt, während Albert nach draußen ging, um den skelettierten Hahn zu untersuchen. Sie war wütend, fühlte sich schrecklich hintergangen und konnte es nicht ertragen, Francesca auch nur anzusehen. Es war fast eine Erleichterung, als Albert wieder ins Zimmer marschierte.

»Ein Auferstehungszauber!«, stellte er kalt fest und verschloss die Tür mit einem Bann, damit Jasmine ihm nicht folgen und sich für Sera einsetzen konnte. »All diese Macht, und du wirfst sie einfach weg. Und das nach allem, was wir für dich getan haben.«

Sera hatte eine solche Maßregelung oder zumindest Ähnliches erwartet. Trotzdem konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Alberts Tonfall irgendwie unecht wirkte.

Ihr ging schlagartig ein Licht auf. Das lag daran, dass er nur so tat, als wäre er wütend. Jedes Mal, wenn sie an Alberts Aufrichtigkeit als ihrem Mentor gezweifelt hatte, jedes Mal, wenn sie den harten Blick in seinen Augen bemerkt hatte, wenn jemand anders sie lobte, hatte sie den wahren Albert Grey gesehen. Was auch immer er davon hielt, dass sie einen Auferstehungszauber gewirkt hatte, es wurde bei Weitem von seiner Freude übertroffen, dass sie nur noch einen Bruchteil ihrer Magie besaß. Er war seine größte Rivalin los. Sein Thron gehörte wieder ganz ihm.

Dass Albert zu Stolz und kleinlicher Eifersucht fähig war, überraschte sie nicht sonderlich, weh tat es trotzdem. Sie war fünf Jahre sein Zauberlehrling gewesen. Bedeutete sie ihm denn gar nichts?

»Sera.« Alberts Stimme wurde weicher und schmeichelnder. Das war nie ein gutes Zeichen. »Wo hast du diesen Zauberspruch gelernt?«

Sera fuchtelte mit einem Finger herum. »Er stand in einem meiner Bibliotheksbücher.«

Seine Augen verengten sich. »Lüg mich nicht an! Zum einen bist du nicht sehr gut darin. Zum anderen hat mir Francesca schon von dem Fuchs erzählt, den sie kurz nach ihrer Ankunft die Treppe hinaufschleichen sah. Ein merkwürdiges Verhalten für einen Fuchs, findest du nicht auch?« Albert nahm ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte Seras Gesicht unsanft nach oben, sodass sie nur ihn ansehen konnte. »Clementine war hier, nicht wahr? Hat sie dir diese Beschwörungsformel beigebracht?«

Sera befreite sich ruckartig aus seinem Griff, biss die Zähne zusammen und schwieg.

Albert, der daran gewöhnt war, seinen Willen zu bekommen, wirkte sowohl überrascht als auch irritiert. Sera erinnerte sich plötzlich an die Zeit, als sie ihn gefragt hatte, ob seine Magie ein Nachthimmel sei, so wie ihre. Er hatte die Frage verneint und gesagt, seine wäre ein Blitz. Damals hatte sie nicht verstanden, was das bedeutete, jetzt begriff sie es. Seine Magie war wild und unbarmherzig, schnell und wahllos in ihrer Zerstörung.

»Du vergisst, mit wem du sprichst, Sera!«, fuhr Albert sie schroff an. »Ich bin ein Grey und stamme aus einer langen, ununterbrochenen Blutlinie von Hexern und Hexen. Ich habe immer noch genauso viel Macht wie vor einer Woche. Du dagegen hast keine mehr. Du bist nur ein Schwan, der sich selbst die Flügel gestutzt hat. Wenn ich dir also eine Frage stelle, antwortest du gefälligst.«

Zu Alberts Leidwesen steigerten diese Worte bloß Seras Trotz. Albert hatte wohl vergessen, dass seine Geschichte vielleicht ein Vermächtnis der Macht sein mochte, ihre jedoch ein Vermächtnis der Auflehnung. Ohne übermäßig dramatisch zu werden: Seras Vorfahren hatten nicht Tyrannen getrotzt und sich von Imperien gelöst, damit sie jetzt diesem Mann auch nur einen Fingerbreit nachgab.

»Ich habe es Ihnen schon gesagt«, entgegnete sie. »Ich habe den Zauberspruch in einem Buch gefunden.«

Zu ihrer Überraschung verlor Albert nicht etwa die Beherrschung, sondern sah sie mit zur Seite geneigtem Kopf plötzlich interessiert an. »Du hast sie liebgewonnen, nicht wahr? Guter Gott, Sera, ich hätte dir mehr Intelligenz zugetraut.« Was auch immer er ihrem Gesichtsausdruck entnahm, es brachte ihn zum Lachen. »Sie hat dir nicht verraten, was sie getan hat, oder?«

Später würde Clemmie Sera die ganze Geschichte erzählen. Kurz gesagt, sie war einst eine Hexe mit mäßigem Talent und großem Ehrgeiz gewesen, und aus verbittertem Groll auf Albert, der in all den Jahren, die sie sich kannten, unausstehlich zu ihr gewesen war, hatte sie beschlossen – jedenfalls stellte sie es so dar –, einen Schlag für alle Außenseiter gegen ihn zu führen, indem sie ihn verfluchte.

Und zwar mit einem buchstäblich magischen Fluch.

Dass irgendjemand etwas so erderschütternd Sinnloses versuchen würde, wie den mächtigsten Hexer seit Generationen zu verfluchen, war, offen gesagt, lächerlich. Dennoch fiel es Sera erstaunlich leicht, zu glauben, dass Clemmie genau so etwas getan hatte.

Der Fluch, ein seltener Zauber, der das unglückliche Ziel in ein Tier verwandelte, sollte eigentlich nur vorübergehend wirken. Aber wie immer hatte Clemmie ihr Vorhaben nicht sonderlich gut durchdacht. Sie hatte nicht ins Kalkül gezogen, dass sie vielleicht nicht die Macht hatte, den Fluch zu brechen, nachdem sie ihn ausgesprochen hatte. Ja, sie hatte nicht einmal in Betracht gezogen, dass sie vielleicht gar nicht genug Magie besaß, den Fluch auch nur zu wirken.

Tja, und das war der Clou an der ganzen Sache, nämlich dass sie nicht genug Magie besaß, um den Fluch zu wirken. Das heißt, nicht genug, um ihn richtig zu wirken. Ihr Bann war nach hinten losgegangen, hatte sie in die Gestalt eines Fuchses verwandelt und darin gefangen.

Es war nicht gerade einfach, einen Fluch aufzuheben. Die wenigen Hexen, die diese Macht besaßen, waren nicht bereit, Alberts Zorn auf sich zu ziehen, indem sie dies taten. Die Gilde war damals der Meinung gewesen, es wäre eine angemessene Strafe für Clemmie, im Körper eines Fuchses gefangen zu sein. Doch das hatte Albert keineswegs genügt. Er wollte Clemmie im Verlies unten im Schloss der Gilde haben.

Da Clemmie sich nicht einsperren lassen wollte, hatte sie ihre Krallen ausgefahren, mit ihren Reißzähnen Albert in die Knöchel gebissen und war geflohen.

An diesem Nachmittag in der Pension erklärte Albert die ganze Sache jedoch etwas knapper. »Sie wollte mich verfluchen und hat sich stattdessen selbst verflucht«, erklärte er lediglich. »Sie hat sich jahrelang versteckt, doch ich hätte wissen müssen, dass sie zu dir kommen würde, sobald sie von deiner Existenz erfuhr. Zweifellos dachte sie, sie könnte eine junge, mächtige und unsagbar naive Hexe überlisten, damit sie ihren Fluch bräche.«

Sera verharrte in steinernem Schweigen und weigerte sich, ihm auch nur die Genugtuung einer Reaktion zu geben.

»Zu deinem Glück, Sera«, fuhr Albert fort, »bin ich geneigt, Nachsicht zu üben. Du hast zwar deine Magie verloren, und das möglicherweise für immer, aber du musst nicht auch deinen Platz unter uns verlieren. Ein Auferstehungszauber ist zwar keine Kleinigkeit, und die Gilde neigt nicht dazu, solch ungeheuerliche Gesetzesübertretungen einfach hinzunehmen, doch wenn du uns hilfst, Clementine zu fangen, kann ich den Kanzler sicher überreden, dir diese Übertretung zu verzeihen.«

Sera wusste, dass er ihr einen Rettungsanker anbot, und sie wollte ihn unbedingt ergreifen. Sie konnte nur mithilfe der Gilde ihre Magie wiedererlangen, falls das überhaupt möglich war. Ohne die Gilde, ohne ihre Ressourcen, ihre Bibliotheken und ihre Gelehrten hätte sie absolut keine Chance.

Dafür müsste sie lediglich Clemmie ausliefern.

Sie brauchte nur ein winziges bisschen nachzugeben.

Doch das brachte sie nicht über sich. Klar, Clemmie hatte Geheimnisse vor ihr gehabt. Unter anderem hatte sie ihr verschwiegen, dass sie selbst diejenige gewesen war, die den Fluch ausgesprochen hatte, der sie in einen Fuchs verwandelte. Aber ohne Clemmie hätte Sera Jasmine nicht retten können.

Also sah Sera ihrem ehemaligen Mentor in die Augen und sagte fest: »Ich kann Ihnen nicht helfen. Ich habe den Zauberspruch in einem meiner Bücher gefunden.«

Kaum hatte sie es ausgesprochen, wurde ihr klar, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Genau das war es, was Albert von ihr gewollt hatte. Ob er Clemmie in die Finger bekam, war ihm vollkommen gleichgültig. Wahrscheinlich hatte er all die Jahre nicht einen Gedanken an sie verschwendet. Aber sobald er gemerkt hatte, dass Sera etwas an Clemmie lag, war die Hexe zu einem bequemen Mittel geworden, um Seras Loyalität zu ihr gegen sie zu verwenden. Albert war nur an seiner Stellung interessiert, und da Seras Magie jetzt keine Bedrohung mehr für seine darstellte, war ihre Rückkehr in die Gilde das Letzte, was er wollte.

»Im Namen von Kanzler Bennet und der Gilde«, verkündete er deshalb und machte sich nicht einmal die Mühe, seine Genugtuung zu verbergen, »konfrontiere ich dich mit den Konsequenzen deiner Entscheidungen. Du bist von diesem Tag an aus der Gilde ausgeschlossen. Um die Sicherheit aller Bannwirker zu gewährleisten, bist du weiterhin den Gesetzen der Gilde verpflichtet, aber du bekommst von uns keine weitere Ausbildung oder Unterstützung. Das Betreten des Geländes der Gilde ist dir nicht gestattet. Du erhältst keinen Zugang zu Bibliotheksbüchern oder Zaubermaterialien. Keine einzige Hexe im Land wird dir jetzt noch eine freundliche Hand reichen.«

Sera blieb nichts anderes übrig, als sich in ihr Schicksal zu fügen. Wie eine alte Hexe hob sie warnend den Finger und unkte: »Diesen Tag, Albert Grey, wirst du bereuen, mit Ach und Weh!«

Das Schönste war, es reimte sich sogar.

Kapitel 3

»Dieser Hahn«, erklärte Sera fünfzehn Jahre später, »ist eine Zumutung! Warum kann er nicht zu einer vernünftigen Zeit krähen? Warum besteht er darauf, um drei, vier, fünf, sechs und sieben Uhr morgens zu krähen?«

»Also wirklich, Sera«, erwiderte Jasmine mit einer Mischung aus Mitgefühl und Vorwurf, nahm den so beschimpften Hahn in die Arme und hielt ihm die Ohren zu, als ob Seras Kritik ihn verletzen würde. »Du weißt doch, dass Roo-Roo die Zeit nicht lesen kann. Er wird unruhig, weil er« – Jasmine senkte die Stimme zu einem Flüstern – »untot ist. Und das war dein Werk, meine Liebe.«

»Seine Auferstehung war ein Unfall! Ich habe vielen Dingen zugestimmt, als ich den Zauber gesprochen habe, aber ein Leben mit einem Zombiehahn gehörte definitiv nicht dazu!«

Jasmines dunkelbraune Augen, die denen von Sera so sehr ähnelten, waren feucht, als sie die skelettierte Scheußlichkeit in ihren Armen betrachtete. »Aber er hat dich doch so lieb«, gurrte sie. »Sieh nur, wie er versucht, an deinem Ärmel zu knabbern. Wenn das keine Liebe ist, weiß ich auch nicht.«

Sera zerrte den Ärmel ihres übergroßen Pullovers aus dem knochigen Schnabel und stapfte durch die Küche, um sich mit dem stärksten Kaffee zu wappnen, der jemals gebrüht worden war. Es war erst halb elf Uhr morgens – war es dann also streng genommen noch zu früh, um etwas zu trinken, das einen stärkeren Kick hatte als ein dreifacher Espresso? Ja, aber die Aussicht auf einen Tropfen Baileys in ihrem Kaffee war das Einzige, was sie davon abhielt, sofort in ihr Bett zurückzukehren und alle einfach allein klarkommen zu lassen.

Alle bedeuteten in diesen Tagen Jasmine – kurzzeitig verstorbene Großtante; Clemmie – eine übermäßig rechthaberische Hexe, die dazu verdammt war, ihr Leben als Füchsin zu fristen; Seras junger Cousin Theo – ebenfalls ein Hexer, doch zum Glück nicht zu einem Leben als Wesen des Waldes verdammt; Matilda – eine ältere Frau und eine ehrgeizige Hobbit; und der jüngste Neuzugang, Nicholas – ein Ritter.

Das klang verrückter als ein Sack Flöhe, und doch war es irgendwie die Realität von Seras Leben. Sie hatte eine bemerkenswerte Leistung vollbracht. Nicht viele Menschen schafften es von dort, wo sie gewesen war – die mächtigste Hexe seit einer Generation, das goldene Kind der Gilde und äußerst vielversprechend –, bis dorthin, wo sie jetzt war: dreißig Jahre alt, fast ohne jegliche magische Begabung und Betreiberin einer Pension, in der sich überdurchschnittlich viele Leute aufhielten, die, das musste man so sagen, nicht gerade von Normalität strotzten. Aber sie hatte es geschafft.

Sera hatte nie geplant, die Pension zu führen. Sie knarrte an allen Ecken und Enden, war undicht, und das Schlimmste war, sie beherbergte Menschen. Doch da Jasmine älter wurde und Sera nur allzu bewusst war, dass es ihr eigener Zauber gewesen war, der die Pension zu einem Leuchtfeuer in der Dunkelheit für die Verlorenen und Verirrten gemacht hatte, musste sie sich wohl in ihr Schicksal fügen.

Jasmine setzte Roo-Roo wieder auf den Boden und stapelte ordentlich die Frühstücksnäpfe. »Auf die Gefahr hin, dir einen weiteren Strohhalm aufzubürden, Liebes …«

»Schimpfst du mich etwa ein Kamel?«, fuhr Sera dazwischen.

»… solltest du wohl erfahren, dass Matilda heute Morgen Gänseblümchen aus einer der Teetassen sprießen sah.«

Das Universum amüsierte sich ein wenig zu sehr auf Seras Kosten. »Was hat sie dazu gesagt?«

»Sie hat getan, als ob sie es nicht gesehen hätte, aber ich weiß, dass sie es bemerkt hat.«

»Sobald ich meine Magie zurückbekomme«, antwortete Sera mit Nachdruck, »werde ich als Erstes dem magischen Unfug, der in diesem Haus Amok läuft, ein Ende setzen.«

Sobald war eine ziemlich gewagte Konjunktion, wenn man bedachte, in was für einer Klemme sie steckte, doch es hätte sich einfach inakzeptabel angefühlt, wenn sie sich geschlagen geben würde.

Eigentlich hatte Sera eine ziemlich gute Vorstellung davon, wie sie ihre Magie zurückbekommen konnte, und zwar mithilfe eines Buches mit dem Titel Das Neunte Kompendium Ungewöhnlicher Zaubersprüche. Das Problem war nur, es in die Hände zu bekommen.

Während sie Jasmine half, den Geschirrspüler einzuräumen, dachte sie über dieses Problem nach. Eine oft wiederholte Übung in Vergeblichkeit, die schon so brillante Ideen wie »Bitte die Gilde einfach um einen Gefallen, und vergiss deinen Stolz« und »Was wäre, wenn ich stattdessen einen genialen Raub planen würde« beinhaltete.

Es war zum Verrücktwerden. Jahrelang hatte sie die wenigen magischen Texte, die sich noch in ihrem Besitz befanden, durchforstet, nach Ideen in Clemmies Gedächtnis gefischt und bis zur Verzweiflung gegoogelt. Es war eine himmelschreiende und kaum zu ertragende Ungerechtigkeit, endlich eine echte Antwort gefunden zu haben, die aber unerreichbar war.

Die Gilde besaß in der riesigen Bibliothek des Anwesens zwölf Kompendien Ungewöhnlicher Zaubersprüche, die im Laufe der Jahrhunderte von verschiedenen Hexen gesammelt und zusammengestellt worden waren. Sie lagen in der Verbotenen Abteilung – und verstaubten. Sera konnte sie sich vor ihrem geistigen Auge ausmalen. Als Kind war sie Hunderte Male an ihnen vorbeigelaufen.

Auch DasNeunte Kompendium befand sich dort. Wäre sie nicht exiliert worden, könnte sie einfach hingehen und es sich ausleihen.

Dass sie überhaupt davon wusste, verdankte sie ihrem kleinen Cousin Theo, der zurzeit bei ihr logierte. Da er unter der Schirmherrschaft der Weisen Frauen von Reykjavík stand, dem isländischen Pendant zur Britischen Gilde der Zauberei, war er nie auf dem Anwesen in Northumberland gewesen. Dennoch lebte er in Großbritannien, zumindest vorläufig. Deshalb erlaubte ihm die Gilde, ihre Online-Bibliothek zu nutzen und magische Texte auszuleihen, um sie zu Hause zu studieren. Leider erstreckte sich diese Großzügigkeit nicht auf Texte aus der Verbotenen Abteilung, die nur mit Sondergenehmigung und persönlich vor Ort studiert werden konnten.

Wenige Wochen, nachdem er Zugang zur Bibliothek erhalten hatte, wies Theo darauf hin, dass auch Sera sein Konto benutzen könnte. Wie sollte die Gilde das merken?

Es war Seras erste Gelegenheit seit ihrer Verbannung, neue Texte und Zauberbücher zu studieren. Während Clemmie ihr über die Schulter schaute, hatte sie das umfangreiche Verzeichnis der Zaubersprüche durchforstet, und dort, unter dem Buchstaben W, war ihr das Wort Wiederherstellung aufgefallen. Einen Klick später wusste sie, wo sie den Zauberspruch finden konnte. Im Neunten Kompendium Ungewöhnlicher Zaubersprüche.

Nur leider bekam sie es einfach nicht in die Finger.

»Du könntest jemanden bitten, es für dich zu holen«, hatte Clemmie vorgeschlagen. Nachdem sie Sera das Versprechen abgerungen hatte, Clemmies Fluch zu brechen, wenn sie jemals ihre Magie wiedererlangen würde, war die verfluchte Hexe seit Jahren genauso engagiert bei der Sache wie Sera.

Sera hatte nur bitter gelacht. »Wen genau soll ich denn fragen?«

Sie hörte wieder Albert Greys kalte Stimme in ihrem Kopf. Keine einzige Hexe im Land wird dir jetzt noch eine freundliche Hand reichen.

»Du träumst ja schon wieder, Liebes«, stellte Jasmine sanft fest und versuchte, die Tür der Spülmaschine zu schließen.

Sera riss sich aus ihrer Träumerei und trat aus dem Weg. Sie hob den blubbernden Kessel aus seiner Halterung und suchte nach ihrem Lieblingsbecher, der natürlich nicht da war. Es war ein völlig gewöhnliches Trinkgefäß, ockerfarben mit winzigen blauen Blumen darauf, und doch war es nie da, wenn Sera es benutzen wollte, weil aus einem absolut unerfindlichen Grund alle anderen Personen im Haus darauf bestanden, den Becher ebenfalls zu benutzen.

Also begnügte sie sich mit einem anderen, suboptimalen Becher. Hinter ihr klapperte es blechern, und sie drehte sich um. Nicholas stolperte in die Küche. Er war gerade dabei, sich einen Stulpenhandschuh überzuziehen, schrak jedoch zusammen und blieb abrupt stehen. Sein schwarzes Haar fiel ihm in die ernst blickenden grünen Augen.

»Lady Sera!« Der nicht übergestülpte Handschuh flatterte an seiner Hand, als er sich mit ebendieser Hand aufs Herz schlug. Auf seinen weißen Wangen erschien ein Hauch von schamhaftem Rosa. »Ich wusste nicht, dass Ihr hier seid! Verzeiht mir, dass ich mich Euch in einem solch nicht bereiten Zustand präsentiere!«

Sera seufzte. »Für mich siehst du durchaus bereit aus, Nicholas.« Als sie seinen hoffnungsvollen Welpenblick sah, korrigierte sie sich rasch. »Sir Nicholas. Du siehst sogar geradezu prächtig aus.«

Nicholas, der dreiundzwanzig Jahre alt war und mindestens zweimal pro Woche verkündete, dass er bereit war, sich für Sera sowohl im übertragenen als auch im wörtlichen Sinne in sein doch sehr reales Schwert zu stürzen, strahlte bei diesem Kompliment. »Ihr ehrt mich!«

Sera warf einen Blick auf die Uhr. »Hättest du nicht schon vor einer Stunde auf dem Mittelalterjahrmarkt sein müssen?«

»Ich konnte mich nicht auf den Weg machen, ohne vorher meine Rüstung zu polieren«, antwortete Nicholas mit ernster Miene.

Er verbeugte sich höflich vor Jasmine, klopfte Roo-Roo auf den knochigen Schädel und schnappte sich beim Hinausgehen das Schwert, das an der Tür lehnte. Einen Moment später rumpelte sein Jeep über die Zufahrt.

Nicholas war vor vier Monaten aufgetaucht, an einem stürmischen Abend, als der Regen gegen die Fenster peitschte und in allen Kaminen ein Feuer brannte. Sera hatte auf das höflich kurze Klingeln hin die Tür geöffnet und ihn klatschnass und fröstelnd auf der Türschwelle vorgefunden.

Zudem hatte er vom Hals bis zu den Zehen in einer mittelalterlichen Rüstung gesteckt. Und an seiner Hüfte hatte ein Schwert gebaumelt.

»Sir Nicholas of Mayfair, zu Euren Diensten«, hatte die Erscheinung gesagt und eine sehr feuchte Verbeugung vollführt. Seine Zähne hatten dabei geklappert, und sein Schwert hatte klirrend gegen die verschiedenen Stahlschichten an seinem Körper geschlagen. »Es scheint da ein Missverständnis mit der Wohnung gegeben zu haben, die ich in der Stadt angemietet habe. Und ich bin hier vorbeigefahren und habe die Lichter gesehen …«

»… komm rein«, hatte Sera ihn unterbrochen. »Ein Tässchen Tee?«

Sera hatte allerdings nicht erwartet, dass Nicholas länger als eine Nacht bleiben würde. Sie war davon ausgegangen, dass er in dieser stürmischen Nacht nur ein warmes Kaminfeuer brauchte und wieder abreisen würde, sobald der Himmel aufklarte.

Aber als Nicholas nicht gegangen war, sondern die schöne Wohnung, die er gemietet hatte, aufgegeben und sich stattdessen in der klapprigen alten Pension niedergelassen hatte, wo er mittlerweile mehr Untermieter als Gast war, dämmerte ihr allmählich, dass er gar keinen wärmenden Kamin, sondern etwas anderes gebraucht hatte.

Er brauchte jemanden, der ihn wahrnahm, mit Rüstung und Schwert und allem Drum und Dran. Jemanden, der seine lächerliche Vorstellung hörte, ohne zu grinsen, seine höfliche Verbeugung akzeptierte und trotzdem freundlich »Komm rein« sagte.

»Er ist jetzt schon eine ganze Weile bei uns«, sinnierte Jasmine und stützte sich schwer auf ihren Stock. »Denkst du, er glaubt immer noch die Geschichte, die wir den Gästen über Roo-Roo erzählen?«