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Buddhistische Soforthilfe in Krisenzeiten
Eine Krise tritt oft unerwartet in unser Leben und zieht uns buchstäblich den Boden unter den Füßen weg. Ob der Verlust eines geliebten Menschen, eine Krankheit oder zermürbende Zukunftsängste – in solchen Situationen fällt es schwer, klar zu sehen und uns zu beruhigen. Die buddhistische Lehre setzt hier an. Denn Buddha weiß: Die Werkzeuge, die wir benötigen, um eine Krise zu bewältigen, sind bereits in uns angelegt.
Mit 25 berührenden Fallgeschichten und dazu passenden Meditationen zeigt uns die Achtsamkeitsexpertin Kimberly Brown, wie wir diese heilsamen, in uns schlummernden Kräfte aktivieren. Wir lernen, schädliche Verhaltensweisen zu verändern und uns mit Geduld und Selbstmitgefühl zu begegnen. Indem wir die uns innewohnende Quelle der Kraft anzapfen, steuern wir voll Selbstvertrauen durch die Krise und gewinnen Zuversicht im Jetzt.
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Seitenzahl: 226
Veröffentlichungsjahr: 2023
Kimberly Brown
25 Übungen für mehr Selbstmitgefühl und Gelassenheit in schwierigen Zeiten
Aus dem amerikanischen Englisch von Marion Zerbst
Die amerikanische Originalausgabe ist 2022 unter dem Titel Steady, Calm, and Brave. 25 Buddhist Practices of Resilience and Wisdom in a Crisis bei Prometheus Books, an imprint of Globe Pequot, the trade division of The Rowman & Littlefield Publishing Group, Inc., Lanham, MD erschienen.
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Deutsche Erstausgabe
© 2023 Arkana, München
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Originalausgabe: STEADY, CALM, AND BRAVE copyright © 2023 by Kimberly Brown
All rights reserved. Originally published in 2022.
Lektorat: Angelika Holdau
Umschlaggestaltung: ki 36 Editorial Design, München, Grafikerin Daniela Hofner
Umschlagmotiv: © AdobeStock/GoldenEyesL.A.
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-31174-2V001
www.arkana-verlag.de
An alle meine Lehrer – frühere, jetzige und zukünftige
Ich bin angekommen, ich bin zu Hause
Im Hier, im Jetzt.
Ich bin stabil, ich bin frei,
Im Letztendlichen verweile ich.
Thich Nhat Hanh1
Vorwort
Anmerkungen zu den Übungen
Kapitel 1 Wie soll ich das nur durchstehen?
Übung 1: Platz schaffen
Kapitel 2 Mach es nicht noch schlimmer, als es ist
Übung 2: Zur Besinnung kommen
Kapitel 3 Mit Ungewissheit leben
Übung 3: Ein konzentrierter Geist
Kapitel 4 Leiden ist nichts Schlimmes
Übung 4: Ja sagen
Kapitel 5 Hoffnung und Vertrauen
Übung 5: Bau dich innerlich auf
Kapitel 6 Liebe dich selbst
Übung 6: Lieben lernen
Kapitel 7 Mit Trauer und Verlusten umgehen
Übung 7: Inneren Frieden finden
Kapitel 8 Wenn deine Familie dich in den Wahnsinn treibt
Übung 8: Ich sehe dich, Wut
Kapitel 9 Krisensituationen bewältigen
Übung 9: Öffne dein Herz für die Welt
Kapitel 10 Entspann dich einfach
Übung 10: Überlass es dem Universum
Kapitel 11 Wenn du Hilfe brauchst
Übung 11: Geben und empfangen
Kapitel 12 Wenn du wütend auf die Welt bist
Übung 12: Lass dein Herz brechen
Kapitel 13 Was tun, wenn man Angst hat?
Übung 13: Dich deiner Angst stellen
Kapitel 14 Wenn andere Menschen sich falsch verhalten
Übung 14: Loslassen
Kapitel 15 Wenn du ruhelos bist und dich langweilst
Übung 15: Genauer hinschauen
Kapitel 16 Eine Glaubenskrise
Übung 16: Vertrauen zurückgewinnen
Kapitel 17 In einer Krisensituation auf dich allein gestellt sein
Übung 17: Für dich selbst da sein
Kapitel 18 Verliere dich nicht
Übung 18: Nach Hause kommen
Kapitel 19 Keinen Schaden anrichten
Übung 19: Sicherheit schaffen
Kapitel 20 Eine Gesundheitskrise überstehen
Übung 20: Mögen alle Menschen geheilt werden
Kapitel 21 Ein paar Anmerkungen über Gedanken und Gebete
Übung 21: Richtig beten
Kapitel 22 Vielleicht brauchst du einfach eine kleine Auszeit
Übung 22 a: Zeit für dich selbst
Übung 22 b: Achtsames gehen
Kapitel 23 Freu dich des Lebens, solange du kannst
Übung 23: Deine Freude mit anderen Menschen teilen
Kapitel 24 Hab keine Angst davor, anderen Menschen etwas zu geben
Übung 24: Dankbarkeit
Kapitel 25 Was kommt als Nächstes?
Übung 25: Dir die Veränderlichkeit des Lebens bewusst machen
Anhang A Anleitung zur Achtsamkeitsmeditation
Schritt 1: Bringe deinen Körper und Geist zur Ruhe
Schritt 2: Sag Hallo
Schritt 3: Komme zu dir selbst
Schritt 4: Finde einen Anker
Schritt 5: Sag Danke
Anhang B Anleitung zur metta-Meditation
Anhang C Meditation zur Heilung der Welt
Anhang D Brahmavihara Paritta
Sachregister
Literaturverzeichnis
Danksagungen
Nach den Bergen kommen noch mehr Berge.
Haitianisches Sprichwort
Ursprünglich hatte ich dieses Buch schon im Jahr 2020 geschrieben – ein paar Monate nach dem Beginn der COVID-19-Pandemie. Meine Familie, meine Freunde, meine Schüler und die ganze Welt standen unter Schock. Alle hatten Angst vor dieser unvorstellbaren Krise, und ich wollte ihnen mit meinen buddhistischen Meditationen und anderen Übungen wieder auf die Beine helfen. Doch während wir darauf warteten, dass die Pandemie abklang und das Leben endlich wieder seinen »normalen« Gang nahm, wurde mir klar, dass es auch nach Corona immer wieder neue Krisen geben würde. Denn eine Krise ist keine einmalige Situation, sondern ein ganz normaler Bestandteil des Lebens – etwas, das wir alle immer wieder durchmachen müssen. Während wir uns mit Corona-Lockdowns und anderen Einschränkungen unseres täglichen Lebens herumschlugen, passierten auf der Welt schon wieder neue Katastrophen, Unglücke und Tragödien: Waldbrände im Nordwesten der USA, verheerende Überschwemmungen in Australien, Hungersnöte aufgrund der Dürre in Angola und der Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan, der die dortige Bevölkerung in herzzerreißendes Elend stürzte. Der Gesundheitszustand meines Vaters verschlechterte sich, bis er schließlich starb; meine Ärztin erfuhr, dass ihre immer schlimmer werdenden Rückenschmerzen in Wirklichkeit Krebs im vierten Stadium waren; und mein Cousin wurde plötzlich ohne jede Vorwarnung von seiner Frau verlassen, nachdem die beiden fast zehn Jahre lang verheiratet gewesen waren.
Du wirst niemals ein »krisenfreies« Leben führen, auch wenn du dir noch so sehr wünschst, von unerwarteten, gefährlichen oder gar katastrophalen Ereignissen verschont zu bleiben. Vielleicht klingt das wie eine schlechte Nachricht; möglicherweise ist es sogar das Allerletzte, was du im Augenblick hören möchtest. Aber es ist eine unausweichliche Tatsache, dass Dinge sich zusammenfügen und wieder auseinanderfallen – so ist das Leben nun mal, ob es uns gefällt oder nicht. Unser Widerstand dagegen erzeugt ein Phänomen, das man im Buddhismus dukkha nennt – unnötiges Leid oder Unbehagen oder überflüssiger Stress: lauter Empfindungen, die unseren schwierigen menschlichen Weg noch schwerer und schmerzhafter machen. Dieses Buch will dir dabei helfen, dein dukkha zu erkennen und zu verstehen, es mit Mitgefühl zu betrachten und dann loszulassen. Denn dadurch gewinnst du die Freiheit, all das Schöne und all die Verbundenheit, die wir auf dieser Welt miteinander teilen, auch unter den schlimmsten Umständen genießen zu können und selbst inmitten schrecklicher Ereignisse immer noch einen klaren Kopf zu behalten, damit du kluge Entscheidungen für dich, deine Familie und die ganze Welt treffen kannst.
Manche Menschen denken: Aber wenn wir einer Krise ins Auge sehen und unser dukkha loslassen, bedeutet das doch, dass wir das alles gutheißen – dass wir Krebs, rücksichtsloses Verhalten, Gewalt, Unterdrückung oder Ungerechtigkeit akzeptieren. Doch der Wahrheit ins Auge zu sehen, bedeutet zu wissen, dass etwas passiert, was wir nicht vermeiden können – und dass unsere Bemühungen, es zu vermeiden, alles nur noch schlimmer machen. Wenn du dieses Buch liest, steckst du wahrscheinlich in irgendeiner Situation, die du dir nicht gewünscht hast, und ich kann verstehen, wie dir zumute ist. Deshalb möchte ich dir in diesem Buch erzählen, was ich während meiner Zeit als buddhistische Schülerin und Meditationslehrerin und aus meinen eigenen schmerzlichen Erfahrungen gelernt habe – als meine beste Freundin an Krebs starb, als ich den 11. September in Manhattan miterlebte und als meine Mutter nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus gleich wieder in die nächste Kneipe fuhr, um weiterzutrinken. Eines kann ich dir mit Gewissheit sagen: Du kannst solchen schrecklichen Augenblicken mit der Zuversicht gegenübertreten, dass sie dich nicht kaputtmachen werden und dass du sie ohne Scham, Verleugnung oder Schuldzuweisung bewältigen wirst. Die Übungen und Meditationen in diesem Buch werden dir dabei helfen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man sich auch in den schlimmsten Situationen ein offenes Herz und einen klaren, unbeirrbaren Verstand bewahren kann. Du kannst die Fähigkeit entwickeln, die ständigen Veränderungen des Lebens zu akzeptieren und dir selbst und deinen Mitmenschen mit Offenheit und Freundlichkeit zu begegnen. Und du kannst lernen zu unterscheiden, welche Ereignisse sich beeinflussen lassen und welche nicht.
Natürlich wird das nicht immer einfach sein. Du wirst Zeiten großer Zweifel durchmachen – Momente, in denen du dich einsam und verloren fühlst und Angst hast; Situationen, in denen dir all deine Bemühungen nutzlos erscheinen und du am liebsten aufgeben würdest. Und dann wirst du hoffentlich dieses Buch zur Hand nehmen und dich an deinen Mut erinnern – an dein großes, tapferes Herz, das dich auch in niederschmetternden Augenblicken, wenn dir deine Zukunft in den düstersten Farben erscheint, nicht im Stich lässt. Ich weiß, dass du diesen Mut hast, weil ich ihn auch habe. Wir alle besitzen ihn. Und auch wenn du jetzt vielleicht noch nicht daran glaubst, wird er in solchen schwierigen Lebensphasen da sein und dir weiterhelfen. Ich selbst hätte auch nie gedacht, dass ich standhaft, ruhig oder mutig sein kann; doch dank der traditionellen buddhistischen Techniken und Übungen, die ich in diesem Buch beschreibe, habe ich mein großes, tapferes Herz entdeckt. Und ich bin sicher: Mit ein bisschen Zeit, Mühe und Übung wird dir das auch gelingen.
Bei den Übungen in diesem Buch handelt es sich um Abwandlungen traditioneller Meditationen, die ich während meiner buddhistischen Ausbildung erlernt habe. Sie sollen dir dabei helfen, Trost zu finden, Erkenntnisse über deine Lebensgewohnheiten und dein Verhalten zu gewinnen und dich letztendlich von Leid zu befreien.
Diese Übungen lassen sich so abwandeln, dass sie jeder – unabhängig von seinen Fähigkeiten – machen kann. Wenn du nicht gehen kannst, dann übe im Sitzen. Wenn du nicht sitzen kannst, leg dich hin. Wenn du unter Asthma oder Atembeschwerden leidest, benutze statt deines Atems bestimmte Laute als Anker. Du kannst die Augen beim Üben offen oder geschlossen halten. Es gibt keine falsche Art zu meditieren, solange du dich dabei in der Gegenwart zentrierst, aufmerksam bist und dir selbst mit liebevoller Freundlichkeit begegnest.
Obwohl es sich bei dem, was ich in diesem Buch beschreibe, lediglich um Anregungen und nicht um Vorschriften handelt, möchte ich dir dringend ans Herz legen, alle Übungen zu machen. Denn meiner Erfahrung nach haben Meditation und die Zeit, die du allein in der Stille verbringst, eine heilsame, beruhigende und entspannende Wirkung – aber nur, wenn du das alles auch wirklich konsequent durchziehst. Am Anfang wird dir das vielleicht schwerfallen – vielleicht wirst du dabei zappelig werden oder dich langweilen –, und das ist auch gar nicht schlimm. Es dauert seine Zeit, bis du dich daran gewöhnt hast, dir auf eine neue Art und Weise Aufmerksamkeit zu schenken. Gib nicht auf – ich bin überzeugt davon, dass du es schaffen wirst, denn auch mir fiel es anfangs schwer; aber nun, da ich ein bisschen Zeit und Übung in die Meditation investiert habe, fühle ich mich dabei sehr wohl und entspannt, selbst an Tagen, an denen mein Geist frustriert oder träge ist oder von einem Gedanken zum nächsten springt.
Am wichtigsten ist es, beim Üben das richtige Augenmaß walten zu lassen. Wenn dein Durchhaltevermögen nachlässt, und du anfängst, dich überfordert zu fühlen, dann höre lieber auf und versuche es später noch einmal. Wenn du zu müde zum Meditieren bist, mach ein kleines Nickerchen. Und wenn du den Mut verlierst und am liebsten aufgeben würdest, erinnere dich an den Grund deines Übens, und zwar zu lernen, in schwierigen Zeiten (und darüber hinaus) gut und liebevoll für dich selbst zu sorgen.
Wenn dein Geist beschränkt ist, regst du dich sehr leicht über Kleinigkeiten auf.
Lass deinen Geist zu einem Ozean werden.
Lama Yeshe1
Wenn du in einer Krise steckst, erscheint dir diese Situation vielleicht ziemlich unwirklich. Möglicherweise ist die Krise so plötzlich eingetreten, dass du immer noch unter Schock stehst. Oder sie hat sich schon lange angebahnt, und du hast dir Sorgen gemacht, dass etwas passieren könnte; aber jetzt, wo sie da ist, kannst du es trotzdem nicht fassen.
So erging es auch Jennifer. Sie und ihr Mann Brian waren seit zehn Jahren verheiratet, und obwohl sie in vielerlei Hinsicht gut zueinander passten – beide waren Lehrer, sie unterrichtete an der Grundschule, er am Gymnasium –, gab es oft Streit zwischen ihnen. Das kam sogar so häufig vor, dass Jennifer oft dachte, sie würden sich trennen; aber es gelang ihnen dann doch jedes Mal, eine Lösung zu finden. Sie gingen zur Paarberatung und lernten, respektvoller und einfühlsamer miteinander umzugehen; trotzdem kam es immer wieder aufs Neue zu Streitigkeiten. Und letztes Jahr – eine Woche nach dem Valentinstag, nachdem sie sich wieder mal einen ganzen Abend lang angeschrien hatten – wurde ihnen klar, dass ihre Ehe endgültig vor dem Aus stand. Als Brian die Wohnung verließ, um bei einem Freund zu übernachten, und Jennifer die Tür hinter ihm ins Schloss fallen hörte, setzte sie sich wie benommen auf die Couch. Was sollte sie jetzt tun? Wollte sie sich scheiden lassen? Und wie würde ihr Leben danach weitergehen? Konnte sie überhaupt eine bezahlbare Wohnung finden? Sie hatte keine Ahnung, was sie als Nächstes tun sollte, und fühlte sich verängstigt, verloren und am Ende ihrer Kraft.
Vielleicht ist dir genauso zumute wie Jennifer – und das ist auch gar nicht schlimm. Dieses Buch möchte nichts an deinen Emotionen ändern und dir auch nicht vorschreiben, wie du dich fühlen sollst, sondern dir dabei helfen, allem, was in deinem inneren oder äußeren Leben gerade passiert, mit Verständnis, Einsicht und liebevoller Freundlichkeit zu begegnen. Das kannst du erreichen, indem du zunächst mal einen Gang zurückschaltest und deinem Körper und deinem Herzen ruhige Aufmerksamkeit entgegenbringst. Vielleicht ist das das Allerletzte, was du tun möchtest, wenn du aufgeregt bist; und das kann ich auch gut verstehen, denn den meisten Menschen geht es so. Wenn du mitten in einem großen Problem steckst oder das Gefühl hast, dass sich eine Katastrophe anbahnt, drängt es dich wahrscheinlich dazu, sofort zu handeln: Entscheidungen müssen getroffen, Schwierigkeiten aus der Welt geschafft, Hindernisse beseitigt werden.
Doch bevor du etwas unternimmst, solltest du deinen Schock, deine Aufregung oder deinen Kummer zunächst einmal in den Griff bekommen, damit deine Handlungen von gesundem Menschenverstand getragen und nicht von deinem Seelenschmerz getrübt werden. Jennifers erster Impuls bestand zum Beispiel darin, im Internet nach einer Wohnung zu suchen, einen Anwalt zu finden und ein Glas Wein zu trinken. Dann rief sie ihre Schwester Teri an, die sich ihr verzweifeltes Schluchzen am Telefon anhörte und sagte: »Hör auf damit, Jen. Du musst dich um dich selbst kümmern.« Da entgegnete Jennifer ihr wütend: »Ich kümmere mich doch um mich selbst! Hörst du mir denn nicht zu?«
Wenn du so großen Kummer hast und so aufgewühlt bist, dass du nicht weißt, was du tun sollst, sondern einfach nur möchtest, dass der Schmerz aufhört, ist das ein Zeichen dafür, dass du deine Aufmerksamkeit mehr auf dich selbst richten solltest. Lege eine Hand auf deine Brust und spüre deinen Herzschlag und deinen Atem. Sage dir: »Ich habe gerade ein echtes Problem« und atme zehnmal ganz tief durch. Wiederhole das, sooft du ein Bedürfnis danach verspürst.
Dich um dich selbst zu kümmern, bedeutet, in dich hineinzuhören. Es bedeutet, auf liebevolle Weise für dich da zu sein, auch wenn du gerade mit bitterem Groll oder tiefem, erdrückendem Kummer zu kämpfen hast. Manche buddhistischen Lehrer bezeichnen es als »Platz schaffen«, wenn man lernt, alle Gefühle vorbehaltlos in seinem Geist und Körper aufsteigen zu lassen, ohne sie zu verurteilen. Platz zu schaffen, ist eine Art liebevoller Aufmerksamkeit für das, was gerade in dir vorgeht – so schmerzhaft es auch sein mag –, und bringt große Erleichterung und tiefe Einsichten.
Du brauchst deine Gefühle nicht zu unterdrücken oder zu überwinden; stattdessen kannst du einfach innerlich zur Ruhe kommen, für deine Emotionen präsent sein und sie liebevoll beobachten. Wenn du Platz schaffst, musst du keine unangenehmen Empfindungen unterdrücken oder verdrängen. Denn dann lernst du, dass dein Geist groß genug ist, um alles sanft und liebevoll in sich aufzunehmen – den Schmerz des Verlassenseins, deinen Impuls, wütend auf andere Menschen loszugehen, ja sogar deine vor Selbsthass triefenden Gedanken und Überzeugungen. In dieser Haltung liebevoller Präsenz und Offenheit erkennst du, dass du nichts dagegen zu tun brauchst, was du gerade erlebst. Und siehe da: Schon empfindest du dein dukkha – diesen Stress und Schmerz, der entsteht, wenn man versucht, seine Gefühle loszuwerden oder zu verleugnen – nicht mehr, und dann kannst du deine beängstigenden, beunruhigenden oder besorgniserregenden Lebensumstände gleich sehr viel besser ertragen.
In Krisensituationen solltest du also daran denken, dich zuallererst um dich selbst zu kümmern, bevor du Entscheidungen triffst, nach Lösungen suchst oder irgendjemandem die Schuld an deinem Problem gibst; denn dadurch würdest du die Schwierigkeiten, in denen du steckst, nur noch verschlimmern oder vor lauter Angst, Verzweiflung oder Dummheit falsche Entscheidungen treffen. Du kannst vielleicht nicht jede unerwartete Gefahr und jeden Verlust abwenden; aber du kannst zumindest immer gut für dich selbst sorgen, indem du Platz schaffst, dein Herz öffnest und deine Aufmerksamkeit – unabhängig von der jeweiligen Situation – geduldig und liebevoll auf dich selbst richtest.
Vielleicht glaubst du, dass es dir an der nötigen Geduld, Güte oder Liebe fehlt, um all den Schwierigkeiten in deinem Leben und all deinen belastenden Gedanken Raum zu geben. Aber die buddhistische Tradition geht davon aus, dass wir alle mit einer grenzenlosen Fähigkeit dazu auf die Welt kommen, gut für uns selbst und für andere Menschen zu sorgen. Wir besitzen genauso viel Liebe, Freude, Weisheit und Mitgefühl wie wir brauchen, und können diese Eigenschaften auch in unbegrenztem Ausmaß weiterentwickeln. Wir können in unserem Herzen Platz für uns selbst, füreinander und für die ganze Welt schaffen – um uns und unsere Mitmenschen grenzenlos und vorbehaltlos zu lieben.
Übung 1: Platz schaffen
Stelle dir vor, du entdeckst in einer kalten Nacht vor dem Drogeriemarkt in deiner Stadt einen Welpen, der ausgesetzt wurde. Die kleine Hündin hat Hunger, zittert vor Kälte und drängt sich an die Ziegelsteinmauer, um sich zu wärmen; und du spürst, wie dein Herz aufgeht: Du machst dir Sorgen, weil sie so hilflos ist, willst sie beschützen und dich um sie kümmern. Als du dich der Hündin näherst, merkst du, dass sie Angst hat, und möchtest sie beruhigen; also bewegst du dich ganz langsam und sprichst leise und liebevoll mit ihr. Als du die Hand ausstreckst, um sie zu berühren, weicht sie ängstlich zurück; aber du streichelst behutsam ihren Kopf, und sie beruhigt sich wieder. Als du sie hochhebst und an deine Daunenjacke drückst, drängt sie sich verzweifelt an dich, und du empfindest einen natürlichen, liebevollen Beschützerinstinkt gegenüber diesem wehrlosen Geschöpf.
Bei der nun folgenden Meditation solltest du versuchen, dich deinen Empfindungen genau so zu nähern, wie du auf einen verängstigten, von seinen Besitzern verlassenen Welpen zugehen würdest. Wenn deine Gedanken abschweifen und dich ablenken, habe Geduld und versuche es noch einmal. Wenn du frustriert bist, weil dir die Meditation nicht auf Anhieb gelingt, sei sanft und nachsichtig mit dir. Und wenn du dich überfordert fühlst, mache eine kleine Pause und atme tief durch. Denke daran, dass du große Ähnlichkeit mit diesem kleinen Welpen hast – du bist ein verletzliches Geschöpf in einer schwierigen Situation, das Schutz, Liebe und Fürsorge braucht.
Nimm zur Kenntnis, dass du aufgebracht, wütend oder verwirrt bist oder irgendein unangenehmes Ereignis zu verdrängen versuchst.Suche dir ein bequemes Plätzchen, an dem du ruhig und ungestört dasitzen kannst. Schalte alle deine Geräte aus. Schließe die Augen, lege eine Hand auf deinen Bauch und atme mindestens fünfmal ganz tief ein und aus.Sage in Gedanken oder laut vor dich hin: »Ich habe ein Problem«, »Das ist eine schwierige Situation für mich«, »Ich bin aufgewühlt« oder finde irgendeine andere Formulierung, die beschreibt, was gerade in dir vorgeht.Lege eine Hand auf dein Herz und atme wieder ein paarmal tief durch. Dann sagst du: »Es ist alles in Ordnung«, »Ich sehe dich«, »Ich verstehe dich«, »Ich weiß, dass du da bist« oder irgendeinen anderen Satz, mit dem du Verständnis dafür äußerst, was gerade in dir vorgeht.Atme weiter und sage: »Es ist in Ordnung, dass dieses Gefühl da ist«, »Du bist hier willkommen«, »Du brauchst nicht wegzugehen« oder finde andere Worte oder Sätze, mit denen du dich beruhigst und dir versprichst, dich in deiner Not nicht im Stich zu lassen.Wiederhole diese Sätze immer wieder und konzentriere dich dabei auf deine Atmung. Atme tief ein und achte darauf, dass beim Ausatmen die ganze Luft aus deinen Lungen entweicht. Wiederhole diese Übung, sooft du ein Bedürfnis danach hast.Befreie deinen Geist, denn der erzählt dir nur Geschichten.
Dipa Ma1
Daniels Mutter Bethany rechnete immer mit dem Schlimmsten, und niemand konnte ihr das ausreden. Wenn es einen Sturm gab, sagte sie einen Tornado voraus. Wenn das Auto nicht gleich ansprang, wusste sie sofort, dass sie nicht genug Geld haben würde, um es reparieren zu lassen. Und selbst wenn sie zu spät zu ihrem Arbeitsplatz kam – den sie schon seit sechs Jahren hatte (und ihre Chefin war immerhin ihre beste Freundin, Daniels Tante Niki) –, war sie überzeugt davon, dass sie gefeuert werden würde. Deshalb wunderte Daniel sich überhaupt nicht darüber, dass sie untröstlich war, als seine dreizehnjährige Schwester Ceci nach der Schule nicht sofort nach Hause kam und eine Stunde lang unauffindbar war, obwohl seine Mutter schon bei all ihren Freunden und auch in der Schule angerufen hatte. Zuerst war Bethany fest davon überzeugt, dass Ceci weggelaufen war; dann fragte sie sich, ob irgendein Menschenhändler sie vielleicht in ein Auto gelockt und entführt hatte, um sie als Sexsklavin zu verkaufen. Sie malte sich aus, dass Ceci womöglich ermordet und ihre Leiche an den Bahngleisen gegenüber von Dunkin’ Donuts abgelegt worden war, und rief die Polizei. Als die beiden im Wohnzimmer saßen und auf den Besuch des Polizeibeamten warteten, sagte Daniel zum dritten Mal laut und energisch zu seiner Mutter: »Mama, sie ist nur sauer, weil du sie nicht zum Strokes-Konzert gehen lassen willst! Wahrscheinlich ist sie zusammen mit Marisa bei Taco Bell – ich bin sicher, dass sie bald nach Hause kommt.« Aber Bethany rief: »Wer weiß, ob ich sie je wiedersehe!«, und schluchzte herzzerreißend.
Wenn es dir auch so geht wie Bethany und du in jeder Situation automatisch mit dem Schlimmsten rechnest, neigst du wahrscheinlich zum Katastrophisieren. Das ist eine sehr häufige kognitive Verzerrung, bei der man sich immer alles viel schlimmer vorstellt, als es in Wirklichkeit ist. Katastrophisieren trübt unser Urteilsvermögen, hindert uns daran, die richtigen Entscheidungen zu treffen, und macht uns unnötig nervös und ängstlich. Wenn du die Gewohnheit hast, immer aus allem die negativsten Schlussfolgerungen zu ziehen, weißt du sicherlich, wie schmerzhaft das für dich und die dir nahestehenden Menschen sein kann. Vielleicht hat man dir sogar schon gesagt, dass du dir das endlich abgewöhnen sollst – aber du weißt einfach nicht, wie.
Wenn du dich dabei ertappst, dass du nicht aufpasst – irgendjemand hat etwas gesagt, aber du hast es nicht gehört, oder du schaust dir eine Fernsehsendung an und hast die letzten zehn Minuten davon nicht mitbekommen –, ist das ein Zeichen dafür, dass du irgendwelchen negativen Gedanken oder Horrorgeschichten nachhängst. Das ist genau der richtige Augenblick zum »Dehnen und Seufzen«: Hebe die Hände über den Kopf, strecke dich und atme tief ein. Danach atmest du mehrmals laut durch den Mund aus.
Weil man so schnell ins Katastrophisieren verfällt, erkennt man oft nicht, dass es sich dabei um eine erlernte Reaktion handelt. Schreckliche Gedanken steigen in dir auf, unaufgefordert und ungewollt, und du glaubst daran und reagierst mit Angst und Panik. Aber was wäre, wenn du nicht daran glauben würdest? Gedanken sind nicht das Gleiche wie Tatsachen oder die Realität – sie sind nur eine Art, wie du deine Erfahrungen interpretierst und mit anderen Menschen darüber redest. Du kannst den Teufelskreis des katastrophisierenden Denkens also durchbrechen, indem du lernst, dich nicht so sehr in den Sog deiner negativen Gedanken hineinziehen zu lassen und sie für wahr zu halten.
Ein Weg dazu besteht darin, Achtsamkeit zu erlernen – eine einfache Technik, mit der du dir bewusst machst, was von Sekunde zu Sekunde in deinem Inneren und um dich herum passiert. Durch diese Achtsamkeitspraxis lernst du, Abstand zwischen deinen Gedanken und deinen Reaktionen darauf zu schaffen. Du trittst einen Schritt zurück, um deine Gedanken mit Interesse und klarem Urteilsvermögen zu betrachten und dann zu entscheiden, ob sie nützlich und wahr sind, ob du darauf reagieren möchtest und – wenn ja – wie. Achtsamkeit ist ein sehr hilfreiches Werkzeug, das dich davon abhalten kann, dich allzu sehr in den Trugbildern deiner inneren Worst-Case-Szenarien oder katastrophalen Fantasiegebilde zu verlieren. Sie hält dich davon ab, deinen negativen Vorstellungen weiter nachzuhängen, sodass du wieder zu der Realität dessen zurückkehren kannst, was in diesem Moment tatsächlich passiert.
In einer Katastrophe oder Krisensituation ist Achtsamkeit das Beste, was du für dich und deine Mitmenschen tun kannst. Wenn du den Ernst der Lage überschätzt und ins Katastrophisieren verfällst, so wie Bethany es tut, kannst du das Risiko nicht richtig beurteilen, und dann fallen dir keine guten Lösungen ein. Als die Polizei bei Daniel eintraf, hatte seine Mutter sich bereits wieder beruhigt. Einer der Polizisten hielt ihre Hand und versicherte ihr, dass mit Ceci höchstwahrscheinlich alles in Ordnung war. Und als Bethany wieder zu Atem kam, fiel ihr ein, was Cecis Freundin Niki an diesem Morgen erwähnt hatte: Sie wollte Ceci ihr Perlen-Set – einen großen alten Werkzeugkasten mit Perlen, Draht und anderem Zubehör zum Basteln von Modeschmuck – schenken. Also griff Bethany nach ihrem Handy und schickte Niki eine SMS. Und tatsächlich: Ceci war bei ihrer Freundin, und beide wunderten sich darüber, dass die Mutter sich so sehr über ihr Fernbleiben aufgeregt hatte. Bethany wurde klar, dass sie sich von ihrer Angst vor dem Verlust ihrer Tochter hatte überwältigen lassen: Sie hatte sich so große Sorgen über Cecis Zuspätkommen gemacht, dass sie sich nicht einmal mehr an das Gespräch von heute Morgen erinnerte und außerstande war, sich gut um sich selbst oder ihre Kinder zu kümmern. Die Situation wäre ganz anders verlaufen, wenn sie in der Lage gewesen wäre, ihre Ängste und Horrorvorstellungen als solche zu erkennen, statt sie für real zu halten.
In der buddhistischen Tradition sind Gedanken einfach nur einer unserer Sinne. Es gibt insgesamt sechs Sinnesbereiche (ayatana): Seh-, Hör-, Riech-, Schmeck-, Tast-/Spür- und Denksinn. Diese Sinne entsprechen unseren Wahrnehmungen beim Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten und Denken – lauter wichtige Informationsquellen. Leider räumen die meisten Menschen dem Denken eine höhere Priorität ein als anderen Sinnen wie beispielsweise dem Geruchs- oder Geschmackssinn. Das heißt, sie richten ihr Augenmerk in erster Linie auf ihren Denksinn und ignorieren alle anderen Informationen. Die Achtsamkeitspraxis lehrt uns, allen unseren Sinneseindrücken Aufmerksamkeit zu schenken – um ein vollständiges Bild von der Realität zu erhalten und um Fantasien oder Täuschungen unseres Denksinns zu erkennen, damit wir uns nicht in solche Fehlvorstellungen verrennen.
Übung 2: Zur Besinnung kommen
Wenn jemand etwas Schreckliches getan hat, sagen wir oft: »Er war wie von Sinnen.« Damit meinen wir, dass dieser Mensch verrückt oder verwirrt war und nicht wusste, was er tat. Das ist genau das Gegenteil von Achtsamkeit. Denn Achtsamkeit bedeutet, nicht von Sinnen, sondern mit allen Sinnen präsent zu sein, auf alles zu achten, was geschieht, und in jeder Sekunde genau zu wissen, was man tut. Wenn du achtsam bist, ertappst du dich sofort beim Katastrophisieren; und dann kannst du aufhören, vorschnell falsche Schlüsse zu ziehen und dich zu dummen oder schädlichen Reaktionen hinreißen zu lassen. Das erfordert Übung; deshalb solltest du die nun folgende Meditation sechs Wochen lang mindestens einmal am Tag machen und anschließend versuchen, deine Reaktionen in schwierigen Situationen zu beurteilen: Neigst du jetzt weniger zum Katastrophisieren als vorher?
Setze dich in ein ruhiges Zimmer, wo du ganz ungestört bist. Stelle den Timer deines Handys auf 15 Minuten und lege es außer Reichweite.