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Das starke Unwetter, das in der Nacht über das Anwesen der Weidenthals gefegt ist, hat zum Glück keine größeren Schäden angerichtet. Doch unter einem entwurzelten Busch macht Fabiana – zusammen mit ihrem Cousin Louis die jüngste Generation der Familie – eine schaurige Entdeckung. Während die Polizei mit den Ermittlungen kaum weiterkommt, beginnt für Fabiana und Louis eine spannende Reise in die Familiengeschichte: eine Reise, bei der sie sich nicht ganz freiwillig einer Führung anvertrauen, von der sie nicht wissen, wer oder was sie ist.
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Seitenzahl: 96
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Den Adelstitel hatten die Weidenthals – ehemals von Weidenthals – schon vor vielen Jahren abgelegt. Sie lebten ein bürgerliches Leben mit normalen Berufen, die Kinder besuchten normale Schulen und gingen den gleichen Hobbys nach wie ihre Altersgenossen.
Geblieben war ihnen dagegen der alte Herrensitz, der heute allerdings nicht mehr vor den Toren der Stadt lag wie zur Zeit seiner Erbauung. Die sich ausdehnende Stadt hatte ihn eingeschlossen, rundherum erstreckten sich Wohnviertel. Wenn man einmal durchs Tor in den parkartigen Garten getreten war, konnte man das jedoch leicht vergessen: Büsche und Bäume an der Innenseite der Mauer rahmten alles ein und ließen kaum einen Blick durch auf Häuser und Straßen draußen.
Das Haus war groß genug, dass drei Generationen unter einem Dach leben konnten, ohne sich gegenseitig zu stören. Es war drei Stockwerke hoch und hatte drei Flügel, die einen gekiesten Innenhof umrahmten. Im Hauptflügel hatten die Großeltern ihre Wohnung unter dem Dach, darunter wurde ein Teil der Räume für Hochzeiten und andere Veranstaltungen vermietet. Rechts und links, im West- und Ostflügel, lebten die beiden Söhne mit ihren Familien und hatten sich auch beruflich dort eingerichtet. Im Westflügel betrieb der ältere Sohn gemeinsam mit seiner Frau ein Architekturbüro, im Ostflügel residierten die Werbeagentur seines Bruders und das Übersetzungsbüro von dessen Frau.
Die derzeit jüngste Generation der Weidenthals konnte sich über den Hof hinweg zuwinken. Wenn sie einander besuchen wollten, hatten sie allerdings den denkbar weitesten Weg durchs Haus, deshalb gingen sie meistens auch über den Hof. Louis im Westflügel und seine Cousine Fabiana im Ostflügel hatten jeweils das Zimmer, das im zweiten Stock vor Kopf auf der dem Hof zugewandten Seite lag. Sie fanden das praktisch: Wenn es morgens Zeit wurde für die Schule, konnte sie sich mit einem kurzen Blick über den Hof hinweg abstimmen, wann sie losgingen.
Beide besuchten dasselbe Gymnasium in der Stadt, jedoch nicht in derselben Klasse. Louis war ein gutes halbes, fast ein Dreivierteljahr älter als seine Cousine und deshalb schon in der 8. Klasse, Fabiana ging noch in die 7. Meistens liefen sie zusammen zur Schule, sie hatten schließlich denselben Weg, und sie verstanden sich gut.
Gemeinsam waren sie auch im Schwimmverein. Lokal konnten beide die eine oder andere Medaille vorweisen, bei regionalen Wettbewerben hatte es noch nicht zu einem Platz auf dem Treppchen gereicht. Das war okay, sie hatten den Ehrgeiz, so gut zu sein wie möglich, konnten aber anerkennen, wenn andere besser waren. Louis liebäugelte damit, sich zusätzlich im Rettungsschwimmen zu versuchen, Fabiana überlegte, ob sie Turmspringen ausprobieren sollte; eine Freundin hatte vor einem halben Jahr damit angefangen und hätte sie gern mitgenommen.
Für das erste Oktober-Wochenende war die Wettervorhersage ausgesprochen mies, und die Realität bestätigte die Befürchtungen der Meteorologen. Am Freitagmorgen hatten Louis und Fabiana noch Glück und kamen trockenen Fußes zur Schule. Aber schon zur ersten großen Pause hatte sich der Himmel zugezogen, und der auffrischende Wind, der kühl über den Schulhof strich, zeigte, dass der Regen nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Die dritte Stunde war noch keine zehn Minuten alt, als dicke Tropfen gegen die Scheiben zu prasseln begannen.
Als Louis und Fabiana sich mittags auf den Heimweg machten, regnete es immer noch in Strömen, und der Wind blies ihnen entgegen. Ihre Anoraks würden dem nicht standhalten, bis sie zu Hause waren, auch wenn sie wasserabweisend waren; auf Dauer hielten diesen Regen nur Ölhäute ab. Die Hosenbeine waren schon nach ein paar Metern durchweicht.
Kurz überlegten Louis und Fabiana, ob sie den Bus nehmen sollten, doch das hätte sie nicht gerettet: Der Weg von der nächsten Bushaltestelle nach Hause war nur unwesentlich kürzer als der von der Schule. Durch den Umstieg, der dabei nötig gewesen wäre, hätte die Busfahrt sie sogar zusätzlich Zeit gekostet.
„Eins steht fest:“, rief Louis seiner Cousine durch den Regen hindurch zu. „Ich geh heute nicht mehr raus.“ „Schwimmtraining, schon vergessen?“, rief Fabiana zurück. Louis zeigte ihr den Vogel. „Da sind wir doch ersoffen, ehe wir da sind“, prophezeite er. Seine Cousine grinste. „Nur ein Scherz“, versicherte sie. „Wenn das so bleibt, lasse ich das Training sausen.“ „Kommt eh keiner dann“, schloss Louis das Thema ab.
Der Regen hielt sich hartnäckig, und Louis und Fabiana brauchten das Schwimmtraining nicht zu schwänzen, weil es ohnehin abgesagt wurde. Die Trainerin wollte niemandem zumuten, sich durch den Regen zum Schwimmbad zu kämpfen.
Auch am nächsten Morgen regnete es noch. Als Fabiana aufwachte, nahm der Regen sich eine Auszeit, es nieselte nur, aber das war wohl wirklich nur eine kurze Pause. Also würde auch der Samstag ein Tag werden, um etwas drinnen zu machen, aber Fabiana hoffte, dass sie sich wenigstens mit einer Freundin treffen konnte, ohne auf dem Weg völlig durchnässt zu werden.
Für einen Moment blieb sie, noch im Schlafanzug, am Fenster stehen und ließ den Blick über den Garten schweifen. Auf dem Vorplatz standen Pfützen, und dicke Wassertropfen fielen von den Blättern der Büsche auf den Boden. Sonst schien der Regen aber keinen Schaden angerichtet zu haben, auch die Regenrinne am Gärtnerhaus, die zuletzt etwas Sorgen gemacht hatte, schien gehalten zu haben.
Aber was war das? Rechts vom Tor stand einer der Sträucher völlig schief. Das war am Vorabend noch nicht so gewesen, da war Fabiana sicher, es wäre ihr garantiert aufgefallen.
Sie beschloss, nachzusehen, sobald sie sich fertiggemacht hatte. Bis zum Frühstück war noch etwas Zeit, und solange es nur nieselte, musste sie sich auch nicht im Haus verschanzen. Der Anorak, den sie am Vortag auf dem Schulweg angehabt hatte, war noch nicht wieder getrocknet, aber sie hatte noch einen anderen, daran würde es nicht scheitern.
Eine Viertelstunde später trat Fabiana aus dem Nebeneingang am Kopfende des Ostflügels. Sie hatte Gummistiefel angezogen, denn das Gras war nass und der Boden sicherlich aufgeweicht nach einem Tag und einer Nacht mit ständigem und teilweise heftigem Regen.
Sie ging über den Vorplatz, die Zufahrt hinunter zum Tor und dann innen an der Hecke entlang. Niemand begegnete ihr, die Familie stand gerade erst auf, und in den Büros war samstags ohnehin kaum etwas los. Ihre Eltern arbeiteten zwar gelegentlich am Wochenende, aber die Angestellten hatten frei, und Kundentermine kamen äußerst selten vor; wenn, dann am ehesten bei Fabianas Mutter. Aber auch dafür war es zu früh.
Schließlich stand Fabiana vor dem Busch, der ihr aufgefallen war. Ja, er stand nicht nur schief, er war umgefallen, und nur einige abstehende und offenbar stabile Äste verhinderten, dass er flach im Gras lag. Die Ursache war nicht schwer zu erkennen, im Boden, genau dort, wo der Strauch gewurzelt hatte, klaffte ein Loch.
Im ersten Moment dachte Fabiana an ein Tier, obwohl sie kein einheimisches Tier hätte benennen können, das ein so großes Loch graben würde. Die Öffnung hatte einen Durchmesser von bestimmt einem Meter, und es sah so aus, als würde sie sich sogar noch unter die Mauer erstrecken. Ein Einbruchsversuch? Das passte schon eher zur Größe des Lochs, aber es gab leichtere Methoden, unbemerkt aufs Grundstück zu kommen, als einen Tunnel unter der Mauer hindurch zu graben.
Vorsichtig trat Fabiana noch einen Schritt näher und ging in die Hocke. Zu nah durfte sie nicht herangehen, die Wände des Lochs waren nicht befestigt, und gerade wenn der Boden so durchweicht war, hätten die Kanten leicht nachgeben können unter ihrem Gewicht.
Was sie von den Wänden sehen konnte, sah nicht menschengemacht aus. Sie fand weder Stützen oder Verschalungen noch glatte Flächen, wie sie ein Spaten oder eine Schaufel hinterlassen hätte, oder Einschläge einer Hacke. War vielleicht schon Erde nachgerutscht und verdeckte die Spuren des Baus?
Wenn jemand durch das Loch gekommen war, musste er auch Fußspuren hinterlassen haben, fiel ihr ein. Der konnte sich nicht in Luft aufgelöst haben, und über den Boden geschwebt war er sicherlich auch nicht.
Doch die einzigen Fußabdrücke, die sie sah, waren ihre eigenen. Da, wo kein oder wenig Gras wuchs, hatten sich die Sohlen ihrer Gummistiefel tief in den Boden gedrückt. Auf dem Rasen waren die Abdrücke nicht ganz so gut zu sehen, aber immer noch gut genug; die vom Regen aufgeweichte Erde machte es möglich. Wäre jemand anderes hier entlanggekommen, hätte er zweifellos ebenfalls deutlich sichtbare Abdrücke hinterlassen, aber nichts deutete darauf hin, dass in der Nacht oder am Morgen irgendjemand hier herumgelaufen war außer Fabiana selbst.
Vielleicht weiter unten im Loch? Den Boden hatte sie kaum sehen können, einerseits, weil sie sich nicht direkt an die Kante getraut hatte, andererseits, weil die Wurzeln des umgestürzten Busches den Blick teilweise versperrt hatten.
Sie ging zurück und tastete sich vorsichtig an das Loch heran, soweit es ging, ohne einen Absturz zu riskieren. Dann holte sie ihr Handy aus der Tasche, um in die Öffnung hineinzufotografieren. Die ersten Versuche gingen noch schief: Erst verwackelte sie das Bild, weil sie nicht daran gewöhnt war, das Handy mit derselben Hand zu bedienen, mit der sie es hielt, dann war das Foto viel zu dunkel. Es war einer dieser Tage, die nicht hell werden zu wollen schienen, und die Büsche nahmen auch noch Licht weg. Erst als Fabiana den Blitz dazunahm, bekam sie ein halbwegs brauchbares Bild, nicht völlig scharf, aber ausreichend.
Sie entfernte sich einen Schritt vom Loch und betrachtete dann das Foto. Erde, Wurzeln, vereinzelte Steine, eben das, was man erwarten durfte, wenn man im Garten buddelte. Am oberen Bildrand war eine Steinkante zu sehen, das musste die Unterkante des Mauerfundaments sein. Also ging das Loch wirklich bis unter die Mauer, auch das hatte sie vorher eher vermutet, als es wirklich zu sehen. Wie weit, war nicht zu erkennen, sie würde draußen nachschauen müssen.
Fast in der Mitte des Bildes zog etwas anderes ihren Blick an. In der Erde zeichnete sich etwas ab, es fiel auf, weil es heller war als die Erde selbst, weißlich oder gräulich, auf jeden Fall heller. Zunächst dachte Fabiana, es könnte ein Werkzeug sein, das vielleicht derjenige verloren hatte, der für das Loch verantwortlich war. Doch als sie genauer hinsah, erkannte sie ihren Irrtum und erschrak wie selten in ihrem Leben. Es war kein Werkzeug, das da in der Erde steckte, auch keine Wurzel – es war eine Hand!
Fabianas Schreckensschrei hallte durch den Park und war sicherlich bis zur Straße zu hören. Das Handy fiel ihr aus der Hand und klatschte in den Morast. Fabiana merkte es kaum, sie stand wie versteinert neben dem Loch und starrte ins Leere.
Der Besitzer der Hand – oder die Besitzerin – bekam davon nichts mit, konnte gar nichts davon mitbekommen. Doch bis zu Fabiana durchsickerte, dass sich dort niemand aufrichten und sie packen würde, dauerte es einen Moment. Wer auch immer da unten lag, war nicht beim Graben des Lochs verschüttet worden, dieser Mensch war schon viele Jahre tot. Als Fabiana schließlich ihr Handy aufklaubte, das Display an ihrem Pullover notdürftig sauber wischte und vorsichtig noch mal schaute, sah sie, dass die Hand nur noch aus Knochen bestand.
Ihr Schrei hatte Louis aufgeschreckt. Der war noch nicht richtig wach gewesen, aber der Schrei draußen im Garten wirkte nachhaltiger als jeder Wecker. Die Stimme hatte er nicht direkt erkannt, aber es war im Garten, und das reichte, um ihn schlagartig wach zu machen. Erstens hatte dort um diese Zeit niemand etwas zu suchen außer der Familie, und zweitens sollte es dort auch nichts geben, was jemandem Angst hätte machen können.
Er schwang die Beine aus dem Bett und war mit drei langen Schritten am Fenster. Erst mal im Schatten des Fensterstocks bleiben, sagte ihm die Erfahrung, die er sich früher aus Detektivromanen angelesen hatte! Vorsichtig nach draußen spähen, sich ein Bild machen, ohne selbst bemerkt zu werden.
