Mit Hamburg im Herzen - Uwe Bahnsen - E-Book

Mit Hamburg im Herzen E-Book

Uwe Bahnsen

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Beschreibung

Das Jahrhundert hat ihn mit Ehrungen, Auszeichnungen und Preisen überhäuft wie nur wenige Politiker vor ihm. Berühmt wurde er nicht nur durch seine Politik, für die er mit unerbittlicher Gradlinigkeit stand. Längst gilt Helmut Schmidt als Persönlichkeit der Zeitgeschichte, als ein Staatsmann von europäischem Rang. Wie die Historiker sein politisches Lebenswerk auch einordnen mögen - für die Nachwelt wird er eine der prägenden Persönlichkeiten des vergangenen Jahrhunderts sein. Seine Erfahrungen, auch die bitteren, begannen in Hamburg, seiner Vaterstadt, die ihn geprägt hat und die er liebt. Er hat immer wieder bekannt, wie viel er zum Beispiel der Lichtwark-Schule verdankt, wie ihn überhaupt 'Hamburgs Genius loci während der ersten 35 Jahre meines Lebens entscheidend erzogen' habe. Und in Hamburg fand er den Weg von der sozialen Frage zur Sozialdemokratie. Aber seine Liebe, seine Treue zur Vaterstadt, sein Stolz auf diese 'großartige Synthese einer Stadt aus Atlantik und Alster, aus Buddenbrooks und Bebel, aus Leben und Leben lassen' - all das hat eine durchaus komplizierte Komponente. Uwe Bahnsen, passionierter Zeithistoriker, untersucht in seinem Buch 'Mit Hamburg im Herzen' dieses diffizile Verhältnis Helmut Schmidts zur Hansestadt und den Hanseaten, deren berühmtester er selbst geworden ist. Helmut Schmidt hat Hamburg nicht nur bittere Wahrheiten ins Stammbuch geschrieben. Er hat der Stadt auch bittere Konzessionen abgenötigt, und das schloss zuweilen schmerzliche Wunden persönlicher Verletzung ein. Helmut Schmidt und Hamburg - das ist kein eindimensionales, sondern ein durchaus vielschichtiges Thema. Ein spannendes Buch.

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Uwe BahnsenMit Hamburg im HerzenHelmut Schmidtund seine Vaterstadt

Uwe Bahnsen

Mit Hamburg im Herzen

Helmut Schmidt

und seine Vaterstadt

© 2015 Wachholtz Verlag – Murmann Publishers, Kiel / Hamburg

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Lektorat: Werner Irro, HamburgSatz: Das Herstellungsbüro, Hamburg

ISBN 978-3-529-05160-9

Besuchen Sie uns im Internet:www.wachholtz-verlag.de

Inhalt

Helmut Schmidt – Staatsmann und Hanseat

Einleitung

»Hinter eine Sache sehen«

Kindheit, Schule, Hitlerjugend

»Bei gutem Willen unbedingt korrekt«

Als Offizier im Krieg

Dinge auf den Punkt bringen

Erste politische Gehversuche

Hamburg als Wirkungsfeld, die Partei als Rahmen

Start in die Berufspolitik

Der Mann mit der »schnellen Schnauze«

Auf der Bonner und der Hamburger Bühne

»Herr der Flut«

Als in Hamburg die Deiche brachen

»Denn sie schläft, meine Schöne, sie träumt«

Eine nicht ganz einfache Liebeserklärung an Hamburg

Ein Abgrund an Intrige

Die »Spiegel«-Affäre und Innensenator Schmidt

Die große Vaterfigur in der Stadt

Die Ära Weichmann und Schmidts Abschied von Hamburg

Die »Pfeffersäcke« legen sich quer

Der Bundespolitiker Schmidt und die Finanzreform

Weltpolitik im Reihenhaus

Der Bundeskanzler lädt ein nach Langenhorn

Loki – Halt und Rückhalt

Immer an seiner Seite: Hannelore Schmidt

Der »Raketenkanzler«, in der eigenen Partei isoliert

Abschied vom Kanzleramt

Elder Statesman im Unruhestand

Mitherausgeber, Co-Geschäftsführer, Buchautor

Der Wille, über sich hinauszudenken

Das Gemeinwohl und das politische Handeln

Der es liebt, »im Sturm zu fahren«

Historische Größe, eine Nachbemerkung

Bildnachweise

»Wissen Sie, Helmut und ich haben uns von Anfang an gesagt: Bonn ist Arbeitsplatz, Hamburg ist Zuhause. Wir sind während der Kanzlerzeit manchmal nur einmal im Monat, am Wochenende, hierhergekommen. Aber es war bei uns beiden selbstverständlich: Hier ist Zuhause, und in Bonn hat man anständig zu arbeiten. Deswegen haben wir nie Schwierigkeiten gehabt.«

Loki Schmidt 1

Helmut Schmidt – Staatsmann und Hanseat

Einleitung

Das Jahrhundert hat ihn mit Ehrungen, Auszeichnungen und Preisen überhäuft wie nur wenige Politiker vor ihm. Berühmt wurde er nicht nur durch die Politik, seine Politik, für die er mit unerbittlicher Geradlinigkeit stand. Auch als politischer Schriftsteller wurde er einer der erfolgreichsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Längst gilt Helmut Schmidt als Persönlichkeit der Zeitgeschichte, als ein Staatsmann von europäischem Rang.

Wie die Historiker sein politisches und sein publizistisches Lebenswerk auch einordnen mögen – für die Nachwelt wird er eine der prägenden Gestalten des vergangenen Jahrhunderts sein und bleiben. Seine Erfahrungen, auch die bitteren, begannen in Hamburg, seiner Vaterstadt, die ihn geprägt hat und die er liebt. Er hat immer wieder bekannt, wie viel er zum Beispiel der Lichtwark-Schule verdankt, wie ihn überhaupt »Hamburgs Genius Loci während der ersten 35 Jahre meines Lebens entscheidend erzogen« habe. Und in Hamburg fand der Heimkehrer aus dem Krieg den Weg zur Sozialdemokratie.

Aber seine Liebe, seine Treue zur Vaterstadt, sein Stolz auf diese »großartige Synthese einer Stadt aus Atlantik und Alster, aus Buddenbrooks und Bebel, aus Leben und Lebenlassen«, der aus seinem berühmt gewordenen »Brief an Hamburger Freunde«2 spricht – all das hat eine durchaus komplizierte Komponente. Was der Politiker Helmut Schmidt für seine amtliche Pflicht oder auch für das bundespolitische Interesse seiner Partei hielt, war durchaus nicht immer gleichbedeutend mit dem, was seiner Stadt zum Vorteil gereichte. Das führte auch zu harten Auseinandersetzungen vor allem mit der Hamburger SPD, die persönliche Verletzungen erzeugten. Dieses Buch spart diese Geschichten nicht aus.

Helmut Schmidt gilt als Hanseat par excellence: »Ökonomisch versiert, musisch gebildet, kühl und vornehm, aber mit großer Leidenschaft für das Gemeinwohl« – so hat ihn ein unbefangener auswärtiger Beobachter, der frühere Münchner Oberbürgermeister Christian Ude, beschrieben. Das ist treffend formuliert. Aber man darf dabei nicht außer Acht lassen, dass es eben auch einen anderen Helmut Schmidt gab, der seine Auffassungen und Positionen mit äußerster Schärfe vertrat und dabei alles andere als kühl, sondern lodernd vor politischer Leidenschaft war. Auch das zeigt dieses Buch.

Helmut Schmidt ist plumpe, anbiedernde Vertraulichkeit zuwider, auch das in seiner Partei übliche »Du«, das einhergehen kann mit persönlichem und politischem Hass, bei dem die Solidarität unter Genossen auf der Strecke bleibt. Er hat das alles in einem langen Politikerleben mit Höhen und Tiefen erfahren. Ein zynisches Wort besagt, dass von den großen alten Männern in der Politik am Ende häufig nur noch die alten Männer bleiben. Helmut Schmidt ist ein Beispiel für das Gegenteil.

Der einstige, selbst von Teilen der eigenen Partei geschmähte »Raketenkanzler«, dessen unbeugsame und von der Entwicklung eindrucksvoll bestätigte Politik die größten Protestdemonstrationen in der Geschichte der Bundesrepublik auslöste, genießt heute ein Ansehen, eine Verehrung, die ihn als Folge seiner Lebensleistung zum bedeutendsten Hamburger seines Jahrhunderts hat werden lassen. Er ist Zeitzeuge und Übervater der Nation, Welterklärer, Mahner und Warner. Nicht nur seine Deutungskompetenz der Ereignisse in stürmischer Zeit, nicht nur seine staatsmännische Weisheit, Ergebnis seiner langen und auch herben Erfahrungen, haben ihn in diesen Rang erhoben. Die Verehrung für den Menschen kommt hinzu – das tägliche Beispiel, das er mit den drei Tugenden des Alters gibt: Demut, Dankbarkeit und Disziplin.

Dieser Hanseat verlangt und verdient, dass man sich unvoreingenommen mit der tiefen Furche befasst, die er in seiner Stadt gezogen hat. Das ist das Thema dieses Buches. Helmut Schmidt hat sich in seinem Urteil über Zeitgenossen und Weggefährten niemals, nicht in einem einzigen Fall, von idealisierender Verbrämung leiten lassen. Das ist einer der wichtigsten Gründe für seine Glaubwürdigkeit als Zeitzeuge. Schon allein deshalb hat er selbst Anspruch darauf, dass für seine Leistung, für seine Persönlichkeit als Mensch und als Politiker die gleichen Maßstäbe gelten. Der vaterstädtische Stolz auf diesen Staatsmann und der Respekt vor seinem Lebenswerk kommen dabei nicht zu kurz.

Hamburg, im August 2015

Uwe Bahnsen

Anmerkungen

1 Loki. Hannelore Schmidt erzählt aus ihrem Leben: Im Gespräch mit Dieter Buhl, Hamburg 2003, S. 125.

2 Der »Brief« erschien am 28. Juli 1962 im Hamburg-Teil der »Welt«. Helmut Schmidt enthüllte erst Ende 1965, dass er der Autor war.

»Hinter eine Sache sehen«

Kindheit, Schule, Hitlerjugend

Es war eine typische Hamburger Aufsteigerfamilie, in die Helmut Heinrich Waldemar Schmidt am 23. Dezember 1918 als erstes Kind hineingeboren wurde. Der kleine Helmut erblickte in der Frauenklinik an der Finkenau 35 das Licht der Welt. Der Vater, Gustav Schmidt, hatte sich aus ganz einfachen Verhältnissen hochgearbeitet. Gustav Schmidt war am 18. April 1888 als unehelicher Sohn des deutsch-jüdischen Bankiers Ludwig Gumpel auf die Welt gekommen. Seine Mutter, Friederike Wenzel, arbeitete als Kellnerin im Altonaer Bahnhofsrestaurant. Wegen Diebstahls und Betrugs, wahrscheinlich Jugenddelikte aus Not, hatte sie eine dreimonatige Gefängnisstrafe verbüßt und galt als vorbestraft.

Die ledige Mutter hatte ihr Kind wenige Wochen nach der Geburt von dem ihr gut bekannten Ehepaar Johann Gustav und Katharina Schmidt, einer Arbeitskollegin, adoptieren lassen. Dessen Lebensverhältnisse waren ebenfalls ärmlich. Johann Gustav Schmidt schlug sich als Hausmeister, als ungelernter Arbeiter, schließlich als Straßenreiniger und Lagerarbeiter durch, seine Frau Katharina verdiente als »Buffetmamsell« dazu.

Der Adoptivsohn Gustav Schmidt zeigte schon als Volksschüler die für einen sozialen Aufsteiger typischen Eigenschaften: Fleiß, Intelligenz und Zielstrebigkeit. Seine Leistungen waren so gut, dass er nach der achten noch eine neunte Klasse für begabte Schüler, die sogenannte Selekta, besuchen konnte. Nach der Lehre in einer Anwaltskanzlei mit dem Berufsziel Bürovorsteher ermöglichte ihm ein vermögender Förderer, der vermutlich in diskretem Auftrag seines leiblichen Vaters Ludwig Gumpel handelte, den Besuch eines dreijährigen Lehrerseminars. Er legte erfolgreich die erste und die zweite Lehrerprüfung ab. Mit sechsundzwanzig Jahren heiratete er am 30. August 1914, unmittelbar vor seiner Abreise an die Front des Ersten Weltkriegs, die vierundzwanzigjährige Ludovica Koch. Nach dem Krieg, den er als Folge einer Verwundung überwiegend in einer Garnison in Schleswig überstand, brachte er es nach einem strapaziösen Abendstudium bis zum Diplomhandelslehrer und schließlich bis zum Studienrat und Leiter einer kleinen Handelsschule.

Ein stolzer Vater präsentiert seine Familie und seine gute Stube. Familie Schmidt im Jahr 1924, der ältere Sohn Helmut in der Mitte.

Für einen Mann aus einfachsten Lebensverhältnissen war das eine enorme Leistung.1 Das proletarische Milieu, aus dem er kam, hatte er nicht nur im Hinblick auf seine materiellen Lebensumstände, sondern auch nach seinem Selbstverständnis und Selbstwertgefühl weit hinter sich gelassen. Er durfte sich durchaus als Teil des Bürgertums empfinden. Das galt auch für seine Ehefrau Ludovica, die einer soliden Handwerkerfamilie entstammte. Ihr Vater war Setzer und Drucker und gehörte damit zur tonangebenden Schicht der Arbeiterbewegung, in der er sich jedoch nicht aktiv betätigte.

Das Problem in der Familie Schmidt – ein Foto aus dem Jahre 1924 zeigt deren Zugehörigkeit zum Bürgertum in schon fast demonstrativer Deutlichkeit – waren die Erziehungsmethoden des Vaters: Gustav Schmidt wollte die Härte, die Strenge und Selbstdisziplin, mit der er sich nach oben gekämpft hatte, auch bei seinen beiden Söhnen Helmut und dem zweieinhalb Jahre jüngeren Wolfgang durchsetzen. Das schloss die Mittel körperlicher Züchtigung, auch durch den Rohrstock, ein. Die Folge war, dass seine Söhne ihn zwar als Respektsperson empfanden, jedoch kaum als liebevollen Vater. Herzenswärme und das Glück familiärer Geborgenheit erfuhren Helmut und Wolfgang im Wesentlichen in der Familie der Mutter.

Der Vater hingegen verlangte von ihnen Leistung, Selbstbeherrschung und als unerlässliche Voraussetzung für jedes Fortkommen strikte Disziplin und Pflichterfüllung. Lob und Zuspruch waren in diesem Kanon nicht vorgesehen. Helmut Schmidt hat seine eigene Rolle in der Familie in autobiografischen Notizen während der Gefangenschaft 1945 mit der selbstkritischen Feststellung beschrieben: »Ich war ein kleiner Rechthaber.«2 Aber zugleich, das bezeugen alle verfügbaren Quellen, legte er einen nahezu unstillbaren Wissensdurst an den Tag, und zwar »endlos, um hinter eine Sache zu sehen«, wie er selbst es damals formulierte.3

Ein aufgeweckter Junge.

Die Familie wohnte in Barmbek in der Richardstraße 65, doch Vater Gustav Schmidt bestimmte, dass seine beiden Söhne die Volksschule Wallstraße 22 östlich der Außenalster im Stadtteil St. Georg besuchen sollten. Den weiten Schulweg nahm er in Kauf. Er kannte diese Schule, da er dort seine Ausbildung zum Volksschullehrer absolviert hatte. Mit dieser Funktion als »Seminarschule« hing es auch zusammen, dass die Klassen kleiner waren als sonst in den Hamburger Volksschulen üblich; auch galt das Lehrerkollegium als überdurchschnittlich gut.

Helmut Schmidt hat gleichwohl die vier Jahre von 1925 bis 1929, die er auf dieser Schule verbrachte, nicht in guter Erinnerung. Maßgebend dafür war vor allem, dass sich dort fortsetzte, was ihm zu Hause zutiefst zuwider war – die körperliche Züchtigung mit Lineal und Rohrstock. Es war eben eine Pauk- und Prügelschule wie zu Kaisers Zeiten, und es war bezeichnend, dass in dieser Grundschule noch immer am 2. September der »Sedantag«, der Jahrestag der Kapitulation der französischen Armee nach der Schlacht von Sedan 1870, begangen wurde, obwohl die Weimarer Republik den Gedenktag 1919 abgeschafft hatte. Noch im hohen Alter erinnert sich Helmut Schmidt daran.4 Die meisten Lehrer waren bei den Schülern unbeliebt.

Die Frage, welche weiterführende Schule seine beiden begabten Söhne besuchen sollten, entschied Gustav Schmidt erneut nach eigenem Gutdünken. Diesmal erwies sich seine Wahl, die in der Familie durchaus für Verblüffung sorgte, als Glücksfall: Helmut und Wolfgang sollten die Lichtwark-Schule besuchen. Dort herrschten völlig andere Grundsätze als in der Familie Schmidt oder an der Volksschule Wallstraße. Pädagogisch war diese Schule eine erste Adresse, doch in einem ganz anderen Sinn als zum Beispiel die traditionsbewusste Gelehrtenschule des Johanneums, die bevorzugte Bildungsstätte für die Söhne des Hamburger Großbürgertums. Die Gründe, die Gustav Schmidt bewogen haben, seine Söhne der Lichtwark-Schule anzuvertrauen, lassen sich nicht mehr eindeutig klären.

Ostern 1929 begann Helmut Schmidts Schulzeit in dieser Reformschule, die nach dem bahnbrechenden Kunsthistoriker und Museumspädagogen Alfred Lichtwark (1852 – 1914), dem langjährigen Direktor der Hamburger Kunsthalle, benannt worden war. Lichtwarks herbe Kritik am Schulwesen des Kaiserreiches war hier konzeptionell übernommen worden. »Die Schule geht vom Stoff aus und bleibt am Stoff kleben«, hatte er bereits 1890 verkündet. »Sie sollte von der Kraft ausgehen und Kräfte entwickeln. Mit ihrer ausschließlichen Sorge um den Lehrstoff hat die Schule satt gemacht. Sie sollte hungrig machen.«5

Die Lichtwark-Schule hat Helmut Schmidt nachhaltig geprägt, ebenso wie seine Mitschülerin Hannelore Glaser, die mit ihm in einer Klasse ist und bis zum Abitur auch bleiben wird. Als seine Ehefrau Loki Schmidt wird sie später gemeinsam mit ihm zu internationalem Ruhm kommen. Hannelore wird knapp zehn Wochen nach Helmut geboren, am 3. März 1919. Ihr Elternhaus ist ärmlich, es besteht aus einer überbelegten Mietwohnung in der Schleusenstraße in Hammerbrook, die sich die Großeltern mit ihren vier Töchtern und deren Familien teilen müssen.

Helmut und Loki Schmidt haben noch im hohen Alter bekundet, wie viel sie der Lichtwark-Schule verdanken. Loki Schmidt, die ausgebildete Pädagogin:

Helmut (zweiter von rechts) hält die Fäden in der Hand, während seine Klassenkameradin Hannelore (Loki) Glaser in die Kamera lächelt.

»Den Hamburger Reformschulen in den zwanziger Jahren war es ganz wichtig, dass Kinder sich Dinge selbständig erarbeiteten. […] Sie waren in jener Zeit pädagogisch wirklich das Beste, was es in Deutschland gab. […] Hamburg war der Kern. Hier ist die pädagogische Reformbewegung entstanden. […] Wir sind mit zehn Jahren in diese Schule gekommen. Abitur haben Helmut und ich dort beide mit achtzehn gemacht. Das Heranwachsen ist eine ganz entscheidende Phase in jedem Leben, und in der bin ich nachhaltig von dieser Schule geprägt worden. […] Ferner hat die musische Erziehung eine große Rolle gespielt, genauso, wie Alfred Lichtwark sich das als ehemaliger Museumsdirektor vorgestellt hat. […] Nicht nur Kunst aufnehmen, betrachtend rezipieren, sondern auch selbst ausüben war seine Devise. Das spielte eine Rolle im Unterricht, beim Musizieren und Malen, beim Schnitzen, Metallarbeiten und Ähnlichem. Auch bei Klassenreisen kam das Musische nicht zu kurz, wenn beispielsweise Architektur betrachtet wurde.«6

Die Lichtwark-Schule, 1914 in Winterhude als Realschule mit dem Bildungsziel selbstbestimmter und verantwortlicher Teilhabe an der Demokratisierung des gesellschaftlichen Lebens gegründet, war die einzige Oberschule der Reformschulbewegung, die bis zum Abitur führte. Sie wurde das Aushängeschild der Bewegung in der Hansestadt.7

Ihr Konzept war ein konsequentes Kontrastprogramm zu den pädagogischen Zielen der Realschulen und Gymnasien. Einer der Pädagogen der Lichtwark-Schule fand dafür prägnante Formulierungen:

»Frei von jedem Nützlichkeitsgedanken lebt sich der Schüler Jahr für Jahr mehr hinein in die deutsche Sprache und Literatur, deutsches Staats- und Wirtschaftsleben, deutsche Kunst und deutsches Volkstum, indem er die Gegenwart in ihrer Entstehung aus der Vergangenheit kennenlernt und durch eigene Arbeit in sie hineinwächst. Auf die eigene Arbeit aber kommt es an. Die Lichtwark-Schule lehnt den einseitigen Intellektualismus unseres bisherigen Bildungswesens ab. In der Schule soll selbständig gearbeitet, nicht nur gelernt werden.«8

Der Lehrplan stellte kulturelle Werte in den Mittelpunkt und betonte den Gemeinschaftsgedanken. Die wichtigsten Fächer waren Deutsch, Englisch, Geschichte, Erdkunde, Musik, Kunst, Wirtschaftslehre sowie Werkunterricht. Die Einführung der Koedukation und die tägliche Sportstunde stellten weitere Besonderheiten dar. Rektor der Schule war von 1926 bis zu seiner Entlassung 1933 der spätere Schulsenator Heinrich Landahl.

Gelassen, aufmerksam, selbstbewusst. Ein Hamburger Jung aus einfachen Verhältnissen, mit Blick nach vorn.

Die Bildungs- und Erziehungsziele dieser Schule, vor allem ihr freiheitlicher, weltoffener Geist, der die Urteilsfähigkeit der jungen Menschen stärken wollte, waren für das NS-Regime unerträglich. Schon 1933 begannen die Diffamierungen als »Mistbeet«, als »Judenschule« und »roter Saustall«. Im Zuge der von den Nationalsozialisten betriebenen Gleichschaltung wurde das Profil der Schule schrittweise verändert.

1937 wurde die Lichtwark-Schule endgültig von der Landesunterrichtsbehörde aufgelöst und mit dem Heinrich-Hertz-Realgymnasium zur Oberschule am Stadtpark für Jungen zusammengelegt. Helmut Schmidt und Hannelore Glaser gehörten zum letzten Jahrgang, der 1937 hier die Reifeprüfung ablegen konnte.

Für Helmut Schmidt war das Leben unter und mit dem NS-Regime mit Problemen verbunden. Er stammte aus einem unpolitischen Elternhaus, in dem über Politik nicht diskutiert wurde. Das galt selbst dann, wenn es sich um Vorgänge handelte, die die Familie unmittelbar betrafen, wie während des »Hamburger Aufstands« der KPD im Oktober 1923. Zu dessen Zentren gehörte Barmbek, wo die Familie wohnte. Gegenüber der Wohnung in der Richardstraße brannte die Wagnerbrücke, eine Holzbrücke über den Eilbekkanal, ab; Helmut Schmidt erinnerte sich später daran, und ebenso an das Schweigen in der Familie anlässlich des Geschehens. Auch so schwerwiegende Ereignisse wie der »Altonaer Blutsonntag« am 17. Juli 1932, der als Folge eines SA-Propagandamarsches achtzehn Todesopfer forderte und zum »Preußenschlag« führte, blieben in der Familie Schmidt ohne Resonanz.9

Inzwischen wohnte die Familie in der Schellingstraße 9 in Eilbek. Dort waren Gewalttätigkeiten zwischen Nazis und Kommunisten 1932 und Anfang 1933 an der Tagesordnung. Der Todeskampf der Weimarer Republik fand auf den Straßen und in den Hinterhöfen statt. Wenn dabei für die Anwohner Gefahr drohte, weil geschossen wurde, übernahm der einstige Frontsoldat Gustav Schmidt das Kommando und befahl seiner Familie: »Licht aus, unter die Fensterbank ducken!« Das war alles.10

Aber es gab Situationen, in denen die Eltern um Erklärungen und Begründungen nicht herumkamen. 1932 hatten sie ihrem Sohn Helmut verboten, Mitglied einer der vielen Jugendgruppen zu werden, die damals mit Freizeitangeboten ganz unterschiedlicher Art, vor allem aber mit Gemeinschaftserlebnissen, etwa am Lagerfeuer, die Jugendlichen lockten. Die Gruppen wollten die arbeitslosen Jugendlichen in ein stabiles Sozialgefüge einbinden und vor dem Abgleiten in die Kriminalität oder die politische Radikalität bewahren.

Eine Begründung für ihr Verbot gaben die Eltern nicht. Als die Jugendgruppen 1933 zwangsweise in die Hitlerjugend integriert wurden, wiederholte der Fünfzehnjährige seinen Wunsch. Diesmal war das Verbot noch strikter, und endlich erfuhr der Junge von der Mutter auch den Grund: »Weil du einen jüdischen Großvater hast.« Die Mutter beschwor ihn, er müsse dies unter allen Umständen für sich behalten. Da der Vater Halbjude sei, würde er den Schuldienst verlassen müssen, sobald dies bekannt werde.11

Helmut Schmidt und sein jüngerer Bruder Wolfgang verstanden nun, weshalb die Eltern das NS-Regime so strikt ablehnten. Diese klare Haltung und der noch immer wirksame Einfluss der Lichtwark-Schule verhinderten indes nicht, dass Helmut Schmidt zeitweise Sympathien für den Nationalsozialismus entwickelte. Auch ein typischer Generationenkonflikt, der damals sein schwieriges Verhältnis zum Vater noch weiter belastete, mag dabei eine Rolle gespielt haben. Jedenfalls wurde Helmut Schmidt, der seit 1933 zur Ruder-Riege seiner Schule gehörte und deren »Kapitän« war, im Frühjahr 1934 Mitglied der Marine-HJ, in der die Rudergruppen der Schulen und Vereine zusammengefasst wurden.12 Auch in seinem Fall zeigte sich: Die Anziehungskraft des Nationalsozialismus lag vor allem darin begründet, dass er behauptete, der jungen Generation endlich eine Chance zu geben.

Helmut Schmidt avancierte in der Marine-HJ zum Kameradschaftsführer, später zum Scharführer, der auch Veranstaltungen zu leiten hatte. Er engagierte sich. Dem Kuttersegeln auf der Außenalster mit Rettungs- oder Marineausbildungsbooten, die zum Segeln eingerichtet worden waren, widmete er sich mit Begeisterung. Der Erwerb der Segelscheine, überhaupt die in der Marine-HJ betriebene Vorbereitung auf die Seemannschaft, waren für ihn weitaus wichtiger als das alltägliche Programm der HJ mit seinen zumindest verbalen Konzessionen an das Regime, die damit auch verbunden gewesen sein mögen. Die Vorstellung, ein Jugendlicher hätte in der NS-Zeit permanent gegen den Strom schwimmen können, hat mit der Lebenswirklichkeit dieser Jahre vor dem Krieg nichts zu tun.

Der NS-Ideologie war Helmut Schmidt jedoch keineswegs kritiklos erlegen. Als er Anfang September 1936 am »Adolf-Hitler-Marsch« der HJ zum Nürnberger Parteitag teilnahm, der nach dem Willen Hitlers und der NS-Führung als »Reichsparteitag der Ehre« das propagandistische Schlusskapitel der Rheinlandbesetzung sein sollte, gewann er den Eindruck, die HJ sei dort lediglich als »Kulisse« missbraucht worden und das ganze Aufmarsch-Theater sei »Mache« gewesen.

In der Marine-HJ nahm er, seinem Naturell folgend, kein Blatt vor den Mund, nachdem er schon auf dem Parteitag durch despektierliche Reden aufgefallen war. Jedenfalls verhielt er sich alles andere als angepasst. Die Folge war, dass er als Scharführer abgesetzt wurde. Das Thema Marine-HJ war damit für ihn erledigt.13

Der Schüler Helmut las viel in diesen Jahren, vorzugsweise die großen Klassiker der Weltliteratur, etwa Iwan Turgenjew, bis hin zu den frühen Romanen von Thomas Mann. Das erweiterte seinen Horizont, und die Deutschlehrerin Erna Stahl, eine konsequente NS-Gegnerin, hatte daran einen großen Anteil. Das Abitur bestand Helmut Schmidt im Frühjahr 1937 mit guten bis sehr guten Ergebnissen. Auch ein klares Berufsziel hatte er: Er wollte Architekt werden.

Anmerkungen

1 Zu den Vorfahren Helmut Schmidts vgl. Hartmut Soell: Helmut Schmidt. 1918 – 1969. Vernunft und Leidenschaft, München 2003, S. 47 ff. Ferner Sabine Pamperrien: Helmut Schmidt und der Scheißkrieg, München 2014, S. 21 ff.

2 Soell, S. 63.

3 Ebd., S. 64.

4 Helmut Schmidt / Fritz Stern: Unser Jahrhundert. Ein Gespräch, München 2010, S. 102.

5 Reiner Lehberger / Loki Schmidt: Die Biographie, Hamburg 2014, S. 41 ff.

6 Loki. Hannelore Schmidt erzählt aus ihrem Leben, Hamburg 2003, S. 64 ff.

7 Das Schulgebäude am Grasweg in Winterhude wurde nach Plänen des Oberbaudirektors Fritz Schumacher errichtet. Es war auch architektonisch ein Gegenentwurf zum nahe gelegenen Johanneum. Heute befindet sich in dem Gebäude die Heinrich-Hertz-Schule.

8 Zitiert nach Henning Albrecht: »Pragmatisches Handeln zu sittlichen Zwecken«. Helmut Schmidt und die Philosophie, Bremen 2008, S. 25 ff.

9 Am 20. Juli 1932 setzte der Reichskanzler Franz von Papen die damals ohne parlamentarische Mehrheit nur geschäftsführend amtierende preußische Staatsregierung ab und ernannte an ihrer Stelle einen ihm unterstehenden Reichskommissar.

10 Soell, S. 73.

11 Ebd., S. 75. Vater Gustav Schmidt gehörte seit 1933 dem Nationalsozialistischen Lehrerbund an. Helmut Schmidts Bruder Wolfgang hat bezweifelt, dass dieser schon vor 1945 von der jüdischen Abstammung des Vaters erfahren hat. Die Brüder erinnern sich unterschiedlich. Vgl. dazu ebd., S. 870, Fußnote 86.

12 Zur Mitgliedschaft und Rolle Helmut Schmidts in der Hitlerjugend vgl. detailliert Pamperrien, S. 83 ff.

13 Soell, S. 84.

»Bei gutem Willen unbedingt korrekt«

Als Offizier im Krieg

Um das Studium später nicht unterbrechen zu müssen, meldete Helmut Schmidt sich, wie viele Abiturienten damals, vorzeitig zum Arbeits- und Wehrdienst. Er wollte diese insgesamt zweieinhalb Jahre hinter sich bringen. Anfang April 1937 wurde er einem Lager des Reichsarbeitsdienstes (RAD)1 in Reitbrook in den Vierlanden zugeteilt und im Deichbau an der Dove Elbe eingesetzt. Natürlich sollten die jungen Menschen in ihrer Arbeitsdienstzeit nicht nur gemeinnützige Arbeit leisten. Sie sollten auch im Sinne der NS-Ideologie indoktriniert werden, und so mussten sie politischen Unterricht von einem RAD-Feldmeister über sich ergehen lassen. Dieser Referent war jedoch, wie Helmut Schmidt sich erinnerte, seiner Aufgabe nicht im Entferntesten gewachsen, denn er »trug uns primitivste Nazi-Ideologie vor, die er mit offenbar angelesenen, aber nicht verstandenen Beispielen aus der Geschichte anzureichern versuchte. Das stank vielen von uns; ich dachte: Genau das Gegenteil muss man glauben!«2

Helmut Schmidt geriet vorübergehend unter den Einfluss eines RAD-Kameraden, der ihm eine kommunistische Weltsicht vermittelte, und so »war ich also als Achtzehnjähriger auf dem Wege, Kommunist zu werden.«3 Das blieb indessen eine Episode.

Nachhaltiger war eine andere Erfahrung. Das erklärte Ziel der Arbeitsdienstpflicht war die »Volksgemeinschaft«, die Beseitigung der überkommenen »Klassengegensätze«. Bei dem jungen Helmut Schmidt, dessen Eltern ja selbst zu den Aufsteigern gehörten, scheiterte das völlig. Notizen aus dieser Zeit bezeugen seine »Ernüchterung über das Erlebnis der unteren Klassen«.4 Das war kein Verdikt über »einfache Verhältnisse«, mit denen er nie ein Problem hatte. Widerwillen empfand er aber schon damals gegen Primitivität im Denken, Reden und Handeln. Ein weiteres Ergebnis seiner Arbeitsdienstzeit war, wie derselben Notiz zu entnehmen ist, eine »endgültige Abkehr, wenn zunächst auch nur tastend, vom NS«. Ein anfängliches Sympathisieren mit dem Nationalsozialismus gab es damals bei vielen jungen Menschen aus dem Bildungsbürgertum, übrigens auch bei späteren Widerstandskämpfern gegen das NS-Regime.

Am 30. September 1937 wurde Helmut Schmidt aus dem Reichsarbeitsdienst entlassen. Wer sich vorzeitig zum Wehrdienst meldete, konnte sich innerhalb gewisser Grenzen die Waffengattung aussuchen. Er entschied sich für die Bodentruppe der Luftwaffe, die Luftabwehr, die wegen ihrer Waffen, der Flugabwehrkanonen, die »Flak« genannt wurde. Das war eine neue Truppe, deren Selbstverständnis zudem wegen ihrer anspruchsvollen Waffentechnik als durchaus elitär galt. Helmut Schmidt verband mit seiner Wahl auch die Hoffnung, den Wehrdienst in seiner Heimatstadt ableisten zu können, die schon 1937 nach Einschätzung der Luftwaffenführung zu den »besonders luftkriegsgefährdeten« deutschen Städten zählte und entsprechend umfangreich geschützt werden sollte.

Er meldete sich am 4. November 1937 in der Kaserne Osdorf zum Dienstantritt und erlebte sogleich eine herbe Enttäuschung: Zusammen mit anderen Rekruten wurde er noch am selben Abend nach Grohn im Norden Bremens transportiert, wo eine neue Kaserne für das Flakregiment 27 gebaut worden war. Rekrut Schmidt gehörte nun zur 4. Batterie der I. Abteilung. Er hatte Glück, denn unter seinen Stubenkameraden gab es »keinen Nazi, und nachdem wir uns näher kennengelernt hatten, stimmten wir überein in der ausdrücklichen Überzeugung: ›Gott sei Dank, jetzt sind wir endlich im einzig anständigen Verein.‹«5 Dieses Bewusstsein half ihm über den Kasernenhofdrill hinweg, den er manchmal durchaus als schikanös empfand. Seine Rekrutenzeit, mit der intensiven und gründlichen Ausbildung am Geschütz und in der Ballistik, blieb ihm als unbeschwert in der Erinnerung, auch wegen mancher Freundschaften, die damals entstanden und den Krieg und spätere Jahrzehnte überdauerten.

Hitler konnte von 1935 bis 1938 einen außenpolitischen Erfolg nach dem anderen verbuchen. Er schien die europäische Politik zu bestimmen, weil die Westmächte ihm Konzessionen machten, die sie dem Deutschen Reich der Weimarer Republik beharrlich verweigert hatten. Das ließ in weiten Teilen der Bevölkerung und ganz besonders in der Wehrmacht und ihrem Offizierkorps den Eindruck entstehen, der Führer bringe alles, was auch immer er anpacke, zu einem guten Ende.

Auch der junge Soldat Helmut Schmidt war mit Feuereifer bei der Sache. Er wurde zum Geschützführer ernannt. »Ich hatte«, berichtet er, »sechs oder sieben erwachsene Männer unter mir und musste von ihnen mit ›Herr Geschützführer‹ angeredet werden. Ich kam mir sehr wichtig dabei vor.«6 Die Leistungen des Zwanzigjährigen, der inzwischen zum Unteroffizier befördert worden war, veranlassten seine Vorgesetzten, ihm die Laufbahn eines aktiven Berufsoffiziers vorzuschlagen. Doch Helmut Schmidt hatte andere Pläne. Er wollte »draußen den Wind der Welt spüren.«7

Ende September 1939 endete sein Wehrdienst. Bereits im August erschien er in Zivil in der Personalabteilung der Deutschen Shell am Alsterufer in Hamburg und bewarb sich als Volontär. Er hoffte auf eine Chance in diesem international tätigen Konzern, vielleicht im damaligen Holländisch-Indien, dem heutigen Indonesien; die zu diesem Zeitpunkt schon sehr reale Kriegsgefahr war für ihn offenbar kein Hinderungsgrund.

Nur wenige Tage später waren die Pläne Makulatur: Am 24. August 1939 erhielt das Flakregiment 27 den Mobilmachungsbefehl. Damit begann die Kriegsdienstpflicht der Soldaten. Am Vormittag des 1. September saß der Unteroffizier Schmidt in der Kaserne gemeinsam mit seinen Kameraden am Rundfunkgerät und hörte die Übertragung der Reichstagsrede, mit der Hitler den Beginn der militärischen Operationen gegen Polen bekannt gab und die Welt glauben machen wollte: »Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen!« Den Ausbruch des Krieges haben die Soldaten, wie Helmut Schmidt sich erinnerte, »wie ein Naturereignis hingenommen«.8

Seine Einheit, nun die Reserveflakabteilung 261, wurde bei der Luftabwehr zunächst in Bremen, später in Hamburg, in Oberschlesien und in Holland eingesetzt. Dieses erste Kriegsjahr 1940 war das Jahr der deutschen Siege. Hitlers Militär schien unüberwindlich. Erst Polen, dann Dänemark und Norwegen, Holland, Belgien und Frankreich: Nie war Hitler mächtiger. Hatte er 1938 als Staatsmann die Deutschen in Österreich und im Sudetenland »heim ins Reich« geholt, so schien er nun als Feldherr unbezwingbar zu sein. Die überschäumende Begeisterung der Berliner bei der großen Siegesparade in der Hauptstadt am 27. Juli 1940 nach dem Westfeldzug war nicht von Goebbels und seinen Propagandaexperten gesteuert, sondern sie war ein Ausdruck der Stimmung im Volk und in der Wehrmacht. Man glaubte an den Führer – und Helmut Schmidt eben auch, trotz mancher Vorbehalte gegen das NS-Regime.

Im Sommer 1940 drängte es den Leutnant Helmut Schmidt dorthin, wo gekämpft wurde, und er bewarb sich um Aufnahme in die Fallschirmjägertruppe. Er wurde angenommen, doch zur Aufnahme in diese Truppe kam es nicht mehr. Sein früherer Batteriechef Paul Ullrich, inzwischen Stabsoffizier, hatte ihn angefordert, und so wurde Schmidt am 26. Oktober 1940 zur Lehrinspektion IV des Generals der Flakwaffen im Reichsluftfahrtministerium versetzt. In dieser Dienststelle in der Berliner Knesebeckstraße, und zeitweise in der Flakartillerieschule im pommerschen Stolpmünde, hatte er nun Schießvorschriften für leichte Flakgeschütze zu bearbeiten und Ballistik zu unterrichten.

Der Kommandeur dieser Schule, Major Kurt Andersen, kam am 14. Dezember 1940 in einer Beurteilung des Leutnants Schmidt zu einem durchwachsenen Befund. Zwar sei dieser »ein sehr intelligenter Offizier mit vielen Interessen, jedoch kleinen Mängeln in der allgemeinen und militärischen Erziehung. Er steht besonders auf geistigem Gebiet über dem Durchschnitt.« Zu den »kleinen Mängeln« rechnete der Major, Leutnant Schmidt könne sich »bei gutem Willen unbedingt korrekt benehmen, die Passion verleitet ihn jedoch zu Unkorrektheiten und Vertraulichkeiten. Gegen Untergebene ist er energisch.«9

Helmut Schmidt, Leutnant der Luftwaffe.

Helmut Schmidt hatte damals selbst das Gefühl, dass ihm in Hinblick auf den gesellschaftlichen Schliff, der von einem jungen Offizier erwartet wurde, noch etwas fehlte. Ein anderes Manko ließ sich deutlich schwieriger ausgleichen:

»Für die Gespaltenheit meines damaligen Bewusstseins ist es bezeichnend, dass ich den katastrophalen Ausgang des Krieges zwar deutlich vor Augen hatte, mich aber schämte, anders als die Mehrheit aller Soldaten auf den Straßen Berlins auf meiner Uniform keinerlei Tapferkeitsorden tragen zu können, weil ich ja an keinem Feldzug teilgenommen hatte. So kam es, dass ich mich, unzufrieden mit dem ruhmlosen Papierkrieg in Berlin, darum bewarb, zur kämpfenden Truppe versetzt zu werden.«10

Da am 22. Juni 1941 der deutsche Überfall auf die Sowjetunion begonnen hatte, bedeutete das die Ostfront.