Mit Pauken und Trompeten - Peter Kaul - E-Book

Mit Pauken und Trompeten E-Book

Peter Kaul

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Beschreibung

Die Geschichte beginnt am 20. April 1935 in der Wohnung der Familie Weiss in Berlin. An diesem Tag ist zufällig Hitlers Geburtstag und gleichzeitig Sabbat. Eine schwierige Situation für ein vierzehnjähriges, jüdisches Mädchen. Ungeduldig wartet Sarah auf das Ende der Sabbatfeier. Sie möchte gern mit ihrer Freundin Gerda zur Parade gehen, um einmal die Parteigrößen aus der Nähe zu sehen. Sie und ihre Familie bemerken schmerzhaft die Veränderungen, die in Deutschland vorgenommen werden. Vater wird als hoher Beamter entlassen, sie muss die Schule wechseln, Ende 1938 werden ihre Eltern verhaftet. Sarah findet Unterschlupf bei Bea, eigentlich Beate, der besten Freundin ihrer Mutter, auf einem Bauernhof in der Uckermark. Beas Tochter Irmtraud ist schwer an Diphterie erkrankt und stirbt kurze Zeit später. Auf Anraten des polnischen Knechtes Michail wird der Tod nicht gemeldet und Sarah schlüpft in deren Rolle.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Peter Kaul

Mit Pauken und Trompeten

Allen, die gelitten habenBookRix GmbH & Co. KG81371 München

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Biografie

Titel vom gleichen Autor

Vorwort

Liebe Leser, Sie werden in eine Zeit versetzt, über die viel gesprochen und geschrieben wurde, aber so richtig deutlich wurde es dennoch nicht. Viele ältere Menschen werden sich noch erinnern, viele wollen es nicht und viele können es nicht mehr, da sie nicht mehr leben. Von den Überlebenden verdrängen viele die grausige Erinnerung.

Ich möchte aber mit diesem Buch die Erinnerung wachhalten. So etwas wie diese Zeit darf nicht vergessen werden - vielmehr noch, so etwas darf nie wieder geschehen. Alle sind aufgefordert, solches zu verhindern.

Neugierig gemacht, begann ich zu hinterfragen. Meine Großmutter und mein Großvater erklärten mir, dass sie nicht wussten was geschah und das hielt ich damals als Jugendlicher für Feigheit.

Viel später habe ich durch meine Mutter erfahren, lange nach dem Tod meines Großvaters, der eine Fleischerei in der Simon-Dach-Straße 16 in Berlin-Friedrichshain hatte, dass er regelmäßig während Bombardierung und Verdunkelung mit dem Fahrrad nach Moabit zu einer Kirche fuhr, um beim Pfarrer „Fresspakete“ für unbekannte Menschen abzugeben. Als er an Rheuma erkrankte, hatte meine Mutter diese Aufgabe zeitweise übernommen, gegen den Widerstand meiner Großmutter, die diese Aktionen für zu gefährlich hielt. Das Ganze hat mir einigen Respekt abverlangt, als mir klar wurde, dass sie sich nicht zu hinterfragen trauten, wie die meisten, wo hin die vielen Menschen verschwanden und ich konnte ihre Haltung etwas besser verstehen.

Die Idee zu dieser Geschichte ist mir gekommen, als meine Tochter Franziska in der Grundschule, musste so in der 4.Klasse gewesen sein, einen Aufsatz über den Nationalsozialismus schreiben musste. „Mussten wir auch!“ werden jetzt viele von Ihnen sagen, aber was mich beim Lesen des Aufsatzes und der anschließenden Lektüre der Schulbücher irritiert hat, war die Tatsache, dass alles viel zu harmlos dargestellt wurde - nur niemanden erschrecken. Hitler, ja, der hat Autobahnen gebaut und für viele Arbeit besorgt.

Hier ein Zitat: „Adolf Hitler wurden nicht geringe Verdienste zugeschrieben, u.a. hat er sich um den Autobahnbau und die vielen Arbeitslosen, denen er Beschäftigung verschaffte, verdient gemacht.“

Mein Entsetzen nahm zu. „Na ja, ein paar Juden sind dabei auch gestorben. Ach ja, den 2. Weltkrieg hat er auch angefangen - war nicht so cool!“

Nur wie es zur planmäßigen Vernichtung von etwa 10 Millionen Menschen kam (man muss sich das vorstellen, das ist eine Eins mit 7 Nullen!!!) und davon allein 6 Millionen Juden, wird eigentlich nie so richtig klar.

 

Ich habe früher als Jugendlicher immer folgendermaßen gerechnet, um mir die Dimensionen überhaupt vorstellen zu können.

Das Berliner Olympia Stadion, über das in meiner Geschichte noch gesprochen wird, fasst mit Stehplätzen etwa 70.000 Menschen. Das ist bei der Menge der Ermordeten allein 142,8 Mal das volle Olympia Stadion - eigentlich unvorstellbar!

Was für ein Chaos die Abfahrt von 70.000 Besuchern verursachte, überfüllte S-Bahn-Züge und Busse, verstopfte Straßen.

Oder noch anders gerechnet: Pro Zug mit 20 gedeckten Güterwagen, den so genannten Viehwagen, wurden etwa 1.000 Menschen gepfercht, befördert, das macht 10.000 endlos lange Eisenbahnzüge, die kreuz und quer durchs Land fuhren, dann kann man sich vorstellen, welch großer Organisation es bedurft hat, 10 Millionen Menschen dahin zu befördern, wo sie letzten Endes den Tod fanden.

Oder eine andere Rechnung, wenn jeder getötete Mensch eine Fläche von einem Quadratmeter eingenommen hätte und alle dicht an dicht ständen, hatte die Fläche eine Seitenlänge von 3.163 Metern oder 3,163 Kilometern, also eine Fläche von 1000 ha.

Oder ein noch erschreckenderer Vergleich. 10 Millionen Menschen, das ist die Bevölkerung von Berlin (3,4 Mio), Köln (1,1Mio), Frankfurt/Main (0,6 Mio), Düsseldorf (0,56 Mio) Hamburg (1,6 Mio), Bremen (0,6 Mio), Stuttgart (0,58 Mio) München (1,27 Mio) Freiburg (0,18 Mio) und Potsdam (0,14 Mio) - unvorstellbar!

Wenn sich diese Menschen an die Hand genommen hätten, wäre die Schlange 10.000 km lang, also ein Drittel des Erdumfangs am Äquator, fast von Berlin bis Honolulu, nicht ganz.

Diese Vergleiche sollten nur verdeutlichen, wie viele Menschen getötet wurden. Bei diesen Vergleichen kann man leichter die Dimension erfassen. Eigentlich unfassbar und doch ist es geschehen.

Es geschah nicht alles auf einmal, sondern zog sich über einen langen Zeitraum hin. Die Endlösung kam eigentlich ganz zum Schluss (wie schon der Name sagt) oder fast zum Schluss. Vorher waren es aber viele einzelne Ereignisse, die dazu führten, und viele willige Helfer waren dazu nötig.

Aber zurück zu Franziskas Aufsatz. Am meisten hat mich der Satz berührt, der die Selektion an der Rampe des KZ Auschwitz beschrieb.

„Die Kinder wurden von den Müttern getrennt und durch besondere Kindergärtnerinnen betreut.“ Ich war entsetzt. Die Nationalsozialisten, also die Täter und Macher des Holocaust waren alles andere als ein Kindergarten, wie es dargestellt wurde, als harmlose Kindergärtner. Ein KZ, welches auch immer, hatte keinen Kindergarten und demzufolge auch keine Kindergärtnerinnen. Man bemühte sich in den Ausgaben der Schulbücher offensichtlich mehr um die positiven Aspekte, als um die unzähligen Gräueltaten, die die Nationalsozialisten begangen haben. Ich habe mich daraufhin intensiv mit meiner Tochter unterhalten, soweit es ihrem Alter und ihrem Zeitverständnis entsprach. So jedenfalls konnte es nicht stehen bleiben, fand ich. In den KZs gab es keine netten Kindergärten!

Selektion, Auswahl, bedeutete immer auf der einen Seite Leben und Schwerstarbeit, die ebenfalls meist zum Tode führte, und auf der anderen Seite den sicheren und sofortigen Tod! Es gab nur diese Alternativen. Die Wahl war also recht eingeschränkt, wenn man überhaupt von einer Wahl sprechen konnte.

 

Mit arischen Kindern ging man behutsam um. Es gab Jugendverbände wie die HJ (Hitler Jugend) für die Jungen als Vorbereitung auf eine spätere Rolle beim Militär und den BDM (Bund Deutscher Mädel) für die Mädchen als Vorbereitung auf die spätere Rolle als Mutter in der nationalsozialistischen Gesellschaft.

So kann man diesen Teil unserer jüngeren Geschichte nicht stehen lassen, beschloss ich. Franziska fing an zu begreifen, was in dieser Zeit geschah, und sie weinte. Dieses Gespräch wirkt heute noch fort, sodass wir uns immer noch darüber unterhalten und ich mein Wissen über diese Zeit an sie weitergeben kann.

Ich möchte in meinem Buch nicht mit erhobenem Zeigefinger wirken, sondern möchte aufklären, mahnen und erinnern, dass sich so etwas nicht wiederholen kann, nicht wiederholen darf! Wir, die Mehrheit dürfen nicht die Augen verschließen und wegsehen, sondern unsere Verpflichtung ist es, da unsere Stimme zu erheben, wo Unrecht geschieht. Sei es aktuell bei Ausländerverfolgungen oder bei der Verbreitung von neuem, nationalsozialistischem Gedankengut. Wehret den Anfängen!

Die eigentliche Geschichte beginnt während der Sabbatfeier der Familie Weiss am Samstag, den 20.4.1935. Zufällig hat der Führer heute Geburtstag. Sarah, ein junges Mädchen, wartet wie viele Mädchen ihres Alters ungeduldig auf das Ende der Feier, um Marlene Dietrich, Zarah Leander, Marikka Rökk, Heinz Rühmann und Ilse Werner im Radio des Großdeutschen-Rundfunks hören zu können.

Vater bricht den Matzen, das ungesäuerte Brot und trinkt den Kiddusch-Wein und spricht für die Familie das Gebet.

Sarahs Vater, ein hoher Beamter im Reichspatentamt, verliert auf Grund der neuen Gesetze seinen Job. Zunächst wird er nur in die Registratur versetzt, am Ende des Jahres 1935 wird ihm gekündigt, nur weil er Jude ist und Juden keine Beamten sein durften. Dabei wird Zeitgeschichte zu Anfang mit den Augen einer Vierzehnjährigen erlebt, die sich eigentlich nicht als Jüdin fühlt.

Kapitel 1

 

 

 

Ungeduldig wartete Sarah darauf, dass die Sabbat-Feier endlich zu Ende ging. Sie stützte den Kopf auf die Hand. „Bitte setz dich gerade hin“, mahnte die Mutter. Sarah setzte sich gerade hin und betrachtete die Menorah, den siebenarmigen Leuchter auf der Kredenz und sah in die tanzenden Flammen der Kerzen auf dem Tisch.

„Mmm“, brummte sie und sah sich voller Ungeduld um. Sie suchte mit Blicken die Uhr. Gleich fing die Sendung im Großdeutschen Rundfunk an und Papa war mit dem Gebet immer noch nicht fertig.

„Das dauert aber heute auch lange“, dachte sie.

Heute hatte der Führer Geburtstag. Es gab eine Sondersendung mit vielen bekannten Stars aus Rundfunk und Film. Ilse Werner, die so schön pfeifen konnte, war angekündigt. Zarah Leander mit der tiefen, aufregenden Stimme, der nuschelnde Hans Moser, Hans Albers und viele, viele mehr und Papa war immer noch nicht fertig.

„Mmm“ machte sie leise ein zweites Mal. Es war so langweilig heute. Mutter sah sie tadelnd an. Papa sprach aber heute besonders langsam, so kam es ihr jedenfalls vor.

„Mmm“ entfuhr es ihr versehentlich erneut, sie streckte sich. Papa unterbrach kurz und sah sie mit seinen gütigen Augen über den Rand seiner Brille an.

„Ein wenig Geduld Sarah“, sagte er sanft, „es dauert nicht mehr so lange.“ Sarah war zufrieden.

„Wie lange dauert es denn noch?“, fragte sie.

„Es dauert so lange, wie es dauert“, antwortete der Vater geduldig, mit einem verständnisvollen Lächeln. „Ich kann unserem Gott Jahwe keine Sprechzeit auferlegen, etwa warte, du bist noch nicht dran oder ich habe jetzt keine Zeit für dich. Unser Gott Jahwe, der Gott, der Moses die Gesetze gegeben hat, die lange Zeit in der Bundeslade verwahrt wurden, in denen steht, du sollst am siebenten Tage ruhen, von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang, kann ich doch nicht sagen, ich höre jetzt auf, Sarah möchte nicht.“

Sarah nickte und fühlte sich ein wenig schuldig, weil sie gedrängelt hatte. Sie betrachtete nun ernsthaft ihren Vater, während sie nervös an der Unterlippe kaute. Der schloss die Augen und setzte sein Gebet fort. Sie hatte ihn eigentlich noch nie so eingehend angesehen. Hübsch war er nicht und auch nicht groß, allerdings auch nicht klein. Die Jahre hatten sein Gesicht gezeichnet und tiefe Furchen in die Haut eingegraben, besonders hatte der Kummer um seine Arbeit Furchen um die Augen hinterlassen. Er trug seinen alten, an einigen Stellen abgewetzten Anzug, der aber im Großen und Ganzen noch recht ordentlich war. Sarah liebte ihren Vater so, wie er war. Seine Brille rutsche auf die Nasenspitze und Vater schob sie wieder hoch. Sarah kicherte leise vor sich hin und erntete deswegen einen tadelnden Blick ihrer Mutter. Auf dem Kopf trug Vater die Kippa, eine kleine, schwarze Kappe. Um die Schultern hatte er den Tallit, einen Schal, gelegt und um die Hand hatte er den Tefillin, den ledernen Gebetsriemen, gebunden, so wie es sein Vater, der Vater seines Vaters und Generationen vor ihnen getan hatten.

Vater sprach stehend ein Gebet über den Kiddusch Wein. Das Havdalah-Gebet war in Hebräisch, das ihr heute besonders fremd vorkam. Das Gebet handelte vom Lob, Ehr und Dank Gottes, wie alle Gebete in fast allen Religionen.

„Wie alt wurde der Führer heute eigentlich?“, durchfuhr es sie. Sie wusste, dass er 1889 geboren war, in Braunau am Inn in Österreich.

„Momentmal“, überlegte sie, „wenn er 89 geboren ist, wird er heute am 20.4.1935.....“, sie überlegte erneut und rechnete. „Er wird heute sechsundvierzig. Konnte das sein? Schon ganz schön alt. Führer müssten so aussehen wie sie der Bildhauer Arno Breker darstellt, jung und stark, mit ganz vielen Muskeln, ganz das Gegenteil ihres Vaters und ganz das Gegenteil vom Führer.“

Vater hatte mittlerweile den Matzen, das ungesäuerte Brot, gebrochen und verteilte drei Stücke. Eines für Mutter und eines für sie und eines behielt er selbst.

Vater war Beamter im Reichs-Patentamt, sogar Amtsrat. Ein recht wichtiger Mann, wie Sarah meinte. Aber die Nationalsozialisten hatten vor 2 Jahren ein Gesetz erlassen, zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Es wurden viele Juden aus den Ämtern entfernt. Vater hatte Glück. Da er Frontkämpfer im 1. Weltkrieg war, sogar das Eiserne Kreuz erster Klasse erhalten hatte und das Verwundeten Abzeichen, hatte man ihn nicht entlassen. Er wurde nur in die Registratur versetzt. Vater war sehr unglücklich darüber. Nicht die Fähigkeit oder die Intelligenz bestimmten die Karriere, sondern das Parteiabzeichen. Aber inzwischen hatte er sich wohl daran gewöhnt oder zumindest sich damit abgefunden. Das Schlimme daran war, dass der Schulz, ein Beamter aus der unteren Beamtenlaufbahn, sein Vorgesetzter wurde. „Der hat nicht die Weisheit mit Löffeln gefressen“, hat Vater immer gesagt. und dann wurde so einer nun auch noch Vorgesetzter, nur weil er das richtige Parteibuch hatte.

Ein Pfiff ertönte. Sarah lief zum Fenster, zog die Gardine zur Seite und öffnete es. Unten auf dem Hof stand Gerda, ihre Schulfreundin, ihre beste Freundin, ihre Vertraute. „Sarah, kommst du noch ein bisschen runter?“ rief sie, als sie Sarah oben sah. „Unter den Linden ist ein Aufzug HJ und SA mit Musik und Fahnen.“ Sie deutete Trompetenspielen an. Sarah drehte sich zum Vater um und sah ihn flehentlich an. „Paps, darf ich noch runter? Gerda ist da.“

„Wieso willst du noch runtergehen?“ mischte sich ihre Mutter ein. Vater sah sie missbilligend an.

„Oh, Paps, bitte!“, flehte Sarah. Vater blickte zur Mutter und wieder zu ihr.

„Na gut, aber nicht so lange!“ Die Mutter verfolgte das Geschehen und man konnte ihr ansehen, dass es ihr gar nicht recht war.

„Oh danke!“ Sarah fiel ihrem Vater um den Hals, drückte ihn innig und bückte sich dann rasch und zog ihre braun-beige karierten Kniestrümpfe hoch. Sie stürzte in den Flur und zog sich ebenso schnell die braunen Schuhe an.

Aus der Küche kam Anneliese, die ostpreußische Hausangestellte, die die Weissens noch aus besseren Tagen hatten. Sie hatte Sarah mit großgezogen und aufwachsen sehen und Sarah hatte sie über die Jahre lieb gewonnen. Anneliese war mehr eine Freundin und Vertraute für Sarah als eine Hausangestellte. Sie kam damals in den Zwanzigern, als die Arbeitslosigkeit nach dem verlorenen Krieg in Deutschland so groß war, und war dann geblieben. Anneliese gehörte einfach zur Familie Weiss und war wie ein Familienmitglied, nur dass sie immer mit einem dunklen Kleid und einer weißen Schürze herumlief. Wenn Besuch kam, trug sie sogar noch ein weißes Häubchen und das freiwillig.

„Na Freijleijnchen, noch so spät untarwechs“, erkundigte sich Anneliese in ihrem breiten, behäbigen Ostpreußisch.

„Ja, Gerda ist da, wir gehen zur Parade.“ Sarah umarmte Anneliese flüchtig und hastig nahm sie den Haustürschlüssel vom Haken und ihre Jacke.

„Tschüss“, rief Sarah durch den Flur. Krachend fiel die Wohnungstür ins Schloss. Sie sprang die Treppe hinunter, zwei Stufen gleichzeitig nehmend. Auf dem letzten Podest blieb sie stehen. Mit zwei kurzen Bissen trennte sie einen Faden ab, der an ihrer Jacke herunter hing. Sie steckte ihn in die Tasche und lief die letzten Stufen hinunter und riss die Haustür auf. Draußen saß Gerda auf den breiten Stufen, die von der Haustür zum Gehsteig führten.

„Hallo, Sarah, endlich kommst du! Das wurde ja auch Zeit.“

„Guten Tag, liebste Gerda, ich freue mich dich zu sehen“, erwiderte Sarah und lächelte Gerda an.

„Komm du Trödeltante, lass uns keine Zeit verlieren!“

Gerda nahm Sarahs Hand und die beiden Mädchen rannten los. „Heute ist aber viel los“ staunte Sarah.

Alle Fenster, oder fast alle, waren mit roten Fahnen mit einem weißen runden Feld in der Mitte, in dem ein schwarzes Hakenkreuz war, geschmückt.

„Ist das toll, dass der Führer heute Geburtstag hat?“ keuchte Sarah beim Rennen.

„Schade, dass er uns nicht eingeladen hat“, erwiderte Gerda ebenfalls keuchend.

„Auf Torte hätte ich jetzt Appetit, auf Kirschtorte mit viel Sahne.“ Sarah kicherte keuchend.

Die Zahl der Fußgänger nahm stetig zu und zwischen den Fußgängern waren viele Uniformträger zu sehen, braune SA Uniformen, schwarze von der SS und graue vom Heer und ein paar dunkelblaue von der Marine. Alle mit blank geputzten Stiefeln und Schuhen und blitzenden Koppeln.

Die Mädchen liefen inzwischen langsamer, einerseits war ihnen die Puste ausgegangen und sie keuchten, andererseits war der Fußgängerverkehr zu dicht zum Rennen. Schupos mit dunklen Tschakos standen gelangweilt an der Straßenecke und sahen dem Treiben zu. Von weitem wehten Fetzen von Blasmusik herüber. Die Mädchen hielten sich immer noch an den Händen fest, um sich nicht in der Menge zu verlieren.

Gerda war ein großes schlankes Mädchen mit hellblonden Haaren, die sie zu zwei dicken Zöpfen geflochten hatte.

Sarah hatte dunkelblondes, welliges Haar mit einem leichten rötlichen Schimmer. Sie hatte die Haare hochgesteckt um deren Fülle zu bändigen. Beide Mädchen waren seit Jahren eng befreundet und verstanden sich außerordentlich gut. Es gab kein Geheimnis, von dem die andere nicht wusste. Gerdas Mutter hatte öfter versucht, den Kontakt zu Sarah zu unterbinden oder zumindest einzuschränken, aber ohne Erfolg. Sarah war und blieb Gerdas beste und vor allem intimste Freundin.

Inzwischen waren sie an den Absperrungen angekommen. Eine riesige Menschenmenge stand da und wartete geduldig auf den Führer. Zwei kleine Jungen, unmittelbar vor ihnen, hatten rote Fähnchen mit dem Hakenkreuz in der Hand, mit deren Stielen sie übermütig, aber ernsthaft fochten, wie Ritter mit ihren Schwertern.

Gerade zog eine Abteilung der SA vorbei mit Kapelle, deren Trompeten und Posaunen das Horst-Wessel-Lied schmetterten, und vielen wehenden Fahnen. „Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen! ...“, sangen die Braunhemden lautstark mit. Gerda und Sarah sahen sich lachend an und sangen ebenfalls mit. Sie stellten sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Die kleinen Jungen hielten inne und sahen interessiert zu der Marschkolonne. „...SA marschiert mit ruhig festem Schritt….“ Der Tambour-Major dirigierte mit zackigen Bewegungen. Die Tubas und die Pauken dröhnten.

Kleine Kinder saßen auf den Schultern ihrer Väter und schwenkten begeistert ihre kleinen Papierfähnchen mit dem Hakenkreuz.

Gerda und Sarah drängten sich durch die Reihen weiter nach vorn, um besser sehen zu können.

Die Musik wurde lauter und lauter. Man konnte jetzt die Absätze der Stiefel auf den Asphalt knallen hören.

Endlich lichteten sich die Reihen und die Mädchen standen ganz vorn. Eine lange Reihe von SA Mitgliedern in ihren braunen Uniformen marschierte mit ernsten Gesichtern vorbei, flankiert von unzähligen Fahnenträgern.

Die Menge war begeistert. Über den Köpfen kreisten einige Flugzeuge mit dröhnenden Motoren und warfen Flugblätter ab. „Ob da Hanna Reitsch dabei ist?“ fragte Sarah. „Wohl kaum. Die wird wohl keine Werbezettel abwerfen“, antwortete Gerda lächelnd.

Eine Abteilung HJ kam trommelnd näher. Die Teilnehmer marschierten mit stolzen, trotzigen Gesichtern vorbei. Die Trommeln waren mit Hakenkreuzfahnen geschmückt und die Jungen hatten Tücher um den Hals gewunden, deren lose Enden mit ledernen Knoten zusammengehalten wurden. An den Hüften der Jungen baumelten die Fahrtenmesser, auf die die Jungen besonders stolz waren. Ihre braun-beigen Uniformen leuchteten.

„Sieh mal, Sarah“, entfuhr es Gerda. „da in der dritten Reihe ist Bernd aus unserer Klasse.“

„Wo?“ fragte Sarah und stieg auf die Zehenspitzen.

„Da, der Vorletzte in der dritten Reihe.“

„Ach, ja, jetzt sehe ich ihn auch“, erwiderte Sarah.

„Hallo, hallo Bernd!“ rief sie laut, „Beeernd“ und sie winkte. Bernd blickte verlegen zur Seite der Mädchen, grinste leicht, da er erkannt wurde, und versuchte dabei ernst zu bleiben. Schnell gewann er seine Fassung wieder und marschierte stolz vorbei. Er trug eine geschmückte Fahne mit Ehrenzeichen.

Danach kam ein Zug der BDM (Bund Deutscher Mädels) mit winkenden Mädchen, alle in schmucken, weißen Uniform-Blusen. Die schienen besonders hell. Man sah nur lachende Gesichter.

Danach kam ein Zug der SS vorweg mit Kapelle. Ein Fahnenmeer wogte vorbei. Die SS trug schwarze Uniformen. Auf den Mützen trugen sie den Totenkopf. Die Gesichter waren ohne Mimik, wie aus Marmor gemeißelt, stolz ohne eine Regung. Alle liefen im Stechschritt. Das Knallen der Absätze übertönte sogar die Musik.

„Ob die immer so laufen?“, fragte Sarah ihre Freundin.

„Vielleicht“, entgegnete diese, „aber dann machen sie zu Hause bestimmt den Teppich kaputt!“ Beide Mädchen lachten und hielten sich an der Hand.

Endlich näherten sich Fahrzeuge. Endlich kommt der Führer. In den vorderen Wagen standen Parteigrößen der NSDAP. Jetzt war der Führer ganz deutlich zu sehen. Er stand in einem schwarzen, offenen Mercedes Benz. Neben ihm seine Adjutanten. „Heil, heil!“ Eine Woge von Heilrufen umbrandete ihn. Ein kleines Mädchen löste sich aus der Zuschauergruppe und noch eins und noch eins.

Die Kinder liefen auf den Wagen des Führers los. Der Führer ließ den Wagen halten. Die Kinder überreichten ihrem geliebten Führer Blumen zu seinem Ehrentag. Adolf Hitler beugte sich herunter und nahm die Blumensträuße lächelnd und huldvoll entgegen. Die Adjutanten waren ausgestiegen und hoben die Kinder hoch. Er strich den Kindern über die Köpfe, dann winkte er mit den Blumen den Umherstehenden zu.

„Er hat mich angelächelt.“ Sarah war selig. Gerda sah sie an. „Bild dir bloß keine Schwachheiten ein!“ Sie stieß ihrer Freundin mit dem Ellbogen in die Seite. Da stand er nun, zum Greifen nah. Er hatte so wenig von seinem eigenen arischen Idealbild. Aber er sah in natura besser aus als auf den Bildern, die sie hatte. Das musste man ihm ja schon lassen. Er war weder blond noch besonders hellhäutig, wie Arier immer beschrieben wurden. Vater hatte ihr erzählt, dass die Arier ein Volksstamm in Vorderindien waren, dunkelhaarig und von dunklerer Hautfarbe und nicht hellhäutig wie die Germanen. „Irgendetwas stimmte da nicht“, dachte Sarah. Doch ehe sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, ertönte ein tosender Beifall. Der Führer übergab die Blumen seinen Adjutanten und hob die Hand zum Hitlergruß. Langsam setzte sich die Fahrzeugkolonne wieder in Bewegung. „Heil Hitler“ und „Heil“, ertönte es vielstimmig. Sarah stimmte begeistert in die Hochrufe mit ein.

„Schau mal, Engelchen“, sagte Gerda, „da in dem nächsten Wagen sitzt der „dicke Herrmann“. Die Mädchen stießen sich an und kicherten laut.

„Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass der geflogen sein soll. Ein Flugzeug, das den zu den Sternen trägt, gibt es doch gar nicht.“ Eine Frau drehte sich um und sah beide missbilligend an und schüttelte tadelnd den Kopf. „Gören!“, murmelte sie. Die Mädchen sahen sich an und mussten leise lachen, sie hielten sich die Nasen zu um nicht laut lachen zu müssen. Doch die Parade zog sie wieder in ihren Bann.

Langsam fuhren die letzten Fahrzeuge vorbei. Die riesige Menschenansammlung löste sich nur langsam auf. Sie zerstob einfach in alle Richtungen. Die Mädchen machten sich auf den Heimweg mit einem innerlichen Hochgefühl.

„War das toll?“ fing Gerda die Unterhaltung wieder an.

„Ja, einsame Klasse“, erwiderte Sarah, „ich werde noch lange an diesen Tag denken müssen, an dem mir der Führer huldvoll zugelächelt hat.“

Gerda kicherte.

„Hör auf zu lachen!“ Sarah tat beleidigt.

„Ist schon gut, meine Kleine!“, sagte Gerda und hakte sich bei Sarah unter. Beide Mädchen lachten und versuchten im Gleichschritt zu laufen.

Der April war zu dieser Tageszeit noch recht kühl und die Mädchen beschleunigten ihre Schritte.

An der Charlottenstraße, in der Nähe der Mohrenstraße, gab es eine Schlägerei. Mitglieder der SA schlugen sich mit Anhängern der Kommunistischen Partei, die diesen Tag zu einer Protestkundgebung nutzen wollten. Die Polizei stand in angemessener Entfernung und griff nicht ein. Ein rotes Plakat wurde niedergerissen und die Träger erhielten von mehreren SA Angehörigen Schläge. Ein KPD Bannerträger wurde von zwei SA Männern festgehalten und ein Dritter schlug auf den Wehrlosen ein. Die Fahne fiel in den Schmutz. Die Leute von der SA schlugen wild mit Knüppeln auf den wehrlosen, schon blutenden Mann ein. Eine ältere Frau rief der Polizei zu: „Wollt ihr nicht mal helfen?“

Sie erhielt nur zur Antwort: „Gehen sie weiter! Machen sie kein Aufhebens!“

„Komm, lass uns hier verschwinden“, schlug Gerda vor, „sonst kriegen wir auch noch was ab!“

Die Mädchen drehten um und liefen in eine andere Straße. Sie kamen an einem Geschäft vorbei, bei dem die Schaufensterscheibe mit weißer Farbe bemalt war. Ein riesiger Davidstern zierte den oberen Teil der Scheibe. Darunter war zu lesen „Volksdeutsche, kauft nicht bei Juden!“ Gerda drückte Sarahs Arm und streichelte leicht ihre Hand. „Die wissen nicht, was sie tun!“

„Ich glaube schon“, erwiderte Sarah, „die wissen genau, was sie tun!“

Sarah schloss die Wohnungstür auf, hängte Schlüssel und Jacke an den Haken und ging ins Wohnzimmer. Mutter und Vater waren da. Vater las den Völkischen Beobachter und schüttelte hin und wieder den Kopf. Er machte einen besorgten Eindruck.

Sarah hatte sich in den Sessel neben dem Volksempfänger gesetzt. Gerade sang Zarah Leander mit ihrer rauchigen Stimme „...davon geht die Welt nicht unter“. Vater sah über den Zeitungsrand zu ihr hinüber.

„Na, war´s schön? War viel los?“

„Och, ging“, antwortete Sarah.

„Na, mächtig gesprächig bist du ja nicht gerade“, mischte sich Mutter ein.

„Wir haben gerade eine grässliche Prügelei gesehen, das verdirbt die Laune. Sturmabteilungen und Kommunisten haben sich gehauen. Es war scheußlich. Die Polizei stand dabei und hatte nichts gemacht. Die SA Leute haben Wehrlose mit Knüppeln geschlagen und niemand tat was.“

Mutter widmete sich wieder ihrem Nähzeug. Nur Vater sah sie weiterhin über die Zeitung und seine Brille hinweg an.

„Es wird noch schlimmer kommen“, sagte er ruhig und er sollte leider Recht behalten.

Das Radioprogramm wurde unterbrochen. Der Reichs-Propaganda-Minister Dr. Josef Goebbels hielt eine flammende Rede über den Führer und Deutschlands Zukunft. Sarah stand auf und schaltete das Radio aus. Er langweilte sie. Sie schickte sich an in ihr Zimmer zu gehen.

„Wo gehst du hin?“, fragte Vater.

„Ich gehe in mein Zimmer, ich habe noch Hausaufgaben zu machen.“

Vater und Mutter sahen sich erstaunt an und nickten sich zu, so ungewöhnlich erschien ihnen Sarahs Absicht, bevor sich jeder wieder seiner Tätigkeit widmete.

Sarah hatte sich unterdessen an ihrem Schreibtisch niedergelassen und ihr Geschichtsbuch aus der Mappe hervorgekramt. Die Goten und die Wandalen interessierten sie nur wenig. Wandalen hatte sie heute zwei Straßen weiter gesehen. Jedenfalls Menschen, die sich wie die Wandalen aufführten. Aber das konnte sie ja nicht schreiben. Vielleicht tat man den Wandalen damit unrecht, vielleicht waren sie gar nicht so wie die heute. Es war schon ein Kreuz mit der Geschichte. Sie seufzte und kaute auf ihrem Bleistift herum. Sie sah hin und wieder aus dem Fenster. Frau Müller, die Frau vom Blockwart, stand auf der anderen Seite schon wieder hinter der Gardine. Sarah konnte ihre Silhouette gegen das Hintergrundlicht gut erkennen.

„Wie kann man nur so neugierig sein? Aber weiter im Text. Wir sind bei der Völkerwanderung“, sagte sie zu sich selbst. „Frau Blockwart ist mir egal.“

„Ostgoten, Westgoten, wer soll sich denn das alles merken?“ Sie überlegte „Goebbels musste inzwischen fertig sein“ und legte entschlossen den Bleistift zur Seite, stand auf und ging zurück ins Wohnzimmer.

„Na, schon fertig?“, fragte Vater.

„Ja, fast“, erwiderte sie, ging zum Radio und schaltete es wieder ein. Jan Kiepura sang den Schlager „Ob blond, ob braun, ich liebe alle Frau’n“. Sarah zog sich den Sessel näher ans Radio.

„Sie wird gleich reinkriechen“, spottete Mutter, aber das störte Sarah nicht. Vater lächelte vor sich hin.

„Gleich sitzt sie bei Richard Tauber auf dem Schoß.“ Der Sänger sang von einer kleinen Nachtigall. Welchen Vogel er auch besang, in diesen Zeiten wurden viele des Nachts aktiver, nicht nur die Nachtigall.

Kapitel 2

 

 

 

Am nächsten Tag war Sonntag, es war verabredet in den Zoo zu fahren, gleich nach dem Frühstück. Das Wetter, wenn man dem Wetterbericht glauben durfte, sollte schön werden und die Temperaturen angenehm.

Sarah lag in ihrem Bett und genoss die sie umgebende Wärme, die Decke bis zum Hals. Sie hielt die Augen geschlossen und dachte an alles Mögliche, an Freunde, Könige und Prinzen. Sie ließ ihrer Fantasie freien Lauf. Es war richtig gemütlich. Sie versuchte Ost- und Westgoten und die anderen germanischen Stämme zu verdrängen, die sich immer wieder in ihre Wachträume schlichen. „Daran möchte ich heute nicht erinnert werden“, dachte Sarah und räkelte sich wohlig.

„Na, du Schlafmütze, willst du nicht endlich aufstehen?“ Mutters Frage holte sie in die Wirklichkeit zurück und das Ziehen an ihrer Bettdecke.

„Wir wollten doch heute in den Zoologischen Garten.“

„Ja, gleich, ich muss mich nur noch einmal strecken“, antwortete Sarah, die Augen immer noch geschlossen.

„Uaahhh“ gab Sarah von sich. Sie machte sich so lang, wie sie konnte. Einerseits hatte sie überhaupt keine Lust aufzustehen, aber andererseits liebte sie die Tiere.

Der Berliner Zoologische Garten hatte den größten Tierbestand aller europäischen Zoos und wunderschöne Gebäude und das lag an seinem Direktor Heinroth. Das Elefantenhaus glich einem indischen Palast aus Tausend und einer Nacht. Man konnte sich vorstellen, dass gleich ein Maharadscha und seine Maharani erscheinen würden. Daneben gab es Cafés und das von Vater so geliebte Frühkonzert.

Als Sarah sich endlich aus dem Bett geschält hatte und in die Küche kam, hatte Anneliese den Frühstückstisch gedeckt. Es duftete nach Bohnenkaffee und Brötchen. Anneliese war gerade dabei, ein auf eine Gabel aufgespießtes Brötchen über der Gasflamme des Herdes aufzubacken und drehte es zu diesem Zweck unaufhörlich. Als Sarah in die Küche kam, sah sich Anneliese lächelnd um.

„Na Freileijnchen, Morjenstund hat Bleij am Noarsch, wat?“ Mutter und Vater sahen Anneliese an und lachten. Sarah verzog das Gesicht und huschte ins Bad. Sie putzte sich schnell die Zähne, wusch sich mit dem feuchten Waschlappen durchs Gesicht, sprang in ihr Zimmer und zog sich eilends an. Anneliese war derweil damit beschäftigt Brote zu schmieren, die die Weissens bei ihrem Zoobesuch verzehren wollten. Vater hatte sich inzwischen die Zeitung geangelt.

„Morgen, allerseits“, begrüßte Sarah ihre Eltern und Anneliese und ließ sich auf ihren Stuhl fallen.

„Guten Morgen, meine Liebe“ erwiderte Vater, ohne hinter seiner Zeitung aufzutauchen. Anneliese goss Milch für Sarah und Kaffee für Mutter und Vater ein.

„Hab ich einen Hunger.“ Sarah angelte sich genau das warme Brötchen aus dem Korb, das Anneliese gerade von der Gabel geschoben hatte. Vaters Zeitung zeigte auf der Vorderseite eine Abbildung des Führers und Sarah versuchte, während sie sich ein Honigbrötchen schmierte, den dazugehörigen Artikel zu entziffern. Es ging um den Führer Adolf Hitler, das stand fest. Sie kaute an ihrem Brötchen und versuchte mitzulesen. Plötzlich schlug der Vater laut raschelnd die Zeitung zu, so laut, dass Sarah erschrocken zusammenfuhr. Dann tauchte sein Gesicht lächelnd über dem Rand auf.

„Etwas Geduld, meine Liebe, du kannst sie gleich haben.“ Sarah konzentrierte sich wieder auf ihr Honigbrötchen, das zu kleckern anfing. Sie leckte den tropfenden Honig ringsherum ab, leckte sich die Finger ab und trank ihre lauwarme Milch. Mutter sah sie erstaunt lachend an.

„Sarahchen, du hast ja eijnen Bart wie der olle Käijser Willem“, sagte Anneliese und sah Sarah mit hochgezogenen Augenbrauen an. Sarah wischte sich schnell mit dem Handrücken den Milchbart von der Oberlippe ab und angelte sich erneut den Brotkorb.

„Du kannst ja heute nicht schlecht“, stellte Vater fest.

„Lassense man, Herr Weijss, die is ja noch in Wachstum“, verteidigte Anneliese Sarahs zweites Brötchen.

Unbeirrt schmierte Sarah die Brötchenhälfte, verteilte dann Rübensaft darüber und aß das Brötchen mit sichtlichem Genuss.

„Sarahchen, mächtest du noch eijnen Becher Milich“, fragte Anneliese. Sarah schüttelte den Kopf.

„Nein danke, darf ich aufstehen, Mutter?“ Sie stopfte sich den Rest des Brötchens mit einem Mal in den Mund. Anneliese hielt Sarah fest und wischte ihr, wie bei einem kleinen Kind, den Mund mit einem Schürzenzipfel ab.

„So, Lorbasschen, nu kanns de.“

Und ehe ihre Mutter etwas entgegnen konnte, war Sarah verschwunden.

Die Eltern sahen sich an und schüttelten die Köpfe und Mutter sah Anneliese vorwurfsvoll an. Anneliese schüttelte ebenfalls den Kopf und zog zur Entschuldigung die Schultern hoch.

„Na, Jnädichste, nu sejjn se man nech so.“

Vater verschwand grinsend hinter seiner Zeitung.

Endlich war es soweit. Anneliese brachte alle zur Tür und wünschte Sarah viel Spaß beim Zoobesuch.

„Anneliese, möchten sie wirklich nicht mitkommen?“ Vater stand auf dem Treppenpodest und sah Anneliese an.

„Nej, nej! Jeht man ruhich. Ick habe dann auch mejne Ruhe. Viel Spass och. Gnädige Frau, passense uff, dat se keijner frisst.“

Anneliese grinste Mutter an, die lächelte.

Anneliese schloss die Wohnungstür und die Weissens liefen die Treppe hinunter, dann zum S-Bahnhof Friedrichstraße, die sie zum Zoologischen Garten bringen sollte. Vor dem Automaten hatte sich eine lange Schlange gebildet und heulend spuckte dieser nach jeweiligem Münzeinwurf eine Fahrkarte aus. Sie entschlossen sich am Fahrkartenverkauf anzustellen. Vater löste die Fahrkarten, kleine, gelbliche, rechteckige Pappstücke, mit rotem Aufdruck. Je einen Groschen musste der Vater zahlen.

Die Reichsbahnangestellte am Schalter war sehr unfreundlich. Sie tat fast so, als ob die Reichsbahn ihr gehörte. Vielleicht war die Thermosflasche, die neben ihr stand, umgekippt oder sie hatte keine Zeit Kaffee zu trinken oder fühlte sich einfach nur genervt durch die vielen Fahrgäste mit ihren dauernden Fragen. Die Fahrkarten wurden durch eine kleine Öffnung in der Scheibe geschoben, wobei die Kartenverkäuferin nicht einmal aufsah. Vater nahm diese auf und sie liefen zum Bahnsteig hinauf. Oben am Kontrollhäuschen war eine blonde, gutaussehende Reichsbahnmitarbeiterin damit beschäftigt, die Karten mit einer verchromten Zange zu entwerten. Sie knipste einen Buchstaben in die längere Seite der Fahrkarten.

Der Zug kam sehr bald, jaulend oder besser heulend lief er in den Bahnhof ein. Zischend öffneten sich die Türen. Fahrgäste stiegen aus, andere ein, ein dauernder Strom Menschen ergoss sich auf den Bahnsteig und die Treppen hinab. Familie Weiss stieg ein und Sarah suchte sich einen freien Fensterplatz. Ihre Eltern setzten sich neben sie. Die Schaffnerin pfiff mit ihrer Trillerpfeife und hob die Kelle. Am Lehrter Bahnhof herrschte ein reges Treiben. Sarah betrachtete eine große Zigaretten Reklame Tafel. „Juno bitte!“

Warum eigentlich bitte? War das Bettelei nach einer Juno? Aber wahrscheinlicher war das ein Angebot. Sie rauchte ja nicht. Schon der Zigarettenrauch ekelte sie an. Ein anderes Plakat wies auf die olympischen Spiele im nächsten Jahr hin. Über dem Plakat waren die fünf olympischen Ringe abgebildet. Es wurde recht eng im Abteil.

Eine knarrende Lautsprecherstimme hallte von den Wänden der Bahnhofshalle wider: „Zurückbleiben, Türen schließen! Vorsicht an der Bahnsteigkante.“

Zischend schlossen sich die Türen und ruckelnd und heulend setzte sich der Zug in Bewegung. Sie fuhren vorbei an Häusern, deren Bewohner das schöne Wetter genossen und Kissen auf den Fensterbrettern ausgebreitet hatten. Der Zug hielt noch an einigen Bahnhöfen und viele Mitfahrer stiegen aus, andere ein. Es waren sehr viele Uniformträger im Zug. Man sah grau-grüne Uniformen der Wehrmacht, braune der SA und schwarze der SS. Ein gutaussehender Offizier der SS unterhielt sich mit einer hübschen, jungen Frau, die ihre Haare hochgesteckt hatte und die bewundernd zu ihm aufsah. Sie trug ein geblümtes Kleid und eine Jacke. Er hatte seine Mütze etwas schief aufgesetzt und es sah aus, als ob der Totenkopf darauf zur Seite sah und die Mitreisenden betrachtete. Beide, der Offizier und die junge Frau, waren guter Laune und lachten sehr oft. Sarah gegenüber saß eine ältere Dame, die dauernd mit dem Kopf wackelte. Ein Mundwinkel hing leicht nach unten und die Hände der Frau zitterten. Die Frau sah sehr traurig aus. Sarah überlegte, was die Frau bedrücken könnte. Ehe sie noch zu Ende gedacht hatte und für sich zu einem Resultat gekommen war, lief der Zug in den Bahnhof Zoologischer Garten ein. Die meisten Mitreisenden stiegen aus. Sie liefen über den Bahnsteig zur Treppe. Da offensichtlich alle das Gleiche vorhatten, entstand auf der Treppe ein Gedränge. Unten am Treppenende durchquerten sie einen langen Tunnel. Sie standen auf dem Bahnhofsvorplatz gegenüber dem Eingang des Zoos. Sarah konnte schon von weitem die Elefanten trompeten hören.

Mit schnellen Schritten lief Sarah, gefolgt von den Eltern, auf das Ende der Warteschlange am Kassenhäuschen zu und stellte sich an. Früher hatten sie, weil Vater Zooaktien besaß, Freikarten und brauchten sich nicht anzustellen, aber durch die neuen Gesetze musste er die Aktien verkaufen. Als sie endlich an die Reihe kamen, lösten sie die Eintrittskarten und betraten den Zoo. Von weitem sah man den roten, aus Backsteinen gemauerten Wasserturm über die Baumwipfel ragen.

Sarah zog es zu den Riesen im Tierreich, den Elefanten. Sie liefen ohne Hast zum Elefantenhaus.

Die Elefanten waren in einem großen Haus, das wie ein indischer Palast aussah, untergebracht. Es hatte viele Türmchen. Auf der Spitze eines jeden Türmchens saß eine goldene Spitze. Das Haus hatte ein großes, halbrundes Tor, durch das die Dickhäuter ins Freie laufen konnten.

Sie hatten Glück. Heute waren alle Tiere im Außengehege. Einige bewarfen sich den Rücken mit Sand, indem sie den Sand vorsichtig mit dem Rüssel griffen. Andere standen am Graben und bettelten um Bananen und Erdnüsse. Einige Kinder hielten ihnen Grasbüschel entgegen, die die riesigen Tiere dankbar ergriffen und mit Schwung in ihr Maul beförderten. Sarah hatte genug gesehen. Jetzt wollte sie zu Bobby, dem Gorilla, und zu Knautschke, einem großen Flusspferdbullen. Aber auch Jonny, ein frecher Schimpanse, interessierte sie.

Jonny war bekannt dafür, dass er seinen Kot an die Gitterstäbe schmierte oder ihn sogar durch die Stäbe auf die Zuschauer warf, die dann jedes Mal panisch kreischend auseinander liefen.

Es ging vorbei an Zebras, Ziegen, Hirschen und Rindern. In der Ferne brüllte ein Löwe. Ein Schauer durchfuhr Sarah. Was wäre, wenn dieser Löwe ausbrechen würde. Nicht vorzustellen. Sie dachte lieber nicht weiter und betrachtete die Flamingos. Sie näherten sich langsam dem Haus der Menschenaffen.

Jonny saß ruhig in seinem Käfig. Es schien, dass er sich an den Käfigstangen festhielt. Oben im Käfig turnte ein Schimpanse behände herum. Jonny, das Schimpansen Männchen, saß mit einer stoischen Ruhe auf seinem Platz und betrachtete gelangweilt die Besucher. Hin und wieder kratzte er sich den massigen Körper und bohrte mit einem Finger in der Nase. Plötzlich griff er nach hinten und kackte in seine aufgehaltene Hand. Nachdem er an seiner Kacke prüfend gerochen hatte, warf er sie durch das Gitter in die Menge der Zuschauer, die kreischend auseinander stoben. Den Rest schmierte er ans Gitter. Ein kleiner Junge neben Sarah beobachtete das Geschehen interessiert.

„Mama, is det aban ollet Schwein“, rief er laut über den Platz in die Menge. Die Menge, die in gebührendem Abstand vom Käfig zum Stehen gekommen war, lachte laut. Einige der Zuschauer applaudierten.

Sarah und ihre Eltern liefen langsam weiter zum Giraffenhaus, vorbei an einem See mit einer Unzahl von Enten und Pelikanen.

Aus der Tiefe des Zoos wehte immer noch das kehlige Brüllen von Löwen herüber. Es klang schaurig schön. Sarah versuchte sich vorzustellen, was passierte, wenn sie solch einem gewaltigen Raubtier plötzlich gegenüberstünde. Sie schüttelte den Kopf und sagte zu sich „lieber nicht“!

Gott sei Dank waren die Löwen und die Besucher durch breite Wassergräben getrennt.

Sarahs Aufmerksamkeit wurde von einem jungen SS Offizier gefangen genommen, der mit einer sehr hübschen, blonden jungen Frau Arm in Arm die breiten Wege entlang schlenderte. Sie hatte sich bei ihm eingehakt und sah ihn hin und wieder von der Seite an. Sie trug ein braunes Kleid, das sich eng an ihre schlanke Figur schmiegte. Seine schwarzen Stiefel glänzten im Gegensatz zu seiner schwarzen Uniform. Das war also die Elite Hitlers. Als Sarah das Paar überholte, betrachtete sie kurz den Offizier. Er hatte einen kalten Gesichtsausdruck mit hohen Wangenknochen, was seinem Gesicht einen kalten Ausdruck verlieh. Die dunkelblonden Haare waren hinten und an den Seiten kurz geschnitten und mit Pomade glatt nach hinten gekämmt. Seine Begleiterin hatte plötzlich auch nichts mehr von Marlene Dietrich. Sie wirke ebenfalls sehr kalt und arrogant. Sie passten offensichtlich sehr gut zusammen.

Vater unterhielt sich während des Laufens leise mit Mutter. Sarah wandte ihr Interesse wieder den Tieren zu.

Nach einer Weile steuerte der Vater eine Bank an. Sie nahmen Platz und begannen ihre mitgebrachten Brote auszupacken. Mutter holte aus ihrer Tasche eine Thermoskanne und goss Vater und sich eine Tasse dampfenden Kaffee ein.

Sarah trank einen Apfelsaft. Auf dem Weg tobten zwei kleine Jungen vorbei, die zu einem Luftwaffenoffizier gehörten, der ein kleines Kind noch auf dem Arm hatte.

Sarah hatte Käse auf Ihrem Brot, dick belegt wie sie es liebte. Kleine Spatzen zankten sich um die Krümel, die von ihrem Brot herunter fielen. Die Sonne hatte sich inzwischen hinter Wolken versteckt und den ganzen Zoo mit einem Schatten überzogen. Es wurde etwas kühler und ungemütlicher.

„Na, Sarah, wollen wir weiter?“ fragte die Mutter. Sarah nickte kauend.

Die Eltern packten die restlichen Brote wieder ein und standen auf. Sarah stopfte sich den Rest ihres Brotes in den Mund und stand ebenfalls auf. Über die restlichen Krümel machte sich eine ganze Schar Spatzen her, die von allen Seiten angeschwirrt kamen.

Sie kamen langsam in die Nähe des Restaurants. Man hörte Musik eines Tanzorchesters. Als sie näherkamen, konnte Sarah auch Paare sehen, die auf der Tanzfläche inmitten von vielen Tischen tanzten. Es war ein Potpourri von Walzern verschiedener Komponisten. Sarah blieb stehen und lauschte. Die Mutter drehte sich um und mahnte, „nun komm doch endlich, wir müssen weiter!“

Sarah lief widerstrebend hinter ihren Eltern her.

Der Vormittag ging schnell vorbei und es wurde Nachmittag. Sarah taten vom vielen Laufen die Füße weh.

„Können wir nicht mal eine Pause machen?“, fragte sie.

„Wir fahren gleich nach Hause“, antwortet der Vater, „es ist schon ziemlich spät“.

„Och jetzt schon“, maulte Sarah. Aber sie dachte an ihre schmerzenden Füße. Die Drei schlenderten langsam mit der Menge und ohne Hast dem Ausgang entgegen.