Mithu Sanyal über Emily Brontë - Mithu Sanyal - E-Book

Mithu Sanyal über Emily Brontë E-Book

Mithu Sanyal

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wie ein Sturm ist das Werk Emily Brontës in das Leben von Mithu Sanyal hineingefegt. Die erste Lektüre des Romans »Sturmhöhe: Wuthering Heights« hatte für die Autorin von »Identitti« lebensprägende, lebensverändernde Kraft.  Mithu Sanyal hat ein mitreißendes Buch über das Leben und Schreiben der weltberühmten englischen Autorin geschrieben, der man zu Lebzeiten mangelnde Weiblichkeit vorwarf und deren Buch als gefährlich galt. Für Sanyal, Tochter einer polnischen Mutter und eines indischen Vaters, war und ist »Sturmhöhe« ein Buch, in dem sie die eigene Fremdheitserfahrung wiederfand, ein Buch, das ihr in ungefähr allen wichtigen Lebensmomenten irgendwie weiterhalf und sie immer begleitet. Beim Sex, beim langweiligsten Urlaub der Welt, bei angeheirateten englischen Verwandten, die sich nach dem Empire zurücksehnen, und beim Planen der Revolution. Denn darum geht es vor allem in diesem Buch: um das Wunder, wie ein mehr als 170 Jahre alter Roman auf alle wesentlichen Fragen von heute zu Gender, Race, Class und Geistern klare, aktuelle, zukunftsweisende Antworten hat. 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 158

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mithu Sanyal

Mithu Sanyal über Emily Brontë

Bücher meines Lebensherausgegeben von Volker Weidermann

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Mithu Sanyal

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Motti

Warum

Worum

Leben

Nachleben

Sex

Class

Race

Ghosts

Lebensdaten

Quellen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Es war eines von diesen Videogesprächen, wie wir sie in Pandemiezeiten so viele führten, und wir sprachen über ein Leben der Möglichkeiten, das sich bietet, wenn Identitäten sich auflösen und wir alle freier sind, in der Zukunft. Wir sprachen also über »Identitti«, Mithu Sanyals augen- und weltöffnenden Roman, und dann auch über das Aufwachsen mit Büchern. Welche Bücher sie, Mithu Sanyal, groß gemacht haben, groß, selbstbewusst und zu der Autorin, die sie heute ist. Mit einem Lachen wischte sie den sogenannten deutschen Literaturkanon beiseite, Günter Grass, ja, ein wahnsinnig netter Mann, wirklich. Aber für sie, Mithu Sanyal, Enkelin von aus Polen eingewanderten Großeltern, Tochter eines aus Indien eingewanderten Vaters, seien seine Bücher und der ganze jüngere deutsche Kanon innerlich lange bedeutungslos gewesen. »Es hatte einfach nichts mit mir zu tun.«

Und wie sie dann erzählte, von den Büchern, die sie geprägt, erweckt, in einem tiefen, wahrhaftigen Sinne selbst-bewusst gemacht haben, da war in mir der bislang nur schemenhaft bestehende Wunsch, eine Bibliothek der »Bücher des Lebens« zu beginnen, zu einem festen Willen geworden.

So fing das an. Und wenn ich mir in diesem Moment ein solches Lebensbuch erträumt hätte, dann wäre es ungefähr genauso gewesen, wie das, was hier vor Ihnen liegt: die Geschichte, wie sich ein Roman, wie sich ein paar vor mehr als 170 Jahren geschriebene Seiten in Leben verwandelt haben. Wie sie ein Leben von heute geprägt haben. Ein Leben und ein Schreiben. Wenn wir Mithu Sanyal über Emily Brontë lesen, dann lesen wir auch eine intime, eine persönliche, eine politische, eine literarische Autobiographie der Autorin Mithu Sanyal. Nichts, so scheint es, hat das Leben der Romanfiguren Heathcliff und Cathy, nichts hat das Leben der Brontë-Sisters aus dem England des vorletzten Jahrhunderts mit Mithu Sanyal von heute, mit dem Leben ihrer indischen Vorfahren, mit dem Leben ihrer Mutter, mit Mithu Sanyals Sex mit Marcus und Matti zu tun. Könnte man denken. Nichts mit Gender-Debatten von heute, Rassismus-Debatten und der Erfahrung von Rassismus von heute. Dem Leben als mixed-race Mädchen von Mithu Sanyal. Nichts? Wirklich nichts? Oder in Wahrheit: Alles?

»Bücher sind eines dieser Medien«, schreibt Mithu Sanyal in diesem Buch, »die sich auflösen, wenn wir sie lesen, wir sehen nicht die Buchstaben, sondern die Welt dahinter, als wären die Seiten ein Portal, durch das wir hindurchtreten.«

Willkommen in der Welt hinter dem Portal. Willkommen in der Welt von Mithu Sanyal und Emily Brontë.

 

Volker Weidermann

Inhaltsverzeichnis

»eines der abstoßendsten Bücher, die wir je gelesen haben«

Eclectic Review, Februar 1851 

»lohnt sich zu vermeiden«

Peter Bayne, Essays in Biographical Criticism, 1857 

»Wuthering Heights macht zu viel Lärm und nicht genug Sinn.«

Kathryn Hughes, The Guardian, 21.7.2018 

»Es ist schleierhaft, wie ein Mensch es bewerkstelligen konnte, ein solches Buch zu schreiben, ohne nach einem Dutzend Kapiteln Selbstmord zu begehen.«

Graham’s Lady’s Magazine, Juli 1848 

»Ich wünschte, meine Cousine hätte ›Wuthering Heights‹ nie geschrieben.«

Eliza Jane Kingston, 1860 

»Lest ›Jane Eyre‹ … aber verbrennt ›Wuthering Heights‹«

Patterson’s Magazine, März 1848 

»Der einzige Trost, den wir haben, ist, dass das Buch niemals breit gelesen werden wird.«

James Lorimer, North British Review, 1847 

Inhaltsverzeichnis

»Bei dem Buch hat man das Gefühl, man würde sich in Gefahr begeben, wenn man es nur aufschlägt.«[1]Helen Oyeyemi

Warum

Ja klar begann auch für mich alles mit Kate Bush. Ich war 15, und während ich mit meinem damaligen Freund schlief, lief auf seinem Plattenspieler »Wuthering Heights«. Out on the wily, windy moors, sang Kate mit dieser hohen, unheimlichen Stimme – zu eindringlich, um schön zu sein, zu … otherworldly – über Geister, die durchs Fenster hineinkommen, hungrige Seelen, Eifersucht und Besitzansprüche: I hated you, loved you, too.

Der Sex war super, die Beziehung … nicht so sehr. I hated you, loved you, too, sprach mir aus der Seele. Also ging ich nach der nächsten Unterrichtsstunde zu meiner Englischlehrerin und fragte sie, wer »Wuthering Heights« geschrieben hatte. Sie sah mich so lange prüfend an, bis ich mir sicher war, es wäre ein Gerücht, dass der Song auf einem Buch basiert.

Dann sagte sie: »Ich glaube, Charlotte Brontë.«

Ich würde gerne schreiben, dass ich daraufhin in die Bücherei ging und herausfand, dass nicht Charlotte, sondern ihre Schwester Emily den Roman geschrieben hatte. Bloß kannte ich die Kulturleistung Zentralbibliothek damals noch nicht, nur die Pfarrbibliothek und da gab es »Wuthering Heights« nicht.

So dauerte es, bis mein Freund – lasst ihn uns Marcus nennen, weil er so hieß – mit einer Mitschülerin Sex hatte, aus Rache für etwas, an das ich mich nicht mehr erinnern kann –, kann ich natürlich doch, aber: too much information – und sich von ihr im Anschluss die Reclam-Ausgabe von »Wuthering Heights« für mich auslieh.

»Sie hat Schwarz-Weiß-Postkarten in rahmenlosen Bilderrahmen an der Wand«, berichtete er mir beeindruckt. »Das ist Stil!«

Sie hatte Emily Brontë, das war Stil.

Es ist ein Zeichen für die Macht des Romans, dass ich ihn trotzdem las und dabei nicht die ganze Zeit an die nackten Körper von Marcus und – hieß sie Kerstin? – dachte, dass ich überhaupt nicht sonderlich an sie dachte, sondern nur an Heathcliff und die beiden Cathys, die direkt zu mir sprachen, an Wuthering Heights und Penistone Crags mit seiner Feenhöhle.

»Wuthering Heights« war der erste echte Roman, den ich gelesen habe, meine Initiation in die Welt der Erwachsenenliteratur. Und das war ein Glücksgefühl, ein synästhetisches Ganzkörpererlebnis. Und ein Problem. Hängte er doch die Latte für weitere Romane extrem hoch, sodass ich später oft dachte: Das ist ja alles schön und gut, aber wann kommt endlich das Moor? Wo sind die Geister? Was ist mit der Anwesenheit einer Anderswelt? Mehr zu Natur und Übernatürlichem später.

Erst einmal bin ich mit meiner Obsession nicht allein, ja noch nicht einmal sonderlich originell. Margaret Atwood nennt »Wuthering Heights« den Roman, der ihr Leben veränderte,[2] dito D.H. Lawrence (obwohl er seiner Jugendliebe Jessie Chambers 1905 noch verbat, das Buch zu lesen, um sie davor zu bewahren, verstört zu werden).[3] Ernest Hemingway, Daphne du Maurier und Henry Miller zählten »Wuthering Heights« zu den wichtigsten Romanen, die sie jemals gelesen hatten.[4] Balthus malte sich auf zahlreichen Bildern wie »We ran from the top of the Heights« als Heathcliff und seine spätere Ehefrau Antoinette de Watteville als Cathy. Und dann sind da natürlich noch Sylvia Plath und Ted Hughes, das Cathy-und-Heathcliff-Ehepaar der amerikanisch-englischen Lyrik, wenn es nach ihren Fans geht. Und nach Plath und Hughes selbst, die jedoch schwankten, ob sie sich eher mit Cathy und Heathcliff identifizierten oder mit Emily Brontë selbst (schließlich war Sylvia genauso alt wie Emily, als sie starb, und der Cousin der Mutter von Teds Onkel Walter hatte ein paar Suppenteller der Brontës geerbt).[5]

Doch auch außerhalb der Literatur ist »Wuthering Heights« allgegenwärtig, wie zum Beispiel beim »Most Wuthering Heights Day Ever«, der eindeutig eine Fehlbenennung ist, weil dieser Tag jedes Jahr stattfindet. Der Höhe- und einzige Programmpunkt des in zahlreichen Ländern parallel stattfindenden Events besteht daraus, dass Hunderte von »Cathys« (also Menschen in roten »Cathy-Kleidern«) die Choreographie aus Kate Bushs »Wuthering Heights«-Video nachtanzen. Und wem das zu sportlich ist, der kann sich die Hundeversion von »Wuthering Heights« anschauen: »Woofering Heights«, ein leicht psychedelischer Film, dessen Voiceover, da Hunde nicht lesen können, von dem ehemaligen Dr.‑Who-Schauspieler David Tennant gelesen wird. Außerdem gibt es Brontë-Kekse und Brontë-BHs und ein Hotelschiff namens MS Emily Brontë und natürlich ist Emily Brontë auch auf Twitter. Also versuchte ich ihr zu folgen, aber es sind einfach zu viele, wie @Emily8Bronte:

»Liebe Freunde und Leser, leider muss ich euch mitteilen, dass ich Tuberkulose habe. Meine Krankheit ist unheilbar. Danke, dass ihr eine solche ((+))

Inspiration wart. Da ich nicht mehr viel Zeit in dieser Welt verbringen werde, möchte ich euch mitteilen, dass ich ein Tagebuch geführt habe …«[6]

oder @E_Bronte_OFB: »Mein ganzes Werk ist UMSONST zum Download erhältlich als epub und im pdf-Format für Kindle, iPad oder andere ebook-Reader. Link: ourfavouritebooks.co.uk/authors/brontee.htm«[7]

oder @EmilyBronte15: »So viele Worte, so wenig Zeit«[8]

oder @sisterBronte: »Autorin von solchen Klassikern wie Wuthering Heights, Die Gondal-Gedichte und Harry Potter und der Feuerkelch«[9]

Und so weiter.

Was ist es, was uns alle an diesem Roman seit seinem Erscheinen 1847 so verzaubert und verhext?

»Was sollte man nicht an unglücklichen Leuten lieben, die sich gegenseitig das Leben zur Hölle machen?«[10], fragt die Bloggerin Danielle zurück. Ich weiß nicht, wie viele Ausgaben von »Wuthering Heights« ich besitze – okay, ich weiß es schon, aber ich verrate es nicht, damit ich mich nicht direkt am Anfang diskreditiere –, und ich habe sie alle gelesen, viele mehrfach, weil ich mit jedem neuen Buch und jedem neuen Lesen hoffe … also fest davon ausgehe, dass sich die Timelines ändern, dass sich die Story verändert, dass zentrale Fehler nicht gemacht werden, wichtige Entscheidungen eben doch getroffen werden, dass alles gut wird und am Ende alle glücklich sind – das ist das Paradox of Suspense, das könnt ihr googeln (duzen wir uns? Sie können es natürlich auch googeln) –, nur dass das bei »Wuthering Heights« gar nicht nötig ist, weil die Figuren ihre Timelines ständig selbst verändern.

»Wuthering Heights« ist der postmoderne Roman des 19. Jahrhunderts. Emily Brontë spielt das Trauma und die Verletzungen, die Begehren und Loyalitäten ihrer Charaktere wieder und wieder neu durch, bis sie am Ende neue Lösungen produzieren. Für die Überlebenden. Und was ist mit den Toten? Den Toten gehört das Moor und sie bestimmen und prägen den Roman als Geister.

Dass der Roman keinen moralischen Standpunkt einnimmt und auch – wenn wir das negativ konnotierte Wort Moral weglassen – mit Ethik wenig am Hut hat, machte ihn für viktorianische Leser … nahezu unlesbar. Während meines Studiums unterhielt mein Anglistik-Professor Uwe Baumann in seinem Büro ein Brontë-Archiv. Da er auf denselben Regalen auch seine Überraschungs-Ei-Figuren-Sammlung beherbergte, war es ein Geschicklichkeitstest, sich durch die Aktenordner voller Rezensionen und Interpretationen, Adaptionen und Variationen aus (damals nur) 150 Jahren zu suchen. Und viele davon waren absolute Stinkbomben – vor dem Inhaltsverzeichnis hier in diesem Buch ist meine Best-of-Stinkbomben-Auswahl zu finden.

Doch auch Begeisterung ist noch kein Garant dafür, ebenfalls zu begeistern. Die Schriftstellerin Muriel Spark schaffte es, ihr einziges langweiliges Buch über Emily Brontë zu schreiben. Und sogar Patti Smith, Patti-my-middle-name-is-Art-with-a-capital-A-Smith, scheiterte daran, einen Text zu »Wuthering Heights« zu verfassen, der signifikant über einen Wikipedia-Eintrag hinausgeht: »Emily wurde als fünftes von sechs Kindern am 30. Juli 1818 in dem englischen Dorf Thornton geboren. Ihre Eltern waren Maria Branwell und Patrick Brontë, ein anglikanischer Pfarrer …«[11] Blablaundbla, bis sie plötzlich mit ein paar Gedichtzeilen endet, denen man anhört, dass Brontë Smith unter die Haut gegangen ist.

Überhaupt scheinen die produktivsten Annäherungen an den Roman Gedichte zu sein. Ich liebe die Natur und das Wetter in Sylvia Plaths »Wuthering Heights« (und nein, es gibt keine Übersetzung, weil ich nicht daran glaube, dass man Gedichte übersetzen kann, aber in den Quellenangaben steht eine Zusammenfassung):

»There is no life higher than the grasstops

Or the hearts of sheep, and the wind

Pours by like destiny, bending

Everything in one direction.

I can feel it trying

To funnel my heat away.

If I pay the roots of the heather

Too close attention, they will invite me

To whiten my bones among them.«[12]

Doch ist Plath eine Fremde in diesem Moor, das bis auf die Schafe unbewohnt ist und ihr Gefühl, abgeschnitten zu sein, nur verstärkt, während Emily Brontë hier beheimatet ist. In ihrem Roman ist das Moor eine belebte Welt, mit allen Gefahren, die fremde Seelen so mit sich bringen, eine imaginäre wie reale Landschaft, bevölkert von Lebenden und Toten … Hatte ich schon gesagt, dass mir in den meisten anderen Texten die Geister fehlen?

Deshalb ist Kate Bushs Song, gesungen von Cathys Geist, der Heathcliff anruft, sie hereinzulassen, noch immer die beste Interpretation für mich – natürlich gibt es darin Sätze, die nicht zu dem Ursprungstext passen, so ist die Lied-Cathy eifersüchtig, während die Roman-Cathy Heathcliff erklärt: »Ich bin nicht eifersüchtig auf dich, ich eifere für dich.«[13] (Mehr zu Betrug und Missbrauch im nächsten Kapitel.) – Doch gelingt es Kate Bush, die Atmosphäre des Romans heraufzubeschwören. Im wahrsten Sinne des Wortes. Bush berichtet, dass sie »Wuthering Heights« nicht mit Cathys Stimme gesungen habe, sondern zu ihr wurde. Eine Form von Besessenheit.[14] Das mag PR gewesen sein, ebenso wie ihre Aussage, sie habe die Lyrics geschrieben, bevor sie den Roman zu Ende gelesen hatte, und später darin Zeilen aus ihrem Lied gefunden.[a] Doch auch das ist Literatur: Geschichten, die so gut sind, dass sie wahr sein sollten.

Claire O’Callaghan, eine der zahlreichen Emily-Brontë-Biographinnen, schreibt: »Immer wenn ich zu ›Wuthering Heights‹ zurückkehre, habe ich dasselbe intensive Leseerlebnis.«[15] Genau so geht es mir auch. Das ist die Magie des Buches: Es macht etwas mit mir und zwar jedes Mal, wenn ich es lese. Ich weiß nicht, warum es das tut, ich weiß noch nicht einmal, ob ich herausfinden möchte, wie es das tut – aus Angst, damit den Zauber zu brechen –, aber ich möchte ein wenig von diesem Zauber teilen.

Und ich möchte von den Geistern von »Wuthering Heights« besessen werden, während ich dieses Buch schreibe!

Inhaltsverzeichnis

»Jemand hat mir mal gesagt, ein gutes Mittel gegen Weinen wäre, den Kopf in eine Papiertüte zu stecken. Tatsächlich gibt es einen triftigen physiologischen Grund dafür, der etwas mit Sauerstoff zu tun hat, aber allein die psychologische Wirkung ist unermesslich: Es ist extrem schwierig, sich wie Cathy in ›Wuthering Heights‹ zu fühlen, wenn man eine Gemüsetüte über den Kopf gestülpt hat.«[16]Joan Didion, »On Self-Respect«

Worum

Aber worum geht es denn nun in dem Buch, Mithu? Worum geht es?

Wenn wir hier in Großbritannien wären, könnte ich davon ausgehen, dass alle die Handlung von »Wuthering Heights« kennen, schließlich haben alle den Film gesehen. Den Film »Wuthering Heights« (1939) von William Wyler, mit Laurence Olivier und Merle Oberon, die in der populären Imagination für immer als Heathcliff und Cathy auf ihrem Felsen im Heidekraut sitzen.

Oder »Abismos de Pasión« von Luis Buñuel, der sein Lieblingsbuch schon seit den frühen 1930ern verfilmen wollte, aber erst 1954 die Gelegenheit bekam. Die Schauspieler waren schon engagiert, allerdings für ein Musical – aber: egal! Das passt schon –, und auch das Moor ist nicht so, wie wir uns das Moor vorstellen, sondern das Chaparral Mexikos – nur die Leidenschaft ist unverändert. Die Botschaft des Films ist, so der Filmkritiker Raymond Durgnat: »Es ist besser, geliebt und getötet zu haben, als niemals geliebt zu haben.«[17]

Oder einen der zahlreichen Bollywoodfilme wie »Arzoo« (1950) von Shaheed Latif oder »Hulchul« (1951) von Shubh Karan Ojha oder »Dil Diya Dard Liya« (1966) von Abdur Rashid Kardar und Dilip Kumar: Ja, Inder*innen lieben »Wuthering Heights« nicht nur, wir finden die Handlung auch kein bisschen over the top.

Oder »Wuthering Heights« (1970) von Robert Fuest mit dem späteren James Bond, Timothy Dalton, als Heathcliff und der späteren Spinne Aragog aus »Harry Potter«, Julian Glover, als Cathys Bruder Hindley Earnshaw. Der Film wirkt wie ein Remake des Wyler-Films mit 70er-Jahre-Frisuren, bis Hindley plötzlich das Drehbuch vergisst und Heathcliff erschießt: The End.

Oder Jacques Rivettes »Hurlevent« von 1985, inspiriert von Balthus’ »Wuthering Heights«-Bildern. Rivette hatte Brontës Buch als 19-Jähriger in einer französischen Übersetzung gelesen (in der sich Heathcliff und Cathy siezen, was an und für sich keine Seltenheit war, Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre würden sich ihr ganzes Leben lang siezen, Cathy und Heathcliff jedoch nie). Rivette entschied, das Buch für seine Verfilmung nicht noch einmal zu lesen, was vieles erklärt.

Oder »Onimaru« von Yoshishige Yoshida, das im Mittelalter in Japan spielt. Oder die 60 Jahre lang verschollene TV-Adaptionen mit Richard Burton als Heathcliff, die 2019 wiedergefunden wurde. Oder Monty Pythons »Semaphore Version of Wuthering Heights«, in der Terry Jones, Carol Cleveland und Eric Idle die Dialoge mit Flaggensignalen bestreiten und immer größere Flaggen verwenden, je lauter sie schreien. Oder Andrea Arnolds »Wuthering Heights« von 2011 mit dem ersten Schwarzen Leinwand-Heathcliff. Oder. Oder. Oder.

Aber wir sind hier nicht in Großbritannien. Und in Deutschland hat nicht jeder mindestens drei dieser Verfilmungen gesehen und ist »Wuthering Heights« kein Synonym für inbrünstige »Oh Cathy!«-»Oh Heathcliff«-Rufe. Doch selbst wenn, wüssten wir nicht, was in »Wuthering Heights« passiert, weil die Filme nur die erste Hälfte des Romans behandeln. Das ist so, als hätte Stanley Kubrick »Krieg und Frieden« verfilmt und nach »Krieg« einfach aufgehört. Die große Ausnahme ist »Emily Brontë’s Wuthering Heights« (1992) – um direkt im Titel zu signalisieren, dass sie sich ein bisschen näher an die Romanvorlage halten würden – mit Juliette Binoche als Cathy und Ralph Fiennes als Heathcliff, oh und Sinéad O’Connor als Emily Brontë, die dem berühmten Humbert-Porträt von Emily überraschend ähnlich sieht (mehr zum Humbert-Porträt später). Aber warum auch nicht? Schließlich war Emily auch Irin. Also so Irin, wie ich Inderin bin. Ihr Vater Patrick Brunty kam aus Drumballyroney im County Down aus einer so armen Familie, dass sie sich nur von Porridge, Kartoffeln, Brot und Buttermilch ernährten, was ihm für den Rest seines Lebens Verdauungsprobleme bescherte.[18] Eine Reihe von glücklichen Fügungen und ein Cambridge-Stipendium später änderte er seinen Namen zu Brontë und der Rest ist Geschichte.

Ja, aber worum geht es denn nun in »Wuthering Heights«?

Wenn das so einfach zu beantworten wäre, hätte ich mich nicht drei Seiten lang davor gedrückt. Was in der Geschichte passiert, hängt sehr davon ab, wie wir sie interpretieren. Also fangen wir einfach einmal an:

 

»Wuthering Heights« ist eine Geistergeschichte:

Ein Fremder kommt in ein einsames Farmhaus auf dem Hochmoor. Sein Name ist Lockwood. Er hat das Herrenhaus Thrushcross Grange, ein paar Meilen entfernt im Tal, gepachtet und möchte sich seinem Vermieter Heathcliff vorstellen. Doch der ist nicht sonderlich erpicht auf Besuch. Sein Haus auf dem Hügel heißt Wuthering Heights. »›Wuthering‹ ist ein lokales Wort, das klangvoll das Luftgewühl beschreibt, dem das Haus hier oben bei windigem Wetter ausgesetzt ist.« Sobald Lockwood die Schwelle von Wuthering Heights überschreitet, ist er in einer verkehrten Welt. Jede höfliche Floskel, die er von sich gibt, und es sind derer viele, entpuppt sich als deplatziert, sodass er nach einer Weile nicht nur die abweisenden Bewohner der Heights als verrückt empfindet, sondern auch sich selbst. Die Feindseligkeit der Hausbewohner ihm gegenüber wird nur durch ihre Feindseligkeit zueinander übertroffen. Und draußen wütet ein Sturm und verhindert Lockwoods Rückkehr nach Thrushcross Grange und in die Zivilisation.