Möge der Tigris um dich weinen - Emilienne Malfatto - E-Book

Möge der Tigris um dich weinen E-Book

Emilienne Malfatto

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Beschreibung

Deutscher Jugendliteraturpreis 2024 – Nominierung "Neue Talente" Übersetzung Im heutigen ländlichen Irak, an den Ufern des Tigris, überschreitet ein junges Mädchen das absolute Verbot: noch vor der Verlobung lässt sich auf eine Liebesaffäre mit ihrem Geliebten ein. Der junge Mann stirbt unter Bomben, das Mädchen ist schwanger: Damit ist ihr Schicksal besiegelt und lässt sich nicht mehr aufhalten. Während die unerbittliche Mechanik der Konventionen in Gang gesetzt wird, entfalten sich die Familienmitglieder zu einem Reigen stummer Schatten unter dem schützenden Blick von Gilgamesch, dem mesopotamischen Helden, der das Gedächtnis des Landes und der Menschen in sich trägt. Aber niemand gelingt es, sich gegen die Traditionen und das unausweichliche Schicksal zu erheben. Inspiriert von den komplexen Realitäten des Irak, den sie aufgrund ihrer Arbeit als Fotografin sehr gut kennt, lässt Emilienne Malfatto die Leser*innen auf subtile Weise in eine geschlossene Gesellschaft eindringen, die von männlicher Autorität und dem Ehrenkodex regiert wird. »Die Magie der Literatur ermöglicht es, auf knapp 100 Seiten die ganze Komplexität eines Landes zu erzählen, seine patriarchalische Kultur zu beschreiben, acht Personen zu porträtieren und sogar einen Fluss, den Tigris, zu Wort kommen zu lassen. (…) Emilienne Malfatto gelingt es aufgrund ihrer Erzählkunst und ihres Schreibstils wunderschön, Lyrik und Intensität miteinander zu verbinden.« Le Figaro

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Über dieses Buch

Ein fulminanter Debütroman mit der Intensität einer antiken Tragödie.

Im heutigen ländlichen Irak, an den Ufern des Tigris, durchbricht ein junges Mädchen das absolute Verbot: Noch vor der Ehe lässt sie sich auf eine Liebesaffäre ein. Der junge Mann stirbt unter Bomben, das Mädchen ist schwanger. Damit ist ihr Schicksal besiegelt und nimmt unausweichlich seinen Lauf.

Während sich die unerbittliche Maschinerie der Konvention in Bewegung setzt, versammeln sich die Familienmitglieder in einer Runde stiller Schatten unter der schützenden Obhut von Gilgamesch, dem mesopotamischen Helden, der das Gedächtnis des Landes und der Menschen in sich trägt. Aber niemandem gelingt es, sich gegen die Traditionen und das unausweichliche Schicksal zu erheben.

Inspiriert von den komplexen Realitäten des Irak, den sie gut kennt, lässt uns Emilienne Malfatto auf subtile Weise in eine geschlossene Gesellschaft eindringen, die von männlicher Autorität und einem Ehrenkodex regiert wird.

Über die Autorin

Emilienne Malfatto, geb. 1989, ist eine preisgekrönte Fotografin, Journalistin und Autorin. Sie studierte in Frankreich und Kolumbien und machte ihren Abschluss an der Journalismusschule von Sciences Po Paris. Anschließend ging sie zur AFP, zunächst in Frankreich, dann im Nahen Osten. Sie arbeitet als freie Journalistin und Fotografin, hauptsächlich im Irak, aber auch in Lateinamerika und Frankreich. Ihre Fotos wurden u. a. in der New York Times, der Washington Post und Le Monde veröffentlicht und international ausgestellt. Möge der Tigris um dich weinen ist ihr erster Roman. Er wurde mit dem Prix Goncourt du Premier Roman 2021 ausgezeichnet.

Über die Übersetzerin

Astrid Bührle-Gallet, geb. 1978 in Stuttgart, studierte Französisch und Kunsterziehung. Seit 2006 lebt sie in Frankreich, wo sie zunächst deutsche Sprache, Literatur und Landeskunde an verschiedenen Hochschulen unterrichtete und gleichzeitig künstlerisch tätig war. Heute übersetzt sie literarische und philosophische Werke ins Deutsche.

Emilienne Malfatto

Möge der Tigris um dich weinen

Roman

Aus dem Französischenvon Astrid Bührle-Gallet

Den Frauen vom Euphrat:

Maryam, Shadia und Alia;

für Tiktum und Fatma,

die noch nicht wissen, dass ihre Freiheit ein Ende hat.

Inhalt

Über dieses Buch

Über die Autorin

Über die Übersetzerin

Baneen

Amir

Mohammed

Hassan

Die Mutter

Ali

Layla

Siduri sprach zu ihm, zu Gilgamesch:

»Gilgamesch, wohin läufst du?

Das Leben, das du suchst,

wirst du gewiss nicht finden.

Als die Götter die Menschheit erschufen,

da bestimmten sie der Menschheit den Tod.«

Es kam wie eine Welle. Eine Flutwelle, die ganz tief aus mir emporstieg. Zuerst begriff ich es nicht. Die Erde bebte in meinem Bauch. Wie ein Schlag gegen eine Tür, wie eine Sturmflut. Ich wollte es nicht begreifen. Ich hob den Kopf. Tauben flogen kreisend vor den Wolken. Drinnen strömte die Welle zurück. Der Himmel schwankte. Ich fiel hin, die Hände im Staub, inmitten der schwarzen Schleier. Ein Stück Baumwolle strich über meine Wange. Dann kam der zweite Stoß, ein zweites donnerndes Zerreißen, ein zweites Erdbeben. In diesem Moment, auf dem Boden, inmitten der schwarzen Schleier, im Staub, begriff ich es. Und das Universum stürzte auf mich herab.

Der Tod ist in mir. Er ist mit dem Leben gekommen. Diese Stöße in meinem Bauch und dieses Zerreißen meines Fleischs bergen den Tod in sich, und der Tod ist auf dem Weg. Gleich wird er ankommen, bei Sonnenuntergang, ich werde seinen ein wenig schwerfälligen Schritt hören, seinen ein wenig ungleichmäßigen, ein wenig hinkenden Schritt, dann wird sich die Tür am Ende des Flurs öffnen und der Tod wird hereinkommen.

Im Blut werden wir geboren, im Blut werden wir zur Frau, im Blut gebären wir. Und Blut wird es auch gleich wieder geben. Als hätte die Erde nicht genug davon, das Blut der Frauen zu trinken. Als dürstete es die irakische Erde immer noch nach Tod, nach Blut und nach Unschuld. Hat Babylon denn nicht genug Blut getrunken. Lange wartete ich am Flussufer darauf, dass das Wasser sich rot färbte.

Ich bin der Tigris. Seit Tausenden von Monden durchquere ich die Wüste, lang wie eine heilige Ader. Ich springe von den Bergen dort oben herunter, ich falle in die Ebene, dann kommt die Wüste, dann schließlich dort unten das Meer, wie ein Atmen.

Ich bin das Leben und der Tod. Ich bin der Anfang und das Ende, ich bin die Ernten und das Hochwasser. Ich bin die Tränen der Tiamat, die durch Marduks Hand getötet wurde.

Ich kenne die Torheit der Menschen. Tausendmal habe ich gesehen, wie ihnen ihre Eitelkeit zum Verhängnis wurde. Ich habe Assur und Ninive wachsen sehen, ich habe große Könige stürzen sehen, und Gilgameschs Regen hat meine Ufer überschwemmt. Alle sind sie wieder zu Staub geworden. Marduk hat die Welt aus einem Kadaver erschaffen.

Ich bin der stille Zeuge der Schwüre und der Tragödien, die sich an meinen Ufern abspielen. Auch diese Geschichte hier wird ein schlechtes Ende nehmen. Der Tod wird pünktlich kommen.

Ich stand auf, beide Hände flach im Staub. Ein Schleier war von der Wäscheleine gefallen, ein großer schwarzer Fleck auf dem Boden. Ich dachte an eine getrocknete Blutlache. Ich wischte meine grauen Hände ab, hob das heruntergefallene Stück Stoff auf. Zu meinen Füßen lag die Wäsche, die ich aufhängen musste, aber ich konnte nichts mehr sehen. Sonne und Sterne waren erloschen. Es blieben nur diese Wellen in meinem Bauch, diese Stöße, dieses Todesleben.

Von unserer einzigen Umarmung habe ich nur die Erinnerung an die Angst und den Schmerz behalten. Die Angst, dass jemand an die Tür klopft, dass meine Brüder aufwachen, das bedeutete den Tod für uns beide. Und der Schmerz in meinem Leib, in meinem Geschlecht, überall, und schon da das Zerreißen meines Fleischs. Es gab keine Lust, nur eine trübe, hastige Umarmung, Mohammed nahm mich in Besitz, wie ein betrunkener Soldat zum Sturmangriff stürzt, blindlings, unbeholfen und verbissen.

Ich sagte nicht Ja und nicht Nein. Es war der Tag, an dem wir uns immer trafen, an dem Mama nach Nadschaf zu Papas Grab geht, Layla in der Schule ist und meine Brüder schlafen. Jedes Mal kam er, klopfte zweimal ans Tor. Wir schlossen uns im grünen Zimmer ein, das am nächsten an der Tür ist, dem