Mondkuss - Astrid Martini - E-Book

Mondkuss E-Book

Astrid Martini

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Beschreibung

Rafael ist schön wie ein Erzengel und wird von Männern und Frauen gleichermaßen begehrt - doch mit dem Thema "Liebe" hat der Edel-Callboy abgeschlossen. Das ändert sich schlagartig, als er eines Tages eine Frau erblickt, die ihn augenblicklich fasziniert. Er folgt der Unbekannten kreuz und quer durch die Stadt und denkt gar nicht daran, sich abwimmeln zu lassen. Tatsächlich schafft er es, die zurückhaltende Marleen mit seinen exzellenten Liebeskünsten zu verführen und ihr eine nie gekannte Welt der sinnlichen Genüsse zu zeigen. In beiden erwachen Gefühle. Doch Marleen bereitet es nicht nur Sorgen, dass Rafael bedeutend jünger ist als sie, sondern auch, dass sie ihn nie für sich alleine haben wird. Sie beendet abrupt ihre Beziehung. Alle Versuche Rafaels sie zurückzuerobern, prallen an ihrer kühlen Mauer aus Angst und Misstrauen ab. Als sie merkt, dass sie ohne ihren sündhaft schönen Callboy nicht leben kann, scheint es zu spät … Die Fortsetzung von Astrid Martinis Erotik-Bestseller "Zuckermond".

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Astrid Martini

Mondkuss

© 2007/2018 Plaisir d’Amour Verlag, D-64678 Lindenfels

www.plaisirdamour.de

[email protected]

Covergestaltung: © Mia Schulte

ISBN Taschenbuch: 978-3-86495-369-9

ISBN eBook: 978-3-86495-370-5

Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Dieses Buch darf weder auszugsweise noch vollständig per E-Mail, Fotokopie, Fax oder jegliches anderes Kommunikationsmittel ohne die ausdrückliche Genehmigung des Verlages oder der Autorin weitergegeben werden.

Inhalt

Kapitel Eins

Kapitel Zwei

Kapitel Drei

Kapitel Vier

Kapitel Fünf

Kapitel Sechs

Kapitel Sieben

Kapitel Acht

Kapitel Neun

Kapitel Zehn

Kapitel Elf

Kapitel Zwölf

Kapitel Dreizehn

Kapitel Vierzehn

Kapitel Fünfzehn

Kapitel Sechzehn

Kapitel Siebzehn

Kapitel Achtzehn

Kapitel Neunzehn

Kapitel Zwanzig

Kapitel Einundzwanzig

Kapitel Zweiundzwanzig

Kapitel Dreiundzwanzig

Kapitel Vierundzwanzig

Kapitel Fünfundzwanzig

Kapitel Sechsundzwanzig

Kapitel Siebenundzwanzig

Autorin

Ebenfalls von Astrid Martini

Hast du die Lippen mir wundgeküsst,

So küsse sie wieder heil,

Und wenn du bis Abend nicht fertig bist,

So hat es auch keine Eil.

Du hast ja noch die ganze Nacht,

Du Herzallerliebste mein!

Man kann in solch einer ganzen Nacht

Viel küssen und selig sein.

Kapitel Eins

Der Raum der Bar war in schummriges Licht getaucht, sinnlich untermalt durch die Flammen der blutroten Kerzen, die ringsherum in riesigen, mehrarmigen Ständern steckten und zuckende Schattengebilde an die Wände warfen. Rauchgeschwängerte Luft kroch zäh ihre Bahnen, schob sich in jeden Winkel und umhüllte die anwesenden Gäste. Der betörende Duft verschiedener aromatischer Öle, der in der Luft lag, legte sich federleicht auf die Sinne jedes Einzelnen, lullte sie ein und sorgte für eine anregende Atmosphäre … lockend und erotisierend.

Die Bar war voll, jeder einzelne Platz war belegt und unzählige Augenpaare richteten sich erwartungsvoll auf die Bühne, deren Mitte von einem blutroten, seidig glänzenden Satinvorhang verhüllt war.

Ein Raunen ging durch die Menge, als ein einzelner Spot seinen Lichtkegel auf die Mitte der Bühne warf, und die ersten Klänge des „Boleros“ von Ravel erklangen. Die Musik schwoll an, der Vorhang schob sich langsam zur Seite und gab den Blick auf einen schlanken, fast überirdisch schönen jungen Mann frei. Seine etwas mehr als schulterlangen Haare glänzten dunkel, er trug schwarze Lackhosen und ein weißes Seidenhemd.

Die silberne Schnalle des Gürtels, der seine Hüften schmückte, fing einzelne Lichtstrahlen des Spots auf und warf diese reflektierend zurück.

Ein schriller Pfiff ertönte, dann der Ruf einer Frau, dem weitere Rufe folgten. Gierige Hände streckten sich dem jungen Mann entgegen – Gesten, die er mit amüsiertem Glitzern in den Augen quittierte. Er war solch enthusiastische Szenen gewöhnt.

Mit einem verführerischen Lächeln in den Mundwinkeln begann er sich rhythmisch zur Musik zu bewegen. Er schob seine Hüften aufreizend vor und zurück, drehte sich elegant um die eigene Achse, warf feurige Blicke in die Runde und öffnete schließlich den ersten seiner perlmuttfarbenen Hemdenknöpfe. Wilde Rufe schallten ihm entgegen. Sie forderten nach mehr.

Er wartete den passenden Moment ab, ließ sein Becken verführerisch kreisen und riss schließlich alle Druckknöpfe seines Hemdes mit einem gekonnten Griff auf. Die Frauen in der Bar wurden wild und starrten wie gebannt auf seine Bewegungen. Sie johlten, als er sich langsam umdrehte, einen sexy Blick über die Schulter zurückwarf, sein Hemd langsam über die Schultern schob und an den Armen hinabgleiten ließ. Die Anfeuerungsrufe nahmen zu, doch der schöne Stripper war nun ganz in seinen sinnlichen Tanz vertieft und nahm den Tumult um sich herum nur noch am Rande wahr.

Die Klänge des Boleros hatten vollkommen von ihm Besitz ergriffen; wie selbstvergessen – und überaus verführerisch – bewegte er sich zu der eingängigen Musik … wurde eins mit ihr.

Alle seine Sinne gehörten diesem ausdrucksstarken Tanz und den eleganten Bewegungen, mit denen er die Herzen der Anwesenden in Aufruhr versetzte und sündige Gedanken in ihnen erweckte.

Er wusste, dass sich eine Vielzahl der anwesenden Gäste nichts Schöneres vorstellen konnte, als nach der Show auf Tuchfühlung mit ihm zu gehen. Und da er neben seinen Auftritten als Stripper auch als Callboy arbeitete, gewann er nach Abenden wie diesen so manchen Stammkunden.

Eine junge hübsche Frau stand ganz vorn am Rand der Bühne und beobachtete seine Bewegungen, Blicke und Gesten mit verklärtem Glanz in den Augen. Auch sie nahm das zustimmende Gelächter und Klatschen der Gäste im Raum kaum wahr, denn ihre Aufmerksamkeit war einzig und allein auf die dunkel funkelnden Augen des Mannes auf der Bühne gerichtet, auf seinen schlanken festen Körper und den erotischen Tanz.

Mit einladendem Augenzwinkern präsentierte er nun seinen wohlgeformten Rücken, ohne auch nur einen Augenblick zu vergessen, seine Hüften lasziv kreisen zu lassen.

Ein Anblick, der besonders die weiblichen Gäste vor Erregung aufkreischen ließ. Mit Anfeuerungsrufen stachelten sie den gut aussehenden Stripper zu weiteren Enthüllungen an.

Die junge Frau sog unhörbar die Luft ein, als sie sein wohlgeformtes Hinterteil nun direkt vor ihren Augen tanzen sah. Die enge schwarze Lackhose saß perfekt und steigerte den sinnlichen Effekt seiner Bewegungen. Unverschämt aufreizend ließ er seine Hüften zum Takt der Musik kreisen, während er dem Publikum noch immer seine Rückansicht präsentierte.

Endlich wandte er sich langsam, sehr langsam um, lächelte provokant und schob eine Hand in den Bund seiner Hose.

Wie hypnotisiert starrte die junge Frau auf seine Vorderansicht.

Gleich, jetzt gleich würde sie Zeuge eines gewagten Anblicks sein.

Sie fuhr verlangend mit der Zunge über ihre Lippen. Ihr Blick wanderte von seinem flachen Bauch über seine schlanke Brust hinauf zu seinem Gesicht – ihr wurde heiß. Er begann die Gürtelschnalle, dann den Knopf und Reißverschluss seiner Hose langsam … viel zu langsam … zu öffnen, während in seinen Augen ein undefinierbares Glitzern aufglomm.

Das Gejohle der Gäste wurde lauter, Pfiffe ertönten, dann Applaus, als das schwarz glänzende Kleidungsstück endlich zu Boden rutschte, und er sich mit gekonntem Griff davon befreite.

Sein Körper in den knappen schwarzen Pants war eine Augenweide. Der jungen Frau fiel es schwer, nicht auf die Ausbuchtung in dem engen Stück Stoff zu starren.

„Ausziehen, ausziehen!“ Die weiblichen Gäste übertönten einander mit Zurufen.

Statt sich, wie die meisten anderen Stripper, auch noch von den Pants zu befreien, um sich dann in einem kaum etwas verhüllenden G-String zu präsentieren, blieb er, wie er war und setzte seinen sündigen Tanz fort, was weitaus reizvoller und aufregender wirkte, als das komplette Entblößen.

Was man sehen konnte war mehr als genug, um Fantasien anzuheizen und die Gäste im Saal zum Kochen zu bringen.

Unzählige Augenpaare waren auf sein knackiges Hinterteil gerichtet – begehrlich, verzückt und begeistert. Als sich der Vorhang dann langsam zusammenschob und den schönen Stripper verbarg, wandelte sich der freudige Ausdruck in den Blicken der Anwesenden in maßlose Enttäuschung.

Mit lauten Rufen und Klatschen begehrten sie nach einer Zugabe, wurden allerdings enttäuscht.

Die junge Frau, die ganz vorn zugeschaut hatte, lächelte und lief ungeduldig hinter die Kulissen zur Garderobe.

„Rafael, du warst wie immer fabelhaft. Einfach göttlich!“ Mit einem Jauchzer warf sie sich ihm in die Arme und drückte einen Kuss auf seine Wange.

„Hey, Sarah. Danke für die Blumen! Du warst aber auch nicht zu verachten. Ich wette, du hast heute Abend so manches Männerherz gebrochen.“ Er löste sich aus ihrem Griff, gab ihr einen Nasenstüber und lächelte sie herzlich an.

Sarah lachte glücklich zurück. Sie strippte ebenfalls und hatte eine Stunde zuvor für Stimmung in der Bar gesorgt. Bis über beide Ohren war sie in Rafael verliebt und machte keinen Hehl daraus, dass sie sich nichts sehnlicher wünschte, als sein Herz zu gewinnen.

Rafael, der ihr allerdings nicht mehr als freundschaftlich-kollegiale Gefühle entgegenbrachte, hatte alle Hände voll zu tun, ihren überschwänglichen Gefühlen auf freundliche Art und Weise Einhalt zu gebieten.

Nicht, dass er sie nicht attraktiv und sexy gefunden hätte – im Gegenteil! Ihre weiblichen Reize drangen sehr wohl bis zu ihm durch. Allerdings wollte sie mehr als Sex, und da er ihr weder geben konnte, was sie ersehnte, noch vorhatte sie zu verletzen und ihre Freundschaft zu verlieren, hielt er sie liebevoll auf Abstand. Er hatte schon so manche Nacht damit zugebracht, ihr zu erklären, warum er sich nicht auf sie einlassen wollte. Bisher ohne Erfolg, denn Sarah gab einfach nicht auf.

„Ach, Rafael“, erwiderte sie nun und warf ihm schmachtende Blicke zu. „Was hab’ ich von all den anderen Männerherzen, wo ich doch nur deines will. Warum gibst du uns keine Chance? Wenigstens eine klitzekleine!“

Rafael seufzte innerlich auf, schob ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und blickte sie nachdenklich an. „Du weißt, warum!“

Trotzig reckte sie ihr Kinn vor. „Ich habe es aber schon wieder vergessen.“ Mit spitzbübischem Lächeln fügte sie hinzu: „Und würde mir wünschen, dass auch du diese überflüssigen Einwände vergisst.“

„Nichts zu machen. Bitte, Sarah, versteh doch …“

„Ach, komm schon! Sei kein Frosch, gib dir einen Ruck und schenke mir wenigstens diese eine Nacht. Ich bin süß und verführerisch wie eine Praline und davon überzeugt, dass du anschließend nicht mehr von mir lassen kannst.“

„Du weißt, dass ich dir nicht geben kann, wonach du dich sehnst.“

„Ach, ja? Woher soll ich das wissen, wenn noch nicht einmal ein harmloser kleiner Versuch gestartet wurde?“

„Auch eine gemeinsame Nacht würde nichts daran ändern. Und so entzückend und anziehend du auch bist, ich werde mich hüten von dir zu kosten, denn sonst kostet es mich anschließend deine Freundschaft, und das möchte ich auf gar keinen Fall. Ich möchte weder falsche Hoffnungen in dir wecken, noch verantwortlich für jeglichen Herzschmerz sein.“

„Herzschmerz habe ich sowieso. Was also hätte ich zu verlieren?“

„Deinen Stolz!“

„Ich pfeife auf meinen Stolz. Ich will dich – und möchte nichts unversucht lassen, dich vielleicht doch noch für mich gewinnen zu können.“

„Ich bin nicht bereit für große Gefühle. Und nach meiner Enttäuschung mit Marcel beschränken sich meine sexuellen Aktivitäten lediglich auf die berufliche Ebene.“ Rafael griff nach einem Badetuch. „Ich gehe jetzt duschen.“ Er zwinkerte ihr freundschaftlich zu. „Allein! Aber wenn du magst, können wir anschließend gerne noch einen gemeinsamen Schlummertrunk in der Bar nehmen.“

Sarah zog einen Schmollmund. Rafaels bestimmter Blick zeigte ihr jedoch, dass jeder weitere Versuch zwecklos war.

Nun gut, sie würde das Feld räumen. Heute. Was aber nicht bedeutete, dass sie es nicht ein anderes Mal erneut probieren würde.

Rafael blickte ihr nachdenklich hinterher, als sie die Garderobe verließ.

Verrückte Person. Aber liebenswert verrückt. Sie hat einen Mann verdient, der sie um ihretwillen liebt und auf Händen trägt.

Er seufzte kurz auf, dann wischte er die Gedanken fort, streckte sich und gönnte sich eine ausgiebige heiße Dusche.

Eine halbe Stunde später betrat er erneut die Bar. Diesmal als Gast. Er schlenderte zur Theke, bestellte sich einen Drink und ließ seinen Blick über die Tanzfläche gleiten, die zwischen den Showeinlagen stets gut gefüllt war. Die einladenden Blicke, die er hier und da immer wieder zugeworfen bekam, ignorierte er. Er hatte Feierabend, und seit gut einem Jahr ließ er Erotik und Sex nur noch auf beruflicher Basis an sich heran.

Ein bitterer Zug legte sich um seinen Mund, als er an die Ursache dieser „Lebensplanung“ dachte.

Rasch nahm er von seinem Drink einen großen Schluck in der Hoffnung, die Bilder, die nun langsam in ihm aufzusteigen begannen, damit ertränken zu können.

Keine Chance! Aufdringlich drängten sie in sein Bewusstsein und erinnerten so auf äußerst unerfreuliche Weise an den attraktiven jungen Mann, der ihn so bitter enttäuscht und ihm fast das Herz gebrochen hatte.

Rafael seufzte tief auf. Nicht, dass er noch Gefühle für Marcel hegte, aber die Art und Weise, wie dieser ihn damals abserviert hatte, hinterließ einen spitzen Stachel in seinem Herzen, der gnadenlos zupiekte, sobald derartige Bilder und Erinnerungen aufkamen.

Mit dem Thema „Liebe und Beziehungen“ hatte er jedenfalls abgeschlossen, und er dachte nicht im Traum daran, diesen selbst gesetzten Grundsatz zu verändern, geschweige denn, ganz davon abzuweichen.

Rafael wollte schon nach seiner Jacke greifen und den Heimweg antreten, als sein Blick auf Sarah fiel. Sie war mehr als beschwipst, tanzte ausgelassen und lachte übertrieben laut, wenn die anwesenden Männer ihr etwas ins Ohr flüsterten. Als ihr Blick den seinen kreuzte, warf sie ihren Kopf in den Nacken, schlang ihre Arme um den Hals eines Verehrers und ließ sich von ihm über die Tanzfläche führen.

Ihre Art, im Raum herumzuwirbeln, hatte fast etwas Verzweifeltes. Sie flog von einem Mann zum andern, kicherte laut und blieb nie lange in den Armen ihres jeweiligen Tanzpartners. Die Männer waren allesamt hingerissen von den anmutigen Bewegungen ihres geschmeidigen Körpers und der Rückhaltlosigkeit, mit der sie sich der Musik und ihren Tanzpartnern hingab.

Rafael fragte sich, ob er wohl der Einzige war, der die Verzweiflung bemerkte, die sich hinter dieser Fassade der Ausgelassenheit verbarg. Fast jeder Tänzer im Raum hatte sie schon einmal im Arm gehalten, aber jedem flatterte sie wieder davon wie ein Schmetterling, der von Blume zu Blume schwebte.

Rafaels Blick verfinsterte sich, als einer ihrer Tanzpartner ihr ein Glas Tequila reichte, und sie es austrank, als handelte es sich um Wasser. Sarah schwankte leicht und Rafael wusste, dass es Zeit war, einzugreifen. Entschlossenen Schrittes bewegte er sich quer über die Tanzfläche auf seine Kollegin zu.

Sarahs Schwindelanfälle wurden hartnäckiger. Nach dem letzten Glas Tequila hatte sich der Raum auf einmal in beängstigender Art und Weise zu drehen begonnen. Es kostete sie einige Willensanstrengung, die Augen offen zu halten.

Instinktiv nahm sie Rafaels Nähe wahr, lächelte ihn an und war froh über die Ausstrahlung von Rechtschaffenheit und Verlässlichkeit, die von ihm ausging. Genau das brauchte Sarah jetzt: Jemanden, der ihr festen Halt geben konnte.

„Rafael“, hauchte sie, während sie seine Hand ergriff. An die Stelle jener vorgetäuschten Fröhlichkeit war mit einem Mal große Müdigkeit getreten, und Hilfe suchend umfasste sie seine Schultern.

„Mir ist schwindelig. Kannst du bitte etwas tun, damit sich dieser verdammte Raum nicht mehr so dreht?“

„Das könnte ich“, lachte Rafael, „wenn du ein paar Gläser früher aufgehört hättest, Tequila in dich hineinzuschütten.“

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, um sich dann aber sehr schnell wieder an Rafael festzuklammern. Sarah legte ihren Kopf an seine Schulter. „Ich fühle mich nicht besonders gut“, flüsterte sie kaum hörbar.

„Was du nicht sagst.“ Rafael umfasste ihre Hüften und führte sie in Richtung Ausgang.

„Wohin gehen wir?“

„Wir verlassen die Bar. Bevor du mir hier umkippst und deinen Job als Tänzerin verlierst. Der Chef schaut schon ganz grimmig zu dir rüber.“

„Grimmig? Wo? Warum? Ich habe nichts Schlimmes getan!“ Sie schüttelte heftig den Kopf, stöhnte aber gleich darauf auf, denn ein brennender Schmerz zog sich über ihre Schläfen und breitete sich im gesamten Kopf aus.

„Das kannst du ein anderes Mal klären. Jetzt bringe ich dich erst einmal mit deinem Wagen nach Hause, und dort schläfst du dich gründlich aus.“

„Ich will aber nicht nach Hause.“

„Willst du etwa auf einer Parkbank übernachten? Oder unter einer Brücke?“, neckte Rafael sie liebevoll.

„Nein. Aber ich will nicht allein sein. Das geht auf gar keinen Fall. Bitte, kannst du nicht bei mir bleiben?“

„Wenn ich nicht genau wüsste, dass es dir momentan wirklich nicht gut geht, würde ich nun einen weiteren Verführungsversuch vermuten. So aber stehe ich dir freundschaftlich zur Seite und werde auf deiner Couch nächtigen. Zufrieden?“

„Und wie!“ Selig lächelte Sarah ihn an, seufzte leise auf, als sich sein Arm fester um ihre Taille legte.

Kapitel Zwei

Leise schlich sich Rafael am nächsten Morgen aus Sarahs Wohnung. Er hatte rasch geduscht, sich angekleidet und wollte sie nicht wecken. Die Nacht auf Sarahs Couch war nicht besonders bequem gewesen, aber er hatte sein Versprechen gehalten und sie nicht allein gelassen. Nun war es Zeit, nach Hause zu gehen und sich für den Termin, der in zwei Stunden anstand, umzuziehen. Eine reiche Arztfrau – eine Stammkundin – hatte ihn für sinnliche Stunden gebucht.

Noch rasch ein paar Croissants und dann ab nach Hause.

Während er sich von seinem Lieblingsbäcker in ein Gespräch verwickeln ließ und die Tüte mit den noch warmen Croissants entgegennahm, ließ er seinen Blick durch das Schaufenster über die belebte Straße gleiten. Ohne großes Interesse beobachtete er die Menschen, die mehr oder weniger hastig vorübereilten.

Und dann durchzuckte es ihn wie ein Blitz. Seine Pupillen weiteten sich, sein Blick wurde wach und wie ein Magnet von einer dunkelhaarigen Frau mit schicker Hochsteckfrisur und elegantem Kostüm angezogen. Unwillkürlich stieß er einen anerkennenden Pfiff aus.

Eilig schob er seinem Gesprächspartner einen Geldschein zu, murmelte: „Stimmt so“ und eilte hinaus.

Rafael starrte gebannt auf die elegante Frau, die mit geschmeidigen Schritten auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlangging. Er folgte ihr.

Sie trug ein mokkafarbenes edles Designer-Kostüm, setzte graziös einen Fuß vor den anderen, und Rafael war sich fast sicher, dass sie überall dort, wo sie sich gerade bewegte, eine Wolke blumigen Parfums hinterließ. Ihr dunkles Haar war zu einem kunstvollen Knoten aufgesteckt, der die zarte Linie ihres Halses betonte. Der knielange Rock gab den Blick auf ihre schmalen Waden und Fesseln frei. Fasziniert blickte er auf ihre Füße. Sie steckten in schokoladenfarbenen Wildlederpumps mit hohem, keilförmigem Absatz. Ihre Waden strafften sich bei jedem Schritt, schienen sich nach außen zu drücken, um ihrer perfekten Form den letzten Schliff zu geben.

Rafaels Augen tasteten sich dem Lauf ihrer Beine entlang, beginnend bei den Fesseln über die Knie, ignorierten den Saum des Rockes, der den Rest bedeckte und wanderten weiter hinauf bis zu der Stelle, an der sich ihr entzückend runder Po unter dem schmalen Rock abzeichnete.

Er pfiff leise durch die Zähne, genoss diesen verführerischen Anblick und folgte der Kontur ihres Körpers aufwärts zu ihrem keck nach vorn gerichteten Kinn. In seinen Augen blitzte Bewunderung auf. Diese elegante Frau hatte etwas an sich, was ihn unsagbar faszinierte. Ihn nicht losließ … in den Bann zog.

Mit gerader Haltung und stolz erhobenem Kopf schritt diese Person die Straße entlang wie eine Königin. Eine hübsche, interessante und keineswegs affektierte Königin.

Da lief dieses bezaubernde Geschöpf nun in ihrem schicken Kostüm, den aufgesteckten Haaren und diesen Luxusschuhen an den Füßen und bezauberte Rafael mit jeder Sekunde mehr. Sie wirkte so feminin, selbstsicher und forsch, strahlte aus, dass sie sich ihrer Wirkung auf andere durchaus bewusst war … dass sie spürte, wie sie auf andere wirkte … denn da spielte dieses wissende kleine Lächeln um ihre Lippen … tanzte bis hin zu ihren dunklen Augen, die so selbstbewusst und gelassen in die Welt blickten. Einzelne Haarsträhnen, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatten, umspielten ihr herzförmiges Gesicht, das durch den wunderschön geschwungenen Mund so unsagbar sinnlich wirkte.

Rafael verspürte den brennenden Wunsch, an ihrem sicherlich wunderbar duftendem Haar zu schnuppern und seinen Zeigefinger der sanften Linie ihres Nackens entlangfahren zu lassen. Seine Augen verdunkelten sich, die Pupillen wurden weit und prickelnde Begierde stieg in ihm auf.

Welches Ziel mochte diese bemerkenswerte Frau haben? Wo kam sie her und welche Gedanken wanderten wohl durch diesen entzückenden Kopf?

Rafael wollte alles von ihr wissen, folgte ihr auf Schritt und Tritt, und als sie für einen Moment hinter einer Menschengruppe verschwand, breitete sich innere Unruhe in ihm aus. Er hatte Angst, sie aus den Augen zu verlieren. Sie womöglich nie wieder zu sehen, niemals zu erfahren, wer sie war, und wie sie lebte.

Rafael spürte ihre Energie, ihren Esprit und ihr Feuer, auch wenn sie nach außen hin kühl und unnahbar wirkte. Diese Mischung zog ihn magisch an, machte ihn schwindelig. Sein Blick bohrte sich förmlich in ihren Rücken, und als sie sich für einen Moment umwandte, um die Straßenseite zu wechseln, kreuzten sich ihre Blicke.

Er warf ihr ein Lächeln zu.

Sie erstarrte … dann drehte sie ihren Kopf ruckartig in die entgegengesetzte Richtung und überquerte die Straße, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.

Rafaels Blick folgte ihrer Gestalt.

Dich lasse ich nicht entkommen! Mir wird schon das Passende einfallen, um den kleinen Moment des Interesses, den ich gerade eben in deinen Augen aufblitzen sah, zu verstärken.

Er folgte ihr.

Die oder keine!

Sie ging hastig. Rafael spürte, dass sie einen Teil ihrer Gelassenheit verloren hatte. Der Moment, als ihre Blicke sich kreuzten, hatte gereicht, um sie aus dem Konzept … aus der Fassung zu bringen.

Und nun lief sie förmlich vor ihm davon.

Es war etwas geschehen, als sich ihre Blicke trafen. Ein Funke war übergesprungen, und nun ergriff sie die Flucht, weil sie Angst vor dem Feuer hatte, welches einem derartigen Funken entspringen könnte.

Egal! Er würde nicht locker lassen und ihr, sollte es nötig sein, quer durch ganz Frankfurt folgen.

Es entsprach keineswegs Rafaels Naturell, fremden Frauen auf der Straße nachzustellen. Im Gegenteil: Er hatte dies überhaupt nicht nötig! Und wenn man bedachte, dass er sich von allen Sentimentalitäten in dieser Hinsicht losgesagt hatte, passte sein momentanes Verhalten ganz und gar nicht.

Aber eine unerklärliche Macht sagte ihm, dass er so handeln musste. Er durfte die Unbekannte nicht aus den Augen verlieren, musste ihr folgen …

Rafael beobachtete, wie sie in einer Galerie verschwand, näherte sich und stellte sich genau davor. Mit vor der Brust verschränkten Armen beschloss er zu warten. Früher oder später würde sie schon rauskommen.

Es war schwül und warm an diesem Morgen. Eine dicke Wolkendecke verhinderte, dass die schwüle Luft abzog. Marleen bog in eine Seitenstraße ab und betrat eine kleine Galerie. Die Stille und Kühle im Inneren waren so angenehm wie ein seidig frisches Gewand. Sie holte tief Luft.

Ihr Herz klopfte wild. Selbst über mehrere Meter Abstand hatte sie erkannt, dass der Blick dieses attraktiven jungen Mannes Interesse ausgedrückt hatte. Sein Lächeln war hinreißend – auch wenn die Entfernung zu groß war, um seine Augenfarbe erkennen zu können, so war doch unübersehbar gewesen, wie bewundernd es in seinen Augen aufgeblitzt hatte.

Wie gut, dass sie so geistesgegenwärtig war, sich sofort von diesem feurigen Blick zu lösen – andernfalls wäre sie dahingeschmolzen. Wie ein Stück Butter in der Sonne. Wie Wachs in den Flammen eines ausbrechenden Feuers.

Die offensichtliche Bewunderung, mit der dieser schöne, aber viel zu junge Mann sie angeblickt hatte, war ihr durch und durch gegangen. Und die sinnliche Linie seiner Lippen, die ihr sofort aufgefallen war, hatte sich unauslöschbar in ihr Gedächtnis geprägt. Sicher küsste er wie ein junger Gott.

Marleen seufzte leise. Dann schlug sie erschrocken die Hand vor den Mund.

Halt! Stopp!, schalt sie sich in ihren Gedanken. Genug jetzt. Was ist mit dir los? Jetzt sag bloß nicht, ein einziger Blick, ein unbedeutendes Lächeln bringt dich dermaßen aus der Fassung, dass du dich in Tagträumereien und lächerlichen Gedankenschwärmereien verlierst!! Zumal dieser Kerl mindestens zehn Jahre jünger ist als du. Also, lass diese albernen Anwandlungen und komm gefälligst wieder zu dir.

„Recht hast du, mein inneres Ich“, murmelte sie, atmete tief durch und schritt dann zielstrebig auf ein Gemälde in der hinteren Ecke der Galerie zu.

Eingehend betrachtete sie das Bild, auf dem sich eine Frau mit unstetem, gierigem Blick auf einem Himmelbett rekelte. Die rote Decke, die sie umgab, hatte beinahe die gleiche Schattierung wie die Vorhänge des Himmelbettes. Die unterschiedlichen roten Farbtöne, die das gesamte Bild dominierten, wirkten wie ein Magnet auf ihre Sinne. Ihr Blick wurde förmlich in das Gemälde hineingesogen, führte dort ein Eigenleben und schien in den einzelnen Pinselstrichen aufzugehen.

Sie trat einen kleinen Schritt zurück, um das Bild noch intensiver in sich aufzunehmen. Es trug den Titel „Todsünde“, und während sie die unterschiedlich schimmernden Töne von zart himbeerfarben bis fast schwarzrot mit ihrem Blick liebkoste, bekam sie eine Ahnung davon, wieso das Bild diesen Namen trug: Es strahlte eine Hitze aus, die bis zu ihr rüberschwappte … sich auf sie übertrug ... sündige Gedanken in ihr weckte.

Das Verlangen in den Augen der Dame auf dem Bild streckte seine Fangarme explosionsartig nach Marleen aus und ergriff von ihr Besitz. Glut … Feuer … Leidenschaft … Blut … Liebe … Schmerz. Das waren die Begriffe, die sie spontan mit diesem Anblick assoziierte.

„Kann ich Ihnen behilflich … ach … Marleen … du bist es. Schön, dich zu sehen.“

„Hallo, Ruth.“ Marleen wandte sich um und lächelte der Frau, die nun hinter sie getreten war, freundlich zu.

„Das Bild lässt dich nicht los, nicht wahr?“

„Oh ja. Es hat einen Zauberbann über mich geworfen, hält mich in seinem Netz wie eine Spinne ihr Opfer. Und es gelingt mir nicht, diesen Zauberbann abzuschütteln. Im Gegenteil.“

„Noch ist es zu haben“, zwinkerte Ruth ihr neckend zu. Sie war eine Frau Ende vierzig, trug ihren Pagenkopf knallrot gefärbt und hatte eine Vorliebe für Silberschmuck; was man auf Anhieb erkennen konnte, denn sie war über und über damit behangen. Ihr smaragdgrünes Trägerkleid aus Leinen war vorn mit zwei großen halbrunden Taschen bestückt und fiel nicht zuletzt durch den orangefarbenen Schriftzug „HOT“ auf, der sich quer über ihre Brust zog. Ihre Füße steckten in schwarzen Clogs, und sie hatte eine kunterbunte Perlenkette mehrfach um ihr rechtes Fußgelenk geschlungen.

Ruth war ein Unikum, ein ganz besonderer Mensch. Marleen hatte sie kennengelernt, als sie sie als Anwältin bei ihrer Scheidung vertreten hatte, und seitdem hatte sich mehr und mehr ein freundschaftliches Verhältnis zwischen ihnen entwickelt.

Liebevoll erwiderte Marleen das Zwinkern der Freundin. „Du meinst also, ich soll zugreifen, bevor mir jemand zuvorkommt?“

„Aus dieser Perspektive könnte man es durchaus betrachten, meine Liebe.“

Marleen seufzte leise auf. „Die Versuchung ist groß. Sogar sehr groß. Aber es passt leider nicht in meine Wohnung. Weder zu den Möbeln, noch zur Tapete.“

„Tja, dann musst du weiterhin täglich herkommen, das Bild in dein Gedächtnis einbrennen und hoffen, dass sich so schnell kein Käufer finden wird.“

„Vielleicht ist mir das Schicksal ja hold, und das Bild bleibt ein Ladenhüter … ich meine … nicht, dass ich dir etwas Schlechtes wünsche … von mir aus kann sich jedes deiner Bilder verkaufen wie warme Semmeln. Aber eben nicht dieses eine hier.“

Ruth lachte schallend auf. „Bist du schon mal auf die Idee gekommen, dass dir das Schicksal eventuell etwas signalisieren möchte, indem es dich und dieses Bild durch einen Zauber miteinander verbunden hat?“

„Ich kann dir nicht folgen.“

„Nun, vielleicht will das Schicksal dich ja darauf aufmerksam machen, dass es Zeit ist für Veränderungen – angefangen bei deiner Wohnung.“

„Ich hasse Veränderungen“, stieß Marleen hervor.

„Auch daran kann man etwas ändern.“

„Ich möchte daran aber nichts ändern.“ Marleen runzelte die Stirn. „Sag mal, was soll das hier eigentlich werden? Eine tiefenpsychologische Studie meine Person betreffend? Hör mal, ich habe mein Leben im Griff … es gibt nichts zu beklagen. Und weißt du, was mir dabei hilfreich war und ist? Lieb gewonnene Gewohnheiten und ein vertrautes Umfeld. Alles andere hält auf … lenkt ab … bringt mich aus dem Konzept … muss ich nicht haben.“ Sie holte tief Luft.

„So, so.“ Ruth erwiderte ihren Blick ungerührt. „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein Kontrollfreak bist?“

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Dann wird es aber Zeit.“

„Na, du musst es ja wissen.“

„Oh, ja. Und außerdem wird es Zeit, dass du dir einen Mann anlachst. Oder würde dich das auch zu sehr aus dem Konzept bringen – dir die Kontrolle über dein Leben nehmen?“

„Unsinn“, gab Marleen zurück. Ihre Augenbrauen zogen sich unwillig zusammen. „Ich halte Männer einfach nicht lange aus, liebe es, als Single durchs Leben zu gehen, und tun und lassen zu können, was ich möchte. That’s all.“

„Meiner Meinung nach steckt etwas ganz anderes dahinter.“ Liebevoll lächelte Ruth ihrem Gegenüber zu.

„Wie meinst du das?“

„So, wie ich es gesagt habe. Aber lassen wir das Thema. In deinen Augen braut sich nämlich ein Sturm zusammen, und ich möchte ihm rechtzeitig entkommen.“

„Nun sag schon.“ Marleen wurde ungeduldig. Einerseits wollte sie dieses Thema so schnell wie möglich beenden, andererseits machte es sie wahnsinnig, dass Ruth etwas über sie zu wissen glaubte, über das sie nicht im Bilde war.

Sie fluchte innerlich. Als sie an Ruths Gesichtsausdruck erkannte, dass sich ihr gedanklicher Zwiespalt in ihrer Mimik widerzuspiegeln schien, musste sie lachen. „Nun spann mich nicht auf die Folter. Welche Eindrücke haben Frau Doktor diesen speziellen Fall betreffend?“

„Also, gut. Ich muss kein Fachmann sein, um zu spüren, dass du übergroße Angst vor Nähe und Kontrollverlust hast. Und was die Männerwelt betrifft – so bin ich überzeugt davon, dass du befürchtest, ein Mann könnte dir deine Kraft rauben, wenn du ihn zu nahe an dich heran lässt. Aber ich will dir deine Fassade des glücklichen Singles, der alles im Griff hat, lassen. Damit lebt es sich sicherlich einfacher, als mit bloßgelegten Wahrheiten. Einen Kaffee?“

„Nein, danke. Aber ich nehme das Bild.“

„Obwohl es nicht in deine Wohnung passt?“

„Bitte keine weiteren Analysen. Ich nehme es und gut.“ Marleen atmete tief ein. Dann entspannten sich ihre Gesichtszüge. „Ich habe heute keine Termine und werde ein wenig bummeln gehen. Legst du mir das Bild zurück? Ich hole es dann später ab.“

„Kein Problem.“ Ruth lächelte. Sie wollte noch hinzufügen, dass sie sich freute, dass sie sich mal einen freien Tag gönnte, überlegte es sich dann aber anders. Sie wollte nicht zu rasant hinter die Fassade der Freundin schauen, nahm sich aber vor, sich bei passender Gelegenheit weiter vorzutasten.

Kapitel Drei

Rafael versuchte unauffällig einen Blick durch die Fenster der Galerie zu werfen, was aber gar nicht so einfach war. Eine wahre Flut an Staffeleien – groß, klein, hoch, tief, lang, breit …ausgestattet mit wunderschönen Gemälden, für die er momentan allerdings keinen Blick hatte – versperrten ihm die Sicht.

Mit einem optischen Sensor, der im Zickzack und um die Ecken linsen konnte, wäre es ihm sicherlich möglich gewesen, sich Einblick ins Innere der Galerie zu verschaffen, so aber war es ein Ding der Unmöglichkeit.

Also schritt er einige Male vor der Galerie auf und ab und probierte schließlich, einen Blick durch die bunten Butzenscheiben der Tür zu werfen.

Doch unverhofft kommt oft, und ehe Rafael wusste wie ihm geschah, flog die Tür auf, die schöne Unbekannte eilte hinaus und stolperte geradewegs in seine Arme, ganz so, als gehörte sie dorthin.

„Entschuldigen Sie vielmals.“ Marleen löste sich aus seinem auffangenden Griff und atmete kurz aus.

Als sie im nächsten Augenblick sah, wen sie da fast über den Haufen gerannt hatte, schnappte sie nach Luft.

„Sie?“

Heute war definitiv nicht ihr Tag!

Erst Ruth, die sie mit ihrem analytischen Blick fast bis auf den Grund ihrer Seele durchleuchtet hatte, dann der Spontankauf des Bildes, welches absolut nicht in ihre Wohnung passte, nur um der Freundin zu beweisen, dass sie nicht so festgefahren war wie diese glaubte, und nun traf sie erneut auf diesen verteufelt gut aussehenden Kerl.

„Sehr erfreut!“ Er lächelte ungezwungen charmant und hatte es sichtlich genossen, sie in den Armen gehalten zu haben.

Marleen hob unwillig eine Augenbraue und erwiderte seinen Blick. Allerdings nicht mit einem ebenso bezaubernden Lächeln wie er, sondern mit kühler Distanz. Nur gut, dass sie im Laufe ihres Lebens ein perfektes Geschick darin entwickelt hatte, nach außen hin ruhig, kühl, gelassen und unnahbar zu wirken, auch wenn in ihrem Innersten der Teufel los war.

Dies war auch bitter nötig gewesen, um es im Leben so weit zu bringen, wie sie es geschafft hatte. Sie hatte es wahrhaftig nicht leicht gehabt, etwas aus ihrem Leben zu machen und die Karriereleiter aufzusteigen. Im Waisenhaus aufgewachsen hatte sie so manche Hürde nehmen müssen, um ihr Lebensziel zu erreichen, was zwar nicht unbedingt gut gewesen war, aber eindeutig dazu beigetragen hatte, sie zu der Persönlichkeit zu formen, die sie heute war.

Voller Entsetzen spürte sie ein seltsames Ziehen, ausgehend von ihrer Magengegend bis zu ihren Brustspitzen. „Sie sind mir gefolgt?!“

„Ertappt! Ich bekenne mich schuldig. Wie lautet Ihr Urteil? Ich hoffe, es fällt gnädig aus.“ Vergnügt zwinkerte er ihr zu. In bester Flirtlaune. Hätte ihm vor einer Stunde jemand gesagt, dass er in absehbarer Zeit mit einer Unzahl Schmetterlinge im Bauch und sündigen Gedanken im Kopf einer wildfremden Frau den Hof machen würde, er hätte denjenigen für verrückt erklärt.

„Warum?“

„Warum was?“

„Warum sind Sie mir gefolgt?“

Er beugte sich leicht vor, senkte die Stimme und blickte ihr tief in die Augen. „Instinkt? Schicksal? Bestimmung? Und um herauszufinden, welche Augenfarbe unsere Kinder haben werden!“

Marleen riss den Mund auf, brachte aber keinen Ton hervor.

Dieser Kerl war unglaublich.

Unglaublich schockierend, sexy, gut aussehend und frech.

Eine Mischung, die ihr durchaus gefiel, ihr aber auch sehr gefährlich werden konnte … die die Macht hatte, ihr Leben aus dem Konzept zu bringen und ihre Gelassenheit anzukratzen. Und wenn sie eines ganz genau wusste: Sie hatte nicht vor, dies zuzulassen.

„Machen Sie das eigentlich bei jeder wildfremden Frau?“

„Was?“

„Quatschen Sie jede Frau einfach so an?“

Tausend Teufelchen tanzten in Rafaels Augen, als er erwiderte: „Macht das einen Unterschied?“

„Ja … ich meine, nein … natürlich nicht. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen. Ich habe zu tun.“

„Wovor haben Sie Angst?“ Rafael trat einen Schritt auf sie zu und strich ihr eine vorwitzige Haarsträhne auf dem Gesicht.

Ihr Herz setzte für einen Moment aus, als seine angenehm warmen Finger ihre Schläfen streiften.

„Wie kommen Sie darauf, dass ich Angst haben könnte? Vielleicht sind Sie mir einfach nur lästig.“

„Bin ich das wirklich?“

Sag ja und lauf weg! „Ich …“, sie brach ab und schob seine Hand beiseite, die sich unter ihr Kinn gelegt hatte.

„Mein Name ist übrigens Rafael und es freut mich, Sie kennenzulernen.“

Bei diesen Worten betonte er jede einzelne Silbe so, als würde er sagen: Ich will dich … mit Haut und Haar.

Marleen war sprachlos und unfähig, sich zu rühren.

Dieser unverschämte Kerl stand viel zu dicht vor ihr. Sie schluckte. Dann sah sie ihn an und bemerkte mit leichtem Beben, wie warm und doch gleichzeitig frech seine Augen lächelten.

Er hatte dunkle, fast schwarze Augen, Wimpern, um die ihn jede Frau beneiden würde, einen überaus sinnlichen Mund, in dessen rechter Ecke ein Grübchen tanzte und atemberaubend schöne Gesichtszüge. Fast schon zu schön für einen Mann. Sie schätzte ihn auf Mitte zwanzig und überschlug innerhalb von Sekundenbruchteilen, dass er damit etwa zehn bis zwölf Jahre jünger war als sie mit ihren sechsunddreißig Jahren.

Kerle wie ihn sollte man augenblicklich aus dem Verkehr ziehen. Sie sind eindeutig zu attraktiv und sexy.

Marleen konnte nicht anders, als ihn unauffällig zu mustern. Die eng geschnittene, schwarze Lackhose war für ihren Geschmack zu flippig und passte absolut nicht in das Schema, in welches sie gute Bekleidung einordnen würde. An ihm allerdings gefiel sie ihr seltsamerweise. Sie betonte seine schmalen Hüften und ließ erahnen, welch entzückendes Hinterteil sich darunter zu verbergen schien.

Es fühlt sich sicherlich himmlisch an, beide Hände darauf zu legen und leicht zuzudrücken.

Sie rief sich zur Ordnung und schaffte es gerade noch rechtzeitig, ein verzücktes Seufzen zu unterdrücken.

Nun starr ihn nicht so an. Hast du noch nie einen attraktiven Mann gesehen? Na also! Und nun Haltung, wenn ich bitten darf!

Auf wackligen Beinen trat sie einen Schritt zurück. Als sie seinen Blick bemerkte, der langsam über ihren Körper wanderte und auf den harten Spitzen ihrer verräterischen Brüste verweilte, die sich fast schon schmerzhaft gegen den Stoff ihrer Bluse drängten, wurde sie eine Spur nervöser … wenn das überhaupt möglich war. Dennoch schaffte sie es erneut mit Bravour, ihre innere Aufruhr ganz tief in sich zu vergraben und kühle, leicht überhebliche Gelassenheit vorzutäuschen.

„Genug gesehen? Gut, dann kann ich ja nun endlich gehen. Einen schönen Tag noch.“ Mit hoch erhobenem Kopf wandte sie sich ab und entfernte sich raschen Schrittes.

Rafael sah ihr versonnen nach.

Was für eine Frau!

Er dachte im Traum nicht daran, sich so leicht abschütteln zu lassen. Mit einem abenteuerlustigen Grinsen begann er erneut ihr zu folgen.

Unauffällig. Langsam. Immer darauf bedacht, nicht von ihr entdeckt zu werden.

Aber dennoch zielstrebig.

Erst nach zehn Minuten im Eiltempo begannen sich Marleens Schritte und ihr aufgepeitschter Puls zu beruhigen. Sie atmete tief ein und aus und musste schließlich sogar über ihre übertriebene gehetzte Flucht lachen. Als wäre der Teufel persönlich hinter dir hergewesen, spottete sie gedanklich über sich und schüttelte den Kopf. Dabei gab sie sich die größte Mühe, das immer noch vorhandene süßliche Ziehen in ihrer Magengegend zu ignorieren.

Vergeblich!

Sie beschloss sich abzulenken, indem sie viele Geschäfte unsicher machte, auf der Suche nach etwas ganz Besonderem. Was genau, wusste sie nicht. Sie wusste nur, dass es ihr auf Anhieb gefallen und ihr einen ebensolchen Adrenalinstoß versetzen sollte wie diese Begegnung mit dem Kerl in Lackhosen, die sie ganz schön durcheinandergebracht hatte.

Sie schlenderte die gut besuchte Zeil, Frankfurts Shopping-Meile, entlang und begann sukzessive die verschiedenen Läden abzuklappern. Vor einem Schuhgeschäft in einer der Seitensträßchen der Zeil, in dem es die buntesten, extravagantesten, edelsten, verspieltesten Schuhe gab, die sie je gesehen hatte, blieb sie schließlich fasziniert stehen. Unerhört hohe Absätze, Schnallen, Riemchen, Schleifen, Lack, Leder, Satin, in türkis, rot, orange, apfelgrün, pink, mörderische Spitzen, Strasssteinchen, Federn, Spitze, Perlen ... Schuhwerk, das zum Herzeigen, Sammeln, Anschauen, Bestaunen und Verführen gedacht war. Für jede Frau mit ausgeprägtem Schuhtick war etwas dabei. Und dann entdeckte sie die pflaumenfarbenen Lackpumps. Eine Farbe, so atmosphärisch wie die Farben des Bildes, das sie gekauft hatte und so glänzend wie die Lackhose des schönen, jungen Mannes, der sich als Rafael vorgestellt hatte.

Rafael … der Name hat etwas Engelhaftes. Dabei ist dieser Kerl die personifizierte Sünde. Eher Luzifer als Engel.

Rasch schüttelte sie ihre Gedanken ab und fokussierte ihr Interesse auf die zauberhaften Schuhe. Sie waren verwerflich elegant, vorne oval zulaufend, mit einer Schnalle, die von unzähligen Glitzersteinchen verziert war. Die Absätze waren wahnsinnig hoch und dünn.

Was war das Leben, wenn man nicht wenigstens einmal Schuhe wie diese getragen hatte?

Sie überlegte nicht lange und ging hinein.

Die Farben Creme und Smaragd beherrschten auf angenehme Weise die Einrichtung und gaben dem Angebot eine besondere Note. Hier gab es alles: Vom mondänen Damenschuh über Sandaletten bis hin zu schicken Businessschuhen. In Vitrinen lagen Handtaschen, Schals und weitere Accessoires.

„Kann ich Ihnen helfen?“, begrüßte sie eine elegante Verkäuferin.

Ja, ich würde mich gerne in Ruhe umschauen, ohne ausgefragt und belagert zu werden.

Marleen hasste es, wenn sofort eine Verkäuferin auftauchte und sie fortan nicht mehr aus den Augen ließ. Sie wollte stöbern, schauen, bewundern, in die Hand nehmen, wieder weglegen. Unbeobachtet. Ohne sich zu rechtfertigen. Ohne den Druck, etwas kaufen zu müssen, ohne dieses falsche Lächeln im Nacken. Diese Blicke, denen man sofort ansah, dass sie nicht aufrichtig waren. Nur aufgesetzt, um die begeisterten Ausrufe zu untermalen, die darauf aus waren, möglichst viel zu verkaufen, ohne ein ehrliches Urteil abzugeben.

Wie gut, dass sie heute genau wusste, was sie wollte, und was ihr gefiel!

„Ich habe im Schaufenster ein Paar pflaumenfarbene Lackpumps mit Schnalle und Ziersteinen gesehen.“

„Die sind wunderbar, nicht wahr? Schuhe, für die frau töten könnte. Welche Größe tragen Sie?“

„Achtunddreißig.“

„Okay, kommen Sie bitte mit!“

Marleen folgte ihr quer durch das großzügige, geschmackvoll eingerichtete Geschäft. In einer Ecke stand ein Glastisch mit zwei bequemen Korbsesseln – eine Oase zum Verweilen, Entspannen und Verschnaufen, wenn eine Shoppingtour mal wieder marathonähnliche Züge angenommen hatte.

Und dann waren sie in greifbarer Nähe – die sündhaft schönen und sicherlich auch teuren Schuhe. In Augenhöhe. Sie musste nur ihre Hand ausstrecken, was sie dann auch tat. Mit einem Leuchten in den Augen und einem Lächeln, dem man die Vorfreude ansah, suchte sie sich einen Platz, an dem sie die Schuhe anprobieren konnte. Zufrieden setzte sie sich auf eine smaragdgrüne Polsterbank und war froh, Nylons zu tragen, denn sie mochte diese Probiersöckchen nicht.

Es dauerte nicht lange, und sie hatte das Objekt ihrer Begierde an den Füßen. Ein Glücksgefühl schoss durch ihren Körper, denn die Schuhe sahen nicht nur fabelhaft und kapriziös aus, sondern passten auch wie angegossen.

Sie probierte ihre ersten Schritte. Auch wenn sie ein Faible für hohe Absätze hatte, so trug sie doch noch nie Schuhe mit derartig hohen Absätzen. Ihr Spann bog sich, ihre Füße erschienen ihr mit einem Mal nicht mehr als Gehwerkzeuge, sondern als erotische Signale.

Sie schritt auf und ab, schaute unentwegt nach unten – und waren ihre Schritte zu Beginn noch etwas zögerlich, so wurden sie von Schritt zu Schritt mutiger, forscher, entschlossener.

„Die Schuhe stehen Ihnen ausgezeichnet. Als wären sie für Sie gemacht.“

Marleen sah auf. Sie hatte die Verkäuferin vollkommen vergessen. Ein Zeichen dafür, wie sehr sie die Schuhe faszinierten.

Sie lächelte. „Ich nehme sie.“

Sie bemerkte nicht, dass ein junger Mann sie durch das Schaufenster amüsiert beobachtete und in einem der Hauseingänge verschwand, als sie das Geschäft verließ.

Glücklich presste Marleen die Tüte, in der ihre Errungenschaft steckte, an sich und schlenderte die parallel zur Zeil verlaufenden Sträßchen entlang zurück in Richtung Hauptwache, vorbei an interessant dekorierten Läden, Bistros, Boutiquen, Schmuckgeschäften und vielem mehr.

Die Auslagen eines Buchhandels wandelten ihre oberflächlich darüber gleitenden Blicke in Neugier und schließlich in Interesse. Sie ging näher.

Neben unzähligen Büchern über Tarot und Zukunftsdeutung blinkte eine Kristallkugel in Lila. Dahinter saß eine Zigeunerpuppe, deren Augen erschreckend lebhaft wirkten. In ihrem Schoß lagen Tarotkarten. Die Augen schienen Marleen zu fixieren und bis auf den Grund ihrer Seele zu blicken. Die Puppe war vollkommen violett gekleidet und hatte etwas, was man nicht beschreiben konnte, was aber unwillkürlich für Interesse sorgte. Sie saß neben einem Buch mit dem Titel „Leidenschaftlichlebendig“, welches außerdem zusammen mit Tarotkarten auf einem Schaufensterplakat angepriesen wurde.

Leidenschaft! Was interessiert mich die Leidenschaft, schoss es durch Marleens Kopf.

Außerdem hatte sie mit diesem ganzen Esoterikkram nichts am Hut. Was machte sie eigentlich hier? Schuld war diese Zigeunerpuppe mit ihrem durchdringenden Blick. Sie wandte sich ab und schlenderte weiter.

Als sie sich in Richtung Börsenplatz wenden wollte, drang wunderbare Musik an ihre Ohren. Das Gefühl, als würde alles um sie herum stillstehen, bemächtigte sich ihrer. Ihr Atem wurde ruhig und tief. Mit geschlossenen Augen lauschte sie den Tönen der Straßenmusikanten, einem jungen Pärchen, das sang und spielte, als gäbe es kein Morgen, als wäre das ganze Glück der Welt in diesem Lied verborgen. Zerschlissene Schuhe, aber strahlende Gesichter, ihre Habseligkeiten in ein paar Plastiktüten verstaut, die am Rand lagen. Das Hochglanzposter mit dem schlanken Model in exklusiver Wäsche, welches im Hintergrund im Schaufenster des großen Kaufhauses hing, vor dem sie spielten, wirkte fast deplatziert. Regungslos verharrte Marleen eine geraume Zeit lang, lauschte, lächelte und fühlte sich für einen Moment herrlich frei.

Erst als die Musiker eine Pause einlegten, beschloss sie weiterzugehen und sich nach einer Pizzeria umzuschauen. Ihr Magen signalisierte Hunger, was kein Wunder war, denn außer einer Tasse Kaffee am Morgen hatte sie noch nichts zu sich genommen.

Bald hatte sie in der Nähe der Börse ein italienisches Restaurant gefunden. Es war für seine Qualität und die frischen Zutaten bekannt und bot ein einladendes Ambiente. In einem Nebenraum luden Bar und Polstergruppe zum Verweilen ein, und eine Zwei-Mann-Band spielte Tanzmusik. Italienische Lebensart mitten im Herzen der Stadt. Fröhlich durchschritt sie das Restaurant und entschied sich für einen Fensterplatz. Sie ließ sich auf dem bequemen Stuhl nieder, beobachtete das Treiben auf der Straße, bevor sie zur Speisekarte griff. Sie wollte sich gerade vom Fenster abwenden, als sie stutzte.

Das ist doch … Dieser unmögliche Kerl wird doch wohl nicht …

Ihr Puls beschleunigte sich. Jetzt entspanne dich und verfalle bloß nicht einem überflüssigen Verfolgungswahn. Die Straßen Frankfurts sind für alle da.

Hastig vertiefte sie sich in die Speisekarte und beschloss, keinen Gedanken mehr an diesen Mann zu verschwenden, was jedoch misslang.

Unwillkürlich hob sich ihr Blick, und ihr Herz setzte für einen Moment aus. Er war gerade hereingekommen, und ihre Blicke trafen sich. Ein freches Grinsen umgab seine Mundwinkel, als er sich andeutungsweise in ihre Richtung verneigte.

Selbstverständlich sah sie hochmütig über ihn hinweg und vertiefte sich scheinbar vollkommen konzentriert in die Speisekarte.

„Hallo, schöne Frau.“ Beim Klang seiner Stimme in unmittelbarer Nähe blickte sie nervös auf. Er stand nun genau vor ihr und blickte mit funkelnden Augen auf sie hinab.

„Hallo“, gab sie zurück, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen.

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

Ohne ihre Antwort abzuwarten, nahm er an ihrem Tisch Platz und sie kam nicht umhin, seine Dreistigkeit zu bewundern. Fasziniert starrte sie in seine strahlenden Augen, zwang sich allerdings dazu, ihn abscheulich zu finden.

„Warum fragen Sie, wenn Sie doch machen, was Ihnen gerade in den Sinn kommt?“

„Weil ich Sie bezaubernd finde und meine innere Stimme mir sagt, dass ich tun muss, was zu tun ist.“

„Und was ist zu tun?“ Spöttisch schoss ihre Augenbraue in die Höhe.

„Sie davon zu überzeugen, dass wir füreinander bestimmt sind.“

„Wie bitte?“

Sie blickte auf den Tisch und betrachtete fasziniert seine wohlgeformten Hände. Die Finger waren schlank und äußerst gepflegt.

„Wovor haben Sie Angst?“ Rafaels Blick vertiefte sich … seine dunklen Augen funkelten wie glühende Diamanten.

„Ich habe keine Angst. Ich habe aber eine Abneigung dagegen, analysiert und falsch interpretiert zu werden.“

„Und warum sind Sie so kratzbürstig?“

„Vielleicht liegt das ja in meiner Natur. Besonders, wenn ich wie heute das Alleinsein bevorzuge.“ Ärgerlich blitzte sie ihn an und griff nach ihren Taschen. „Und nun entschuldigen Sie mich.“

Sie erhob sich.

Freundlich aber bestimmt zog Rafael sie auf den Stuhl zurück. „Sie bieten mir gerade jede Menge Möglichkeiten zur Analyse. Sie sind empfindlich, verletzlich und wirken gehetzt. Gleichzeitig sind Sie aber auch sehr interessant, wunderschön und charmant, auch wenn Sie diese Eigenschaften unter dem Deckmantel einer Kratzbürste verstecken.“

Marleen war empört. Was bildete sich dieser unverschämte Kerl eigentlich ein? Um kein Aufsehen zu erregen blieb sie sitzen, denn ein paar der anwesenden Gäste schauten sich schon interessiert nach ihnen um.

Rafael musterte sie intensiv, ganz so, als hätte er vor, sich jede Einzelheit einzuprägen.

Er verschränkte seine Arme hinter dem Kopf und streckte seine langen Beine von sich. „Sie sind hinreißend, wenn Sie wütend sind. Ihre Augen bekommen Leben und der heiße Vulkan, der sich hinter Ihrer kühlen, spröden Fassade verbirgt, kommt ansatzweise zum Vorschein. Ich hätte nicht übel Lust, diesen Vulkan zum Ausbruch zu bringen.“

„Sparen Sie sich Ihren Atem. Auf derartiges Süßholzgeraspel falle ich nicht herein“, erwiderte sie herausfordernd.

Theatralisch griff sich Rafael ans Herz. „Ich verzehre mich nach Ihnen, aber gleichzeitig zerbreche ich an dieser unsagbaren Kälte, die Sie umgibt. Drum winke ich Ihnen zum Abschied zu und rufe ‚Adieu’! Ich würde gerne bleiben, bei Ihnen verweilen und um Ihre Liebe kämpfen, aber ich füge mich dem Schicksal und ziehe von dannen. Drehe mich allerdings noch einmal um, im Schlepptau eine weiße Fahne. Sollten Sie mir nachschauen, können Sie meine Spuren sehen, denn der Boden ist aufgeweicht von den heißen Tränen, die ich vergossen habe.“

Dies brachte Rafael mit Hingabe, gespielter Dramatik und einem Blick dar, der sie gegen ihren Willen zum Lachen brachte.

Einen solchen Mann hatte sie noch nie kennengelernt. Er brachte Saiten in ihr zum Klingen, von denen sie nichts geahnt hatte.

„Sind Sie immer so hartnäckig?“ Sie bemühte sich erneut um einen kühlen Gesichtsausdruck.

„Kommt drauf an. Übrigens, Sie sehen reizend aus, wenn Sie versuchen, hochmütig in die Welt zu schauen.“

„Ich …“, setzte Marleen erneut ärgerlich an, wurde aber von Rafael unterbrochen.

„Bitte nicht böse sein. Ich möchte Sie nicht verärgern. Ich trage einfach mein Herz auf der Zunge, ganz ohne böse Absicht. Friede?“

Marleen musste lächeln. „Friede.“

„Prima. Und weil ich Ihre Gegenwart genieße, möchte ich Sie einladen. Also, was trinken Sie? Einen guten Wein? Oder darf es ein Aperitif sein?“

„Danke, ich will Sie nicht ruinieren. Ein Mineralwasser, bitte.“

Das Herz klopfte ihr bis zum Hals und sie spürte, wie sie Gefallen an der Hartnäckigkeit dieses Mannes fand. Warum also nicht mit ihm zusammen etwas zum Lunch essen, statt alleine dazusitzen und sich eventuell zu langweilen? Loswerden konnte sie ihn immer noch, und nach diesem Restaurantbesuch würden sich ihre Wege sowieso unwillkürlich trennen. Deswegen beschloss sie, das Ganze mit einem Augenzwinkern zu betrachten und die Aufmerksamkeit dieses Draufgängers zu genießen.

Sie beobachtete, wie er ihre Getränke bestellte und setzte ein kokettes Lächeln auf. „Sie lassen sich also tatsächlich nicht abwimmeln? Also, gut. Ich hoffe, Sie wissen, worauf Sie sich einlassen. Ich kann ganz schön kompliziert sein und möchte Sie warnen vor den dunklen Charaktereigenschaften, die sich zusätzlich in mir verbergen.“

„Na und? Sie sind die entzückendste Frau, die mir seit Langem begegnet ist. Erfrischend und wundervoll wie Musik und Poesie. Das reicht.“

„Ach, ja?“

„Ja.“

„Ich finde Musik grausam. Sie bringt dich innerhalb von Sekunden in Momente, zu Personen und an Orte zurück, mit denen du eigentlich nichts mehr zu tun haben wolltest. Holt Erinnerungen so klar und intensiv zurück, dass du glaubst, es wäre Echtzeit. Und ohne es zu wollen stehst du da und hörst und siehst Erinnerungsfetzenbilder aufblitzen, die schmerzen und dich traurig machen.“

„Das ist alles eine Sache der Perspektive. Denn man kann es auch anders herum sehen. Musik ist wundervoll. Sie bringt dich innerhalb von Sekundenbruchteilen zu Momenten, Personen, Orten zurück, die dir wichtig sind und waren, an die du dich gerne erinnerst. Sie weckt Gefühle in dir. Bringt dich zum Lachen, zum Träumen … okay, auch zum Weinen … aber sie hält dich lebendig. Sanft wie Schneeflocken rieselt die Musik auf unser Gemüt, entspannt, setzt Gedanken frei und animiert zum Tanzen. Im Mondschein. Die ganze Nacht durch.“

Rafael lächelte. „Mit Ihnen würde ich gerne einmal im Mondlicht tanzen. Eine ganze Nacht lang. Umgeben von Tausenden von Sternen und ein paar Sternschnuppen, die nur für uns fallen.“

Marleen war nervös und sprachlos, was nur selten vorkam, denn sie hatte für gewöhnlich immer einen passenden Spruch auf den Lippen. Sie war froh, als in diesem Augenblick der Kellner an ihren Tisch trat und die Getränke servierte.

Rafael prostete ihr zu. „Wie heißen Sie eigentlich?“ Über den Rand des Glases hinweg schaute er sie an. „Übrigens haben Sie ein reizendes Muttermal.“ Er streckte seine Hand aus und berührte sanft mit dem Zeigefinger die Stelle neben ihrem Mundwinkel.

Sie musste lachen. „Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie unmöglich sind?“

„In den letzten vierundzwanzig Stunden noch nicht. Verraten Sie mir Ihren Namen?“

„Marleen.“ Hastig griff sie zum Glas und trank einen Schluck. Dabei gelang es ihr nur mühsam, das Zittern ihrer Hände zu unterdrücken. In ihrer Magengegend war der Teufel los. Eine Armee Ameisen schien sich dort eingenistet zu haben.

„Okay, Marleen. Es ist mir eine Freude, Sie zum Essen einzuladen.“

„Oh, no! Mein Essen bezahle ich selbst. Darauf bestehe ich.“

Rafael pfiff leise durch die Zähne. „Eine Frau, die weiß, was sie will.“ Der Schalk sprang ihm aus den Augen, als er hinzufügte: „Mein Glück, denn eine Einladung würde mich ruinieren. Nicht auszudenken, wenn ich mich die nächsten Tage von Pellkartoffeln und Hering ernähren und das Ganze dann auch noch mit einem kräftigen Schluck aus der Wasserleitung herunterspülen müsste.“ Er zwinkerte ihr belustigt zu.

Marleen lächelte. Sie mochte Männer mit Humor, und dieser hübsche Kerl hatte davon mehr als genug. Eine gefährliche Mischung. Vorsicht, Marleen!