Mondscheintarif - Ildikó von Kürthy - E-Book + Hörbuch
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Ildikó von Kürthy

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Beschreibung

Der Bestseller von Ildikó von Kürthy – 2 Millionen verkaufte Exemplare – in wunderschöner Neuausgabe, mit zahlreichen Fotografien und einem Vorwort der Autorin! Sie wartet. Und wartet. Stundenlang. Warum ruft er denn nicht an? Weiß er nicht, dass er die Liebe ihres Lebens werden könnte? Ist sie ihm zu dick, zu schwierig, zu laut oder zu leise? Und wo steckt eigentlich ihr Selbstbewusstsein, wenn sie es ganz dringend braucht? Sie heißt Cora Hübsch, ist dreißigdreiviertel Jahre alt und wartet. Auf einen Anruf und darauf, dass sich ihr Leben verändert. 

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Seitenzahl: 189

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Ildikó von Kürthy

Mondscheintarif

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Ich warte. Und warte. Stundenlang. Warum ruft er denn nicht an? Weiß er nicht, dass er die Liebe meines Lebens werden könnte? Bin ich ihm zu dick, zu schwierig, zu laut oder zu leise? Und wo steckt eigentlich mein Selbstbewusstsein, wenn ich es ganz dringend brauche? Ich heiße Cora Hübsch, bin dreißigdreiviertel Jahre alt und warte. Auf einen Anruf und darauf, dass sich mein Leben verändert.

Vita

Ildikó von Kürthy hat ihren ersten Roman vor 25 Jahren geschrieben. Damals war sie Redakteurin beim «Stern», lebte mit ihrem Freund in Hamburg und schrieb abends, bei Wein und Schokolade, innerhalb von sechs Monaten das Kultbuch «Mondscheintarif». Die Geschichte von Cora Hübsch, die auf den Anruf eines Mannes wartet, veränderte das Leben der Autorin. Der Roman wurde ein Bestseller, verkaufte sich zwei Millionen Mal, und Ildikó von Kürthy wurde eine der meistgelesenen Schriftstellerinnen Deutschlands. Sie schrieb bis heute elf Romane, ein Kinderbuch und drei Sachbücher. Mittlerweile ist sie mit dem Freund von damals verheiratet, hat zwei Söhne und schreibt ihre Bücher vormittags in Begleitung von Fencheltee.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2010

Copyright © 1999 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Covergestaltung büro ident

Coverabbildung Peter Pichler

ISBN 978-3-644-20501-7

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

 

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Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

 

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Dieses E-Book ist nicht vollständig barrierefrei.

 

 

www.rowohlt.de

Happy Birthday, Tante Hilde!

17:12

Der Fuß ist eine weitgehend unerschlossene weibliche Problemzone. Ein Satz, wie in Stein gemeißelt.

Der Fuß ist eine weitgehend unerschlossene weibliche Problemzone.

So könnte ein Artikel in einer Frauenzeitschrift anfangen. Oder in ‹Psychologie Heute›. Oder so.

Ich heiße Cora Hübsch, ich bin dreiunddreißigdreiviertel Jahre alt und gehöre zu der Mehrheit von Frauen, die auch in fortschreitendem Alter noch kein freundschaftliches Verhältnis zu ihren Füßen aufgebaut haben. Meine Zehen sind krumm wie die Zähne im Mund eines Schuljungen, der sich beharrlich weigert, eine Zahnspange zu tragen. In meiner Bauch-Beine-Po-Gruppe ist eine, deren Zehen sind so kurz, als seien sie ihr in jungen Jahren von einer scharfkantigen Glasplatte guillotiniert worden. Und meine Freundin Johanna hat Füße wie andere Leute Oberschenkel. In ihren Pumps hätten sich noch einige Zweite-Klasse-Passagiere von der Titanic retten können.

Ich versuche, mich abzulenken. Betrachte angestrengt den Haufen Zehen an meinem Körperende, um nicht über Schlimmeres nachdenken zu müssen.

Darüber zum Beispiel, dass heute Samstag ist. Schlimmer noch, es ist schon fast Samstagabend. Wann beginnt eigentlich der Abend? Gesetzt den Fall, jemand sagt: «Ich rufe dich Samstagabend an.» Was genau meint er dann damit? Heißt das: «Ich rufe dich um 18 Uhr an, um dich zu fragen, ob ich dich um 20 Uhr 30 abholen und zum teuersten Italiener der Stadt ausführen darf»?

Oder heißt das: «Ich klingle gegen 23 Uhr mal durch, um anzutesten, ob du eine vereinsamte Mittdreißigerin bist, die am Samstagabend nichts Besseres vorhat, als auf den Anruf eines smarten Typen, wie ich es bin, zu warten, der sich einmal aus Langeweile dazu hat hinreißen lassen, mit dir ins Bett zu gehen»?

Der Fuß ist eine weitgehend unerschlossene weibliche Problemzone.

Nein, es hilft nichts. Die krummen Gesellen da unten können nicht länger für meine Minderwertigkeitskomplexe geradestehen. Ich heiße Cora Hübsch, bin dreiunddreißigdreiviertel und gehöre zu der Mehrheit von Frauen, die sich auch in fortschreitendem Alter hauptsächlich mit einer Problemzone rumschlägt.

Freundinnen, lasst es uns so sagen, wie es ist: Die aller-aller-allerschlimmste weibliche Problemzone heißt: Mann.

17:17

Ist es jetzt wirklich schon bald halb sechs? Gute Güte! Warum ruft der denn nicht an? Warum gibt es Dinge im Leben einer Frau, die sich niemals ändern? Die Frage, ob man nach einmal Sex bereits Anspruch auf eine Samstagabendverabredung hat, wurde bisher nicht hinreichend geklärt.

Jemand müsste sich mal die Mühe machen, herauszufinden, wie viele Jahre ihres Lebens eine Frau damit verbringt, auf Anrufe von Männern zu warten. Bestimmt fünf. Oder zehn. Und dabei wird sie immer älter. Sie runzelt die Stirn, und das hinterlässt eine hässliche Falte über der Nasenwurzel. Sie isst mehrere Tonnen weiße Schokolade mit Crisp, Erdnussflips und Toastbrot mit Nutella. Sie ruiniert ihre Figur und ihre Zähne und damit jede reelle Chance auf einen Anruf am Samstagabend.

Muss aufhören, mein Selbstbewusstsein mit negativen Gedanken zu unterminieren.

«Ich bin attraktiv. Ich bin eine begehrenswerte Frau. Ich bin schön. Ich bin eine begehrenswerte Frau. Ich bin …»

Telefon!

Na bitte, es klappt doch.

17:22

Das war Johanna, die wissen wollte, ob er schon angerufen hat. Johanna sagt, dass der grundlegende Unterschied zwischen Männern und Frauen nicht, wie gemeinhin angenommen, darin besteht, dass Männer den Innenraum ihrer Autos sauber und sämtliche ‹Stirb langsam›-Filme für kulturell wertvoll halten.

Der wichtigste Unterschied zwischen Männern und Frauen ist, sagt Jo, dass Männer nicht auf die Anrufe von Frauen warten. Statt zu warten, tun Männer was anderes. Schauen ‹ran›, entwickeln ein Mittel gegen Aids, verabreden sich mit einer Blondine, lesen die Aktienkurse in der ‹FAZ›, machen Muskelaufbautraining. Oder so ’n Zeug. Und das Wichtigste daran ist: Sie tun es nicht, um sich vom Warten abzulenken. Sondern sie tun es, weil sie es tun wollen. Sie vergessen dabei, dass sie eigentlich warten. Deswegen sind Männer nie beim ersten Klingeln am Telefon und klingen immer so, als hätte man sie bei etwas gestört.

Ich musste kurz nachdenken, um zu begreifen, was das bedeutete.

«Das heißt ja», sagte ich schließlich, und es war, als hätte mir jemand nach jahrzehntelanger Blindheit die Augen geöffnet, «das heißt ja, dass all die Stunden, die wir damit verbracht haben, Männer nicht zurückzurufen, umsonst waren. Die Tage, an denen wir uns nur durch übermäßigen Konsum von Choco-Crossies und Meg-Ryan-Videos davon abhalten konnten, ihn gleich am nächsten Tag wiederzusehen. Für die Katz! Was haben wir gelitten, um sie leiden zu lassen. Wir dachten, sie würden warten – und in Wahrheit waren sie vielleicht nicht einmal zu Hause, um zu bemerken, dass wir nicht anrufen!?»

«Du hast es erfasst, Cora. Du kannst einen Mann nicht warten lassen. Und wenn du mich fragst, es ist höchste Zeit, dass du deine Zeit mit etwas Sinnvollerem verbringst, als zu hoffen, dass Herr Hofmann sich bequemt, deine Nummer zu wählen.»

Sie hat ja so recht. Werde jetzt sofort aufhören zu warten und stattdessen etwas Sinnvolles tun.

Ich könnte

a) meine Steuererklärung machen,

b) meine Steuererklärung vom vorletzten Jahr oder

c) den herrlichen Sommerabend nutzen, um den Weihnachtsbaum vom Balkon zu holen und im nahe gelegenen Park zu entsorgen.

Ich werde bei einem Glas Weißwein in Ruhe darüber nachdenken.

Ich traf Dr. med. Daniel Hofmann unter erniedrigenden Umständen vor drei Wochen und drei Tagen vor der Schwingtür einer Damentoilette.

Ich war mit Johanna auf einem dieser Feste, von denen am nächsten Nachmittag in sämtlichen Klatschsendungen bei sämtlichen Privatsendern berichtet wird. Jo ist mittlerweile bedeutend genug, um zu so was eingeladen zu werden und sogar noch jemanden mitbringen zu dürfen.

«Frau Johanna Dagelsi mit Begl.» steht dann auf den Listen, die am Eingang von schmalen Mädchen in dunkelblauen Kostümen abgehakt werden.

«Begl.» bin ich. Einmal hat Johanna mich sogar jemandem vorgestellt als «Das ist Frau Cora Begl.». Sie fand das lustig, brach den ganzen Abend lang immer wieder in hysterisches Gekicher aus. Na ja. Und der Jemand war, wie ich am nächsten Tag in ‹Exclusiv – das Starmagazin› erfahren habe, der Gastgeber.

Da steh ich drüber. Ich halte nichts von Leuten, die ihre Person mit ihrer Funktion gleichsetzen. Ich gehöre nicht zu denen, die ihr Selbstbewusstsein an ihrem Posten festmachen. Das mag unter anderem allerdings daran liegen, dass ich nicht gerade einen bedeutenden Posten bekleide. Ich meine, ich rede hier wie eine, die heroisch behauptet, sie halte Diät – ohne hinzuzufügen, dass im Kühlschrank sowieso nichts Essbares ist.

Wenn ich gefragt werde, sage ich immer, ich sei Fotografin. Das stimmt ja auch. Ich bin sogar fest angestellt – und das sind nun wirklich die wenigsten Fotografen. Leider kann ich bei meinem derzeitigen Arbeitgeber mein kreatives Talent nicht völlig ausleben. Ich fotografiere Schrankwände und Couchgarnituren für die Kataloge eines führenden, überregional tätigen Möbelhauses dieses Landes. Was soll’s, einer muss es ja machen. Aber warum gerade ich? Egal, ich muss nicht Heidi Klum vor der Linse haben, um mich für daseinsberechtigt zu halten. Bei mir reicht ein TV/Video-Möbel mit integrierter Minibar.

Jedenfalls hatten Jo und ich uns mächtig in Schale geworfen. Den ganzen Nachmittag hatten wir damit zugebracht, teure Fummel aus Jos Schrank zu zerren und darin durch ihren kilometerlangen Flur wie über einen Laufsteg zu stolzieren. Dabei vernichteten wir eine Flasche Sekt und hörten Donna Summer auf Endloswiederholung.

«I’m looking for some hot stuff, Baby, this ev’ning, I need some hot stuff, Baby, tonight.»

Das Schönste am Ausgehen ist die Vorbereitung. Es ist diese teeniehafte, alberne Vorfreude.

Ohrringe ausprobieren.

Lidschatten, der wie Pailletten über den Augen funkelt.

Einmal dunkelroten Lippenstift auftragen.

Sich in Röcke zwängen, die so kurz sind, dass jeder Mann glaubt, er müsse für eine Nacht mit mir bezahlen.

Zigaretten beim Auftragen des Make-ups im Waschbecken ausdrücken.

Herrlich!

Ich will, dass das immer so bleibt. Auch wenn es in zwanzig Jahren dann nicht mehr ‹Rouge pour les lèvres›, sondern ‹Abdeckstift für die faltige alte Lippe› heißt und wir statt einem Hauch von Seide dann blickdichte Stützstrümpfe tragen werden. Egal. Es macht Spaß.

Als Jo und ich um kurz vor acht ins Taxi stiegen, fühlten wir uns wie vierzehn – und benahmen uns auch so. Jo erzählte dem Fahrer schmutzige Witze, während ich auf der Rückbank eine Kerbe in meinem meterhohen Absatz mit schwarzem Edding übermalte. Ich fand, dass ich einfach umwerfend aussah. Jo hatte mir ihr nachtblaues Etui-Kleid geliehen, das auf geniale Weise meine Problemzonen kaschierte und meine Stärken zur Geltung brachte.

Es ist nämlich leider so, dass ich von vorne fast genauso aussehe wie von hinten. Das heißt, ich habe einen recht knackigen, runden Po – und einen weniger knackigen, aber ebenso runden Bauch. Meine Brüste sind nicht der Rede wert und liegen weit auseinander. Schaue ich die eine an, habe ich die andere schon aus den Augen verloren. Aber – Wonderbra sei Dank! – als ich an diesem Abend in mein Dekolleté hinunterschaute, blickte ich in eine tiefe, verheißungsvolle Spalte. Ach, ich war gut gelaunt und lüstern.

«I need some hot stuff, Baby, tonight!»

Als Jo und ich über den roten Teppich zum Eingang schwebten, spürte ich die anerkennenden Blicke sämtlicher Männer im näheren Umfeld auf mir. Ich lächelte milde, aber unnahbar.

Ich lächelte nicht mehr, als ich bemerkte, dass hinter mir Veronica Ferres ging. Habe nie verstanden, was die Männer an der finden. Sieht aus wie ein deprimierter Pfannkuchen und wird, was ihre schauspielerischen Fähigkeiten angeht, weit überschätzt. Jo befahl mir, mir nicht die Laune verderben zu lassen. Und ich gehorchte.

Es war ein herrliches Fest – abgesehen von der gähnend langweiligen dreistündigen Filmpreisverleihung zu Anfang. Erst war ich noch aufgeregt, fieberte bei jeder Siegerverkündung mit und schluckte schwer an Tränen bei den Dankesworten. Das ließ dann nach. Und irgendwann konnte ich den Scheiß nicht mehr hören.

«Wenn das im Fernsehen übertragen wird, dann kürzen die das Ganze auf ’ne Dreiviertelstunde», flüsterte Jo mir zu, während sich ein Dokumentarfilmer aus Halle bei seinem Team, ‹ohne das diese wunderbare Arbeit gar nicht zustande gekommen blablabla, deshalb gebührt der Preis eigentlich nicht nur mir blablabla›, bedankte.

«Dann schauen wir uns den Mist beim nächsten Mal eben im Fernsehen an», flüsterte ich zurück. Das war undankbar, ich weiß, denn schließlich war ich nur die «Begl.» – aber ich hatte Hunger und musste von dem vielen Sekt auf leeren Magen sauer aufstoßen.

«Darf ich mal auf die Toilette gehen, oder komm ich dann ins Fernsehen?», fragte ich Jo.

«Geh nur. Ist eh gleich vorbei.»

Ich stöckelte durch den schmalen Gang in Richtung Ausgang, nicht ohne die strafenden Blicke von Til Schweiger, Senta Berger und Mario Adorf auf mich zu ziehen. Wobei mich Letzterer, wie ich fand, eher wehmütig ansah. Vielleicht wollte der arme Mann auch aufs Klo, musste sich aber vorher noch einen Preis abholen. Draußen in der prächtig dekorierten Vorhalle (Lichterketten! Ich liebe Lichterketten!) hellte sich meine Stimmung schlagartig auf.

Hier waren ungefähr dreiundzwanzigtausend Kellner damit beschäftigt, das Büfett aufzubauen. Und was für ein Büfett! Hummer! Langusten! Lachs-Carpaccio! Vitello tonnato! Rinderbraten so groß wie mein Oberschenkel! Obstsalate! Mousse au Chocolat!

Mir lief das Wasser im Mund zusammen, während ich mich an der überladenen Tafel vorbei in Richtung Damenklo vorarbeitete. Ich stieß die Schwingtür auf und fand mich in einem unglaublichen Pinkel-Palast wieder. Überall Spiegel, überall Marmor. Neben den Porzellanwaschbecken hing nicht etwa so ein gefährlicher Heißluftgebläseautomat, unter dem man sich die Haut verbrennt, trotzdem nicht trocknet, und der Nächste, dem man die Hand schüttelt, denkt, man hätte ihn mit Exkrementen besudelt. Hier lagen, ordentlich gestapelt, frische, kleine, weiße Frottee-Handtücher bereit.

Und neben den weißen Handtuchstapeln saß eine hutzelige Klofrau auf einem Höckerchen und schaute mich erwartungsvoll an.

So was hab ich ja nicht gerne. Ich kriege Probleme beim Wasserlassen, wenn ich den Eindruck habe, dass mir dabei jemand zuhört. Es wird mir ewig ein Rätsel bleiben, wie Männer es schaffen, nebeneinanderzustehen und zu pinkeln. Wie tun sie das? Reden sie dabei? Worüber? Was ist, wenn sich der Chef neben einem erleichtert? Urinstau? Gehaltsverhandlungen?

Ich bin einmal meinem Chef-Graphiker in der Sauna begegnet. War das peinlich! Er saß auch noch neben mir. Roch streng.

«Ich finde, Menschen, die eine gewisse Position bekleiden, sollten nicht in öffentliche Saunabäder gehen», hab ich gesagt. Das war unklug, ich weiß. Aber die Wahrheit ist halt das Erste, was einem einfällt, wenn man nichts zu sagen weiß.

Jedenfalls schaute mich das kleine Klofräuchen freundlich an, und mir streikte schlagartig die Blase. Also tat ich so, als wolle ich mir nur die Hände waschen.

«Ich wollte mir nur mal eben die Hände waschen», sagte ich fröhlich. «Ist ja so heiß dadrin.»

Das Fräuchen nickte wohlwollend. Und da ich heilfroh war, in diesem Promi-Irrenhaus einem normalen Menschen zu begegnen, und ich sowieso einen ausgeprägten Hang zur Arbeiterklasse habe (ich habe mal mit einem Elektriker geschlafen), plauderten wir noch eine Weile.

Ich erfuhr Wissenswertes über die Toilettengewohnheiten von Männern und Frauen. Die Damen sind, erstaunlicherweise, weniger reinlich, dafür aber kleinlicher als Männer. Und wenn sie sich erbrechen, scheinen sie die Klofrau persönlich dafür verantwortlich zu machen und behandeln sie anschließend entsprechend schlecht. Für Männer ist das Herrenklo eher ein Ort der Entspannung. Hier können sie ganz sie selbst sein. Sie geben reichlich Trinkgeld und setzen erst kurz vor der Schwingtür wieder ihr Ich-bin-wichtig-Gesicht auf.

Dabei fiel mir siedend heiß ein, ich hatte meine Handtasche am Tisch liegenlassen und folglich auch kein Kleingeld dabei. Auweia. Wie sollte ich jetzt hier rauskommen? Sie musste ja Schlimmes von mir denken. «Erst macht sie einen auf vertraulich – dann verpisst sie sich.»

In meiner Verzweiflung plauderte ich weiter.

«Haben Sie denn schon von dem köstlichen Büfett da draußen probiert?», fragte ich. «Ich nehme an, die Angestellten des Hauses essen während der Preisverleihung?»

«Ach nein», sagte sie. «Ich habe mir ein paar Stullen mitgebracht. An das Büfett dürfen wir nicht dran.»

Was? Wie? Wieso? Da saß dieses Mütterchen auf ihrem Höckerchen in ihrem Marmor-Pissoir, wischte den Prominenten hinterher und bekam dafür nicht mal eine armselige Hummerschere?

Mein soziales Bewusstsein rebellierte. Was hätte Marx dazu gesagt? Keine Ahnung, habe nie Marx gelesen, aber genug gehört, um zu wissen, dass er sich jedes seiner grauen Barthaare einzeln ausgerupft hätte.

«Wissen Sie was!», rief ich kämpferisch. «Ich hole Ihnen jetzt von da draußen was zu essen. Was wollen Sie? Hummer? Vitello tonnato? Carpaccio?»

Sie schaute mich etwas verwirrt an. «Ach, vielleicht von allem etwas?»

Ich rauschte hinaus. Ich, Kämpferin für die Unterdrückten, Retterin der Armen. Die Jeanne d’Arc der Klofrauen! Nieder mit dem Kapital! Wir sind das Volk!

Die Preisverleihung war soeben zu Ende gegangen, und die ersten Kapitalisten drängelten sich in Richtung Büfett. Aber ich war schneller. Ich griff mir einen großen Teller und hortete darauf in Windeseile das Beste vom Besten. Ich bin zwar Einzelkind, aber mein Vater hatte einen ausgeprägten Appetit, also habe ich früh gelernt, was es heißt, ums Überleben zu kämpfen und innerhalb von Sekunden das größte Stück Braten zu erkennen und zu ergattern. Ganz oben auf den Teller platzierte ich – mahnendes Symbol für die Dekadenz der herrschenden Klasse – einen Hummer.

Teuer – aber tot.

Geschickt balancierte ich den übervollen Teller durch die immer dichter werdende Masse von dunklen Anzügen und prächtigen Roben. Ich hatte die Schwingtür am Ende des Saales im Auge. Ich sah nicht, wie Uschi Glas mit Iris Berben tuschelte, ich sah nicht, wie Mario Adorf erleichtert auf dem Herrenklo verschwand. Ich sah nur die Schwingtür, das Schild ‹Damen› und dahinter, vor meinem inneren Auge, das Klofräuchen mit ihren Stullen in der Tasche.

Zwei Meter vor dem Eingang zum Klo änderte sich mein Leben.

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie sich ein dunkler Anzug aus einer Menschentraube löste. Der dazugehörige Mann machte zwei, drei Schritte rückwärts, um sich dann mit Schwung umzudrehen.

Dann sah ich einen fliegenden Hummer, flankiert von einer Portion Kaviar-Kartoffeln und etlichen Roastbeef-Scheiben. Das Todesgeschwader schoss auf die Schwingtür mit der Aufschrift ‹Damen› zu – die sich in diesem Moment öffnete.

Wie in Zeitlupe landete der Hummer, teuer, aber tot, in einem Dekolleté, gleich unter dem Aquamarincollier. Die Beilagen fanden ihren Platz auf dem dunkelroten Helmut-Lang-Kleid sowie auf den Prada-Sandaletten der Dame, die vor zwei Stunden einen Preis für die beste weibliche Hauptrolle gewonnen hatte.

Ich selbst lag auf einem Mann. Ich sah in seine schreck- und schmerzgeweiteten Augen, da sich mein Knie beim Fallen offensichtlich in seinen Schritt gebohrt hatte. Das war meine erste Begegnung mit den Geschlechtsteilen von Dr. med.  Daniel Hofmann.

 

Die weibliche Hauptrolle hatte sich nach einer Schrecksekunde in die Toilette geflüchtet. Dort schloss sie sich in einer Kabine ein und war, was ich einen Tag später dann den Tageszeitungen entnahm, den ganzen Abend über nicht wieder aufgetaucht. Gegen Mitternacht hatte sie, angeblich in ein weißes Tischtuch gehüllt, den Veranstaltungsort durch einen Hinterausgang verlassen.

Während ich mich noch hochrappelte, um den sich unter mir windenden Herrn zu befreien, war das Klofräuchen schon dabei gewesen, das Büfett vom Boden aufzuwischen.

Wir tauschten einen Blick.

Verständnisvoll. Dankbar. Verzweifelt.

Der Mann war inzwischen auch auf die Füße gekommen, hielt sich die Genitalien mit beiden Händen und starrte mich an, als sei ich die Inkarnation des Bösen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Mittlerweile umkreisten uns etliche Kellner, Fotografen und neugierige Gäste. Eine rothaarige Frau, die aussah wie eine früh und üppig entwickelte Vierzehnjährige, bahnte sich ihren Weg durch die Menge, warf erst mir einen vernichtenden Blick zu und stürzte sich dann auf den demolierten Mann.

«Dani-Schatz», rief sie mit schriller Stimme. «Was ist passiert?» Wieder ein böser Blick in meine Richtung.

«Ist schon in Ordnung», stammelte Dani-Schatz. «Geht schon wieder.» Er sah recht elend aus, wie er da in verkrümmter Pose stand. Eine Hand immer noch zwischen die Beine geklemmt, die andere haltsuchend auf dem leicht gebräunten Arm der Rothaarigen.

«Lass mal sehen, mein armes Schätzchen», jammerte sie und fing an, sich an seinem Reißverschluss zu schaffen zu machen.

«Nimm deine Hände weg, verdammt nochmal», fauchte Dani-Schatz.

«Da sehen Sie, was Sie angerichtet haben, Sie dämliche Kuh!», keifte die Dame in meine Richtung.

Ich finde, dass in Momenten äußerster Anspannung sich doch immer wieder der wahre Charakter eines Menschen zeigt. Dessen eingedenk versuchte ich, meinen wahren Charakter für mich zu behalten, schluckte die Beleidigung hinunter und beschloss, diese Frau mit Missachtung zu strafen. Schließlich ging es hier weder um mich noch um sie, sondern um den armen Mann, der nicht nur mit Unterleibsblessuren, sondern auch noch mit einer vulgären Freundin gestraft war.

Ich machte einen hilflosen Schritt auf die beiden zu. «Es tut mir so leid», nuschelte ich. «Brauchen Sie vielleicht einen Arzt?»

«Einen Arzt? Einen Arzt?» Die Frau funkelte mich mit ihren grünen Augen derart überzeugend an, dass ich keinen Moment länger daran zweifelte, dass sie gefärbte Kontaktlinsen trug. Wahrscheinlich war auch das rote Prachthaar nicht echt. Mogelpackung, dachte ich und streckte angriffslustig meine Brüste raus. War ich froh, dass ich heute welche zum Rausstrecken hatte. Das verschafft einer Frau in solchen Momenten wesentlich mehr Autorität.

«Er ist selbst Arzt. Und was Sie brauchen, ist ein Anwalt. Und zwar einen guten!»

«Komm, Carmen, jetzt mach doch nicht so ein Theater. Es geht schon wieder. War ja auch keine Absicht», murmelte Dani-Schatz beschwichtigend.

Carmen? Carmen? Dass ich nicht lache. Das war doch niemals ihr echter Name! Wahrscheinlich wechselte die Pissnelke mit jeder Poly-Color-Langzeittönung ihren Vornamen.

Schwarzes Haar: «Ich heiße Verona.»

Blondes Haar: «Mann nennt mich Cloodia.»

Ich hätte gerne etwas Schlagfertiges, Niveauvolles erwidert. So was wie: «Mir scheint, Sie treten gerade über die Ufer, Sie Rinnsal.» Habe ich mal in einem Theaterstück gehört. Aber es fiel mir in dem Moment natürlich nicht ein. Das ist ja meistens so. Wenn mein Chef blöde Sachen zu mir sagt, stammele ich auch meist nur «Äh, tja, ähem». Und es macht keinen intellektuellen Eindruck, ihn einen Tag später anzurufen und nachträglich mit einer schlagfertigen Antwort zu konfrontieren.

Ich sagte also: «Äh, tja, ähem.»

Aber das Weib war nicht zu bremsen. «Was heißt hier keine Absicht?» Jetzt keifte Frollein Carmen ihren Liebsten an.

«Sie hätte dich umbringen können! Oder noch schlimmer!»

In diesem Moment tauchte glücklicherweise Jo auf. Sie erfasste die Situation in Sekunden, grapschte sich meinen Arm und flüsterte: «Komm, wir machen uns besser vom Acker.»

Und das taten wir. Wir eilten zur Garderobe, lösten unsere Mäntel aus, und beim Hinausgehen erhaschte ich noch einen Blick auf Dani-Schatz und seine falsche Carmen.

Sie hing besitzergreifend bei ihm eingehakt, während er tröstend auf sie einredete. Über ihre milchweiße Schulter hinweg trafen sich unsere Blicke. Ich konnte seinen Ausdruck nicht recht deuten. Ich würde sagen, es war eine Mischung aus Belustigung, Verachtung und noch irgendwas anderem. Jedenfalls fiel mir da zum ersten Mal auf, dass er ganz wunderschöne Augen hatte.

17:47