Moralspektakel - Philipp Hübl - E-Book
SONDERANGEBOT

Moralspektakel E-Book

Philipp Hübl

0,0
11,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

"Eine erfrischend kalte Dusche für die moralisch überhitzten Diskurse der vergangenen Jahre: eine wohltuende, zur allgemeinen Abrüstung einladende Ernüchterung" (Aus der Jury-Begründung für den Tractatus-Preis 2024)

Wir wollen gute Menschen sein, aber das allen anderen auch zeigen. Denn unser moralischer Charakter verschafft uns Anerkennung und Attraktivität. Doch durch den Einfluss der digitalen Medien wird Moral immer mehr zum Statussymbol und die öffentliche Diskussion zu einem Moralspektakel. Mit negativen Folgen, denn die inszenierte Moral führt zu Populismus, Symbolpolitik, verzerrter Forschung und wirkungslosen Maßnahmen gegen Diskriminierung. Statt uns in Schaukämpfen zu profilieren, zeigt uns Philipp Hübl, wie wir einer universellen Ethik folgen können, um reale Missstände zu beseitigen – einer Ethik, in der weder autoritäres Denken noch Opfergruppen im Mittelpunkt stehen, sondern der selbstbestimmte Mensch.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 468

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Wir wollen gute Menschen sein, aber das allen anderen auch zeigen. Denn unser moralischer Charakter verschafft uns Anerkennung und Attraktivität. Doch durch den Einfluss der digitalen Medien wird Moral immer mehr zum Statussymbol und die öffentliche Diskussion zu einem Moralspektakel. Mit negativen Folgen, denn die inszenierte Moral führt zu Populismus, Symbolpolitik, verzerrter Forschung und wirkungslosen Maßnahmen gegen Diskriminierung. Statt uns in Schaukämpfen zu profilieren, zeigt uns Philipp Hübl, wie wir einer universellen Ethik folgen können, um reale Missstände zu beseitigen – einer Ethik, in der weder autoritäres Denken noch Opfergruppen im Mittelpunkt stehen, sondern der selbstbestimmte Mensch.

Autor

Philipp Hübl ist Philosoph und hat Theoretische Philosophie an der RWTH Aachen, der Humboldt-Universität Berlin und als Juniorprofessor an der Universität Stuttgart gelehrt. Danach war er Gastprofessor für Philosophie und Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Er ist Autor des Bestsellers Folge dem weißen Kaninchen (2012), der Bücher Der Untergrund des Denkens (2015), Bullshit-Resistenz (2018) und Die aufgeregte Gesellschaft (2019) sowie von Beiträgen unter anderem in der Zeit, FAZ, taz, NZZ, Welt, FR, im Standard, Deutschlandradio und Philosophie Magazin. Hübl hat Philosophie und Sprachwissenschaft in Berlin, Berkeley, New York und Oxford studiert.

Philipp Hübl

Moralspektakel

Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht

Pantheon

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2025 by Pantheon Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © 2024 by Siedler Verlag, München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München, nach einem Entwurf von total italic, Thierry Wijnberg, Amsterdam / Berlin

E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

Printed in Germany

ISBN 978-3-641-23228-3V004

www.pantheon-verlag.de

Inhalt

Inhalt 5

Einleitung Schöne neue Moral 10

Von den großen Problemen zur moralischen Sensibilität 10

Von der analogen zur digitalen Öffentlichkeit 12

Vom Konsum zur Moral 16

Von den Gedanken zu den Worten 18

Das krumme Holz der Moral 20

Arbeit und Struktur 24

Aufmerksam der Wissenschaft folgen 26

Die Kosten des Moralspektakels 28

Was tun? 30

Einladung zur radikalen Selbstkritik 31

Teil I Das Statusspiel 34

1Unbemerkter FortschrittDas Moralparadox 35

Der lange Lauf der Geschichte 35

(1) Selektive Medien 37

(2) Negative Verzerrung 38

(3) Steigende Ansprüche 40

(4) Erweiterte Begriffe 42

(5) Erhöhte Frequenz 46

(6) Eindeutige Signale 48

Unbemerkter Fortschritt 51

2 Tugenden als Attraktion Über den Ursprung der Moral 58

Die Moralillusion 58

Alltagsmoral versus Ethik 60

Instinkt versus Vernunft 63

Selbstüberhöhung versus Fremdverurteilung 65

Überleben der Moralischsten 68

Die Erotik der Tugenden 69

Der Schutz der Gruppe 73

Charakter versus Tat 75

3 Ehre, Würde und der Sinn des Lebens Moralkulturen 78

Sonderbare Menschen 78

Ehrenkultur, Würdekultur, Opferkultur 82

Autorität, Autonomie, Fürsorge 88

Vom Kollektiv zum Individuum 92

Vom Individuum zurück zum Kollektiv 97

Moralische Identität 100

Moralischer Sinn 103

4Im Rampenlicht Alle Menschen spielen Moraltheater 108

Dominanz und Prestige 108

Das Zirpen des Siegers 109

Status durch Bewunderung 111

Sozialer Vergleich 113

Moralisches Prestige 115

Moralische Selbstdarstellung 118

Kostspielige und billige Signale 120

5Ein kostbares Gut Moralisches Kapital 126

Moralische Werte 126

Moralische Investitionen 128

Moralfälscher 130

Kosten und Nutzen der Vielfalt 132

Moral als kostbares Gut 137

6Der Zwang zur Vereindeutigung Digitale Moral 142

Online-Reputation 142

Anerkennung in Zahlen 152

Die Funktionen von Empörung 153

Moralische Effekthascherei 157

Moralische Reinheit 160

Teil II Die Kosten des Moralspektakels 166

7Narzissten, Feuerstürme, Cancel Culture Die dunklen Seiten der Selbstdarstellung 167

Digitale Sortiermaschinen 167

Polarisierung und Populismus 170

Trittbrettfahrer 173

Moralischer Narzissmus 175

Opfer-Hochstapler 178

Moralische Dominanz 180

Cancel Culture als Einschüchterungskultur 182

Online-Pranger 186

Im Auge des digitalen Feuersturms 188

Die Folgen der Einschüchterungskultur 191

8Magische Worte Die Sprache der neuen Moral 194

Sprachmagie 194

Die exklusive Sprache der Inklusion 199

Gendern als Progressivitätsmarker 202

Sprachliche Besonderheiten 206

9Feuer frei! Moral als Waffe im Statuskampf 212

Die feinen moralischen Unterschiede 212

Feuer frei! 216

Der Statuskampf als Elitenkampf 221

Moralische Selbstverteidigung 227

10Von der Theorie zum Hashtag Gesellschaft des Spektakels 234

Schlagworte 234

Vom Gerechtigkeitskampf zum Statuskampf 244

Opferhierarchie 249

Verzerrungen in der Wissenschaft 255

Affektive Polarisierung 261

Verteidigung der Moral Die Zukunft des Zusammenlebens 264

(1) Gemeinsamkeiten statt Unterschiede 266

(2) Universalismus statt Relativismus 268

(3) Fakten statt Ideologie 270

(4) Taten statt Symbole 273

(5) Gerechtigkeit statt Identität 277

(6) Diskussionskultur statt Einschüchterungskultur 279

(7) Vernunftmoral statt Moralinstinkt 282

(8) Demokratie statt Spektakel 286

Dank 291

Anmerkungen 293

Literatur 306

Regis ter 335

Teil IDas Statusspiel

1Unbemerkter FortschrittDas Moralparadox

Der lange Lauf der Geschichte

Die Menschheit existiert seit mindestens 100 000 Jahren, vermutlich sogar deutlich länger.[1] Stellt man sich die letzten 100 000 Jahre als Hundertmeterlauf mit der Gegenwart als Ziellinie vor, dann steht jeder einzelne Meter für 1000 Jahre Geschichte. Läuft man diese Strecke dann vor dem inneren Auge ab, wird einem klar, dass auf den ersten 90 Metern kaum etwas passiert. Der technische Fortschritt ist über lange Strecken minimal, moralischer Fortschritt so gut wie gar nicht vorhanden. Sesshaft werden die Menschen auf den letzten zehn Metern, die Schrift erfinden sie auf den letzten sechs und die ältesten bekannten Gesetzestexte werden auf den letzten vier Metern formuliert.

Erst auf den letzten zehn Zentimetern ändert sich alles. Zum ersten Mal dürfen Frauen wählen – vor 1900 hatte nur ein einziges Land, Australien, das Frauenwahlrecht eingeführt. Die Menschenrechte werden in der heute bekannten Form erst auf den letzten acht Zentimetern formuliert und von den Vereinten Nationen verabschiedet, nämlich im Jahr 1948. Und in Deutschland wird erst auf den letzten 15 Millimetern die Antidiskriminierungsstelle des Bundes eingerichtet und die gleichgeschlechtliche Ehe erst auf den letzten fünf Millimetern anerkannt – also nach 99,995 Prozent der gesamten Strecke.

Vor allem nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat die Welt eine unvorstellbare moralische Revolution erlebt, eine Erfolgsgeschichte des Guten, von der Umsetzung der Menschenrechte bis hin zur Verbreitung von Demokratie und Freiheit. Gleichzeitig sind Krieg, Gewalt, Krankheiten, Armut und Hunger dramatisch zurückgegangen, was innerhalb eines Jahrhunderts zu einer Verdopplung der Lebenserwartung weltweit von etwa 35 Jahren auf über 70 Jahre geführt hat.[2] Noch um das Jahr 1900 war die weltweite Kindersterblichkeit so hoch, dass fast jedes zweite Kind das fünfte Lebensjahr nicht erreichte. Heute sterben immer noch vier Prozent aller Kinder, aber das ist weniger als ein Zehntel des ursprünglichen Anteils.[3] Noch 1970 waren etwa 30 Prozent der Menschen in den ärmsten Ländern der Welt unterernährt, heute sind es etwa zehn Prozent.[4]

Dennoch glaubt die Mehrheit der Menschen, die Weltlage habe sich verschlechtert.[5] In sogenannten Entwicklungsländern, wie die Weltbank sie nennt, etwa in China, Senegal, Kenia, Nigeria und Indien, sind die Einschätzungen noch am besten.[6] Dort geben immerhin zwischen 30 und 50 Prozent korrekt an, dass Kindersterblichkeit und extreme Armut weltweit deutlich zurückgegangen sind. Außerdem erwartet in diesen Ländern der größte Anteil der Menschen im globalen Vergleich, dass sich die Weltlage auch in Zukunft verbessert.[7]

In den hochentwickelten Industrieländern liegen die Menschen in ihren Einschätzungen am weitesten von den Fakten entfernt. In Ländern wie Deutschland, Spanien, Frankreich, Italien oder Japan schätzen fast 90 Prozent der Menschen die Weltlage schlechter ein, als sie tatsächlich ist – also gerade in denjenigen Ländern, deren Wohlstand beispiellos in der Menschheitsgeschichte ist.

Und obwohl die Menschenrechte besser geschützt werden als jemals zuvor,[8] sind sich Leute in allen Erdteilen darin einig, dass die Welt moralisch verfällt, wie eine Studie mit 12 Millionen Befragungen in 60 Ländern über die letzten 70 Jahre zeigt.[9] Ganz gleich, in welcher Weltregion man nachfragt, überall geht ein Großteil der Bevölkerung davon aus, dass Menschen heute weniger ehrlich, freundlich und hilfsbereit sind als noch vor wenigen Jahrzehnten. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, wie alle großen Untersuchungen zu diesem Thema belegen.[10]

Befragt man Personen allerdings zu ihrem Nahbereich, sieht die Sache ganz anders aus: Sie schätzen ihr Umfeld heute genauso positiv ein wie vor 20 Jahren. Man könnte ihre Haltung also so ausdrücken: »Die Welt geht unter, doch bei mir ist alles in Ordnung.« Diese Fehleinschätzung kann man übrigens in allen politischen Lagern messen, wobei Konservative am stärksten von einem allgemeinen Werteverfall ausgehen.

Dass wir die beispiellose Erfolgsgeschichte der letzten 70 Jahre als Niedergang erzählen, ist das große Moralparadox unserer Zeit. Dafür gibt es mindestens sechs Gründe.

(1) Selektive Medien

Der erste Grund ist ein Wahrnehmungsfehler. In den Medien und der Öffentlichkeit geht es vor allem um drastische Ereignisse und eklatante Missstände, die es immer noch gibt. Dagegen thematisieren die Nachrichten selten den sozialen Fortschritt, der sich stetig und langsam vollzieht.[11] Wir hören zu Recht von der Hungersnot in Ostafrika, lesen aber nicht die Schlagzeile »Heute sind wieder 100 000 Menschen der extremen Armut entkommen«, auch wenn man diesen Satz in den letzten 20 Jahren täglich hätte titeln können.[12] Wer nur von den Nachrichten der Tagesschau ausgeht, ohne die Daten zur Weltlage zu kennen, muss den Eindruck gewinnen, dass alles schlimmer wird. Doch das ist ein Irrtum, der durch selektive Wahrnehmung zustande kommt. Und diese Urteilsverzerrung ist weit verbreitet.[13]

Stellt man Probanden Fragen wie »Wie viele Menschen in der Welt haben Zugang zu Elektrizität?« oder »Wie viele einjährige Kinder weltweit sind gegen eine Krankheit geimpft?« mit den Optionen »20«, »50« und »80« Prozent, so kreuzen die wenigsten »80 Prozent« an. Das aber ist in beiden Fällen die korrekte Antwort. Der Statistiker Hans Rosling hat mehr als 12 000 Teilnehmern aus 14 Ländern insgesamt zwölf solcher Fragen gestellt. Nur eine einzige Person hat alle richtig beantwortet. Im Mittel lagen die Probanden in nur zwei von zwölf Fällen richtig, deutlich unterhalb der Zufallswahrscheinlichkeit von vier richtigen Antworten, die man durch bloßes Würfeln erreichen würde. Bei Intellektuellen ist die Urteilsverzerrung übrigens am stärksten ausgeprägt: Nobelpreisträger liegen in ihren Einschätzungen der Weltlage noch weiter daneben als Durchschnittsbürger.

Unsere Urteilsverzerrung durch selektive Wahrnehmung hat noch eine zweite Quelle. Oft haben wir unser Wissen einfach nicht aktualisiert. Vor wenigen Jahrzehnten hatten tatsächlich deutlich weniger Menschen einen Stromanschluss im Haus als heutzutage, und Kinder waren deutlich seltener geimpft. Unsere Annahmen über die Weltlage sind also in gewisser Weise korrekt, nur gelten sie eben für eine längst vergangene Zeit. Da sich die Welt schnell ändert, kommen wir mit den Updates unseres Wissens nicht immer hinterher.

(2) Negative Verzerrung

Fragt man in Experimenten sinngemäß: »Bei einer Operation liegt das Sterberisiko bei 33 Prozent. Soll operiert werden?«, so stimmen etwa 20 Prozent der Menschen zu. Fragt man hingegen: »Bei einer Operation liegt die Überlebenswahrscheinlichkeit bei 66 Prozent. Soll operiert werden?«, sind es etwa 70 Prozent. Inhaltlich sagen beide Fragen dasselbe aus. Allein das negative Wort »Sterberisiko« gibt also den Ausschlag.[14]

Wir sind für Negatives besonders sensibilisiert.[15] Diese Einschätzung hat in der Forschung sogar einen Namen, nämlich Negativverzerrung(negativity bias).[16] Sie ist der zweite Grund, warum wir glauben, dass alles schlechter wird. Evolutionsbiologen erklären das folgendermaßen: Wie für andere Tiere war es auch für unsere Vorfahren vorteilhaft, auf Gefahren hypersensibel zu reagieren. Angenommen, es raschelt im Unterholz: Wer sofort wegrennt, weil er irrtümlich denkt, dass ein Tiger angreift, hält sich lediglich fit; doch wer einmal zu wenig wegrennt, wenn sich tatsächlich ein Tiger anschleicht, wird gefressen und kann seine Gene nicht weitergeben.

Den ersten Fehler nennt man falsch-positiv (der Warnmechanismus sagt »Tiger: ja«, obwohl keiner da ist), den zweiten falsch-negativ (der Warnmechanismus sagt »Tiger: nein«, obwohl einer da ist). Wir kennen das noch aus der Corona-Pandemie. Der Antigen-Test aus der Apotheke hat immer mal wieder falsch-negative Ergebnisse produziert: Man hielt sich für kerngesund, obwohl man tatsächlich ansteckend war. Der PCR-Test aus dem Labor dagegen hat, wenn überhaupt, allenfalls falsch-positive Ergebnisse produziert.

Bei Gefahren oder Schäden ist es grundsätzlich besser, überempfindlich zu reagieren, denn die beiden Fehler wirken sich unterschiedlich aus. Die Theorie dazu, entwickelt von den Evolutionsbiologen Martie G. Haselton und David Buss, heißt Fehler-Management-Theorie.[17] Man kann sie auf viele Bereiche anwenden, beispielsweise auf Feuermelder. Manche Feuermelder sind so sensibel eingestellt, dass sie schon anspringen, wenn man lediglich Haarspray verwendet. Das ist zwar nervtötend, aber immerhin nicht tödlich wie der andere Fehler, wenn nämlich nachts das Schlafzimmer in Flammen steht und kein Alarm angeht.

Viele unserer Emotionen funktionieren wie Feuermelder. Sie haben sich in der Evolution entwickelt, weil sie das Leben unserer Vorfahren schützten, indem sie verlässlich auf Gefahren ansprangen.[18] Und sie sind bis heute hypersensibel eingestellt. Angst beispielsweise schützt uns vor Gefahren. Beim Anblick von Schlangen und Spinnen zu erschrecken, ist sogar angeboren.[19] Dieser Mechanismus ist so fein justiert, dass wir auch vor ungefährlichen Winkelspinnen und Ringelnattern zurückschrecken, manchmal sogar vor Gummispinnen und Plastikschlangen.

Angst und andere Emotionen sind die Feuermelder des Körpers, die uns signalisieren: »Achtung, Gefahr!« Sie helfen uns, all das zu schützen, was einen Wert für uns hat, zum Beispiel unser Leben, unsere Gesundheit und unsere Kinder. Die Parallele zur Moral liegt auf der Hand. Moralische Regeln sollen uns ebenfalls vor Gefahren und Schaden bewahren. Und so wie die Emotionen sind unsere moralischen Detektoren fein justiert, denn auch hier gilt: Übertreibung ist besser als Nichtbeachtung. Wir halten die Weltlage für schlimmer, als sie ist, weil nicht nur die Nachrichten, sondern wir selbst ganz automatisch den Fokus auf Nöte und Gefahren lenken und uns dabei selten die Mühe machen, unser Bauchgefühl mit den statistischen Daten abzugleichen.

(3) Steigende Ansprüche

In den letzten Jahrzehnten sind unsere Ansprüche noch schneller gestiegen als der moralische Fortschritt. Das ist der dritte Grund für das Moralparadox, den Alexis de Tocqueville schon Mitte des 19. Jahrhunderts beschrieben hat. Der französische Politikwissenschaftler hat 1831 in den Vereinigten Staaten ein Jahr lang die damals junge Demokratie beobachtet, in der es zumindest unter den freien Bürgern (die Sklaverei war noch nicht abgeschafft) keine Ständeunterschiede mehr gab, im Gegensatz zu vielen Ländern Europas. Tocqueville stellte fest, dass Menschen einen universellen Gerechtigkeitssinn haben, der unter den richtigen Bedingungen zu moralischem Fortschritt führt. »Der Hass der Menschen gegen das Privileg wird umso größer, je seltener und unbedeutender die Privilegien werden«, schrieb er und lieferte gleich die Erklärung: »Sind alle gesellschaftlichen Bedingungen ungleich, so verletzt keine noch so große Ungleichheit den Blick des Betrachters; inmitten allseitiger Gleichförmigkeit dagegen wirkt die kleinste Verschiedenheit anstößig; der Anblick wird umso unerträglicher, je weiter die Gleichförmigkeit fortgeschritten ist. Es ist daher ganz natürlich, dass die Gleichheitsliebe zusammen mit der Gleichheit wächst; man nährt sie, indem man sie befriedigt.«[20]

Je besser die Welt, desto ungerechter erscheint sie. Tocqueville nahm an, dass der Wunsch nach Gleichheit den richtigen Nährboden benötigt, um Menschen zur Tat schreiten zu lassen. So vermutete er, einen Umsturz wie die Französische Revolution hätte es im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation im Jahr 1789 nicht geben können. In Frankreich waren die Menschen schon relativ frei und sehnten sich daher nach noch mehr Selbstbestimmung, während in den deutschen Ländern die Macht der Feudalherren so groß war, dass die Leibeigenen gar nicht von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu träumen wagten.

Aus Sicht der heutigen Forschung liegt es nahe, dass der Hauptfaktor für dieses sogenannte Tocqueville-Paradox unsere Aufmerksamkeit ist. In großer Not achten wir aufs nackte Überleben, nicht auf kleinteilige zwischenmenschliche Probleme. In einem Kriegsgebiet zum Beispiel empört man sich nicht über die herablassende Art der Nachbarn. Doch in Zeiten von Frieden und Wohlstand fällt uns dieses Verhalten umso mehr auf. »Auffallen« ist das Stichwort. Unsere Aufmerksamkeit hat natürliche Grenzen. Erst wenn Ressourcen frei werden, weil große Missstände aus der Welt geschafft sind, können wir uns um andere, bisher vernachlässigte Fälle kümmern. Oft sind das Fälle, die aus Sicht der Menschenrechte immer schon moralisch falsch waren. Der amerikanische Schauspieler und Comedian Chris Rock hat das als Moderator bei der Oscarverleihung im Jahr 2016 satirisch so zugespitzt: »Mindestens 71-mal gab es keine schwarzen Kandidaten für den Academy Award. Schwarze haben nicht protestiert. Warum? Wir waren zu beschäftigt, gelyncht und vergewaltigt zu werden, um uns darüber zu sorgen, wer den Oscar für die beste Kamera erhalten hat.«[21]

Da es moralisch immer etwas zu verbessern gibt, erscheint die Weltlage am Anspruch gemessen schlecht, obwohl sie sich im Vergleich zu früheren Zeiten zum Besseren gewandelt hat. Beide Sätze sind also gleichzeitig wahr: Die Welt ist schlecht. Und: Die Welt ist besser als früher.

Höhere Ansprüche können zu mehr sozialem Fortschritt führen, indem bisher vernachlässigte Probleme in den Blick geraten. Allerdings schwingt das Pendel dann oft in die andere Richtung, und das ist der vierte Grund für das Moralparadox.

(4) Erweiterte Begriffe

Wenn Menschen nicht mehr durch Kriege traumatisiert sind, beginnen sie irgendwann, auch ein missglücktes Date als »traumatisch« zu beschreiben. Und sobald man keine Makroaggressionen mehr erlebt wie Prügeleien und Messerstechereien, kann man nach sogenannten Mikroaggressionen suchen.[22] Mikroaggressionen sollen, wie der Name schon sagt, winzige Fehltritte mit vermeintlich schädlichen Folgen sein, zu denen laut Theorie Komplimente für Schuhe gehören, aber auch Äußerungen wie: »Jeder, der sich anstrengt, kann es schaffen.«[23] Dem Erfinder dieses Ansatzes, dem Psychologen Derald Wing Sue zufolge, können diese »Aggressionen« sogar so schwach sein, dass weder Sprecher noch Hörer sie richtig bemerken.[24]

Zwar ist die Rede von Mikroaggressionen inzwischen in die Alltagssprache vorgedrungen, die Forschungsdaten dazu sind allerdings sehr fragwürdig. Ein Zusammenhang zwischen unbedachten Äußerungen und negativen Folgen für die mentale Gesundheit konnte bisher nicht empirisch belegt werden, auch nicht, dass vermeintliche Mikroaggressionen irgendetwas mit Vorurteilen oder feindseligen Motiven zu tun haben.[25]

Wieso kommen Wissenschaftler dennoch auf die Idee, Komplimente als Aggressionen anzusehen, sogar dann, wenn niemand einen Schaden davonträgt? Ein Grund ist, dass in der Wissenschaft und der Gesellschaft neue Entdeckungen mit Anerkennung belohnt werden, insbesondere wenn es um moralisches Fehlverhalten geht. Mit einem Begriff wie »Stalking« beispielsweise kann man ein gefährliches Verhaltensmuster besser erkennen und sogar zu einem Straftatbestand erklären.[26] Ohne den Begriff ist das zwar auch möglich, aber deutlich schwieriger.

Einerseits kalibrieren neue Begriffe also unsere Aufmerksamkeit, sodass uns plötzlich Dinge auffallen, die uns bisher entgangen waren. Andererseits tritt auch der umgekehrte Fall ein: Wenn wir stärker auf etwas achten, zum Beispiel auf Gefahren oder Aggressionen, dehnen wir dadurch unsere Begriffe aus. Und so können sogar Forscher zu dem Fehlschluss gelangen, sie seien einer großen Sache auf der Spur, zum Beispiel bisher unentdeckten »Mikroaggressionen«, ohne zu bemerken, dass sie keinem realen, sondern einem rein sprachlichen Phänomen hinterherjagen.

Eine Reihe von faszinierenden Experimenten macht das deutlich.[27] In einer Variante sehen Versuchspersonen unterschiedliche Gesichter auf einem Bildschirm, die sie auf einer Skala zwischen »sehr bedrohlich« und »gar nicht bedrohlich« einordnen sollen. Bei jedem Durchlauf geben sie dieselben Einschätzungen. Doch sobald die Probanden immer weniger bedrohliche Gesichter zu sehen bekommen, passiert etwas Merkwürdiges. Plötzlich ordnen sie auch bisher harmlose Gesichter als »bedrohlich« ein. Im Englischen heißt dieses Phänomen concept creep, also sinngemäß Begriffserweiterung. Die Probanden erweitern ihren Begriff, also ihre mentale Kategorie von »bedrohlich«, sodass sie jetzt mehr Fälle umfasst.