Mord am Yacht Club - Kirsten Weinhold - E-Book

Mord am Yacht Club E-Book

Kirsten Weinhold

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Ein Toter im Hafenbecken eines Yacht Clubs am Möhnesee verändert schlagartig das Leben der Kommissar-Anwärterin Fenja Grothe. Nicht nur die immer komplexer werdenden Ermittlungen bereiten ihr Kopfzerbrechen. Auch die Arroganz und Unfähigkeit des Ermittlungsleiters, Hauptkommissar Ludger Fromme, verunsichert sie. Als zwei weitere Morde geschehen, beschließt Fenja, auf eigene Faust zu recherchieren. Nach und nach erkennt sie den heimtückischen Plan, der hinter den Morden steht. Sie ahnt nicht, dass der Mörder sie längst ins Visier genommen hat und sie in tödlicher Gefahr schwebt.

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Seitenzahl: 316

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Kirsten Weinhold

Mord am Yacht Club

Ein westfälischer Polizeikrimi

Ruhrkrimi-Verlag

Vita der Autorin

1960 am Westfälischen Meer geboren und groß geworden, gestaltete sich das Leben der Autorin Kirsten Weinhold, wie bei vielen Frauen ihrer Generation: Schule, Ausbildung, Hochzeit, Kinder. Doch dann wich sie von dem ›normalen‹ Weg ab. Mit dreißig begann sie ihr Studium der Wirtschaftswissenschaften und promovierte.

Danach machte sie sich als Coach und Konfliktberaterin selbstständig. Zurzeit lebt sie mit ihrem Mann und Labrador Cosmo in einem pittoresken Dorf in der Soester Börde.

Das Schreiben hatte die Autorin schon von Kindesbeinen an begeistert. Etwas zu Papier bringen, war und ist für sie etwas ganz Normales. Aber egal, was sie schrieb, von der Kurzgeschichte bis hin zu Gutachten für Bachelorarbeiten, sie begann immer zuerst mit dem letzten Satz.

Corona brachte ihr schließlich ausreichend Zeit und Lust, ein Buch zu schreiben. 2021 veröffentlichte sie den ersten Band ihrer Cornwall-Krimitrilogie - RACHESEELE. Im selben Jahr folgte SÜHNESEELE. Der letzte Band HASS SEELE erschien im Juni 2022. Als echtes Möhne-Kind war es nur eine Frage der Zeit, bis sie sich zum Schreiben des Regionalkrimis, MORD AM YACHT CLUB, entschloss.

Widmung:

Dieses Buch ist dem YCM  (Yacht Club Möhnesee) und seinen Mitgliedern gewidmet.

Ich wünsche allzeit gute Fahrt und stets eine Handbreit Wasser unter dem Kiel.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2023 Kirsten Weinhold

© 2023 Ruhrkrimi-Verlag

Taschenbuch: ISBN 978-3-947848-70-6

e-Book: ISBN 978-3-947848-71-3

Originalausgabe /08/2023

Titelfoto: Lichtinstallation von

Britta und Wolfgang Flammersfeld im Jahr 2013 an der Staumauer der Möhnetalsperre.

Foto von Matthias Böhm, Lizens: CC-BY-SA 3.0

Alle Personen, Namen und Ereignisse sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen, Namen und Ereignissen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten!

Die Verwendung von Text und Grafik ist auch auszugsweise ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

https://www.ruhrkrimi.de

Inhaltsverzeichnis

Vorwort5

Erstes Kapitel, Montag6

Zweites Kapitel, Dienstag47

Drittes Kapitel, Mittwoch68

Viertes Kapitel, Donnerstag92

Fünftes Kapitel, Samstag116

Sechstes Kapitel, Sonntag144

Siebtes Kapitel, Montag170

Achtes Kapitel, Dienstag197

Neuntes Kapitel, Dienstag224

Zehntes Kapitel, Donnerstag251

Danksagung273

Vorwort

Nach drei Krimis, die alle in Cornwall beheimatet sind, habe ich mich dieses Mal dazu entschieden, einen regionalen Krimi zu schreiben. Das hat den immensen Vorteil, dass die Suche und die Beschreibung der Schauplätze aufgrund meines örtlichen Wissens sich wesentlich einfacher und detailreicher gestalteten. Aber es hat auch den Nachteil, dass Leser glauben, sich oder ihre Gebäude und Grundstücke in der Geschichte wiederzufinden. Ein Umstand, der in der heutigen Zeit des Datenschutzes und der Privatsphäre, zu unerfreulichen Reaktionen führen könnte. Darum erlauben Sie mir folgende Erklärungen:

Dieser Kriminalroman ist ein reines Produkt meiner Fantasie. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt. Auch bei den Schauplätzen, von denen die meisten in der Wirklichkeit existieren, habe ich häufig geschummelt, um sie an die Handlung der Geschichte anpassen zu können. An den Stellen, an denen die Klarnamen eines Gebäudes genannt wurden, habe ich zuvor bei den Besitzern um Erlaubnis gefragt, sie verwenden zu dürfen.

Dass einige Beamte der Kriminalpolizei Dortmund und ihre Handlungsweisen in diesem Roman nicht positiv beschrieben wurden, ist ebenfalls lediglich meiner Fantasie zuzuschreiben, und ich entschuldige mich ausdrücklich dafür. Ich habe eine sehr hohe Meinung von der Arbeit, die Polizeibeamte und Polizeibeamtinnen jeden Tag leisten.

Ich wünsche Ihnen, liebe Leserin, lieber Leser spannende Stunden bei der Lektüre meines Buches. Tauchen Sie ein in das wunderbare Umland des Westfälischen Meers, dem Möhnesee. Diese herrliche Gegend ist ein wahres Kleinod für alle, die einen entspannten Tag verbringen möchten. Und wer weiß, vielleicht treffen wir uns dort an einem warmen Sommertag. Ich würde mich freuen!

Ihre Kirsten Weinhold

Erstes Kapitel, Montag

Möhne/Yacht ClubSimon stand fröstelnd an der Hafenmauer. Ihm war kalt. Kalt, weil die von der attraktiven Meteorologin aus den Fernsehnachrichten versprochenen zwanzig Grad rasant auf fünfzehn Grad abgestürzt waren. Kalt, weil er in der Hoffnung auf einen sonnigen, warmen Tag lediglich ein T-Shirt und eine kurze Hose angezogen hatte. Kalt, weil eine frische Brise aus Nordwest über den See fegte. Kalt, weil das, was er vorhatte, eine Schnapsidee war.

Missmutig schaute er zu den schwojenden Booten am Steg. Er hatte sich heute Morgen extra freigenommen, um endlich das zu tun, was er immer vor sich hergeschoben hatte – einmal ganz allein mit dem Segelboot über den See zu fahren. Der Tag war von ihm gut gewählt. Es war Montag. Die Gastronomie hatte Ruhetag und niemand war auf dem Clubgelände, um zu beobachten, wie er sich abmühen würde, das Boot aus der Box herauszubekommen. Niemand war da, der sich über seinen ungelenken Versuch, den engen Hafen unter Segeln zu verlassen, lustig machen könnte. Aber es war auch niemand da, der in der Lage war, helfend einzugreifen, wenn er, wie schon so oft, das Ruder falsch legen und in aufkommender Panik das Ufer und nicht das offene Wasser ansteuern würde.

Er blies die Wangen auf, ließ die Luft langsam entweichen und schaute hinauf zum Himmel. Graue Wolken trieben zügig nach Südost. Das war für ihn ein besonderes Problem. Wie sollte er, wenn er es denn überhaupt bis auf den See hinausschaffte, unbeschadet in den Hafen zurückkehren. Der Wind würde ihn immer weiter an das gegenüberliegende Ufer drücken.

»Nein«, entschied er laut. »Ich bin doch nicht lebensmüde!« Er griff nach seiner Tasche, in der eine Flasche Sekt darauf wartete, nach geglückter Einhand-See-Überquerung von ihm geköpft zu werden. Langsam, mit hängendem Kopf, setzte er sich in Richtung Parkplatz in Bewegung. Kurz gönnte er dem See noch einen letzten Blick, bevor er die Wagentür aufschloss, und dann sah er es. Etwas Großes, Rotes, das von den Wellen rhythmisch gegen die Unterseite des Gitterbelages des östlichen Steges gedrückt wurde.

Simon ging zurück zur Hafenmauer, um einen besseren Blick auf das merkwürdige Ding im Wasser zu haben. Es könnte eine Jacke sein, ging es ihm durch den Kopf. Suchend blickte er sich um. Neben dem Clubhaus entdeckte er einen an die Holzwand gelehnten Bootshaken. Ohne weiter zu überlegen, griff er nach ihm und ging die wenigen Stufen hinunter, die zum Oststeg führten. Je näher er dem wippenden Rot kam, umso mehr beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Ja, es war eindeutig eine Seglerjacke. Aber irgendetwas störte. Die Art des trägen Aufs und Abs in den Wellen, als hätte die Jacke schwer an Gewicht zu tragen. Er blieb stehen und kniff die Augen ein wenig zusammen. Was schwamm da Helles gleich vorn an dem roten Ärmel? Simons Gehirn benötigte einen Moment, bis es alle Informationen verknüpft hatte. Panisch ließ er den Bootshaken fallen, der mit lautem Klackern über den Belag hüpfte und schließlich im graugrünen Wasser verschwand. Die fahle Hand, die aus dem Jackenärmel hervorlugte, schien einen Moment lang danach greifen zu wollen. Doch die nächste Welle hob sie an, spreizte ihre Finger, um sie dann achtlos hinter sich zurückzulassen. Simon bewegte sich rückwärts, den Blick starr auf die Hand gerichtet und stolperte über die erste Stufe der Treppe, die an Land führte. Er fiel auf sein Gesäß. Ein unsäglicher Schmerz fuhr ihm hinauf bis zu den Schultern.

»Verdammte Scheiße!« Tränen schossen ihm in die Augen. Er atmete ein paarmal tief ein und aus, um der aufkommenden Übelkeit Herr zu werden. Und während er da so saß, von Schmerz, Panik und Selbstmitleid überwältigt, meldete sich eine höhnende Stimme irgendwo aus den Tiefen seines Gehirns: »Hey, du Weichei! Wie wäre es, die Polizei anzurufen? Los, mach hinne!«

Dortmund/Polizeipräsidium

Ludger Fromme, Hauptkommissar bei der Mordkommission in Dortmund, saß an seinem Schreibtisch. Vor ihm stand ein weißer Porzellanteller, auf dem ein appetitlich belegtes Baguette darauf wartete, verspeist zu werden. Neben dem Teller lagen Besteck und eine Stoffserviette; schließlich war er ein Mann mit Stil. Er griff nach der Serviette, entfaltete sie und legte sie ordentlich auf seinen Schoß. Er bedauerte zutiefst, dass der Genuss von Alkoholika in den Büroräumen untersagt war; hätte doch ein Glas Chablis seine Mahlzeit perfekt gemacht. Wehmütig dachte er zurück an die zwei Jahre, die er in Frankreich verbracht hatte. Dort hätte niemand wegen eines Weißweins zur Mittagszeit die Nase gerümpft.

Die Liebe zu der französischen Lebensart hatte Ludger Fromme bewahrt und kultiviert; nicht nur, was das Essen betraf. Seine elegante Kleidung, sein modisch geschnittenes, nussbraun gefärbtes Haar, sein Siegelring auf dem kleinen Finger und natürlich seine Göttin, ein Citroën DS Cabriolet; jedes Detail spiegelte seine frankophile Leidenschaft wider. Auch hatte er sich bereits für seinen Ruhestand ein reizendes, kleines Haus in der Champagne gekauft. Noch ein Jahr und er könnte Frankreich in vollen Zügen genießen.

Er griff nach dem Besteck.

»Chef!«

Fromme blickte verdrossen zur Tür, in der Stefan Voss erschienen war; sein Assistent, wie er ihn gern bezeichnete. Voss nahm den Rang eines Oberkommissars ein. Hinter vorgehaltener Hand frotzelten die anderen Kollegen allerdings, dass er der Wasserträger vom Chef sei.

»Was?«, raunzte Fromme den Beamten an.

»Tut mir leid, Sie zu stören, Chef. Aber Soest hat angerufen.«

»Und?«

»Es gibt eine Leiche.« Der mittelgroße, drahtige Mann trat einige Schritte in den Raum. »Da KOK Beckmann wegen seiner Hüfte in der Reha ist, ist lediglich KKA Fenja Grothe vor Ort. Und die kann ja schlecht die Ermittlungen leiten.«

Fromme legte das Besteck sorgfältig zurück neben den Teller und verengte seine rehbraunen Augen zu Schlitzen. »Warum sollen ausgerechnet wir das übernehmen?«

»Anweisung von oben, Chef.« Nervös fuhr sich Voss durch sein helles Haar.

Fromme schnalzte mit der Zunge. »Was wissen wir schon?«

»Leider sehr wenig. Die örtlichen Kollegen von der Streife sagen, dass der Leichnam, männlich, unter dem Gitterbelag einer Steganlage am Möhnesee klemmt. Muss von Tauchern geborgen werden. Der Tote weißt eine ziemlich große Kopfwunde auf. Die Spurensicherung ist gerade am Tatort angekommen. Die Grothe wird wohl ebenfalls da sein. Und die Rechtsmedizin ist verständigt.«

»Steganlage? Geht es um einen Segelklub?«

»Ja, Chef. Der liegt direkt an der Sperrmauer.«

Fromme fixierte Stefan, lehnte sich mit einem Seufzer zurück und sah auf die Uhr.

»Sagen Sie denen, dass wir in etwa zwei Stunden da sein werden. Falls es ein Tötungsdelikt ist, besorgen Sie mir ein Zimmer im Hotel Haus Delecke. Ich habe keine Lust, ständig zwischen Dortmund und der Möhne zu tingeln. Sie sollten sich dann ebenfalls ein Zimmer nehmen, Voss. In der Nähe gibt es bestimmt einige nette Pensionen. Und diese Grothe soll sich schon mal nach einem Ermittlungsraum umschauen.«

»Fahren wir mit dem Dienstwagen?«

»Voss, Sie glauben doch wohl nicht, dass ich mit einer dieser Karren vor einem Vier-Sterne-Haus vorfahre. Wir fahren mit meinem Wagen.«

Möhne/Yacht Club

Langsam lenkte ich meinen roten UP durch das weit geöffnete, schmiedeeiserne Tor auf den Parkplatz des Yacht Clubs. Außer dem schwarzen Van der Spurensicherung, einem Streifenwagen und einem grauen Volvo-Kombi, der seine beste Zeit schon lange hinter sich hatte, war der Parkplatz leer. Ich parkte neben dem Van, griff nach meiner Tasche und stieg aus. Interessiert blickte ich mich um. Durch die hohen Bäume der Böschung konnte ich das Wasser der Möhne gut zehn Meter unter mir glitzern sehen. Zu meiner Linken verjüngte sich der Parkplatz zu einem schmalen Teerweg, der in weitem Bogen durch ein Wäldchen hinunter zu den Clubgebäuden führte. Rechts von mir entdeckte ich eine steile Betontreppe. Die Zuwegungen waren vorschriftsmäßig abgesperrt, nur was nutzte es, wenn kein Beamter vor Ort war, der mögliche Schaulustige vom Parkplatz vertreiben konnte. Kopfschüttelnd schlüpfte ich unter dem polizeilichen Flatterband hindurch und stieg langsam die Stufen hinunter.

Unten angekommen verharrte ich einen Moment, um mich mit dem Gelände vertraut zu machen. Links erstreckte sich ein flaches Holzhaus mit einer üppig bestuhlten Terrasse. Rechts ragte ein hohes, scheunenartiges Gebäude auf, das vermutlich die Bootshalle war. Davor stand ein massiger Kran, dessen Ausleger in Richtung des Hafens wies. Ich schlenderte zu der Hafenmauer und blickte überrascht auf den U-förmigen Steg. Rund hundert Segelboote lagen hier in Boxen vertäut. Ich hatte in meiner Jugend in einem Club am Kemnader See das Segeln gelernt, aber dies hier war in nichts damit zu vergleichen.

»Hey, was machen Sie da!« Ein uniformierter Kollege kam gewichtigen Schrittes und angemessen ernst dreinblickend über die Terrasse eilig auf mich zu. Automatisch fingerte ich meinen Dienstausweis aus der Tasche der Lederjacke.

»KKA Fenja Grothe«, erklärte ich lächelnd. »Guten Tag, Hauptmeister …«, ich musste die Augen ein wenig zusammenkneifen, um das Namensschild an der Uniform besser lesen zu können, »… Frieling.«

Dieser tippte kurz an seinen Mützenschirm. »Guten Tag!«

»Ich gehe einmal davon aus, dass ich die Kollegen und den Toten unten auf dem Steg finden werde.«

»Ja. Hier vorn ist der Zugang.« Er wies mit der Hand auf einen Durchlass in der Hafenmauer. Eine breite Metalltreppe führte hinunter zum Steg.

»Danke. Wer hat die Leiche gefunden?«

Frieling nickte mit dem Kopf in Richtung eines Rettungswagens, der am Ende des geteerten Weges stand, den ich vom Parkplatz aus gesehen hatte. Die hinteren Türen waren weit geöffnet. Im Inneren, in dem die kalt-weiße Beleuchtung eine frostige Atmosphäre schaffte, saß ein junger Mann in eine Rettungsdecke gehüllt. Ein Sanitäter sprach beruhigend auf ihn ein, doch selbst aus der Entfernung konnte ich die unnatürliche Blässe und den teilnahmslosen Blick des Mannes erkennen. Eindeutige Zeichen für einen Schockzustand.

»Simon Schlotmann, 27 Jahre, Student, wohnhaft in Körbecke.«

»Danke. Übrigens, sind Sie allein für die Tatortsicherung zuständig?«

»Nein. Möller ist gerade auf der Toilette.«

»Aha, und danach macht er oben auf dem Parkplatz wieder Dienst, nehme ich an?« Ich lächelte immer noch und konnte amüsiert beobachten, wie sich auf der Stirn meines Gegenübers eine steile Falte bildete.

»Ja«, kam die einsilbige Antwort.

»In der Zwischenzeit könnte aber jeder, genau wie ich auch, problemlos hier hinuntergelangen, nicht wahr?« Ich wusste genau, dass ich mit diesem freundlichen Tadel jede Chance auf eine Freundschaft mit Frieling verspielt hatte. Doch ich wusste ebenfalls, dass die sofortige Klarstellung der Hierarchieebenen, gerade für eine Frau, überlebenswichtig war. Unser Ausbilder hatte uns immer wieder eingebläut: »Die Hierarchie zwischen den Kollegen ist nicht in Stein gemeißelt. Wenn man euch erst einmal in die Schublade nett gepackt hat, werdet ihr automatisch am Ende der Futterkette landen. Das Gleiche gilt für die Schublade zickig.«

So hatte ich mir angewöhnt auf das, was mir nicht gefiel, sofort hinzuweisen, allerdings auf eine freundliche Art und stets mit einem Lächeln im Gesicht. Gott, was hatte ich vor dem Spiegel lange an diesem Lächeln gefeilt. Es musste die Augen erreichen, authentisch sein; selbst in Situationen, in denen ich am liebsten laut losschreien würde. Mittlerweile konnte ich auf Knopfdruck dieses liebenswürdige Lächeln einschalten und die Wirkung auf meine Gesprächspartner war meist überraschend positiv.

Frieling blickte mich einen Moment abschätzig an, doch schließlich erlag auch er meiner gezeigten Freundlichkeit. »Dann werde ich mal oben nach dem Rechten schauen«, gab er nach und verschwand die steile Treppe hinauf.

Ich trat an den Durchgang. Eine fünfstufige Metalltreppe führte hinunter auf den östlichen Teil der Steganlage. Zwei Männer in weißen Overalls mit der gut sichtbaren Aufschrift Polizei auf dem Rücken knieten auf dem Gitterbelag. Während der eine von ihnen Fotos machte, schob der andere ein überdimensionales Winkellineal über die Oberfläche des Bootsanlegers. Ein weiterer Mann, groß und hager, ebenfalls in weißer Schutzkleidung, stand mit vor der Brust verschränkten Armen einige Meter entfernt und beobachtete kritisch das Tun der beiden. Im Gegensatz zu ihm vollführte eine kleine, rundliche Person mit ihren Armen ausholende Gesten und redete auf die am Boden arbeitenden Männer pausenlos ein. Sie trug als einzige einen dunkelblauen Overall. Vera Johannpeter, die Leiterin der Spurensicherung, hatte mir vor Kurzem augenzwinkernd gestanden, dass sie die dunkle Kleidung bevorzugen würde; sie mache schlanker.

Ein Taucher stand im brusthohen Wasser neben dem Steg und schien auf Anweisungen zu warten. Immer wieder ging sein Blick zu den vier anderen Personen. Anscheinend hatte man die Leiche noch nicht geborgen, also entschloss ich mich, zunächst mit dem Zeugen zu sprechen.

»Guten Tag, ich bin KKA Fenja Grothe.« Der Mann schaute nicht auf. »Ich würde Ihnen gern ein paar Fragen stellen, falls Sie sich in der Lage fühlen, sie zu beantworten.«

Zögernd hob der Angesprochene den Kopf, so als würde diese kleine Bewegung ihn unendlich viel Mühe kosten.

»Würden Sie mir bitte Ihren Namen sagen?«

Langsam fokussierte sich sein Blick auf mich. Es folgte ein kaum wahrnehmbares Nicken.

»Simon«, brachte er krächzend hervor. Er räusperte sich. »Simon Schlotmann.«

»Danke, Herr Schlotmann«, erwiderte ich sanft. »Können Sie mir bitte erzählen, was Sie heute Morgen erlebt haben?«

Stockend begann Simon zu berichten, wobei er immer wieder eine Pause einlegte, die Augen schloss und so intensiv schluckte, dass sein Adamsapfel auf und ab hüpfte.

»Nach dem Anruf bei der Polizei habe ich Henrich alarmiert. Er hat im Anbau des Clubhauses eine kleine Wohnung.«

Wie aufs Stichwort trat ein rothaariger Hüne mit einem Tablett voll dampfender Kaffeebecher aus dem Holzhaus und kam auf den Rettungswagen zu. Wortlos hielt er Simon das Tablett hin. Dieser nahm sich eine Tasse herunter und umfasste sie mit beiden Händen.

»Guten Morgen«, grüßte ich und betrachtete den riesigen Mann interessiert.

»Guten Morgen, junge Frau.« Grünblaue Augen sahen mich freundlich und aufmerksam an. »Auch en Käffken?«

»Gern, danke. Ich bin KKA Grothe, von der Kripo Soest. Hätten Sie gleich ein paar Minuten Zeit für mich?«

»Henrich Kemper, angenehm. Ich sach nur Ihren Kollegen Bescheid, dass der Kaffee fertich ist, und dann können wir gern nen Pröleken halten.«

Henrich Kemper erzählte, dass er seit vielen Jahren im Club der Kastellan wäre. Er führte die clubeigene Gastronomie und gleichzeitig erledigte er Hausmeistertätigkeiten. Für mich bedeutete dies, dass er eine sprudelnde Quelle von Informationen über das Gelände, die Gebäude und natürlich die Clubmitglieder sein könnte.

»Haben Sie in den letzten Stunden irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt?«

»Nee. Meine Wohnung geht nach hinten raus. Lediglich von meinem Schlafzimmerfenster aus kann ich nen schmalen Streifen Wasser sehen. Ich wurd erst aufmerksam, als Simon wie wild anne Tür klopfte.«

»Was haben Sie dann gemacht?«

»Bin natürlich sofort raus. Simon war so durchen Wind, dass ich erst gar nicht verstanden hab, was er mir erzählt. Na ja, und dann hab ich von hier oben einen Blick aufen Steg geworfen und sah das Drama.«

»Sie sind aber nicht hinuntergegangen.«

»Gott bewahre! Hätt eh nichts tun könn. Ich hab mich dann so lang um Simon gekümmert, bisse Polizei und der Rettungswagen eintrafen. Und ich hab unsren Club-Präsidenten informiert, Torben Albrecht. Will so schnell wie möglich kommen.«

Ich nickte. »Gut. Haben Sie eine Vermutung, um wen es sich bei dem Toten handeln könnte?«

Kemper schüttelte den Kopf. »Sie glauben gar nich, wie viele Clubmitglieder diese roten Joppen tragen. Und mehr konnt ich von oben nich erkennen.«

»Könnten Sie sich vorstellen, einen Blick auf den Toten zu werfen, nachdem er geborgen ist? Vielleicht kennen Sie ihn. Das würde uns die Sache sehr erleichtern. Herrn Schlotmann möchte ich das ehrlich gesagt nicht zumuten.«

»Kein Problem. Hab schon ne Reihe Leichen gesehen. War Berufssoldat und habe ein halbes Jahr in Afghanistan verbracht.«

»Danke!« Ich überlegte einen Moment. »Ist Ihnen vielleicht in den letzten Tagen oder Wochen irgendetwas komisch vorgekommen?«

Kemper wollte schon verneinen, als ihm etwas einfiel. »Watten se ma. Das muss drei oder vier Wochen her sein. Es war jedenfalls ne Nacht von Sonntach auf Montach. Ich konnt nich schlafen und als ich aus em Fenster sah, glaubte ich das Licht ner Taschenlampe auf em Wasser zu sehen, das sich vom Steg entfernte. Ich bin dann innen Gastraum, abba das Licht war wech. Ich hatte unserem stellvertretenden Geschäftsführer davon erzählt.«

»Ein Angler?«

»Eigentlich nich. Eine Stunde nach Sonnenuntergang müssen alle Boote vom Wasser sein. Wir hatten an ne Möhne einige Fälle, wo se nachts Motoren von Segelbooten gestohlen haben. Die sind jedes Ma von ner Wasserseite gekommen.«

»Könnte jemand, der nicht zum Club gehört, auf das Gelände gelangen?«

»Da mussa schon übern Zaun klettern. Da gibt es abba nen Pättken, das vom Ufer hinterm Zaun durch es Gestrüpp hochführt. Und da is lediglich nen marodes Holztor.«

»Gibt es auf dem Gelände Überwachungskameras?«

»Nur oben auf em Parkplatz. Is auf das Haupttor ausgerichtet. Ich geb Ihnen nachher ma die Aufnahmen von gestern Nacht.«

Kreis Soest, Möhne/Yacht Club

Ich blieb auf der letzten Stufe der Metalltreppe, die zum Steg hinunterführte, stehen. Der Leichnam war in der Zwischenzeit geborgen worden. Gut fünfzehn Meter von mir entfernt lag der Tote auf einer dickwandigen, dunklen Plane; die Beine in einem merkwürdigen Winkel vom Oberkörper abstehend. Direkt vor mir waren auf dem Steg verschiedene Tatortmarkierungen aufgestellt.

»Fenja, Liebes, du kannst ruhig zu uns kommen. Spurentechnisch sind wir hier durch.« Vera, temperamentvoll und liebenswürdig, hatte mich bemerkt und schenkte mir ein strahlendes Lächeln. Ihr umfassendes Wissen und ihre fachliche Kompetenz hatten sie zu einer der angesehensten Forensikerin in ganz Deutschland werden lassen. Leider würde sie nächstes Jahr in Pension gehen. Selbst der Polizeipräsident soll schon gejammert haben, dass eine Frau wie Vera nicht zu ersetzen wäre.

Vorsichtig schlängelte ich mich an den verschiedenfarbigen Kegeln vorbei.

»Tom und Sascha kennst du ja schon.«

Ich nickte den beiden jungen Männern in der Schutzkleidung zu.

»Und das hier ist unser lieber Doktor Baldur Oderpohl.« Sie wies auf den hageren Mann, der neben dem Toten hockte und dessen rechte Hand sorgfältig inspizierte.

»Ein Genie!«, fügte sie augenzwinkernd hinzu.

Doch der Rechtsmediziner zeigte keinerlei Reaktion.

»Baldur!«

Ein genervter Blick aus grauen Augen traf Vera. »Was!«, entfuhr es ihm ungehalten.

»Ich möchte dir gern KKA Fenja Grothe vorstellen. Sie ist seit vier Monaten bei der Truppe in Soest.«

Irgendetwas an ihrem Ton ließ mich erwarten, dass sie »Sei artig und gibt ihr die Hand« hinzufügen würde.

Der Doktor warf mir einen kurzen Blick zu, senkte ihn jedoch gleich wieder zurück auf die Leiche.

»Guten Tag, Dr. Oderpohl. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«

»Tag!«, war alles, was ich zu hören bekam.

Vera verdrehte die Augen und deutete eine Geste an, als würde sie dem guten Doktor einen Schlag in den Nacken geben.

»Das habe ich gesehen«, brummte es ärgerlich von unten.

»Dann ist ja gut«, erwiderte Vera munter, bevor sie sich mir zuwandte. »Wir haben Blutspuren gefunden.« Sie wies mit der Hand auf die Markierungen. »Ich stelle mir das so vor: Das Opfer stand dort, wo der rote Kegel steht, und hat Richtung Süden geschaut. Der Täter stand hinter ihm. Der Mann hat dann einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen und ist danach ins Wasser gestürzt. Normalerweise hätte er versinken müssen, aber die Luft, die in seiner geschlossenen Jacke wahrscheinlich eine Blase gebildete hatte, gab ihm noch eine Weile Auftrieb. Er driftete unter den Steg und blieb mit der Kapuze seiner Jacke an einem Haken hängen.«

Ich blickte auf den Toten hinunter. Als einen gestandenen Mann hätte meine Großmutter ihn beschrieben. Das von grauen Strähnen durchzogene blonde Haar klebte nass an seiner Stirn. Die Gesichtszüge waren ebenmäßig und klar, obwohl der Aufenthalt im Wasser bereits seinen Tribut gefordert hatte. Ich erkannte gerade noch das Netz von Fältchen, das seine Augen umrahmte. Ein gutaussehender Mensch, der gern gelacht hatte.

»Also Fremdeinwirkung.«

»Absolut!«

»Und Tatort gleich Fundort.«

»Es weist alles darauf hin.«

»Übrigens ist das Gelände durch einen hohen Zaun geschützt. Falls der Täter keinen Schlüssel für das Gelände hatte, gibt es nur zwei Möglichkeiten, um hierher zu gelangen. Entweder über ein altersschwaches Holztor drüben zwischen den Büschen oder er ist mit einem Boot gekommen.«

Vera seufzte leise. »Gut, dann werden wir nachher die Uferbefestigung, den gesamten Steg und das Gestrüpp unter die Lupe nehmen. Der Taucher sucht gerade den Grund nach einer möglichen Tatwaffe ab.«

Ich schaute über das dunkle Wasser und entdeckte zwei Meter entfernt Blasen, die an die Oberfläche stiegen und zerplatzten.

»Wie tief ist das denn hier?«, entfuhr es mir überrascht.

»Na, hier wo wir stehen, bestimmt acht Meter. Dort draußen sogar über dreißig.«

»Dann ist es tatsächlich ein Wunder, dass die Leiche so schnell gefunden wurde.«

Vera nickte. »Hätte durchaus sein können, dass der Mann überhaupt nicht mehr aufgetaucht wäre. Hier in der Möhne soll es einige verschollene Leichen geben. Muss dem Täter die Schweißtropfen auf die Stirn gezaubert haben, als der merkte, dass das Opfer nicht untergehen würde.«

»Wie lange ist er schon tot?«

»Da musst du unser Genie fragen. Stimmts, Baldur? Nun erzähl schon, was du herausgefunden hast.«

Oderpohl blickte erneut zu Vera auf. »Kann ich hier nicht in Ruhe arbeiten?!«

»Das kannst du nachher in deinem Schnippel-Kabinett gern tun. Jetzt benötigt aber die Kollegin Informationen von dir.«

Mit einem übellaunigen Schnauben erhob sich der Angesprochene. »Männliche Leiche, 50 bis 60 Jahre, Impressionsfraktur, Kontusion durch Schlag auf den Hinterkopf mit einem stumpfen Gegenstand. Voll ausgeprägte Rigor Mortis. Also nicht weniger als sechs Stunden und nicht mehr als sechsunddreißig Stunden tot.«

Vera gab ein genervtes Stöhnen von sich.

»Wie lange hat er im Wasser gelegen?« Ich schenkte dem Rechtsmediziner mein eingeübtes Lächeln. Innerlich allerdings wurmte mich die gezeigte Arroganz.

Aufmerksam musterte er mich. Er war es sicherlich nicht gewohnt, für sein rüdes Verhalten ein Lächeln zu bekommen. »Zwischen zwölf und fünfzehn Stunden«, erwiderte er schließlich.

»Die Todesursache können Sie wahrscheinlich erst bei der Obduktion feststellen.« Ich formulierte den Satz gewollt als Feststellung, da ich wusste, dass Menschen wie er gern zum Widerspruch neigten. Die Reaktion kam prompt.

»Ich denke, dass der Mann noch am Leben war, als er ins Wasser fiel. Aber nageln Sie mich nicht darauf fest.«

»Danke schön, Dr. Oderpohl.« Ich wandte mich erneut an Vera. »Hatte er irgendetwas bei sich, dass auf seine Identität schließen lässt?«

»Sascha, gib mal die Sachen rüber.« Der Angesprochene reichte ihr fünf Beweissicherungsbeutel.

»Da hätten wir drei Kassenbons, leider kaum lesbar. Weiter ein Stofftaschentuch, das die Initialen EK trägt. Dann das Handy des Toten. Mal sehen, ob wir noch etwas retten können.«

»Wäre wichtig zu wissen, ob er sich vielleicht mit jemandem hier gestern Nacht verabredet hatte. Ich ruf gleich die Kollegen in Soest an. Die sollen dann auch eine Funkzellenabfrage beantragen.«

Vera zeigte mir den vierten Beutel. »Das sind wahrscheinlich seine Haustür- und Briefkastenschlüssel. Und dann haben wir noch ein weiteres Schlüsselbund mit einem Schlüssel für eine Schließanlage, ein Schlüssel für ein Vorhängeschloss und einen Schlüssel, von dem wir nicht wissen, wozu er gut sein soll.« Sie reichte mir den letzten Beutel.

»Eine Affenfaust!«, entfuhr es mir.

»Hä?«, ließ Sascha vernehmen.

»Der Anhänger ist eine Affenfaust. Das ist ein Knoten, der dazu dient, das Ende einer Wurfleine zu beschweren. Wird von Seglern und Bergsteigern benutzt«, erklärte ich sachlich. »Ich tippe, dass der dritte Schlüssel für ein Boot ist.«

»Also jemand aus dem Club?«, bemerkte Vera.

»Genau. Und darum werde ich jetzt den Kastellan holen. Er soll uns das Boot des Opfers zeigen. Außerdem hatte er sich bereit erklärt, einen Blick auf die Leiche zu werfen.«

Zehn Minuten später erfuhren die Forensiker, der Arzt und ich, dass es sich bei dem Toten um Eiko Knaack handelte. Er war langjähriges Mitglied und stellvertretender Geschäftsführer. Sein Haus, in dem er allein lebte, lag keine 500 Meter vom Clubgelände entfernt, und es war nicht ungewöhnlich, dass er noch spät abends auftauchte, um auf dem Gelände nach dem Rechten zu sehen.

»Was war Eiko für ein Mensch?«

Kemper überlegt einen Moment. »Freundlich, offen, witzig und man konnt sich absolut auf ihn verlassen.«

»Kennen Sie jemanden, mit dem er ein Problem hatte?«

Ein Kopfschütteln war die Antwort. »Mit Eiko konnte man gar kein Problem haben. Gut, natürlich gabs auch mal Meinungsverschiedenheiten mit einigen von hier, abba nichts Großartiges. Jedenfalls nichts, was mit seinem Tod zu tun haben könnte.«

»Schwächen, Laster?«

»Hm, Frauen. Ab und an bracht er mane Frau mit innen Club, abba sehr selten und dann wars auch nich von langer Dauer. Eigentlich verwunderlich, da er so gut mit anderen Menschen konnte. Ich glaub, Eiko war durch und durch nen eingefleischter Junggeselle. Und er war die Ehrlichkeit in Person. Er war so unbedarft ehrlich, dass ihm gar nich auffiel, wenna die Grenze der Toleranz oder des Taktes überschritt. Der eine oder andere wird sich sicherlich von dieser übergriffigen Art angefasst gefühlt haben.«

»Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?«

»Gestern Nachmittach. Er hat hier gegessen und nachem Boot gekuckt. So gegen zwei warer wieder wech.«

»Wissen Sie etwas über Angehörige?«

»Er hat nen älteren Bruder, der in Hamburg lebt, Jakob. Den kenn ich abba nich persönlich. Und sein Vatta lebt hier im Dorf innem Altenheim. Abba ich glaub, der weiß gar nich mehr, dass er Söhne hat. Alles wech da oben.« Kemper tippte sich an die Stirn.

»Danke, Herr Kemper.« Ich zog eine Visitenkarte aus meiner Tasche und reichte sie ihm. »Haben Sie hier eine Möglichkeit, wo wir ungestört sind und eventuell Zeugenbefragungen durchführen könnten?«

»Natürlich. Und für Sie gern Henrich.« Er zwinkerte mir zu. »Unser Für-Alle-Fälle-Büro. Nich besonders groß, abba es reicht. Und das Passwort fürn Internetzugang schreib ich Ihn gern auf.«

Obwohl das Clubrestaurant Ruhetag hatte, versorgte uns der Kastellan mit hervorragendem Kaffee und reichlich Getränken. Als sich Vera zu mir auf die Terrasse setzte, kam Henrich an unseren Tisch.

»Hab zwar geschlossen, abba möchten se vielleicht ne Kleinigkeit essen. Ich kann se Schnittchkes oder Teilkes anbieten. Iss auch noch was vonne Gemüseeintopp da.«

Dankbar bestellten wir alles und machten uns hungrig über die Leckereien her.

»Boah, der Kirschplunder schmeckt wie bei meiner Großmutter.« Vera strich sich einige Krümel vom Mund. »Weißt du schon, wen Sie aus Dortmund schicken werden?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich kenne eh niemanden vom Morddezernat. Man hat mir nur gesagt, dass ich zum Tatort fahren und eine erste Zeugenbefragung machen solle. Jemand würde dann in zwei Stunden kommen.« Ich sah auf die Uhr. »Die mittlerweile vorbei sind.«

»Hm.« Vera biss erneut in ihr Gebäck. »Ach du heiliger Strohsack!«, nuschelte sie durch den Inhalt ihres Mundes, ihre Augen auf einen Punkt hinter mir fixierte. »Dreh dich jetzt bloß nicht um. Da kommt Dortmunds Lackaffe mit seinem Lakaien. Na, da wünsche ich dir viel Spaß.«

»Ah, meine liebe Frau Johannpeter!«, schallte ein wohltönender, tragender Bariton über die Terrasse. Den gut angezogenen Mann, der an mir vorbei direkt auf Vera zusteuerte, begleitete ein üppig aufgetragener Duft nach Mandel, Holz und Honig. Er ergriff Veras Hand und hauchte einen Luftkuss darauf. »Meine liebste Kollegin, was freue ich mich, dass ich Sie antreffe. Da kann ich aus kompetenter Quelle ja alles Wichtige gleich hier und jetzt erfahren.«

»Hauptkommissar Fromme, dass Sie hier hinaus in die Provinz eilen. Respekt!« Die Ironie, die Vera in ihre Worte gelegt hatte, schien Fromme nicht zu erreichen. Selbstgefällig nickte er.

»Na, man tut halt, was man kann.«

Neben dem sowohl physisch als auch psychisch gewichtigen Mann tauchte ein schlanker, von zwei Narben auf der rechten Wange gezeichneter Kollege in etwa meinem Alter auf. Wie ein übertrainiertes Hündchen warf er seinem Chef nervöse Blicke zu. Die beiden Männer waren so mit sich selbst und Vera beschäftigt, dass sie mich gar nicht wahrzunehmen schienen.

»Lieber Hauptkommissar, es tut mir schrecklich leid, ich bin bereits auf dem Sprung. Aber unsere Kollegin, KKA Fenja Grothe, hat schon viel Interessantes zusammengetragen und wird Ihnen sicherlich gern davon berichten.« Vera stand auf, kniff mir ein Auge zu und drängte sich an Fromme vorbei in Richtung der Büsche, zwischen denen sich der Pfad mit dem Holztor schlängelte.

Zwei Augenpaare blickten mich an, das eine neugierig, das andere abschätzig. Ich erhob mich und schenkte den beiden Kollegen mein strahlendes Lächeln.

»Fenja Grothe. Guten Tag, Herr Hauptkommissar.«

Ich sah zu dem schmächtigen Mann, der sich eilig als Stefan Voss vorstellte.

»Sind Sie nicht zu alt?« Frommes Mund verzog sich zu einem auf dem Kopf stehenden U.

»Wie meinen Sie das?«

»Na, KKAs sind doch meist junge Mäuschen. Ihre besten Jahre haben Sie doch schon hinter sich.«

Ja klar, junge Mäuschen, die du alter Fatzke nach Belieben hin und her scheuchen kannst, dachte ich verärgert.

Ich war neunundvierzig. Zwanzig Jahre bei der Schutzpolizei in Bochum hatten natürlich ihre Spuren hinterlassen; graue Strähnen im blonden Haar und Fältchen im Gesicht. Und ich wäre immer noch bei der Bochumer Truppe, in der ich mich wirklich wohl gefühlt hatte, wenn der Revierleiter nicht permanent interveniert hätte.

»So ungern ich dich auch verlieren möchte, Fenja, aber mit deinen Fähigkeiten bist du bei den Kollegen von der Kripo viel besser aufgehoben.«

Also hatte ich den Sprung gewagt, hatte noch einmal die Schulbank gedrückt und einen erstklassigen Abschluss gemacht.

Ohne auf Frommes herablassende Bemerkung einzugehen, erklärte ich ungerührt: »Der Kastellan hat uns ein Besprechungszimmer hergerichtet. Falls Sie die Ermittlung hier vor Ort durchführen möchten, werden uns die Soester Kollegen eine technische Ausstattung installieren.« Ich bemerkte, dass ein Leichenwagen den geteerten Weg herunterkam. »Der Bestatter ist gerade eingetroffen. Möchten Sie sich den Leichnam vorher noch ansehen?«

»Was für ein Kastellan?«

Jetzt verstand ich, warum mir Vera viel Spaß mit Fromme gewünscht hatte. Interessierte sich dieser Mann überhaupt für den Fall?

»Henrich Kemper, verantwortlich für Facility und Pächter der clubeigenen Gastronomie«, erklärte ich freundlich. Die Bestatter hatten bereits die Heckklappe des silbergrauen Kombis geöffnet und zogen eine Bahre heraus, auf der ich einen zusammengefalteten Leichensack erkennen konnte.

»Kastellan, so, so. Ist wohl ein besonderer Club?« Interessiert blickte er sich um.

»Ja! Rund hundert Bootseigner.« Ich wies mit der Hand Richtung Steganlage.

Fromme trat an die Hafenmauer und nickte anerkennend, während er seinen Blick über die dümpelnden Segelyachten gleiten ließ. Am östlichen Steg, dort, wo Eiko Knaack immer noch auf der Folie lag, verharrten seine Augen einen Moment.

»Sie können den Kollegen sagen, dass sie in Soest einen Ermittlungsraum für uns herrichten sollen«, entschied er. »Und die Leiche können die Bestatter in die Rechtsmedizin bringen. Ich habe genug gesehen. Regeln Sie das, Grothe, und danach setzten Sie mich ins Bild. Wo ist der Besprechungsraum?«

»Durch den hinteren Eingang des Clubhauses und dann die erste Tür links.«

Ich betrat den provisorischen Ermittlungsraum und musste für einen Moment die Luft anhalten. Der Geruch von Frommes Herrenparfüm hatte sich in dem kleinen Zimmer so dominant ausgebreitet, dass mich der sicherlich sehr teure Duft regelrecht abstieß.

Henrich hatte den beiden Männern bereits Kaffee und einen Teller mit appetitlich belegten Schnittchen und Gebäck hingestellt.

»Gibt es denn hier kein Besteck?«, murrte Fromme.

»Ich hole es Ihnen sofort, Chef«, reagierte Voss, sprang auf und verließ eilig den Raum.

Gott, was sind das denn für zwei Kasper!, dachte ich bestürzt, verzog jedoch keine Miene.

»Na, dann erklären Sie mir mal dieses Sammelsurium!«, forderte mich der Hauptkommissar mit einer herablassenden Geste in Richtung Pinnwand auf.

»Wollen wir nicht auf Voss warten?«

»Der wird schon nichts verpassen!«

Mit einem kaum wahrnehmbaren Schulterzucken stellte ich mich an das vorläufige Ermittlungsboard, das ich bereits mit ersten Fotos und einigen Notizen bestückt hatte.

»Das Opfer ist Eiko Knaack, 55, alleinstehend. Er ist der stellvertretende Geschäftsführer des Clubs und wohnt unten im Dorf, Sonnenallee 15.« Voss betrat den Raum und legte das Besteck ordentlich neben Frommes Teller, bevor er sich setzte. Ich fuhr mit meinem Bericht fort, erzählte von dem Gespräch mit dem Kastellan und erläuterte die ersten Erkenntnisse, die Dr. Oderpohl und die Forensik gewonnen hatten.

»Ich habe in Soest Bescheid gegeben, dass sie eine Funkzellenabfrage beantragen und auch für den Telefonanbieter eine richterliche Verfügung anfragen sollen. Und die Spurensicherung wird nachher das Boot und das Haus des Toten untersuchen«, beendete ich meine Ausführungen.

Fromme hatte mich die ganze Zeit mit versteinerter Miene aus zusammengekniffenen Augen beobachtet, ohne etwas zu sagen oder zu fragen. Nun richtete er sich in seinem Stuhl auf.

»Übernehmen Sie hier jetzt die Ermittlungen, oder was?«, raunzte er mich an. »Sie als kleine KKA, sind für das Sammeln von Informationen verantwortlich und nicht für die Entscheidungen, wie eine Ermittlung laufen soll.« Sein Gesicht nahm eine unnatürliche Röte an, und Voss rückte ein wenige von seinem Chef ab, gerade so, als wolle er sich in Sicherheit bringen.

»Das sind doch reine Routineaufgaben«, versuchte ich mein Handeln zu rechtfertigen.

Unvermittelt brüllte Fromme los. »Ich entscheide, was Routine ist und was nicht. Bei allem, was Sie in Zukunft tun, werden Sie mich vorher um Erlaubnis fragen, sonst sind Sie raus. Haben Sie mich verstanden? Und ich werde jetzt erst einmal etwas Vernünftiges essen gehen.« Er sprang von seinem Stuhl hoch und ging zur Tür.

Voss beeilte sich, ihm zu folgen. »Sie bleiben hier, Voss. Und passen Sie mir ja auf diese Neunmalkluge auf.« Unglücklich ließ sich der Oberkommissar zurück auf seinen Stuhl fallen und starrte auf den Teller mit den Schnittchen.

»Ist der immer so?«, warf ich bewusst locker in den Raum, obwohl mir das Herz bis in den Hals pochte. »Wie halten Sie das bloß mit ihm aus?«

»Ich rede nicht mit Ihnen über den Chef«, kam es pampig zurück.

»Na gut«, reagierte ich mit einem Schulterzucken und ließ mich neben Voss nieder. »Da ich ja gerade keine Erlaubnis habe, irgendetwas zu tun, kann ich auch Kaffee trinken.« Ich griff nach der Thermoskanne, machte einen langen Hals, um zu erkennen, ob Voss noch Kaffee in seinem Becher hatte. »Möchten Sie auch noch Kaffee?«, fragte ich ihn freundlich.

Er zog seine Tasse weg und beäugte mich unsicher.

»Keine Angst, in dem Kaffee ist bestimmt kein Gift.« Ich lächelte ihn an.

Zögernd hielt er mir den Becher hin. Ich hatte ihn am Haken. Und jetzt werden wir uns beide darüber unterhalten, was mit Fromme und dir los ist, dachte ich nicht ganz ohne Hinterlist.

Eine große Portion Verständnis und eine noch größere Portion Mitgefühl später, sang Voss wie ein Vögelchen. Ich ging davon aus, dass diesem im Grunde recht sympathischen und klugen Mann noch nie Empathie zuteilgeworden war.

Fromme schien seine Position lediglich dem Umstand zu verdanken, dass jeder Vorgesetzte, sobald es möglich war, ihn fortgelobt hatte. Fromme war das klassische Beispiel für das Peter-Prinzip. Und er, Voss, litt darunter, dass Frommes schlechtes Ansehen bei den Kollegen mittlerweile auf ihn abgefärbt hatte.

Als ich ihm das Du anbot, schaute er mich entsetzt an und schüttelte vehement den Kopf. Fromme könnte das falsch verstehen als eine Art Illoyalität.

»Gut, dann bleiben wir beim Sie, aber Sie nennen mich Fenja und ich Sie Stefan?«

Damit konnte Voss schließlich leben.