Sühneseele - Kirsten Weinhold - E-Book

Sühneseele E-Book

Kirsten Weinhold

0,0

Beschreibung

Denn alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen (Mt 26,52) Auf dem Golfplatz von Truro wird die Leiche von Luke Harrogate, einem bekannten Amateurgolfer und windigen Finanzmakler gefunden. Ein schrecklicher Unfalle? Aber wer ist die schwarz gekleidete, vermummte Frau, die in der Nähe des Unfallortes beobachtet wurde? Als kurze Zeit später ein Reiter von seinem Pferd getötet wird und erneut die mysteriöse Frau auftaucht, ist für Detective Chief Inspector Charles Pantel und seinem Team klar, dass sie es mit einer raffinierten Mörderin zu tun haben. Eine Psychopatin, die wahllos Hobbysportler angreift, oder sind die Tötungen ein Akt der persönlichen Rache? Trotz zahlreicher Spuren und vielfältiger Indizien laufen die umfassenden Nachforschungen immer wieder ins Leere. Erst ein Zufall führt das Ermittlerteam auf die richtige Spur - leider zu spät.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 384

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Autorin

Kirsten Weinhold, 1960, promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin und Kommunikationsberaterin, lebt mit ihrem Mann und Labrador Cosmo in einem beschaulichen Dorf in der Soester Börde. Als sie das erste Mal, mit vierzehn, britischen Boden betritt, erobert England ihr Herz im Sturm. Ihre besondere Liebe gilt dem Süden Englands mit seinen pittoresken Städtchen, imposanten Klippen, mystischen Orten und liebenswerten Menschen.

SÜHNESEELE ist ihr zweiter Charles-Pantel-Krimi.

Weitere Informationen: Facebook Kirsten Weinhold Instagram labbicosmo

Inhalt

Prolog

Erste Sühne

Golfplatz Truro

Zweite Sühne

Reitstall Killivose

Dritte Sühne

Royal Blue Cliff Yacht Club Falmouth

Epilog

Danksagung

Für Mama

Die höchste und tiefste Liebe ist die Mutterliebe.

Ludwig Feuerbach, 1804-1872, Philosoph

Dienstränge der britischen Polizei (aufsteigend):

Constable PC / DC

Sergeant PS / DS (Kurzform: Sarge)

Inspector PI / DI

Police Chief Inspector PCI / DCI (Kurzform: Chief)

Superintendent PSI / DSI (Kurzform: Super)

Je nachdem, ob es sich um Schutzpolizei oder Kriminalpolizei handelt, wird nach Police (P) oder Detectiv (D) unterschieden. Eine verallgemeinernde Bezeichnung für Beamte der Schutzpolizei ist Officer.

Mord: Die Tötung eines Menschen durch einen anderen. Es gibt vier Arten von Mord: Verbrecherischen, entschuldbaren, gerechtfertigten und rühmlichen, doch dem Ermordeten ist es egal, welcher Art er zum Opfer fiel – die Klassifizierung ist nur zum Nutzen der Juristen da. Ambrose Gwinnett Bierce, 1842-1914, Journalist und Satiriker

Prolog

13. August 201121:45 Falmouth/ Royal Blue Cliff Yacht Club

»So, das ist die letzte Runde für heute.« Alicia Creek stellte zwei Pints Stout, ein Lager und eine Weißweinschorle auf dem geölten Teakholztisch ab.

»Licia, willst du uns arme, alte Männer tatsächlich verdursten lassen?« Jimmy griff nach dem Lager und schaute Alicia mit seinem berühmten Dackelblick an, wobei seine eisblauen Augen mehr auf das Dekolleté als auf das Gesicht der hübschen Bedienung gerichtet waren.

»Genau Schätzchen!« Spicy, blond gelockt, braun gebrannt und mit einer schweren Goldkette um den Hals, streichelte der jungen Frau sanft über den Unterarm. »Hab’ Mitleid mit uns betagten Jungs.«

Alicia wischte seine Hand mit einer kurzen Bewegung weg, und ihre blaugrünen Augen funkelten zornig. »Antatschen ist bei mir nicht, das weißt du ganz genau, Spicy. Im Übrigen …«, sie hielt nun das Tablett wie ein Schutzschild vor ihren Körper und schüttelte ihre dunklen, langen Locken mit einer Kopfbewegung nach hinten, »… meinetwegen könnt ihr trinken, bis ihr von den Stühlen fallt, aber Dad will für heute Schluss machen. War ja auch ein anstrengender Tag.«

Alicias Vater war der Kastellan des exquisiten Royal Blue Cliff Yacht Clubs. An diesem Tag hatte die Club-Regatta stattgefunden und alles, was in und um das Blue Cliff House geschah, hatte in seiner alleinigen Verantwortung gestanden; von der Bewirtung bis zum Hausmanagement.

»Wir wollen doch gar nichts Außergewöhnliches.« Boyo, klein, drahtig und der Witzbold der Clique nahm einen tiefen Schluck von seinem Stout und strich sich mit der Hand den Schaum von den Lippen. »Nur hier sitzen, diese herrliche Nacht genießen und ab und an ein frisches Bierchen.«

»Das müsst ihr mit Dad diskutieren«, wehrte Alicia ab. »Aber wenn man seit fünf Uhr morgens auf den Beinen ist, muss es auch mal gut sein.«

»Kommt Jungs, lasst Alicia in Ruhe.« Timid, groß, schlaksig, Brillenträger und mitleiderregend schüchtern, trank von seiner Schorle und stellte das Glas vorsichtig zurück auf den Tisch. Alicia hatte nie ganz die Freundschaft zwischen ihm und den drei anderen verstanden.

»Hey, Spielverderber«, erwiderte Jimmy lachend. »Der Abend ist doch noch jung! Außerdem, was willst du zu Hause? Wartet ja eh keine auf dich.«

Alicia merkte, dass sie zornig wurde. Immer mussten die andern auf Timid herumhacken.

»Nicht jeder hat Lust dazu, einen Abend mit trinken zu verbringen!«, warf sie ungehalten ein. »Und, was meinen Dad, und damit auch Mum und mich betrifft: Wir können nicht wie ihr, bloß weil wir uns gestresst fühlen, mal eben auf eine Yacht hüpfen und auf dem Meer chillen.«

Die vier Männer schauten sie entgeistert an. Alicia spürte, dass sie zu weit gegangen war.

»Schätzchen!« Spicy schnalzte tadelnd mit seiner Zunge. »Sozialneid steht dir gar nicht gut zu Gesicht!« Er zeigt mit einer großzügigen Handbewegung in die Runde. »Es ist nicht unsere Schuld, dass wir uns das hier alles leisten können, im Gegensatz zu anderen, die nicht das Geld dafür haben. Aber wir vergessen die ganze Sache unter einer Voraussetzung: Wir machen jetzt das Boot klar, und du bist gleich unten am Steg und fährst mit uns ein Stündchen raus. Vielleicht verstehst du dann, warum wir so gern auf dem Wasser sind. Und das hat nichts damit zu tun, dass wir Geld besitzen!«

Er trank sein Pint in einem Zug leer und knallte das Glas auf den Tisch. »Jimmy, du sagst Creek Bescheid, dass wir mit seiner Tochter kurz rausfahren und besorg noch ein paar Flaschen Bier. Und du, Schätzchen, ziehst dir was Warmes über. Wir wollen ja nicht, dass du dich auf dem Boot verkühlst. Und denk an rutschfeste Schuhe.« Er beäugte Alicias hochhackige, grellgelbe Sandalen. »Mit so etwas kommst du mir nicht an Bord. Zerkratzt mir noch das teure Teak.«

Jimmy stand grinsend auf und verschwand Richtung Clubhaus, während die junge Frau zögernd von einem zum anderen schaute.

»Was ist? Komm in die Puschen, Kleine!« Boyo leerte ebenfalls sein Glas, erhob sich und packte Timid an der Schulter. »Und du, Meister, kommst ebenfalls mit!«

14. August 201116:45 Falmouth/ Royal Blue Cliff Yacht Club

Alexander Fulton, fünfzehnjähriger Sohn des Commodore des Yachtclubs, Jonathan Fulton, hatte sich im Bootshaus versteckt. Seinen Rücken an die Holzwand gelehnt, die Beine angezogen und von seinen Armen fest umschlungen, starrte er unbewegt die verrostete Schraube an einem Bootsständer an. Tränen liefen ihm über die Wangen und hin und wieder konnte man einen leisen Schluchzer vernehmen.

Der Junge war zutiefst von dem, was seit dem Morgen unter den Clubmitgliedern die Runde machte, verstört. Alicia wurde vermisst, und es gab kaum Hoffnung, sie lebend zu finden. Gestern noch hatte sie sich zu ihm gesetzt, ihm eine kalte Cola spendiert und sich mit ihm unterhalten. Sie war das schönste Mädchen, das Alexander je gesehen hatte, und gestern hatte er sich endlich getraut, ihr das auch zu sagen. Alicia hatte ihn angelächelt und mit ihrer Hand durch seine dunklen Locken gewuschelt.

»Weißt du, Alex«, sagte sie sehr ernst, »wenn du ein wenig älter wärst, könnte ich mich glatt in dich verlieben.«

»Wie viel älter?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Na, so ungefähr zehn Jahre.«

»So viel?«

Sie schmunzelte und ihre blaugrünen Augen leuchteten auf. »Ich bin mir sicher, dass du bald das zweitschönste Mädchen finden wirst, das auch vom Alter her besser zu dir passt.«

»Das glaube ich nicht!«, rief er verzweifelt.

»Ich glaube es aber. Vertraue mir!« Dann war sie aufgestanden und im Clubhaus verschwunden.

»Und jetzt ist sie tot!«, wimmerte er leise.

»Was war das?«

Alex hörte eine tiefe Männerstimme hinter sich, jenseits der Wand, an der er lehnte.

»Verdammt, lenk jetzt nicht ab, Spicy. Hier ist niemand!«, antwortete eine zweite Stimme ungehalten. »Ich habe zwar vorhin für dich gelogen, aber ich bin der festen Überzeugung, dass das falsch war. Wir müssen der Polizei die Wahrheit erzählen.«

»Und ich dachte immer, Timid wäre das Weichei in unserer Gruppe.« Spicys Stimme troff vor Ironie. »Wenn du meinst, Jimmy! Aber bedenke auch, dass du mit drinhängst. Unterlassene Hilfeleistung ist schließlich kein Kavaliersdelikt. Und vielleicht sage ich dann aus, dass du mir geholfen hast. Dafür gehst du einige Jahre in den Knast.«

Es entstand eine Pause, in der Alex kaum zu atmen wagte.

»Dann solltest du ebenfalls darüber nachdenken, was das für deine gesellschaftliche Stellung bedeuten könnte. Oder glaubst du, dass noch irgendjemand zu einem Arzt gehen wird, der bei einem Tötungsdelikt untätig zugesehen hat?«, begann Spicy erneut zu sticheln.

In Alex’ Kopf rasten die Gedanken. Alicia war ermordet worden!

»Na, Jimmy, was ist? Hat es dir die Sprache verschlagen?«

»Leck dich, du Drecksau!«

Dann hörte der Junge schnelle Schritte, die sich entfernten. Angespannt lauschte er. Er durfte jetzt keinen Fehler machen. Der andere Kerl musste immer noch neben der Wand des Bootshauses stehen. Also blieb ihm im Moment nichts anderes übrig, als still in seinem Versteck auszuharren, bis der Typ ebenfalls verschwand. Er schaute auf die Uhr und entschied, eine Viertelstunde zu warten und dann direkt zur Polizei zu gehen. Vor Aufregung wurden seine Hände feucht und Schweiß rann ihm den Rücken hinunter. Diese Schweine werden dafür bezahlen! dachte er voll Zorn. Er sah erneut auf die Uhr. Die Zeiger bewegten sich quälend langsam über das Ziffernblatt. Der Jung spitzte die Ohren, aber kein Geräusch drang durch die Holzwand. Vielleicht hatte er in seiner Empörung und Wut ja die Schritte des zweiten Kerls überhört. Gerade als er sich vorsichtig aufgerichtet hatte, erschien der Schatten eines Mannes im Türrahmen des Bootshauses.

15. August 2011

THE FALMOUTH PACKET

Tragischer Segelunfall vor St. Antonys Head

Falmouth In der Nacht zum 14. August endete, eine Seemeile vor St. Antonys Head, ein Segeltörn auf tragische Weise. Alicia C. (25), Angestellte des Royal Blue Cliff Yacht Clubs, wurde vom Großbaum der Segelyacht Pretty Swallow am Kopf getroffen und über Bord geschleudert. Trotz umgehend eingeleiteter Rettungsmaßnahmen der segelerfahrenen Crew konnte die junge Frau nicht aufgefunden werden. Auch die nächtliche Suche durch das Rettungsschiff Confidence sowie der Coast Guard blieb erfolglos. Phil Lupton, Einsatzleiter der Coast Guard, sprach gegenüber THE PACKET die Vermutung aus, dass die tückischen Strömungen, die in dem Bereich herrschen, Alicia C. auf das offene Meer hinausgezogen haben. Unser Mitgefühl gilt den Angehörigen der Vermissten.

Golf ist in Wirklichkeit ein verdorbener Spaziergang. Mark Twain, 1835 – 1910, Schriftsteller

Erste Sühne

Golfplatz Truro

11. August 202014:15 Marazion/Fore Street

Ivy stand mit einem dampfenden Becher Kaffee in den Händen auf dem schmalen Balkon ihrer kleinen Wohnung. Mit einem Hauch Wehmut schaute sie hinüber zum St. Michael’s Mount. Auf dem schmalen Damm, der die Gezeiteninsel bei Ebbe mit Marazion verband und früher als Pilgerpfad gedient hatte, herrschte reges Treiben. Um diese Jahreszeit kamen jeden Tag Hunderte von Touristen, um die Insel zu erkunden und das Schloss und die Priorats Kapelle aus dem zwölften Jahrhundert zu besuchen. Wie oft war sie selbst früh morgens oder am späten Abend, je nachdem, wie die Tide es zuließ, den uralten, granitgepflasterten Weg gelaufen, um den Kopf freizubekommen. Würde sie in Truro wohl auch einen Platz finden, an dem sie sich von ihrer Arbeit erholen könnte?

Truro! Sie war immer noch nicht sicher, ob ihre Entscheidung, sich in Truro für die Kriminalbeamtenlaufbahn weiter zu qualifizieren, richtig war. Natürlich reizte sie die neue Aufgabe, und sie war froh, das Polizeirevier in Penzance verlassen zu können. Hatte der dortige Revierleiter, Peter Smith, sich vor gut zwei Monaten als Serienkiller entpuppt und sie fast umgebracht. Doch Truro würde für sie auch die enge Zusammenarbeit mit dem damaligen Ermittlungsleiter Detektiv Chief Inspektor Charles Pantel bedeuten. Als sie damals, nach der Operation ihrer Schusswunde, aus der Narkose erwacht war, hatte Charles an ihrem Bett gestanden und ihr ganz selbstverständlich das Du angeboten. Eine vertrauensvolle Geste, die nur noch ihrem zukünftigen Kollegen Detective Sergeant Henry Bloombottem zuteilgeworden war. Sie fragte sich nicht zum ersten Mal, wohin das führen würde. Sie wusste, dass ihr zukünftiger Vorgesetzter sich zu ihr hingezogen fühlte, und ihr ging es im Grunde genommen nicht anders.

Das Geräusch zerspringenden Porzellans ließ sie aufschrecken. Hastig, zu hastig drehte sie sich zur Balkontür. Sie spürte ein unangenehmes Stechen in ihrer Schulter. Zwar war die Schusswunde, die ihr Smith verpasst hatte und sie für acht Wochen außer Gefecht setzte, gut verheilt, trotzdem machte sich die Verletzung bei schnellen Bewegungen immer noch bemerkbar. Sie trat in die kleine Wohnung und sah einen reuevoll dreinblickenden Möbelpacker, der die zwei Hälften einer Bodenvase in den Händen hielt.

»Tut mir leid, Ma’am, ich hatte sie einfach nicht gesehen.«

»Kein Problem!« Ivy ging lächelnd auf ihn zu und nahm ihm die Scherben ab. »Die habe ich sowieso nicht besonders gemocht.«

»Ähm, danke, Ma’am. Unsere Versicherung wird den Schaden übernehmen, und dann können Sie sich ja etwas kaufen, das Ihnen mehr Spaß macht.« Nun lächelte auch er. »Wir sind gleich so weit. Nur noch die drei Kartons und wir können los.«

»Prima. Die Adresse und den Schlüssel haben Sie ja. Ich werde nur noch die letzten Sachen in der Küche aufräumen und mit der Vermieterin sprechen. Dann komme ich nach.«

»Ach, Ivy, wie schade, dass du weggehst.« Penelope Granger, die die achtzig schon lange überschritten hatte, hob die Hand und strich Ivy sanft über die Wange. »Wir beide hatten doch so viel Spaß miteinander, hm?«

»Penny, mir tut es auch leid, aber manchmal geht es halt nicht anders. Das ist so eine tolle Wohnung, dass du sicherlich bald jemand Neuen finden wirst.«

»Aber eine Polizistin im Haus zu haben ist schon sehr beruhigend.« Auf den faltigen, in einem dunklen Rosa geschminkten Lippen erschien ein schelmisches Lächeln. »Und das, was du immer erzählen konntest, war besser als jeder Krimi im Fernsehen.«

»Dann musst du dir jemanden mit einem ebenso spannenden Beruf suchen.«

»Ich versteh ja, dass es dich nach Truro zieht. Da ist ja dieser nette Inspector!« Wieder erschien das schelmische Lächeln, und die alte Dame zwinkerte ihr zu. »Und, wenn er sich noch die Haare schneiden würde – eine echte Sahneschnitte!«

Ivy merkte, dass ihr die Röte in die Wangen stieg. »Der ist doch viel zu alt für mich!«, winkte sie ab, doch Penny konnte sie damit nicht überzeugen. Diese nickte wissend und tätschelte erneut ihre Wange.

»Mein Liebes, wenn du so alt sein wirst, wie ich es bin, wirst du ebenfalls Verliebte auf drei Meilen Entfernung erkennen.«

13. August 20207:20 Truro/Polizeistation

Ivy fuhr auf den Parkplatz der Polizeistation an der Castle Rise. Rasch zog sie ihre Lippen nach und überprüfte ihre blonden Locken im Rückspiegel. Sie war nervös; unsicher, was sie gleich erwarten würde. Langsam öffnete sie die Tür ihres altersschwachen Golfs und stieg aus. Heute Morgen, als sie sich nicht wie gewohnt in ihrer Uniform, sondern in Rock und Bluse vor den Spiegel gestellt hatte, kam sie sich verkleidet vor. Die Polizistenmontur hatte ihr Sicherheit gegeben und sie sofort als Officer ausgewiesen. Ein Umstand, der ihrer angeborenen Schüchternheit zugutegekommen war. Doch in Zukunft müsste sie sich proaktiv als Polizistin zu erkennen geben.

Ivy verriegelte ihren Wagen und drehte sich zögernd zu dem Gebäude um, in dem sie nun einige Jahre arbeiten würde. Was sie erblickte war ein langweiliger, rot verklinkerter Zweckbau mit zweiflügligen, verspiegelten Fenstern und einer schmucklosen, weißen Eingangstür, in deren Glas sie sich selbst erkennen konnte. Lediglich fünf gelbblaue Dienstfahrzeuge und ein Dutzend ziviler Wagen ließen vermuten, dass es hinter den eintönigen Mauern irgendeine Form von Leben gab.

Zaghaft machte sie den ersten Schritt, als im oberen Stock ein Fensterflügel geöffnet wurde und ein fröhlich lachender Henry Bloombottem erschien.

»Mädel, schön dass du da bist.« Der Detective Sergeant winkte ihr aufmunternd zu. »Komm rein! Ich hole dich unten ab!«

Erleichtert darüber, sich nicht allein dem zwangsläufigen Interesse ihrer zukünftigen Kollegen stellen zu müssen, straffte sich Ivy, zog ihren neuen, dunkelblauen Trenchcoat glatt und machte sich auf den Weg zur Tür. Kennengelernt hatte sie Henry in Penzance bei den Ermittlungen zu den Serienmorden im Sommer. Sie mochte seine Verlässlichkeit, seine Menschenkenntnis und seine unerschütterliche gute Laune. Noch bevor sie die wenigen Stufen, die hinauf zum Eingang führten, erreicht hatte, wurde die Tür von innen aufgerissen und ein glänzend aufgelegter Henry erschien im Türstock. Seine kräftige Gestalt steckte in einer rehfarbenen Cordhose mit passender Weste und einem karierten Tweet-Jackett, bei dem sich Lila, Grün und Rot um die Vorherrschaft stritten. Ivy grinste ihn an. Zum einen wegen der abenteuerlichen Kleidungsstücke, zum anderen, weil sie sich ehrlich freute, ihren älteren Kollegen zu sehen.

»Komm Mädel, lass dich anschauen.« Er fasste Ivy bei den Schultern und betrachtete sie eingehend. »Gut siehst du aus! Und so schick! Genau wie die Polizistinnen in den Fernsehkrimis.«

»Danke, Henry.« Ivy merkte, dass Röte ihre Wangen überzog. »Und wie geht es dir?«

»Im Moment hervorragend! Keine Leichen oder Serienmörder. Nur ein paar Einbrecher! Aber komm erst einmal rein.« Weit hielt er ihr den Türflügel auf, und Ivy betrat die Sicherheitsschleuse. Hinter schusssicherem Glas saß der diensthabende Officer. Es war ein noch sehr junger Constable mit blondem Igelschnitt und einem Ziegenbärtchen am Kinn. Eindringlich musterten seine dunkelbraunen Augen die neue Kollegin. Dann erschien ein strahlendes Lächeln auf seinem Gesicht, und er zwinkerte ihr zu.

Was für ein frecher Kerl! schoss es Ivy durch den Kopf. Doch sein Lächeln war so charmant, dass sie einfach zurücklächeln musste.

»Hey, Casanova, lass Ivy in Ruhe, wenn du es nicht mit mir zu tun bekommen willst«, blaffte der Sergeant ihn an. Dann wandte er sich Ivy zu. »Das ist PC Rob Sutton. Im Nebenberuf Weiberheld. Nimm dich in Acht vor ihm! Und du mach endlich die Tür auf!«, raunzte er den grinsenden Constable an.

»Sofort Sarge!«, antwortete der junge Mann eifrig und bediente den Türöffner.

Die beiden Detectives betraten das Innere des Gebäudes und standen unmittelbar in einem Großraumbüro. Ivy sah zwölf Schreibtische, zwei davon nicht besetzt. Erstaunt stellt sie fest, dass sich ausschließlich männliche Polizeibeamte in dem Raum aufhielten.

Henry, der ein sehr feines Gespür für die Regung eines Menschen besaß, raunte ihr ins Ohr: »Kein weiblicher Officer hält es bei uns länger als ein halbes Jahr aus. Das liegt aber nicht an den Jungs, sondern …«

Weiter kam er nicht mit seiner Erklärung, weil eine energisch dreinschauende Frau in Uniform und im Rang eines Police Inspectors durch eine Tür ganz am Ende des Raums getreten war. Unverhohlen musterten ihren eisblauen Augen die Neuankömmlinge. Ivy fühlte sich wie ein Insekt unter dem Mikroskop.

»Henry, wen haben Sie denn Nettes mitgebracht?« Als sie gemächlich, mit den Händen in den Hosentaschen, auf die beiden Beamten zukam, blickte Ivy ihr fasziniert entgegen. Groß, durchtrainiert, das schwarze Haar zu einem perfekten Chignon gesteckt, kam sie, trotz der Uniform und den klobigen Dienstschuhen, wie ein Mannequin auf dem Laufsteg auf sie zu. Lächelnd streckte sie Ivy die Hand entgegen.

»Schön, endlich weibliche Verstärkung in diesem Männerhaufen zu bekommen. DC Ivy Clarks, wenn ich mich nicht täusche?«

»Ja, Ma’am!«

»Na, na, nicht so förmlich, Ivy. Ich bin Loretta – PI Loretta Dee. Für Sie Loretta. Wir Mädels«, bei diesem Wort warf sie einen vernichtenden Blick in Richtung des Sergeants, »müssen doch zusammenhalten. Nicht?«

Ivy war unsicher, ob die andere tatsächlich eine Antwort darauf erwartete. Aber irgendetwas musste sie sagen.

»Wir sind die einzigen Frauen hier im Revier?«

»Wenn wir einmal von Edith Grove, unserer Putzfee, absehen – ja.« Sie schaute zu den übrigen Kollegen im Raum, die gebannt die Szene verfolgten. Dann beugte sie sich ein wenig vor und mit einem bühnenreifen Flüstern, sodass jeder in dem Büro sie verstehen konnte, fügte sie hinzu: »Bei dieser Truppe hält es ja keine vernünftige Frau lange aus.«

»Das würde ja heißen, dass sie und ich unvernünftig sind«, rutschte es Ivy heraus. Von irgendwo hörte sie ein unterdrücktes Kichern.

Das Lächeln auf Lorettas rot geschminkten Lippen erstarb. »Schau an! Ein Constable mit deduktiven Fähigkeiten. Hatten wir hier so auch noch nicht.«

»Ähm, Loretta«, Bloombottem räusperte sich. »Wir müssen hoch. Der Chief wartet schon auf Constable Clarks!«

»Na, dann will ich euch nicht länger aufhalten. Wir sehen uns, Ivy.« PI Dee machte auf dem Absatz kehrt und schlenderte zurück zu der Tür, aus der sie gekommen war.

Henry fasste Ivy am Arm und zog sie Richtung Treppe. »In ihrer Ahnenreihe muss es Hexen geben, Mädel. Sei bloß vorsichtig!«, raunte er ihr zu.

»Ich habe mich tatsächlich ein wenig wie Schneewittchen und die böse Stiefmutter gefühlt«, erwiderte Ivy mit einem schiefen Grinsen. »Sie ist der Grund, warum es hier keine Frau aushält, stimmt’s?«

»Bingo!« Henry reckte den Daumen in die Luft. »Du bist verdammt clever, weiß du das?«

DCI Charles Pantel hört Sergeant Bloombottem draußen rufen. Er stand von seinem Schreibtisch auf und ging an das Fenster. Neben einem alten, blauen Golf sah er Ivy, den Blick nach oben gerichtet.

Wie schön, dass sie endlich da ist, dachte er zufrieden und beobachtete, wie sie erst zögernd, dann immer schneller auf den Eingang zustrebte.

In den getönten Fensterscheiben entdeckte er sein eigenes Spiegelbild. Hättest ja auch noch zum Friseur gehen können, tadelte er sich im Stillen. Seine schwarzen, glatten Haare mit dem Mittelscheitel, die ihm fast auf die Schultern reichten, gaben ihm ein abenteuerliches Aussehen. Und du bist ja wieder ganz in schwarz gekleidet, fiel es ihm jetzt erst auf. Er schüttelte verdrossen den Kopf. Er wollte Ivy doch nicht wieder verschrecken. Schmunzelnd dachte er an die erste Begegnung mit der jungen Frau zurück. Sie trafen im Flur des Reviers in Penzance aufeinander. Er war wütend über das eigenmächtige Handeln des dortigen Revierleiters. Entsprechend grimmig hatte er Ivy angesprochen. Seine verblüffende Ähnlichkeit mit einem Film-Bösewicht hatte dann dazu geführt, dass sie förmlich vor ihm geflüchtet war. Und später hatte er festgestellt, wie viel detektivisches Talent in dem hübschen Kopf mit den blonden Locken steckte und sie abgeworben. Nun würde sie für die nächsten Jahre das Team der Kriminalpolizei hier in Truro verstärken. Er freute sich auf die Zusammenarbeit.

Ivy und Bloombottem betraten den Flur im ersten Stock. Es roch ein wenig muffig; nach abgestandenem Kaffee und altem Papier.

»Und das ist nun das Reich der Kripo!« Bloombottem zeigte nach links den Flur hinunter. »Die letzte Tür ist unser Besprechungsraum. Dann kommt das Verhörzimmer. Und geradeaus wirst du mit DC Ajith Gupta, unserem Computer-Profi, zusammensitzen.« Er wies nun nach rechts. »Ganz hinten sitzt der Chief, gegenüber ist die Kaffeeküche. Dann kommt mein Büro, das ich mir mit Tajo Melmac, einem waschechten Jamaikaner teile.«

»Sitzt Brown mit seinen Leuten ebenfalls hier?«

»Nein, die komplette Forensik wurden vor vier Wochen in einen hypermodernen Neubau nach Camborn ausgelagert. Das liegt so ungefähr in der Mitte unseres Einsatzbezirks. Schnellere Anfahrt zu den Tatorten, du weißt schon.« Er fuhr sich mit der Hand durch seine roten Locken. »Lediglich Doc Gainheart hat hier sein Büro, aber er ist fast nie da. Schwirrt ständig in irgendwelchen Pathologieabteilungen der Krankenhäuser herum.«

»Ja, ich weiß!« Ivy grinste. »Den erreicht man nur übers Smartphone. In Penzance haben die Kollegen darüber gefrotzelt und vermutet, dass er in Wirklichkeit irgendwo gemütlich in der Sonne oder bei einer schönen Maid sitzt.«

»Gainheart!?« Henry grinste nun ebenfalls. »Seine Maid ist höchstens sein Skalpell und die Sonne eine Operationsleuchte. Aber komm, der Chief wartet sicher schon auf dich.«

Sie gingen den Flur entlang, bis sie die Tür des Chief Inspectors erreichten. Doch bevor Henry anklopfte, beugte er sich nah zu Ivy und senkte die Stimme. »Gleich nicht erschrecken! Er trägt wieder schwarz und die Haare sind auch zu lang.«

»Ist er wieder im Severus-Snape-Modus?«

»Seit ungefähr einer Woche.«

»Warum?«

Henry zuckte mit den Schultern. »Weiß ich auch nicht. Vielleicht Gewohnheit. Deswegen ist es gut, dass du da bist.«

»Aber was habe ich denn …« Weiter kam Ivy nicht, denn die Tür wurde von innen geöffnet und der Leiter der Kriminalpolizei Truro stand vor ihr; groß, schlank, ganz in Schwarz und mit viel zu langen Haaren.

Er zuckte ein wenig zurück. »Was macht ihr denn direkt vor meiner Tür?«

»Wollten gerade klopfen, Chief.« Bloombottem wies gut gelaunt hinter sich. »Ich habe dir jemanden mitgebracht. Hat aber ein wenig gedauert. Loretta hat uns unten abgefangen.«

»Na, dann hast du ja schon die wichtigste Person in diesem Revier kennengelernt!« Charles zwinkerte Ivy zu und reichte ihr die Hand. »Herzlich willkommen in Truro, DC Clarks!«

Sein Händedruck war warm und fest. Ivy merkte ärgerlich, dass schon wieder Röte ihre Wangen überzog und ihr Herz heftig schlug. Allerdings war sie sich nicht sicher, ob diese Reaktionen auf das Treffen mit ihrem neuen Chef oder dem Menschen Charles Pantel zurückzuführen waren.

»Danke Charles! Ich freue mich auch, endlich hier zu sein.«

»Dann komm herein in die gute Stube. Ich möchte dir noch das eine oder andere erklären, und in einer halben Stunde stelle ich dich dann offiziell den Kollegen vor.«

»Ähm, Chief!« Henry trat einen Schritt zurück. »Ich mache dann mal mit dem Einbruch bei Sainsbury’s weiter.«

»Mach das, Henry!«

Ivy betrat das Büro. Ihr erster Blick fiel durch die großen Fenster direkt auf den Crown Court von Truro. Hinter den dicken, weißen Mauern, die im Sonnenschein grell von der Umgebung hervorstachen, wurde den ganz schweren Jungs der Prozess gemacht. Einer davon war DS Smith, Ivys damaliger Revierleiter gewesen.

Pantel hatte Ivys Blick gesehen und trat an das Fenster. »Smith hat hier während der Ermittlungen eingesessen. Jetzt ist er bis zum Prozess Gast Ihrer Majestät in Dartmoor.«

»Hast du mit ihm noch einmal gesprochen?«

»Nein, als Opfer war ich aus den Ermittlungen raus. Aber zum Prozess werde ich aussagen müssen. Du sicherlich ebenfalls.«

»Glaubst du, dass er schuldfähig ist?«

»Das Erstgutachten sagt ja, aber Smiths Anwalt hat ein neues Gutachten angefordert.«

Detective Sergeant Peter Smith hatte im Sommer sechs Menschen ermordet. Er war äußerst kaltblütig und brutal vorgegangen. Charles Pantel hatte er gleichfalls auf seiner Liste gehabt, weil dieser den Posten in Truro bekam, auf den Smith sich ebenfalls beworben hatte. Ivy und Bloombottem konnten Pantel im letzten Moment retten.

»Aber wir wollen uns den Tag nicht mit schlimmen Erinnerungen verderben!« Charles wies auf den Besucherstuhl. »Setz dich, Ivy. Wir haben noch ein paar Dinge zu besprechen.«

Die junge Frau zog ihren Mantel aus und stellte ihre Tasche neben den Besucherstuhl. Dann setzte sie sich Charles gegenüber und ließ ihre Augen interessiert durch das Büro schweifen. Außer einem silbernen Bilderrahmen auf dem Schreibtisch, der nach Ivys Vermutung das Foto von Sophie, Charles früh verstorbenen Frau, zeigte und einem Brieföffner in Form des Schwertes Excalibur konnte sie keinerlei persönliche Dinge entdecken.

»Du wirst zunächst mit Henry zusammenarbeiten. Im Moment ermittelt er in einer Einbruchsserie, die große Einzelhandelsgeschäfte betrifft.«

»Ja, ich habe davon in der Zeitung gelesen.«

»Gut. Er wird dir alles, was für dich wichtig ist, erklären und beibringen. Auch Dinge, die die Arbeit hier in Truro ganz allgemein betreffen. Sieh ihn als eine Art Mentor. Du weißt, er genießt mein absolutes Vertrauen.«

»Ich arbeite sehr gern mit ihm zusammen.« Sie lächelte Charles an.

»Das Büro teilst du dir mit Ajith Gupta, ein Virtuose an der Computertastatur. Allerdings im zwischenmenschlichen Bereich …«, Pantel überlegte kurz, wie er die Persönlichkeit des Sohnes eines indischen Gewürzhändlers beschreiben konnte, »… ziemlich zurückhaltend.«

»Kein Problem. Das bekomme ich hin.«

»Das haben sich Henry und ich auch gedacht.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Wir werden gleich nach unten gehen und ich werde dich den übrigen Kollegen vorstellen. Es gibt da ein, zwei, die ein wenig gewöhnungsbedürftig, aber nicht bedrohlich sind.«

»Im Gegensatz zu Loretta Dee?« Ivy entspannte sich langsam und lehnte sich bequem in ihrem Stuhl zurück.

»Ganz genau! Du hast sie ja schon kennengelernt.«

»Allerdings. Und mir war auch sofort klar, warum es hier keine weiblichen Beamten gibt. Leider habe ich PI Dee ein wenig vor den Kopf gestoßen.«

»Du hast was?« Charles musterte sein Gegenüber verblüfft.

»Mir ist da etwas rausgerutscht und sie folgerte, dass ich sie für unvernünftig halte«, erklärte Ivy mit einem schiefen Grinsen.

»Dann weißt du ja jetzt, wo der Feind zu finden ist. Sei vorsichtig! Ihre Ränkespiele sind allseits bekannt und gefürchtet. Solltest du Schwierigkeiten mit ihr haben, wende dich sofort an mich.«

»Danke, Charles.«

»Ja, dann wollen wir dich mal offiziell in die Truppe einführen. Ach ja, bei formellen Anlässen bleiben wir beim Sie. Wenn Kollegen anwesend sind, können wir uns duzen, aber als Anrede benutzt du am besten ›Chief‹. Ich möchte nämlich kein Gerede oder dumme Bemerkungen aus dem Kollegenkreis. Du weißt ja, dass einer meiner Grundsätze lautet: Kollegen immer siezen und mit Dienstrang oder Nachnamen ansprechen.« Charles erhob sich. Im gleichen Moment ertönte ein lautes Klopfen und die Tür wurde aufgestoßen.

»Chief, es gibt eine Leiche!«, stieß Bloombottem hervor. »Die Managerin des Truro Golfclubs, eine Mrs Sandra Bellrich, hat angerufen. Bei dem Toten handelt es sich um den Finanzmakler Luke Harrogate.«

»Ist DI Brown schon informiert?«

»Ja, Chief. Doc Gainheart ist ebenfalls auf dem Weg. Zur Tatortsicherung habe ich Bonny und Clyde hingeschickt.«

»Wen?«, fragte Ivy verdutzt, während sie ihre Sachen zusammensammelte.

»PC Peter Bonnel und PC Clyde Dexler. Spezialisten bei der Sicherung von Tatorten«, erwiderte Henry grinsend.

»Sag DC Gubta, dass er schon mal diesen Harrogate durchleuchten soll. Danach machen wir drei uns auf den Weg zum Club.«

08:35 Truro/Golfclub

Als die drei Kriminalbeamten den Parkplatz der Golfclubs erreichten, sahen sie Doc Gainheart an der geöffneten Kofferraumklappe seines silbernen Astras stehen. Er zwängte sich gerade in seinen Schutzanzug, ein für den Betrachter recht amüsantes Unterfangen. Da der Pathologe von kleiner, untersetzter Statur war, spannten bei ihm die polizeieigenen Einwegoveralls gefährlich über dem Bauch. In den Ärmeln und Hosenbeinen hingegen verschwanden seine Hände und Füße gänzlich.

»Vielleicht sollte der Doc sich welche von den Dingern maßschneidern lassen«, feixte Bloombottem grinsend.

»Dass du so etwas ja nicht in Gegenwart des Docs von dir gibst«, tadelte Charles den Sergeant, konnte sich ein Schmunzeln jedoch nicht verkneifen. Er parkte den Dienstwagen neben dem Astra und stieg aus.

»Guten Morgen, Doc Gainheart!«, grüßte er freundlich den Mann, der gerade seinen linken Ärmel hochrollte. »Nun geht es wieder los. Wir hatten ja lange keine Leiche mehr.«

»Ja«, antwortete Gainheart einsilbig, während er sich nun mit dem rechten Ärmel abmühte. »Habe gehört, dass Brown jemanden aufgetrieben hat, der diese Anzüge auch in Spezialgrößen anfertigt.« Der Pathologe bückte sich und widmete sich seinem linken Hosenbein, während Charles, Ivy und ein immer noch grinsender Henry ihm stumm dabei zusahen. Schließlich richtete er sich auf und blickte seine Zuschauer an.

»Grinsen Sie nicht, Bloombottem. Sie bekommen XL vorn ja auch nicht richtig zu.« Dann flog ein Lächeln über sein Gesicht, als er Ivy bemerkte. »Clarks, wie schön sie gesund und munter wiederzusehen!« Er streckte ihr die Hand entgegen und bedachte sie mit einem herzlichen Händedruck. »Und gleich zu Dienstbeginn ein Toter!«

»Guten Tag, Sir«, erwiderte Ivy munter. »Ich hoffe nur, dass das nicht in dem Tempo weitergeht. Von Toten hatten wir die letzte Zeit genug.«

»Stimmt. Noch eine Mordserie brauchen wir tatsächlich nicht. Aber erst einmal wollen wir schauen, ob wir es mit Mord zu tun haben.« Dann wandte er sich an Pantel. »Und, Chief Inspector, wollen Sie mich begleiten?«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, gern. Ich werde mich auch zurückhalten«, antwortete Charles grinsend. Hatte es anfangs einige Schwierigkeiten gegeben, da er stets als erster am Tatort war und danach Gainheart und Brown mit seinen Erkenntnissen überrumpelte.

»Dann hüpfen Sie mal in Ihren Overall. Wissen Sie, wo der Tote liegt?«

»Nein. Aber auf der Terrasse sitzt jemand, den wir sicherlich fragen können.«

Während die Beamten nacheinander die Außenterrasse des Golfclubs betraten, erhob sich von einem der Tische eine Frau in einem dunkelblauen Kleid. Ihr blondes Haar war zu einer kunstvollen Hochfrisur aufgesteckt und an den Ohrläppchen funkelten kleine Brillanten. Ein leises Lächeln lag auf ihren dezent geschminkten Lippen, doch in ihren himmelblauen Augen schimmerte Kummer.

»DCI Charles Pantel, Ma’am.« Charles reichte ihr die Hand.

»Sandra Bellrich. Ich bin die Clubmanagerin. Ich freue mich, dass Sie so schnell gekommen sind. Ihre beiden Kollegen sind bereits im Gelände.« Sie hielt Charles einen Schlüssel entgegen. »Sie nehmen am besten das Cart.« Sie zeigte auf eines von fünf elektrischen Golfmobilen, die unterhalb der Terrasse abgestellt waren. »Bis zu der Stelle, an der Luke gefunden wurde, ist es von hier eine knappe Meile.«

Charles nahm dankend den Schlüssel entgegen. »Wohin müssen wir genau?«

»Loch zwölf. Sie fahren von hier bis drüben zu der großen Eiche, biegen dort nach rechts und dann immer geradeaus.«

»Herzlichen Dank, Mrs Bellrich. Die Spurensicherung müsste ebenfalls gleich eintreffen.«

»Kein Problem. Es stehen genug Carts für Ihre Kollegen bereit, und ich werde auf alle Fälle hier sein.«

»Das ist sehr nett von Ihnen. Ist es für Sie in Ordnung, wenn Ihnen DS Clarks und DC Bloombottem einig Fragen zu Luke Harrogate stellen?«

»Aber natürlich, gern.« Sie nickte den beiden Detectives freundlich zu.

Nachdem Charles und Doc Gainheart die Terrasse wieder verlassen hatten, wandte sich die Frau an Ivy und Henry. »Wir setzen uns am besten hierhin. Dann habe ich in den Parkplatz besser im Blick, falls jemand kommen sollte. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Kaffee, Tee, Wasser?«

»Tee mit Zucker, bitte.« Henry zog sich einen Stuhl heran und setzte sich.

»Und ich hätte gern einen Kaffee mit Milch.«

»Gern, ich bin gleich wieder bei Ihnen.«

»Sag mal, spielst du Golf?«, flüsterte Ivy.

»Nee, ist mir zu viel Schickimicki«, brummelte der Sergeant zurück. »Sie dir doch bloß diese Bellrich an. Gestylt, als würde Sie ein DAX-Unternehmen leiten.«

»Ich finde sie sehr apart«, erwiderte Ivy und setzte sich neben ihren Kollegen. »Aber ich denke, dass da zwischen ihr und Harrogate etwas gelaufen ist.«

Verblüfft schaute Henry seine junge Kollegin an. »Wie kommst du denn darauf?«

»Weil ihre Augen gerötet sind und kaum Tusche an den Wimpern am Unterlid ist.« Als Ivy Henrys ratloses Gesicht sah, kicherte sie leise. »Sie hat geweint, aber keine Zeit mehr gehabt, ihre Wimpern neu zu tuschen. Aber warum sollte sie weinen, wenn ein Clubmitglied stirbt. Außerdem sprach sie von Luke und nicht Mr Harrogate.«

»Okay. Ist dir sonst noch etwas aufgefallen?«

»Ich vermute, dass sie schwanger ist!«

»Also wirklich, wie willst du das denn wissen? Die ist doch gertenschlank.«

»Niemand trinkt freiwillig Multivitaminsaft.« Ivy wies mit dem Kopf schaudernd auf ein halb ausgetrunkenes Glas. »Und schon gar nicht, wenn eine Leiche gefunden wurde! Außer es handelt sich um eine schwangere…« Schritte aus dem Inneren des Clubhauses ließen sie verstummen.

Sandra Bellrich erschien mit einem Tablett in der Terrassentür. Professionell stellte sie die gewünschten Getränke und einen Teller mit Schokoladencookies vor den Detectives ab. Ivy beobachtete aus den Augenwinkeln, dass Henry zunächst interessiert den Bauch der Frau musterte und dann schmachtend auf den Gebäckteller starrte. »Das ist doch nicht nötig gewesen«, bemerkte er höflich, während er nach einem der Kekse griff.

»Oh doch«, antworte Mrs Bellrich schmunzelnd und nahm sich ebenfalls ein Cookie. »Wenn es mal schlecht läuft, gibt es nichts Besseres als Schokoladenkekse.«

Henry wischte sich rasch Krümel von seinem Mund und nahm einen Schluck Tee. Dann räusperte er sich.

»Mrs Bellrich!«

»Ms Bellrich«, korrigierte ihn die Frau.

»Ms Bellrich. Sie haben die Polizei informiert. Haben Sie Mr Harrogate gefunden?«

»Nein, Gott sei Dank! Unser Greenkeeper, Mat McGrey, kam kurz vor acht total aufgelöst zu mir und berichtete, dass er Luke tot aufgefunden habe.« Tränen traten in ihre Augen, und sie benötigte einen Moment, bis sie weitersprechen konnte. »Ich habe dann sofort den Notruf gewählt und danach das Clubgelände sperren lassen.«

»Wer befand sich noch alles auf dem Gelände, bis auf Sie und Mr McGrey?«

»Timmy Good, unser Mädchen für alles. Wir hatten vorhin gemeinsam die heutige To-Do-Liste besprochen. Und Dr. King, ein Clubmitglied. Er war auf dem dritten Fairway und ich habe ihn gebeten, wieder nach Hause zu fahren.«

»Wir müssen nachher mit Mr Good und Mr McGrey sprechen. Und wenn Sie uns die Kontaktdaten von Dr. King geben könnten.«

Sandra Bellrich nickte.

»Nun zu Luke Harrogate.« Henry räusperte sich erneut. »Was können Sie uns von ihm erzählen?«

»Luke spielt seit sechs Jahren bei uns. Mit sieben stand er das erste Mal auf einem Golfplatz. Heute ist er …«, die Frau stockte. »Er war ein begnadeter Turnierspieler. Wir haben im Clubhaus kaum noch Platz für seine Trophäen.« Ms Bellrich lehnte sich erschöpft zurück und faltete die Hände über ihrem schlanken Bauch.

»Was wissen Sie über ihn privat?«

»Er ist achtundvierzig, lebt von seiner Frau getrennt und hat keine Kinder.«

Interessiert beobachtete Ivy, dass die Frau sich mit der linken Hand sanft über den Bauch strich, bevor sie mit ihrer Aufzählung fortfuhr.

»Er wohnt in Penryn und betreibt dort ein Maklerbüro für Finanzen und Investments. Allerdings nicht so erfolgreich, wie man es sich wünschen würde.«

»Wie kommen Sie zu dieser Annahme?«, hakte Bloombottem nach.

»Nun, er bat mich vor sechs Monaten um Stundung seiner Mitgliedsbeiträge. Doch bis heute hat er seine Außenstände noch nicht bezahlt.«

»Und Sie lassen ihn trotzdem auf dem Gelände spielen?« Henry war über dieses Geschäftsgebaren ehrlich erstaunt.

»Nun, das ist nicht so einfach, Sergeant. Zum einen würde dieser Club seinen besten Spieler verlieren. Zum anderen hatte Luke eine Menge Freunde, die hinter ihm stehen.«

»Und Sie gehörten ebenfalls zu diesen Freunden!« Ivy hatte ganz bewusst den Satz als Feststellung und nicht als Frage formuliert. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass Bloombottem sie verdutzt ansah. Doch viel interessanter fand sie die Reaktion von Sandra Bellrich. Diese starrte Ivy an; so wie es Menschen tun, die ihren Gesprächspartner eindeutig unterschätzt hatten.

»Woher wissen Sie das?«, fragte die Frau matt.

»Ihre Augen sind gerötet und ihr Make-up hat ein wenig gelitten«, antwortete Ivy sanft. »Und, ich habe mich gefragt, warum Sie wegen eines Clubmitgliedes geweint haben könnten.«

Sandra Bellrich senkte den Blick. Ivy spürte, wie die Frau vor ihr mit sich kämpfte. Dann setzte sich Sandra gerade auf und schaute der jungen Beamtin direkt in die Augen.

»Ich hatte mit Luke seit einem halben Jahr ein Verhältnis. Wir haben es geheim gehalten. In meiner Position wäre ein Techtelmechtel mit ihm bei den anderen Mitgliedern sicherlich nicht gut angekommen.«

»Aber irgendwann hätten Sie es nicht mehr verbergen können, oder?«, fuhr Ivy ruhig fort und schaute dabei demonstrativ auf Sandras Leib.

»Ich wusste gar nicht, dass die Polizei Hellseher beschäftigt«, versuchte die Frau zu scherzen. Dann schluchzte sie laut auf und verbarg ihr Gesicht in den Händen.

Bloombottem stieß Ivy an. Sein Gesichtsausdruck sagte ihr, dass er im Moment vollkommen den Faden verloren hatte. Stumm formulierte sie mit den Lippen: Sie ist von Harrogate schwanger. Henrys Augen wurden so kugelrund, dass Ivy sich beherrschten musste, nicht laut loszulachen. Dann reckte er einen Daumen in die Höhe und erwiderte stumm: Gut gemacht, Mädel!

Eineinhalb Stunden zuvor / Loch 12

Luke Harrogate stellte seinen Caddy am Abschlag von Loch zwölf ab. Dann marschierte er energisch über das Fairway zum Green. Er nahm die Fahne aus dem Loch und legte sie außerhalb des kurz geschorenen Rasenstücks nieder. Sein Blick schweifte über den Bereich. Feinster englischer Rasen; anerkennend nickte er und musste zugeben, dass Mat MacGrey, der neue Greenkeeper, einen ausgezeichneten Job machte. Er würde Mat nachher für seine hervorragende Arbeit loben, nahm er sich vor. Selten hat er auf so gepflegten Grasflächen gespielt. Langsam schlenderte er zurück in Richtung Abschlag, die Augen immer noch kontrollierend auf den Rasen gerichtet. Als er den Weg zur Hälfte abgeschritten hatte, hört er ein leises Wimmern. Er blieb stehen und lauschte. Da war es wieder, doch er konnte nicht sagen, ob es von einem Menschen oder einem Tier stammte. Vorsichtig betrat er das Rough. Das hohe Gras ging ihm fast bis zu den Knien. Fehlt nur noch, dass sich so ein Katzenvieh hier herumtreibt und alles zukackt, dachte er ärgerlich. Er hielt erneut inne. Das Geräusch schien aus der Nähe der kleinen Felsformation, die etwa fünf Meter vor ihm aus dem hohen Bewuchs herausragte, zu kommen. Leise ging er darauf zu und schreckte zurück. Vor ihm auf dem Boden lag eine zusammengekrümmte Gestalt. Was macht denn eine Muslima hier? Luke hatte sofort erkannt, dass es sich bei der schwarzen Kleidung, die die Person trug, um eine Abaya und ein Hidschab handelte, war er doch vor einigen Jahren mit einer Marokkanerin liiert gewesen.

Die Frau lag auf der Seite, die Beine angezogen und die linke Hand auf den Bauch gepresst. Luke betrachtete sie skeptisch. »Hallo, kann ich Ihnen helfen?«

Die Angesprochen, deren Schleier ihr Gesicht bis auf die obere Partie verhüllte, schlug ihre blaugrünen Augen auf. Verstört sah sie Luke an.

»Verstehen Sie mich? Brauchen Sie Hilfe?«, versuchte er es erneut und trat einen Schritt näher an sie heran. »Soll ich eine Ambulanz bestellen?«

Die Frau schüttelte leicht den Kopf, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

»Oder soll ich Ihnen vielleicht helfen aufzustehen?«

Nun nickte die Frau schwach und bot ihm ihre linke Hand, damit er sie hochziehen sollte. Verwundert stellte er fest, dass sie dunkle Handschuhe trug. Trotzdem griff er beherzt zu und zog sie auf die Beine. Die Frau umklammerte seine Hand, wandte sich plötzlich ab, um im nächsten Moment zurückzuschnellen. Gleichzeitig holte sie mit ihrem rechten Arm Schwung. Etwas Helles flog auf Luke zu. Er wollte sich ducken, doch das Geschoss hatte ihn bereits an der Stirn seitlich der Schläfe getroffen. Ein unbeschreiblicher Schmerz schoss durch seinen Kopf. Er riss sich von der Frau los und schlug die Hände vor das Gesicht. Schlagartig wurde ihm klar, dass er in Lebensgefahr schwebte. Nur nicht ohnmächtig werden, Junge! schrie alles in ihm. Verzweifelt wollte er sich umdrehen und fliehen, aber der Schlag hatte ihm so zugesetzt, dass er strauchelte und nach hinten fiel. Das letzte, was er in seinem Leben hören sollte, war ein widerliches Knacken in seinem Kopf.

Die verhüllte Gestalt blicke enttäuscht auf den leblosen Körper hinunter. Luke Harrogate war tot; den leeren Blick gen Himmel gerichtet, den Kopf in einer immer größer werdenden Blutlache liegend. Gern hätte die Frau ihm noch gesagt, warum er sterben muss. Leider hatten diese merkwürdigen Steine im hohen Gras sein Schicksal besiegelt, bevor sie das Messer, das in der Tasche der Abaya versteckt war, benutzen konnte. Schulterzuckend raffte sie ihren langen, schwarzen Mantel, überquerte das Fairway und verschwand zwischen den Bäumen.

09:15 Golfplatz/Loch 12

Als Pantel und der Pathologe den Abschlag von Loch zwölf erreichten, sahen sie schon von Weitem das gelbblaue Absperrband in der milden Brise flattern. Davor stand ein Polizist in Uniform; breitbeinig und die Hände auf dem Rücken verschränkt.

Charles gab Gas, musste dann aber abrupt abbremsen, da er fast einen Sandbunker übersehen hätte.

»Mensch, Chief!«, rief Gainheart erschrocken aus. »Wollen Sie uns umbringen?«

»Gott bewahre!«, antwortete Charles. »Aber wer kann schon ahnen, dass sich hier solch tückische Fallen befinden!«

»Jeder der Golf spielt!«

»Ich spiele aber kein Golf!« Vorsichtig setzte er den Caddy zurück. »Spielen Sie?«

»Sehe ich etwa so aus? Ich tauge höchstens zum Medizinball.« Gainheart lachte glucksend auf. »Übrigens, keine Veilchenpastillen heute?« Der Pathologe spielte auf die Angewohnheit Pantels an sich immer, wenn es schwierig wurde, eines der nach Seife schmeckenden Lakritzdragees in den Mund zu schieben.

»Bin gerade auf Entzug. Hat mir mein Arzt geraten«, gab Charles zerknirscht zu.

»Ist auch gesünder, jedenfalls was diese Mengen betrifft, die Sie in sich reingestopft haben.«

»Ich weiß.« Charles brachte das kleine Elektrofahrzeug zehn Meter vor der Absperrung zum Stehen.

»Sagen Sie, Doc. Ist das Bonny oder Clyde? Ich verwechsele die beiden immer. Die sehen fast wie Zwillinge aus.« Er nickte hinüber zu dem großgewachsenen, muskulösen Officer, dessen blondes Haar so kurz geschnitten war, dass es unter der Mütze kaum herauslugte.

»Clyde!«, erwiderte der Pathologe gelassen, während er sich aus dem Caddy zwängte. »Bonny hat O-Beine.«

PC Clyde Drexler sah den beiden Männern erfreut entgegen und tippt kurz an seinen Mützenschirm.

»Guten Morgen, Constable«, begrüßte Pantel ihn mit Handschlag. »Sind Sie alleine hier?«

»Nee, Sir. Bonnell ist dort drüben bei dem Greenkeeper.« Er wies auf eine Bank unter einer alten Eiche. »Muss ihn beruhigen. Hat einen ganz schönen Schreck bekommen!«, antwortete Clyde grinsend. »Hat sich auch übergeben, Sir. Gott sei Dank hier auf dem kurzen Gras.«

»Na, da werden sich die Golfer aber freuen!« Gainheart war bereits an das Absperrband getreten und bemühte sich, es anzuheben, dass er bequem darunter durchpasste.

»Moment, Sir! Ich helfe Ihnen!« Der Officer hob das Band so weit an, dass selbst Pantel, der die zwei Meter nur knapp verfehlte, ohne Bücken hindurchschlüpfen konnte. »Die Leiche liegt bei den Steinen.«

»Danke, Drexler!« Dann hielt Charles einen Moment inne und beobachtete Gainheart, wie dieser über einen Pfad aus niedergetretenem Gras zu dem Tatort ging. Er selbst wandte sich nach rechts und schritt langsam am Absperrband entlang. Zehn Meter weiter fand er eine zweite Spur, die durch das hohe Gras zu den Steinen führte. Sie war kaum zu erkennen. Gedankenverloren betrachtete er die wenigen umgeknickten oder zur Seite gedrückten Halme. Seine Hand wanderte automatisch zu der Tüte mit den Veilchenpastillen. Enttäuscht fiel ihm ein, dass er keine dabeihatte. Er umrundete das abgesperrte Areal, konnte aber weiter nichts Auffälliges entdecken. Schließlich wählte er denselben Weg wie der Pathologe. Kurz vor den Felsen blieb er erneut stehen. Er konnte beobachten, dass sich Doc Gainheart mit einem Infrarot-Stirnthermometer in der Hand über den Toten beugte. Von der Leiche sah Charles lediglich die Beine, die in einer petrol-blauweiß karierten Golfhose steckten. Allein diese merkwürdige Kleidung war für ihn Grund genug, um sich mit diesem Sport nicht anzufreunden. Erneut ließ er seinen Blick wandern. An einem der unteren Felsen konnte er einen rostroten Fleck erkennen. Auch ohne nähere Begutachtung wusste der Inspector, dass es sich um Blut handelte.

Vor der Steinformation befand sich ein großes Oval aus flach gedrücktem Gras. Langsam ging er zu Gainheart, hockte sich ihm gegenüber und betrachtete den toten Mann. Dessen Kopf lag in einer Blutlache, die Augen weit aufgerissen, der Mund wie zum Schrei geöffnet. Dicht neben der Schläfe befand sich ein taubeneigroßer Bluterguss.

»Bevor Sie wieder nerven!« Der Arzt fixierte Charles mit Schalk in den Augen. »Zwei Stunden, plus/minus.«

Charles nickte grinsend.

»Todesursache«, fuhr Gainheart nun ebenfalls grinsend fort, »Schweres Schädel-Hirn-Trauma durch Schädelfraktur am Hinterkopf.«

»Und dieses Hämatom? Ist er ebenfalls von heute früh?« Charles wies auf die Stirn des Toten.

Gainheart atmete tief durch. »Pantel! Sie wissen doch genau, dass exaktere Aussagen zu diesem Zeitpunkt unseriös wären.«

»Doc, kommen Sie.« Charles versuchte es mit seinem charmantesten Lächeln. »An den Steinen sind Blutspuren. Er muss also hinten übergeschlagen sein und hat sich dabei die schwere Kopfverletzung zugefügt. Aber warum hat er so einen kreisrunden Bluterguss an der Stirn? Und warum ist er überhaupt nach hinten gekippt?«

»Vielleicht ist ihm schlecht geworden!«

»Davon bekommt man keine Blutergüsse!«

»Na gut, aber nageln Sie mich später nicht darauf fest. Wissen Sie eigentlich, dass sie nerviger als eine Stubenfliege sind!« Gainheart erhob sich und richtete den Blick auf die Felsformation. »Das Hämatom ist frisch«, führte er weiter aus. »Wir befinden uns auf einem Golfplatz und es würde mich nicht wundern, wenn diese Verletzung von einem Golfball stammt. Aber erst kommt dieser Mann auf meinen Tisch! Vorher sage ich nichts mehr.«

Charles erhob sich ebenfalls. »Harrogate bekommt einen Golfball an die Stirn, verliert das Bewusstsein und fällt unglücklich nach hinten.«

»Ich sage dazu nichts mehr!«, wiederholte der Arzt energisch.

»Woher kommt dann das großflächig niedergedrückte Gras vor den Steinen. Könnte es sein, dass er erst nach vorn fällt, aufsteht, ihm schwindelig wird und er gegen die Felsen prallt?«