Mord auf dem Schützenfest - Günter von Lonski - E-Book

Mord auf dem Schützenfest E-Book

Günter von Lonski

4,9

Beschreibung

Hannover feiert das größte Schützenfest der Welt. Das hat Tradition, Power, Stimmung und Prost! Alles jubelt, alles lacht, nur einer kann nicht mehr mitfeiern, denn er liegt nach dem Schützenumzug etwas abseits am Ihme-Ufer und rührt sich nicht mehr. Arne Sonneveld, einer der diesjährigen Bruchmeister, die dem Schützenumzug ihre traditionelle Ausrichtung geben. Jung, ledig, unbescholten. Als Anlagebrater hat er sich beruflich mit dem Verkauf von AWD-Fondsanteilen allerdings nicht nur Freunde gemacht. Kommissarin Marike Kalenberger, die mit einer kleinen Auszeit am Steinhuder Meer dem Schützenfestrummel entkommen wollte, muss an denTatort. Und plötzlich steckt sie mittendrin im Geflecht von Schützenehre,geschäftlichen Mauscheleien, Neid, Eifersucht und alkoholisch bedingten Bewusstseinsstörungen. Kurz darauf wird auch noch Peter Brodinsky ermordet. Er war Mitarbeiter der Bank, die Kaufinteressenten ohne ausreichende finanzielle Mittel mit großzügigen Krediten zu ihren Fondsschnäppchen verhalfen. Und damit gerät Hinnerk Benthe ins Fadenkreuz der Ermittlungen. Er hat am Mordabend in einem der Festzelte auffällig lange mit Arne Sonneveld zusammengesessen und war in der Bank Vorgesetzter und erklärter Feind von Peter Brodinsky. Als wäre das nicht schon schlimm genug, gerät Hinnerk Benthe auch noch in private Bedrängnis. Ehefrau Melli entdeckt nach Jahren langweiligen Ehelebens ihre extreme erotische Veranlagung und verfällt einem rücksichtslosen Ausbeuter. Die alles verschlingende Katastrophe greift nach Hinnerk Benthe, doch wenn die Not am größten scheint, sind da immer noch die Kollegen und Freunde aus dem Schützenverein …

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Günter von Lonski

Mord auf demSchützenfest

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

© 2011 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Carsten Riethmüller

Umschlagfoto und Bearbeitung: CW Niemeyer Buchverlage

Druck und Bindung: AALEXX Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Printed in Germany

E-Book-Konvertierung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

E-Book ISBN 978-3-8271-9811-2

Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Stätten von Hannover, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Über den Autor:

Günter von Lonski wurde 1943 in Duisburg-Laar geboren. Er studierte an der Hochschule der Künste in Berlin. Seit 1981 schreibt er Romane, Krimis, Jugend- und Kinderbücher, Hörspiele, Kurzgeschichten, Glossen, Satiren und Schulbuchbeiträge. 2010 erhielt er den Rolf-Wilhelms-Literaturpreis der Stadt Hameln. Günter von Lonski ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in der Nähe von Hannover. Er ist außerdem Autor von bereits zwei erschienenen Weserbergland-Krimis „Das letzte Lied“ und „Tödlicher Wind“, in denen der akribische Journalist Hubert Wesemann ermittelt – spannend, unterhaltend, mit einem Schuss Humor und Ironie.

Mehr über Günter von Lonski und seine Aktivitäten erfahren Sie unter www.vonlonski.net

Für Cord Broyhan,

dem Vater der Lütjen Lage,

(um 1530)

Dat wy duth Jahr der Stadt tho gude Broke Hern sin willen, und in dem Ambt vlietich befunden werden, Broke tynse und alleß aller unvorwietlik gebohr ahne Ansehen der Person infordern. So als uns Gott helpe.*

(Dass wir dieses Jahr der Stadt zu Gute Bruchmeister sein wollen, und in diesem Amt fleißig befunden werden, Strafe, Zinsen und alles aller unvorweislichen Gebühr ohne Ansehen der Person einfordern. So helfe uns Gott.)

Als Vorläufer der Bruchmeister werden bereits im Jahre 1303 Ordnungsherren erwähnt, die als Magistris discipline für die Aufrechterhaltung der Ordnung bei Festlichkeiten zu sorgen hatten. Sie wachten über die Einhaltung erlassener Verordnungen und ahndeten deren Bruch.

Seit 1825 tragen die Bruchmeister die Städtischen Standarten dem jährlichen Schützenausmarsch voran. Die aktuellen Bruchmeister werden für ein Jahr verpflichtet und haben ledig und von gutem Charakter und Leumund zu sein. Bruchmeister vergangener Jahre können sich für die Aufnahme im Collegium ehemaliger Bruchmeister bewerben. Das Collegium trifft sich zu geselligem Beisammensein, pflegt die Traditionen der Bruchmeister und repräsentiert die Stadt Hannover bei verschiedenen Anlässen.

*Amtseid aus dem Eidebuch der Stadt Hannover, circa 1600.

Eins

Milchig weiß steht der Morgen über dem roten Backsteinbau der Marktkirche. Es wird ein heißer Tag werden: Staubig, drückend, bedrängend. Wie soll er Melli erklären, was in den letzten Stunden passiert ist?

Der alljährliche Schützenausmarsch stand an. Vor Sonnenaufgang waren sie in der Nacht zum Sonntag losmarschiert, um die vereinsbesten Schützen des vergangenen Jahres mit Marschmusik abzuholen. Bereits beim Ständchen vor den Häusern der Schützenbrüder gab es viel Hallo, Gelächter und das eine oder andere Schnäpschen.

Gegen neun trafen sich dann alle Schützenvereine auf dem Trammplatz vor dem Neuen Rathaus. Und wieder Hallo und ein, zwei Schnäpschen. Da war Melli auch dazugekommen.

Der Oberbürgermeister hielt seine Ansprache. Wie in jedem Jahr. Das Heeresmusikkorps spielte Alte Kameraden. Schlag zehn setzten sich die Schützenzüge unter dem Befehl „Im Doubliertritt, Marsch!“ zum mehrstündigen Ausmarsch in Bewegung. Zum größten Schützenfest der Welt auf dem Festplatz an der Ihme. Wer so ein Fest hat, braucht keine Wiesn, keinen Wasen und keinen Dom.

Bei den Schützen hatte und hat alles seine festen Regeln und Gebräuche. Nach der historischen Quartiereinteilung der Stadt wird der Zug der Schützen ebenfalls in vier Züge eingeteilt. Was nicht ausschließt, dass sich ein Schütze auch mal ins falsche Quartier verläuft.

Jedem Zug schreitet der aktuelle Bruchmeister mit einer städtischen Standarte voran. Ein junger Mann voller Stolz und Würde. Auf dem Kopf ein schwarzer Zylinder mit grünem Kleeblatt als heraldisches Symbol der Stadt Hannover. Dazu schwarzer Cut mit schwarzer Hose, blütenweißes Hemd mit weißer Fliege und an den Händen weiße Handschuhe. Ein Jahr wird er im Mittelpunkt des Vereinslebens stehen, danach kann er Mitglied im Collegium ehemaliger Bruchmeister werden. Für das geschäftliche und gesellschaftliche Vorankommen wertvoller als ein Hochschulabschluss oder Doktortitel. Beides zusammen kann natürlich nicht schaden.

Hinnerk Benthe gehört seit Jahren dem Collegium an und hat es beruflich bis zum Leiter einer Bankfiliale geschafft.

Sie hatten geschwitzt, Bier getrunken und viele Klare. Wer es konnte, zelebrierte eine Lütje Lage mit einem Glas Schankbier und einem Glas Kornbrand aus einer Hand. Wer es nicht konnte, goss sich Bier und Schnaps über Kinn und Jacke.

Im stundenlangen Marsch unter der Sonne wurde der Hals wund gescheuert, Blasen an den Füßen machten das Laufen beschwerlich, und die Ordensketten auf der Brust wurden immer schwerer.

Endlich war man auf dem Schützenplatz angekommen. Der Hemdkragen konnte gelockert werden, und der Knopf am Hosenbund wurde gelöst. Hosenträger übernahmen nun die alleinige Verantwortung. Man setzte sich zum Essen in der Festhalle Marris. Spanferkel, Schnitzel, Ochsenbraten. Eine aufnahmefähige Grundlage wurde geschaffen. Dann ging es weiter von Festzelt zu Festzelt. Alt Hanovera, Gilde Festzelt, Zum Herrenhäuser. Und überall wieder Hallo und Prost. Allmählich verloren die Schützenbrüder die Kontrolle über sich und den eigenen Bier- und Schnapskonsum. Wenn nicht jetzt, wann dann? Du traust dich nicht? Raus aus dem Festzelt, rauf auf den Rummel. Magic, Heiße Räder, Breakdance. Fahrgeschäfte für die Generation ohne Schwindelgefühl. Laut, hoch, schnell. Hubert und Gerold ließen sich provozieren, den Intoxx zu besteigen. Sie haben wohl nicht mehr realisieren können, was auf sie zukam. Ein Pfeiler, ein Schwenkarm, daran zwei frei bewegliche Gondeln, die sich um den Pfeiler, den Schwenkarm, sich selbst, ineinander und auseinander und um den eigenen Magen drehten. Hubert musste danach vom Roten Kreuz betreut werden und Gerold suchte sich einen Platz in der hintersten Ecke im Festzelt, trank nichts mehr, aß nichts mehr und brachte keinen Ton mehr heraus.

Die andern hatten sich schadenfroh amüsiert. Hinnerk war mit seiner Melli ein paar Runden Musik-Express gefahren, dann hatten sie noch mit Erich und Sabine Vonderheiden zusammengesessen, aber danach … Filmriss. Nichts mehr. Er kann sich nicht mal mehr erinnern, wo Melli geblieben ist. Und plötzlich war da Arne Sonneveld in seinen Armen. Ende dreißig, feingliedrig und irgendwie geschmeidig, sanft und anschmiegsam. Unverheiratet musste er als Bruchmeister sein, ob er andersherum war, wurde nicht gefragt. Wie er ihn angesehen hat. Ein feines Prickeln überzieht noch immer Hinnerks Unterarme, wenn er daran denkt. Diese erhitzte Haut auf seinen Wangen, die fordernden Hände. Hatten sie sich geküsst?

Mit dem Rücken lehnt Hinnerk an dem Kübel aus grauem Waschbeton. Die ganze Nacht muss er hier gesessen haben. Knochenhauerstraße. Wie ist er überhaupt hierhergekommen?

Er spürt nichts, kann seine Füße kaum bewegen, die Finger krallen sich um einen Absperrpfosten. In einer der Seitenstraßen werden Mülltonnen geleert. Kalter Schweiß steht ihm auf der Stirn. Sein schwarzer Cut ist verdreckt. Über ihm hängt der Zylinder schräg in den Zweigen irgendeiner Stadtbegrünung. Er würgt an dem ekligen Geruch nach schalem Bier und Hundedreck. Eine Frau fährt mit einem Fahrrad vorbei. Angewidert schaut sie auf den zusammengesunkenen Mann. Erst im letzten Augenblick weicht sie einem Müllcontainer aus. Hinnerk will grüßen, er öffnet den Mund, doch er kann die Zunge kaum bewegen.

Die Frau fährt weiter, hält aber nach ein paar Metern wieder an, dreht sich zu Hinnerk um. „Ist Ihnen nicht gut?“

Mühsam hebt Hinnerk eine Hand als Lebenszeichen. Die Frau schüttelt den Kopf, setzt ihr Fahrrad wieder in Bewegung. Hoffentlich wird er in seinem Zustand nicht von irgendwelchen Bekannten gesehen. Kunden wären noch schlimmer. Sein Arbeitsplatz liegt nur wenige hundert Meter entfernt, direkt hinter der Oper. Die HPP-Bank. Was sollten sie von ihm als Leiter der Kundenberatung denken.

Er versucht, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Gestern war Sonntag, heute ist Montag. Um neun muss er an seinem Arbeitsplatz sein! Keine Panik, den Montag und Dienstag hat er sich vorausschauend freigenommen. Er stützt sich am Betonkübel ab, erhebt sich mühevoll, schwankt. Egal, was Melli sagt, er muss nach Hause, unter die Dusche. Alles abwaschen, den gestrigen Abend, die Nacht, das Erbrochene … da war auch Blut.

Spatzen suchen zwischen den zusammengeketteten Stühlen nach vergessenen Krümeln. Eine Ratte wittert aus einem Spalt zwischen zwei Stufen einer alten Steintreppe heraus, huscht dann ins nächste Kellerloch.

Hinnerk verschwimmen die Konturen vor den Augen, er muss sich wieder setzen, diesmal auf den Rand des Blumenkübels. Ihm ist schlecht, elendig schlecht. Wie hat er noch gestern auf den Putz gehauen und gelacht. Vielleicht war das alles ein bisschen viel. Wie jedes Jahr.

Er steht auf, besieht sich den verdreckten Cut, die fleckige schwarze Hose. Tastet nach seinem Hemdkragen. Die weiße Fliege ist ihm abhandengekommen. Und die weißen Handschuhe auch. Das Hemd voller gelber Senfflecken. Trotzdem atmet er auf, er spürt seine Beine wieder, nimmt den Zylinder von einem vertrockneten Zweig und klappt ihn flach zusammen. In dem Outfit muss er durch die halbe Stadt und sich zum Gespött der Leute machen.

Er sucht nach seinem Taschentuch, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Die Taschen sind leer. Bis auf die abgebrochene Ecke eines Bierdeckels mit irgendeiner Telefonnummer. Sein Taschentuch ist weg, verloren.

Er wischt sich den Schweiß mit dem Handrücken von der Stirn. Dann ein Gedankenblitz, ein Zusammenhang. Das Taschentuch war voller Blut. Vielleicht ist es ganz gut, dass er es irgendwo weggeworfen hat, bevor es Melli in die Hände fallen könnte und sie unangenehme Fragen stellt. Er muss seine Kleidung so schnell wie möglich in die Reinigung bringen.

Aus einer Seitenstraße taucht ein Mann auf, er pfeift, pfeift noch einmal, ein großer brauner Hund kommt gelangweilt um die Ecke, trabt auf Hinnerk zu, schnüffelt an der herausgezogenen Hosentasche. Hinnerk hat Angst vor dem Hund, außerdem stört ihn seine Aufdringlichkeit. Er steckt die Hosentasche zurück in die Hose, dreht sich weg. Der Mann ruft: „Zeno“.

Ein kleines, orangefarbenes Fahrzeug der Straßenreinigung taucht auf, kehrt mit kreisenden Besen den Müll vom breiten Gehweg und hinterlässt eine glänzend feuchte Spur auf dem Kopfsteinpflaster. Eine Frau mit Kopftuch kommt aus der Kneipe und leert ihren Putzeimer im Gully am Straßenrand. Zeno lässt Hinnerks Hose nicht aus den Augen, knurrt, der Mann mit der Hundeleine beschleunigt seine Schritte. „Keine Angst“, sagt er, „Zeno jagt nur Verbrecher!“ Er lacht, muss der Straßenreinigung ausweichen, tritt ganz dicht an Hinnerk heran. „Ach, Sie sind es, Herr Benthe, ist Ihnen nicht gut?“

Auch das noch, ein Kunde! „Doch, doch, es geht schon“, murmelt er, „nur ein leichtes Unwohlsein.“

„Wohl ein bisschen viel gefeiert gestern?“

„Zu viel.“

„Komisch“, sagt der Mann mit der Hundeleine, „Zeno müsste Sie doch eigentlich kennen. Sie sind doch ein Ehrenmann. Na ja, vielleicht hat er gedacht, Sie wären ein …“

Penner, denkt Hinnerk, er meint Penner.

Der Mann gibt seinem Hund einen Klaps, Zeno läuft bellend dem orangefarbenen Straßenreinigungsfahrzeug hinterher. Im Strauch hinter Hinnerk singt jetzt eine Amsel.

Hinnerk wartet noch einen Augenblick, versucht sich zu sortieren, dann geht er los, nein, er schleicht, schlurft, kann die Füße kaum heben, will zur U-Bahn-Station Markthalle/Landtag, hält sich für einen Augenblick an dem Gitter der Straßenbegrenzung fest. Die Ampel springt auf Rot. Ein herankommender Wagen hält. Der Beifahrer beugt sich zur Fahrerin, gibt ihr einen raschen Kuss. Das Auto startet, die Frau schaut zufällig Hinnerk an, droht ihm mit dem Finger. Warum? Grün. Hinnerk überquert die Straße. War das eine Kundin? Er hat sie nicht erkannt.

Arne Sonneveld, dieser charmante Mann. Mitte dreißig und so allein. Sah würdevoll aus in Cut und Zylinder, wie er die Standarte trug. Eigentlich auch ein bisschen lächerlich. Aber irgendwie alles zusammen zum Liebhaben. Wie kokett er gelächelt hat, als er vor Hinnerk stand. Gefühle wie auf der Achterbahn. Im Alkoholrausch abgestürzt!

Hinnerk erreicht die Treppe zur U-Bahn, setzt sich unten auf einen der Metallstühle. Zwei Männer vom Wachdienst gehen vorbei, sehen ihn kurz an, vier Japaner mit Stadtplan sortieren ihr Besichtigungsprogramm – Marktkirche, Leineschloss, Künstlerhaus, Herrenhäuser Gärten, Niki de Saint Phalle, Kinder sind auf dem Weg ins Schimmbad. Sie betrachten ihn, feixen, rasch schwindet ihr Interesse, eines der Mädchen will seine Tasche öffnen, ein Junge tritt sie ihr aus der Hand. Die Tasche fällt zu Boden, allgemeines Gelächter, das Mädchen muss ihre Sachen wieder einsammeln. Sie rennt hinter der Gruppe her. „Abdul, du Spast, ich schlag dich Krankenhaus!“

Hinnerk besteigt die Linie 7 und fährt bis zur Wallensteinstraße, läuft dann noch einige hundert Meter die Göttinger Chaussee hinauf bis zur Schnabelstraße. Doppelhäuser mit zwei Etagen, Dachböden, Erkern und alle unterkellert. Eine heutzutage idyllische Arbeitersiedlung aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert. Saniert, neue Fenster, wärmeisoliert und Haus für Haus an private Interessenten verkauft.

Hinnerk versucht Klarheit in seinem Kopf zu schaffen, kann aber die Lücken in seiner Erinnerung nicht schließen und rollt den Gedankenfaden immer wieder von vorne auf. Sie hatten auf den Holzbänken im Bierzelt gesessen, alle hatten getrunken, gelacht und sich lustig gemacht über alles, was ihnen einfiel. Arne Sonneveld hatte sich irgendwann zwischen Hinnerk und Erich gedrängt. War bald aufgestanden, hatte Hinnerk mit sich gezogen. Und dann? Arne hatte vor ihm gestanden, hinter der Festhalle Marris im wechselnden Licht der Karussells. Musikfetzen wehten herüber. Die Liebe ist ein seltsames Spiel. Arne stand ganz nah vor ihm. Eine Hand hatte er um Hinnerks Hals gelegt, sich an ihn geschmiegt und versucht, den Reißverschluss an Hinnerks Hose zu öffnen. Hinnerk wusste nicht, wie ihm geschah. Sein ganzer Köper signalisierte Abwehr und Ekel, andererseits war da auch dieses unbändige Gefühl von Zärtlichkeit und Verlangen. Sie hatten sich geküsst? Diese fordernden Lippen auf seinem Mund. War mehr geschehen? Plötzlich hatte Sonneveld Nasenbluten. Und dann? Hinnerk hatte sein Taschentuch aus der Tasche gezogen, um Arnes Nasenbluten zu stoppen. Dieser dumme, dumme Junge. Er war so aufgeregt, und Hinnerk konnte ihm nicht helfen, war selber zu unerfahren. War da noch was? Geblieben ist ein dumpfes Verlangen. Und dieses Unbehagen, dass irgendetwas außer Kontrolle geraten ist.

Später, viel später und nach einigen weiteren Bierchen und Schnäpsen ist das Collegium dann gemeinsam von der Festhalle Marris aufgebrochen. Die meisten fühlten sich noch nicht reif fürs Bett, wollten noch mehr erleben. Einige hatten allerdings am Gilde-Tor gekniffen und sich mit dem Taxi nach Hause bringen lassen. Sie würden zum Gespött des nächsten Beisammenseins im Vereinsheim werden. Der harte Kern war in die Altstadt gezogen. Aber wie und wohin? Hinnerk schmerzt der Kopf.

Endlich steht er vor seiner Haustür. Er will den Haustürschlüssel wie gewohnt aus der Tasche holen. Kramt. Sucht. Findet nur die abgebrochene Ecke des Bierdeckels, lässt sie fallen und zerkleinert sie mit der Schuhsohle auf der grauen Steinstufe. Er muss klingeln. Das wird ein Empfang. Wie du aussiehst, was sollen die Leute denken, kannst du nicht wie ein normaler Mensch … Hinnerk atmet tief durch und drückt auf den Klingelknopf. Die Haustür öffnet sich mit einem Summen. Hinnerk schiebt mühsam die Türe auf, macht zwei, drei Schritte in den Flur, kann nicht mehr weiter und stützt sich mit einer Hand an der Wand ab. Schluckauf, ausgerechnet jetzt.

Zwei

Melli war am frühen Abend nach Hause gekommen. Ungern erinnert sie sich an den Schützenausmarsch, die Festzeltatmosphäre bereitet ihr noch immer Unwohlsein. Sie braucht einen anderen Geschmack im Mund, gießt sich ein Glas Tomatensaft ein. Verschüttet etwas von dem Saft. Ein roter Fleck breitet sich auf der weißen Tischdecke aus. Weiß wie Schnee, rot wie Blut. Melli greift nach dem Glas, setzt sich auf das Sofa und schaltet das Fernsehgerät ein. Deutschlands gesündeste Großmütter läuft gerade.

Melli ist nur ungern beim Schützenausmarsch mitgegangen. Sie kennt Hinnerks Schützenbrüder und kann sie nur kurze Zeit ertragen. Ihre Sprüche, das Bullengehabe, die Anzüglichkeiten der angetrunkenen Männer. Im Alltag schleichen sie grau in grau umher, verstecken sich in Wohlanständigkeit und Konformität. Aber an ihren Herrentagen lassen sie die Sau raus. Dieser elende Gestank nach Alkohol, Zigaretten und verschämt abgesetzten Bier- und Sauerkrautfürzen. Und Hinnerk mitten unter ihnen.

Sie schaltet den Fernseher aus und vertieft sich in ein kürzlich begonnenes Buch. Die Geschichte fängt gerade an, ein bisschen spannend zu werden. Ein Mann in der Midlife-Crisis. Schmeißt alles hin, rennt in Discos, lässt sich das Gesicht straffen und baggert eine Frau im Alter seiner Tochter an. Ein Buch vom Wühltisch.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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