Elend - Günter von Lonski - E-Book

Elend E-Book

Günter von Lonski

4,6

Beschreibung

Kriminalhauptkommissarin Marike Kalenberger hat ihr Burn-out überwunden und kehrt zur Mordkommission Hannover zurück. Man will sie nicht einbinden, aber beschäftigen, und betraut sie mit dem Fall einer Dreiundachtzigjährigen, die in einer Seniorenresidenz auf unnatürliche Weise gestorben ist – behauptet ihre Tochter. Kalenberger ermittelt eher lustlos, mit dem Fall ist keine Anerkennung zu gewinnen. Dann stirbt ein alter Mann in derselben Residenz genauso überraschend. Kalenberger forscht in seiner Vergangenheit. Sein Hobby waren Intarsienarbeiten aus Knochen – menschlichen Knochen. Zwei Pfleger des Stifts sind spurlos verschwunden, der Standard-Bestatter vergibt Grabstätten in Untermiete und ein amtlich bestellter Betreuer vermittelt das Erbe der Senioren an eine dubiose Stiftung. Doch das ist erst der Anfang in Kalenbergers unübersichtlicher Ermittlungsarbeit. Wenn’s ums große Geld geht, scheint selbst Mord ein akzeptiertes Argument zu sein. Kaltblütig, selbstherrlich, arrogant. Doch Kalenberger hält dagegen …

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Inhalt

Titelseite

Impressum

Über den Autor

Inschrift

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

Epilog

Günter von Lonski

Elend!

Marike Kalenbergers 3. Fall

Im Verlag CW Niemeyer sind bereits folgende Bücher des Autoren erschienen:

Das letzte Lied

Tödlicher Wind

Mord auf dem Schützenfest

Bittere Medizin

Eis!

Teufelskralle

 

Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Stätten von Hannover, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de

 

© 2013 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln

www.niemeyer-buch.de

Alle Rechte vorbehalten

Der Umschlag verwendet ein Motiv von shutterstock.com

open door . . . PavelShynkarou 2013

eISBN: 978-3-8271-9846-4

EPub Produktion durch ANSENSO Publishing www.ansensopublishing.de

Über den Autor:

Günter von Lonski wurde 1943 in Duisburg-Laar geboren. Er studierte an der Hochschule der Künste in Berlin. Seit 1981 schreibt er Romane, Krimis, Jugend- und Kinderbücher, Hörspiele, Kurzgeschichten, Glossen, Satiren und Schulbuchbeiträge. 2010 erhielt er den Rolf-Wilhelms-Literaturpreis der Stadt Hameln. Günter von Lonski ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in der Nähe von Hannover. Er ist außerdem Autor von bereits drei erschienenen Weserbergland-Krimis „Das letzte Lied“, „Tödlicher Wind“ und „Bittere Medizin“, in denen der akribische Journalist Hubert Wesemann ermittelt – spannend, unterhaltend, mit einem Schuss Humor und Ironie. „Elend!“ ist nach „Mord auf dem Schützenfest“ und „Eis!“ der dritte Hannover-Krimi aus der Feder von Günter von Lonski.

Mehr über Günter von Lonski und seine Aktivitäten erfahren Sie unter www.vonlonski.net

Alt werden ist natürlich kein reines Vergnügen. Aber denken wir an die einzige Alternative.

Robert Lembke

EINS

Den Stier bei den Hörnern packen! Kalenberger hat sich diensttauglich gemeldet. Polizeidirektion Waterloostraße. Sie steigt in den Fahrstuhl. Kriminalfachinspektion 1. Fachkommissariat für Mord- und Totschlag. 1.1 K. Den Stier bei den Hörnern packen. Ein Lieblingsspruch ihres Vaters. Kalenberger zittern die Hände. Trotzdem muss sie lachen. Ihr Vater kannte Paul Nisalski nicht. Erster Kriminalhauptkommissar und ihr Vorgesetzter. Eher etwas für den Hundefänger – bei dem mickrigen Erscheinungsbild. Verwaltungsmensch. Immer das Große und Ganze im Blick. Hatte ihr während ihrer Abwesenheit E-Mails geschickt und sich nach ihrem Gesundheitszustand erkundigt. Direkt nach der Schießerei am Raschplatz jeden zweiten, dritten Tag, dann noch einmal in der Woche und schließlich jeden zweiten Montag im Monat. Termin auf dem Onlinekalender.

Vierte Etage. Ob sie erwartet wird? Den Stier bei den Hörnern packen! Die Fahrstuhltür öffnet sich. Der helle Flur, ein junger Mann schiebt sich an ihr vorbei, stellt sich in den Fahrstuhl. Die Tür schließt sich hinter ihr.

Bevor sie den Stier bei den Hörnern packt, will sie erst einmal in ihr Büro. Wer hat ihren Platz eingenommen? Noch zwei Türen, noch eine . . ., sie wird erwartet. Von Paul Nisalski mit einem Blumenstrauß. Preisgruppe vier, runde Geburtstage. Dahinter ihr ehemaliger Kollege Urs Obanczek, das Deckenlicht spiegelt sich auf seiner Glatze. Verlegenes Lächeln. Neben ihm Daria. Sie kann sich nicht mehr zurückhalten, schiebt Nisalski mit seinem Blumenstrauß zur Seite und nimmt Kalenberger in die Arme. „Herzlich willkommen“, flüstert sie ihr ins Ohr.

Nisalski hüstelt. „Auch von mir ein herzliches Willkommen. Arbeit liegt schon auf dem Schreibtisch!“ Er hält ihr die Blumen unter die Nase. Daria nimmt ihm die Blumen ab. „Leider keine Zeit mehr. Termine.“ Und Nisalski ist raus.

„Du kannst dich gleich an deinen angestammten Platz setzen!“ Daria nimmt eine Vase aus dem Schrank und stellt sie zusammen mit den Blumen auf den Schreibtisch. „Ich hab meine Sachen schon rübergebracht. Zwei Türen weiter! Man sieht sich!“

Jetzt ist Kalenberger mit Obanczek allein. Sie zieht ihre Jacke aus, hängt sie in den Schrank, sie setzt sich an ihren Schreibtisch, schaut Obanczek an.

Obanczek lächelt verlegen. „Alles wieder in Ordnung?“

„Wie man’s nimmt.“

„Als wärst du nie weg gewesen!“

„Dann wollen wir den Stier mal bei den Hörnern packen!“

„Hab ich ganz vergessen, ist aber frisch!“ Obanczek angelt unter den Tisch und stellt eine Mineralwasserflasche auf den Tisch. „Ohne Kohlensäure!“

Kalenberger lächelt. Sie will etwas Nettes sagen: „Sammelst du noch Lippenstifte?“

„Hab ich doch nie oder hast du sie schon einmal gesehen?“ Obanczek kneift Kalenberger ein Auge zu.

Sie ist angekommen. Kalenberger greift nach der dünnen Mappe auf ihrem Schreibtisch. Obanczek steht auf, nimmt die Vase mit den Blumen und geht zur Tür. „Vase ohne Wasser bringt doch auch nichts!“

Kalenberger schlägt die Mappe auf. Überfliegt den Inhalt. In der Seniorenresidenz am Hermann-Löns-Park ist Chiara Napolitani verstorben. Mit dreiundachtzig Jahren. Ihre Tochter behauptet, es sei Mord gewesen.

Noch bevor sie die restliche halbe Seite gelesen hat, greift sie zum Telefon, wählt eine gespeicherte Nummer.

Nisalski!

„Wollen Sie mich ver . . . ver . . . lächerlich machen? Eine Dreiundachtzigjährige stirbt in einer Seniorenresidenz und ihre Tochter behauptet, es war Mord? Gibt es keine amtliche Stelle, die in der Seniorenresidenz die Todesursache feststellt?“

„Liebe Frau Kalenberger . . .“

„Und Ihren Blumenstrauß können Sie auch gleich abholen lassen!“

„Liebe Frau Kalenberger . . .“

„Ich bin nicht Ihre liebe Frau Kalenberger, ich bin Kriminalhauptkommissarin, oder hat sich in der Zwischenzeit etwas daran geändert?“

„Frau Hauptkommissarin, ich habe Ihnen ganz bewusst den Fall zugeteilt. Heikel, sehr heikel! Da kann nur jemand mit Fingerspitzengefühl . . .“

Die Tür zum Büro wird vorsichtig aufgeschoben.

„Auf einmal habe ich Fingerspitzengefühl? Haben Sie das aus meiner Personalakte?“

Die Tür wird wieder zugezogen.

„Es wäre schön, wenn Sie die Akte bis zu Ende lesen würden, bevor Sie lospoltern. Die alte Dame hieß . . .“

So schnell ist Kalenberger – nach einem kurzen Blick in die Akte – noch nicht: „Chiara Napolitani!“

„Das war ihr Künstlername. Mit richtigem Namen hieß sie Claudia Hartwich! Da können wir die Angabe ihrer Tochter nicht so einfach ablegen.“

„Tochter?“

„Inga-Maria Scheffel.“

„Sagt mir was“, murmelt Kalenberger.

„Na also, und entschuldigen brauchen Sie sich auch nicht. Machen Sie einfach Ihre Arbeit!“

Das Telefongespräch ist beendet. Die Tür geht wieder auf, Obanczek kommt mit der Blumenvase herein, stellt sie auf Kalenbergers Schreibtisch, grinst. „Ich freu’ mich richtig, dass du wieder da bist!“

„Nur nicht zu früh!“ Kalenberger nimmt ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche und legt es unter die Blumenvase. Sie ist bis zum Rand mit Wasser gefüllt.

„Damit du nicht so oft laufen musst“, meint Obanczek.

„Wieso ich?“

Adél steht am Spülbecken und kratzt den angebrannten Reis von gestern aus dem Topf. Als sie aufgewacht ist, war da niemand. Kalenberger hatte einen Zettel auf den Tisch gelegt: Einen schönen Tag. Koch was Leckeres! M. Sie hat ihren ersten Tag im K1.

Adél liebt ihre Freiheit. Tun, was sie will, niemandem gegenüber Rechenschaft ablegen, wohin sie geht. Aber Kalenberger finanziert sie. Von der Sozialhilfe allein kann sie nicht leben. Scheiße! Adél pfeffert die Spülbürste in die milchige Brühe. Koch was Leckeres! Will sie das? Will sie das so?

Sie mag Kalenberger, fühlt sich sicher in ihrer Nähe und kann ihre Gegenwart trotzdem manchmal nicht ertragen. Sie ist stabiler geworden in letzter Zeit. Wenn nachts die schwarzen Gedanken kommen, kriecht sie schon mal zu Kalenberger ins Bett. Kalenberger schien beim ersten Mal überrascht und hat ihr den Rücken zugedreht. Aber Adél hat sich nicht abschrecken lassen. Nachts Rücken an Rücken liegen, die Wärme spüren, den Atem hören, den leichten Duft von Kalenbergers Parfüm riechen. Die düsteren Wolken verziehen sich nicht, sie tun nur nicht mehr so weh. Einmal hat sie sich mit ihren kalten Füßen auf Kalenbergers Seite getraut. Kalenberger hat sie nicht zurückgewiesen. Am nächsten Tag hat ihr Kalenberger eine Wärmflasche vor dem Schlafengehen ins Bad gelegt.

Scheiße, Scheiße, Scheiße! Sie muss hier raus, sonst kann sie sich schon mit ihren Fünfunddreißig einbalsamieren lassen. Kalenberger hat gefragt, ob sie das Rauchen nicht einschränken kann. Sie raucht ihre Selbstgedrehten nur noch am offenen Badezimmerfenster. Neue Regeln für ein gutes Zusammenleben. Regeln für eine, die keine Regeln akzeptieren wollte.

Sie füttert Elfriede, den Sonnentau auf der Fensterbank. Elfriede ist lustlos. Adél muss sie zweimal mit der Fliege auf der Pinzette anstoßen, bevor sie zuschnappt.

Adél geht in ihr Zimmer, zieht sich ein frisches T-Shirt an. Schwarz. Wie die beiden Jeans und die Lederjacke, die zu ihrer Grundausstattung gehören. Sie verlässt die Wohnung, lässt den Schlüssel zurück.

Lotte Rohrbach kommt die Treppe herauf. „Haben Sie auch einen Brief von der Hausverwaltung . . .“

„Mahlzeit!“, sagt Adél, ohne die Nachbarin anzusehen.

Sie weiß nicht, wohin. Setzt sich in die U-Bahn. Zieht natürlich keinen Fahrschein, hat wenigstens noch einen Rest von Anstand im Leib. Dicker ist sie geworden, die Jeans spannen im Sitzen.

Sie muss aussteigen und auf die nächste U-Bahn warten. Drei U-Bahn-Kontrolleure hat sie erkannt, als die Bahn in die Haltestelle einfuhr. Die Typen waren einfach zu unauffällig. Dann fährt sie bis zum Kröpcke. Einfach so. Ohne Absicht. Vielleicht ein kleiner Schaufensterbummel. Sonderangebote an Jeans abklappern? Geschenkt! Sie weiß seit dem ersten Schritt aus der Wohnung, wo sie landen wird. Chili steht im Eingang zu H&M. Sozialarbeiter auf einer halben Stelle. Anlaufstation und Vermittler bei Problemen. Hat seine Schäfchen im Auge. Küsschen links, Küsschen rechts. „Tu‘ mir das nicht an“, sagt Chili.

„Wollte nur mal vorbeischauen!“

„Dann geh‘ wieder, du hast schon alles gesehen!“

„Ich will hier einfach nur ein bisschen rumstehen. Müde Füße vom Weglaufen.“ Adél grinst. Chili schaut sie von der Seite an. Henry und Backe gesellen sich zu ihnen. Man umarmt sich. Cleopatra taucht auf, ein blutiges Geschwür an der Lippe. Henry steckt sich eine Zigarette an, die Hände flattern. Mozart ist auf Entzug in Wunstorf. Wo Kastanie geblieben ist, weiß keiner. Manche meinen London, andere Berlin, Henry sagt: im Knast.

Adél ist unter Freunden. Sie haben zusammen so viel erlebt. Betteln, Diebstahl, Prostitution. Gegenseitig getröstet, wenn gar nichts mehr ging.

„Adél kriegt nichts“, sagt Chili, „auch wenn sie bettelt wie ein Hund. Sie hat es gerade geschafft. Sie muss . . .“

„Ich weiß selbst, was ich will.“

Chili hätte sich seine Ansage auch schenken können. Junkies brauchen Geld und mit ein paar Gramm zu dealen, ist leicht verdiente Kohle.

Es dauert nicht lange, bis sich die Gruppe wieder auflöst. Chili macht Feierabend. Adél schlendert in Richtung U-Bahn-Station. Es ist wie ein Verrat, das flache Briefchen in ihrer Tasche. – Brauchst du was? – Hast du was? – Wie viel willst du? – Zehn Gramm. – Tolle neue Sorte, White Widow, und baff. – Kostet? – Vierzehn! – Verarsch‘ mich nich‘! – Dann lass es! – Hab nicht so viel. – Dann besorg dir’s. – Mein Handy. – Reicht nicht. – Und ‘n Zwanziger. – Bis zur U-Bahnstation hat sie es geschafft. Jetzt wird ihr schlecht. Sie übergibt sich am Ende des Bahnsteiges auf die Gleise.

Wenn jemand käme und sie einfach zwingen würde, das Briefchen herauszugeben. Einer, vor dem sie Achtung hat. Sie würde sich wehren, bis die Knochen brechen. Es gibt kein Zurück mehr. Sie braucht diesen Kick. Einmal noch, nur heute, morgen ist alles wieder normal.

Sie steigt in die U-Bahn, fährt bis zum Altenbekener Damm. Kann es kaum erwarten, bis die Bahn hält, will nicht nach Hause, geht aber hinüber zum Engesohder Friedhof. Sie setzt sich auf eine Bank hinter einem Grabmal aus Granit. Ein Engel aus Stein schaut sie an. Ein eiskaltes Lächeln.

Tränen fließen Adél aus den Augen. Jetzt! Sie dreht sich ihren Joint. Scheiße, kein Feuer! Wie soll sie hier an Feuer kommen? Ein Grablicht! Falsche Jahreszeit! Grablichter erst wieder im Herbst. Sie läuft die Wege entlang, immer schneller und schneller. Im bodendeckenden Immergrün endlich doch ein rotes Licht. Sie fällt auf die Knie, öffnet das Grablicht. Scheiße. Das darf doch nicht wahr sein! Das Licht wird von einer Batterie betrieben.

Adél tritt das Grablicht gegen eine Marmorsäule. „Was machen Sie da?“ Eine Frau giftet sie an. „Ach so, Sie sind das, Frau Flick. Kann ich Ihnen helfen?“ Ausgerechnet die Verkäuferin aus der Bäckerei. Sie nimmt Adél in den Arm. „Kommen Sie, ich bring Sie nach Hause!“

Adél stößt die Verkäuferin von sich, die stolpert, fällt auf eine Baumwurzel, schreit auf, will aufstehen, Adél stößt sie erneut um, will sie schlagen, treten – hält sich erst im letzten Moment zurück und läuft nach Hause. Muss warten, bis die Tür von innen geöffnet wird, schlüpft dann hinein und setzt sich auf die Treppenstufe vor Kalenbergers Wohnung. Von der Straße ist das Signal des Unfallwagens zu hören, doch es fliegt vorbei. Hinter der Wohnungstür mauzt Augenstern. Jetzt hat sie auch kein Geld mehr fürs Katzenfutter.

Kalenberger stapft die Treppe hinauf. „Nanu, ausgesperrt?“ Sie sieht Adél genauer an. „Komm erst einmal mit rein!“ Kalenberger schließt die Tür auf. Augenstern streift Kalenbergers Bein mit ihrem Köpfchen, dann streicht sie um Adéls Hosenbeine.

Kalenberger stellt ihre Tasche ab, hängt die Jacke an die Garderobe, geht in die Küche, stutzt. Sieht den angefangenen Abwasch und Augensterns leeren Fressnapf. Sie dreht sich zu Adél um. Adél schnieft, steckt nach kurzem Zögern zwei Finger in die Hosentasche, zieht ein Briefchen heraus, hält es Kalenberger hin. „Ich bin so dämlich, so wahnsinnig dämlich!“

Kalenberger nimmt das Briefchen, Adél umarmt Kalenberger, drückt sich fest an sie, will beschützt werden, Kalenbergers Wärme spüren, nie mehr loslassen müssen.

Kalenberger schließt ihre Arme um Adél. Alles ist so schrecklich und doch gut zugleich. Kalenbergers Hand streicht über Adéls Rücken. So halten sie sich eine ganze Weile.

Kalenberger schaut ein wenig verunsichert, als sie sich voneinander lösen. Adél nimmt Augenstern auf den Arm. „Soll ich noch Katzenfutter holen?“, fragt sie.

Kalenberger schaut in den Küchenschrank.

„Gekocht hab ich auch nichts!“, gesteht Adél.

„Wir haben noch zwei Dosen Ravioli, die sollten für uns drei reichen!“

„Hast du die Dosen freiwillig gekauft oder geschenkt bekommen?“ Adél versucht ein Lächeln. Kalenberger zuckt nur mit den Schultern. Doch Augenstern scheinen die Ravioli zu schmecken.

Nach dem Essen greift Adél über den Tisch nach Kalenbergers Hand, drückt sie leicht, steht auf und stellt die Teller ins Spülbecken.

„Kurz abspülen“, sagt Kalenberger, „trocken bekommt man die Pampe kaum ab.“

Adél will protestieren, meint dann mit einem leicht ironischen Unterton: „Ja, Chef!“ Sie streicht im Vorübergehen mit dem Handrücken ganz leicht über Kalenbergers Rücken. Sie muss lächeln, als sie sieht, wie Kalenberger erschauert. „Soll ich uns eine Flasche Rotwein aufmachen?“

Kalenberger schaut auf Augenstern, Augenstern putzt sich den Bart. „Wir sollten unter Menschen gehen, einen Absacker trinken und uns unterhalten.“

„Hier in der Gegend? – Noch ‘n Bier und ‘n Korn und dann alles von vorn?“

„Ich hätte Lust auf einen leckeren Cocktail.“

„Wollen wir was probieren? Chili hat einen Freund in der List, der soll tolle Cocktails machen und leckere Tapas.“

„Haben dir die Ravioli nicht . . .“

„Doch, doch, ich mein nur. Ich hab sowieso kein Geld.“

„Ich sag schon, wenn es nicht mehr reicht.“

„Darf ich mal dein Handy nehmen?“

„Wo hast du deins gelassen?“

„Ich will nur kurz Chili anrufen.“

„Kein Handy mehr und kein Katzenfutter?“ Kalenberger holt ihr Handy aus der Handtasche. „Das war ein teurer Ausflug!“ Adél ruft kurz an. „Castillo in der Jakobistraße“, sagt sie dann, „und ich soll dir einen schönen Gruß von Chili ausrichten.“

„Wie war denn dein Tag?“, fragt Adél. Sie sitzen auf Hockern an einem kleineren Tisch in der gemütlichen Bar. „Zum Erschießen!“, sagt Kalenberger.

Eine junge Bedienung bringt zwei Edelweiß. Hatte Chili empfohlen. Ein leicht süßlicher Weißwein aus Argentinien mit Eiscrash und Zitronenscheibe.

„Soll man das mit der Nase trinken?“ Kalenberger deutet auf die beiden Trinkhalme im Glas.

Das hat Torsten gehört, so hat sich der nette Typ hinter der Theke vorgestellt. „Die sind für die Leute mit den zwei Zahnlücken, bei größerer Brache gibt’s den Saft aus der Schnabeltasse!“

„Lister Humor“, sagt Kalenberger. Sie saugt an einem der Trinkhalme, nickt zustimmend.

„Konntest du gleich wieder einsteigen?“

„Damit hab ich gar nicht gerechnet.“

„Wenigstens was Interessantes?“

„Eine Dreiundachtzigjährige stirbt im Seniorenheim. Herzversagen als Folge von Altersschwäche. Alle Formulare ordnungsgemäß ausgefüllt, Verstorbene beerdigt. Da taucht ihre Tochter auf und behauptet, die alte Dame wäre ermordet worden. Weil sie ihr ganzes Geld einer Stiftung vermacht hat. Soll sie doch glauben, was sie will. Aber die Tochter heißt Inga-Maria Scheffel.“

„Die Scheffel?“

„Genau! – Toller Fall. Extra für mich aufgehoben. Als Auszeichnung für vorbildlichen Arbeitseinsatz.“

„Hättest du auch Lust auf ein, zwei Tapas? Von den Ravioli muss ich ständig aufstoßen.“

Kalenberger schiebt Adél die Karte zu. „Mit so einem Fall hast du immer die Arschkarte gezogen“, sagt sie.

Adél sieht sie an und grinst.

Kalenberger steht über der Sache. „Lass ich die alte Dame ausbuddeln und es war ein natürlicher Tod, bin ich der Esel; war es kein natürlicher Tod, pinkeln mir die Kollegen ans Bein, die den Fall zu den Akten gelegt haben. Mit einem solchen Fall macht man sich unheimlich beliebt. Genau das Richtige für den neuen Start.“

Kalenberger wählt Garnelen in Knoblauchöl, Adél Currywurst in Coca-Cola-Soße.

„Und bei dir?“

Adél zuckt mit den Schultern. „Ich . . .“ Ein junger Mann an der Bar lässt sie nicht aus den Augen. Adél fühlt sich fett, schenkt ihm nicht mal einen interessierten Blick. „. . . ich brauche dringend Arbeit. Ich kann das nicht, zu Hause sitzen, abwaschen, einkaufen, kochen, abwaschen! Das ist nicht fair, ich weiß, aber es macht mich kaputt! Wenn ich Arbeit hätte, . . .“ Der junge Mann verzieht das Gesicht, schaut in eine andere Richtung. Seine Freundin muss mit ihrem spitzen Schuh sein Schienbein getroffen haben. „. . . könnten wir uns die Hausarbeit teilen. Aber das ist eigentlich nicht der Grund. Es geht einfach nicht: Hausfrau, Kochbücher, Supermarkt. Mit den Nachbarn über Sonderangebote quatschen und ihren Nachwuchs bewundern.“

„Haben wir Kochbücher?“

„Du weißt doch, was ich meine?“

„Ich versuche es.“

Adél wischt sich die Cola-Soße aus den Mundwinkeln. „Auf jeden Fall muss ich etwas unternehmen. Vielleicht geh‘ ich mal bei der Gärtnerei vorbei und frag nach Arbeit. Wäre doch ein Anfang. Hoffentlich bekommst du nicht wieder Schwierigkeiten im Job.“

„Ich doch nicht“, sagt Kalenberger, „ich bin doch immun gegen Schwierigkeiten.“

Obanczek hat eine Vergewaltigung mit anschließendem Mordversuch auf dem Tisch. Kalenberger starrt auf ihren Bildschirm. Obanczek bietet ihr eine Banane an, Kalenberger lehnt ab, öffnet die Akte auf ihrem Schreibtisch, liest.

„Vielleicht sollte ich mal ins Altenheim fahren?“

„Seniorenresidenz! Wenn du Altenheim sagst, lassen sie dich erst gar nicht rein. Oder wieder raus!“

„Man wird sehen!“ Kalenberger schließt die Akte, steckt sie in ihre Tasche, nimmt Obanczek die Banane aus der Hand und geht.

Hannover von der grünen Seite: Kleefeld, Tiergarten, Annateich, Herrmann-Löns-Park. Bäume, Wiesen, Tennisplätze. Etwas versteckt die Seniorenresidenz.

Die Leiterin ist eine Dame im grauen Hosenanzug, weißblond gefärbte Haare, energisches Auftreten. Bianca Thannheisen steht auf dem Schildchen am Revers. War nicht einfach, zu ihr vorzudringen. Sie hätte einen Termin vereinbaren können, meinte die Anmeldung. Frau Thanneisen sei sehr beschäftigt. Auch die Kriminalpolizei habe sich an Regeln zu halten.

Dem stimmt Kalenberger zu, schiebt die Dame zur Seite und steht gleich darauf im Zimmer der Chefin.

„Meine Mitarbeiterin . . . Eine Terminabsprache wäre . . .“

Aha, es wird also mitgehört, was vorne gesprochen wird. Braucht man das in einer Seniorenresidenz? „Ich hab nur wenige Fragen, da lohnt kein Besprechungstermin.“

„Bitte.“

Kalenberger weiß nicht, ob das Bitte ihrer Fragestellung oder dem angebotenen Platz auf der weißen Ledercouch gilt. Sie setzt sich, nimmt den Schnellhefter aus der Tasche. „Hier ist vor einiger Zeit“, sie schlägt den Ordner auf, „Chiara Napolitani verstorben . . .“

„Aus dieser Richtung weht also der Wind. Hätte ich mir doch denken können. Pah, Mordkommission! Ihre Tochter ist bei Ihnen aufgekreuzt und hat etwas von einem Verbrechen gefaselt?“

Frau Thanneisen lässt Kalenberger nicht zu Wort kommen.

„Ich kann den Schmerz eines Kindes beim Tod der Mutter verstehen. Da wird vieles irrational, aber meist stellt sich nach einiger Zeit der Verstand wieder ein. Nicht so bei Inga-Maria Scheffel. Erst ist sie uns auf die Nerven gegangen. Hat jede Bescheinigung sehen und prüfen wollen. Als nichts, aber auch gar nichts zu bemängeln war, hat das ihren Verdacht nicht zerstreut, die Frau ist immer dreister geworden.“

„Wir müssen einem solchen Verdacht natürlich nachgehen, wenn er geäußert wird.“

„Das verstehe ich doch. Soll ich Ihnen die Unterlagen heraussuchen lassen?“

„Hatte Frau Napolitani ein Einzel- oder ein Doppelzimmer?“

„Selbstverständlich ein Einzelzimmer. Frau Napolitani war eine Persönlichkeit, die Anspruch . . .“

„Sie können mir doch sicher sagen, mit wem sie befreundet war?“

„Da muss ich Sie leider enttäuschen. Frau Napolitani war eine absolute Einzelgängerin. Im Vertrauen . . .“, Bianca Thanneisen beugt sich zu Kalenberger, „. . . sie war eine richtige Harke. Zynisch und überheblich. Da hat man keine Freunde.“

„Es gibt doch sicher Pflegerinnen, die Frau Napolitani näher kannten.“

„Selbstverständlich! Wir legen größten Wert auf eine individuelle Betreuung unserer Gäste durch unser geschultes Fachpersonal.“

„Dann hätte ich gerne mit der geschulten Pflegerin von Frau Napolitani gesprochen.“

„Selbstverständlich.“ Frau Thanneisen steht auf. „Ich werde mir den Dienstplan ansehen und Sie unterrichten, wann die Pflegerin im Hause ist.“

„Sie können nicht sofort einen Blick auf den Dienstplan werfen?“

„Aber Frau, Frau . . .“ Kalenberger gibt ihr ein Visitenkärtchen. „. . . Frau Kalenberger, wir sind eine betriebswirtschaftlich orientierte Pflegeeinrichtung und keine Laienorganisation!“

Kalenberger wird Frau Scheffel besuchen, ruft vorsichtshalber vorher an.

ZWEI

Adél geht zur Friedhofsgärtnerei hinüber. Hier hat sie einige Zeit gearbeitet. Zwanzig Euro und das Handy – weg für nichts. Kalenberger hat den Stoff, ohne zu zögern, durchs Klo gejagt. Herr Sander hätte Arbeit für sie. Auf Vierhundert-Euro-Basis. Scheiße, sie ist längst nicht mehr beim Amt gemeldet. „Dann dreihundertfünfzig.“ Er schaut Adél an. „Bleiben wir bei vierhundert auf die Hand. Aber schlafen kannst du hier nicht mehr. Wenn was passiert, bin ich dran.“

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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