Mord bei Nordwest - Christiane Franke - E-Book + Hörbuch

Mord bei Nordwest E-Book und Hörbuch

Christiane Franke

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Beschreibung

Stürmisch, rau und voller Inselflair - der neue Fall für das Kultteam Oda und Christine Flitterwochen auf Wangerooge hatte sich Kriminaloberkommissarin Christine Delvental – ehemals Cordes – anders vorgestellt: Am Strand wird ein Hotelgast erschlagen aufgefunden. Der Tote gehörte zu einem Filmteam, das einen Bericht über Plastikmüll in den Meeren drehte. Musste er sterben, weil er ein Verhältnis mit der Freundin des Kameramannes hatte? Christine und ihre Kollegin Oda Wagner geraten in einen Sog aus Lügen, Eitelkeit und Gewalt

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Seitenzahl: 414

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Zeit:9 Std. 32 min

Sprecher:Victoria Schätzle

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Christiane Franke lebt an der Nordsee, wo ihre bislang neunzehn Romane spielen. Sie ist Herausgeberin von Anthologien, war 2003 für den Deutschen Kurzkrimipreis nominiert und erhielt 2011 das Stipendium der Insel Juist »Tatort Töwerland«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

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© 2019 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: shutterstock.com/Heide Pinkall

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Marit Obsen

eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-96041-517-6

Küsten Krimi

Originalausgabe

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Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

… aber die Liebe ist die größte unter ihnen.

1. Korinther 13,13

Dienstag

»Pass auf, dass die Flaschen nicht klirren«, ermahnte Fynn seinen Kumpel Kilian. »Ich hab keinen Bock, dass sie uns erwischen.«

Gemeinsam mit ihrem Klassenkameraden Leon hatten sich die beiden nach dem Frühstücksdienst im Inselheim Rüstringen von den anderen abgesetzt. Den Zettel mit den Fragen für die Inselrallye hatten sie in Kilians Rucksack gesteckt. Zu den sechs Flaschen Jever, die sie gleich trinken wollten. Die sie aber nicht trinken durften, schließlich waren sie erst vierzehn. Doch gerade das war der Reiz. Wann bot sich schon mal eine solche Gelegenheit? Fernab von zu Hause, ohne Eltern. Und die Lehrer, die den Törn begleiteten …

»Kannste vernachlässigen«, hatte Fynn seinen Freunden gesagt. Er war der Anführer. Er kannte sich aus.

Fynn sah auch deutlich älter aus als vierzehn. Er war groß. Und kräftig. Für ihn war es kein Problem gewesen, das Bier zu besorgen. Er wurde nicht nach seinem Perso gefragt.

Sie liefen über den Dünenweg des Inselheims zum Deich. Hier im Westen war die Deichkrone asphaltiert. Deichsicherung nannte man das, genau wie die laufenden Arbeiten, die dafür sorgen sollten, dass die Insel in den Herbst- und Frühjahrsstürmen von der rauen und aufgepeitschten Nordsee nicht »weggerissen« wurde.

Kilian sah sich um. Hinter ihnen war niemand zu sehen. »Was meinste?«, fragte er. »Jetzt?«

»Quatsch«, sagte Leon mit einem kurzen Blick über seine Schulter. »Lass uns lieber noch ein Stück laufen. Womöglich kommen die anderen auch gleich hier lang. Weißt doch, wie gern Frau Meyer am Wasser entlang in den Ort läuft.«

»Och, die alte Heulsuse.« Fynn grinste. »Wir müssen nur rufen: ›Da ist sie ja, die Kegelrobbe‹, schon fängt sie wieder an zu flennen. Vor der brauchen wir keinen Schiss zu haben.«

»Nee, vor der nicht. Aber von dem Buschhorn möchte ich nicht erwischt werden.«

»Ich auch nicht«, gestand Kilian. Fynn zuckte lediglich mit den Schultern.

Schweigend liefen sie den Deichweg entlang. Nach einer Weile streckte Fynn den Arm aus. »Da vorn. Wir gehen hinter die Granitsteine. Da sieht uns keiner. Die leeren Pullen können wir gleich dort lassen.«

Die anderen beiden nickten. Die großen Granitsteine waren für die Deichsicherung vorgesehen, wie ihnen Herr Buschhorn gestern im Inselunterricht erklärt hatte. Entlang der Dünen warteten jede Menge solcher Steine darauf, verarbeitet zu werden. Weiter vorn waren die gewaltigen Haufen höher und durch Zäune geschützt, hier allerdings war der Zugang frei und die Haufen nur circa drei Meter hoch. Sie schlenderten langsam daran vorbei, auf der Suche nach der perfekten Stelle.

»Hier«, entschied Fynn. »Hier ist es gut.« Schon begann er, über die Steine zu klettern. »Pass auf, dass du nicht hinfällst und die Flaschen kaputtgehen«, warnte er Kilian, als er auf einmal etwas sah, das seinen Atem stocken ließ. »Bleibt, wo ihr seid«, sagte er tonlos. »Da liegt jemand.«

Schnell kam er zurück. »Kilian, du rennst ein paar Meter vor und schmeißt die Pullen weg, irgendwo zwischen die Steine. Ich rufe den Notarzt. Obwohl, der Typ da ist garantiert tot. Sein ganzes Gesicht ist voller Blut.«

***

Christine Delvental schminkte sich gerade vor dem Badezimmerspiegel die Lippen, als ihr frisch angetrauter Ehemann Phillip das Hotelzimmer betrat. Er hatte sich nach dem Aufwachen als Erster fertig gemacht und war dann ans Wasser gegangen. Es war sein erster Aufenthalt auf Wangerooge, und Christine schmunzelte angesichts seiner Freude, so nah am Wasser zu wohnen, und seiner Begeisterung für die Insel als solche. Christine selbst war schon öfter nicht nur auf Wangerooge, sondern auch in diesem Hotel gewesen. Sie liebte die familiäre Atmosphäre im Atlantic und vor allem den mediterranen Hotelgarten mit den vielen Olivenbäumen, der ein Gefühl von Süden und Leichtigkeit auf diese Insel brachte, die doch eher für ihren rauen Nordseecharme bekannt war.

»Also, Sprotti, das Wasser ist da«, verkündete Phillip, als habe er eigenhändig dafür gesorgt. »Wenn wir uns mit dem Frühstück beeilen, kannst du auch noch ein bisschen durch die Wellen waten.« Er schüttelte das kleine Handtuch, das Christine bei Inselaufhalten stets dabeihatte, um sich nach einem Strandspaziergang mit »Wassertreten« die Füße zu trocknen und sauber zu wischen, über dem Mülleimer aus. Sand rieselte hinab, dann hängte er das Handtuch über die Heizung.

Christine lächelte. »Also von der Nordsee lasse ich mich nicht hetzen, dass das mal klar ist«, sagte sie. »Außerdem ist die ein paar Stunden nach ihrem Verschwinden schon wieder da. Ich möchte jetzt ganz gemütlich mit dir frühstücken.« Sie drückte ihrem Mann einen Kuss auf den Mund und grinste, weil das keinen Farbabdruck auf seinen Lippen hinterließ. Seit sie Phillip kannte, benutzte sie kussechte Lippenstifte.

Sie verließen das Zimmer und gingen in den rustikal eingerichteten Frühstücksraum. Obwohl das Hotel voll belegt war, bekamen sie gleich einen Platz. Sie hatten sich kaum gesetzt, als Joanna auch schon nach ihren Getränkewünschen fragte.

Christine mochte die junge Frau, die auf angenehme Art bemüht war, den Hotelgästen jeden Frühstückswunsch zu erfüllen. Auch bei ihren früheren Aufenthalten hatte sie nie das Gefühl gehabt, zahlender Gast, sondern eher eine willkommene Freundin zu sein. Sie bestellte Ostfriesentee für zwei, Rührei für sich und zwei Spiegeleier für Phillip, der bereits am Büfett und gerade damit beschäftigt war, Saft einzuschenken. Ein glückliches Gefühl durchströmte sie, als sie ihm zusah.

Am Nachbartisch schien es nicht so friedlich zuzugehen.

»Wo steckt er denn schon wieder?«, fragte einer der drei Männer, die dort saßen. Er gehörte zu einer Vierergruppe, die Christine und Phillip gestern schon aufgefallen war. »Er meint immer, ’ne Extrawurst kriegen zu müssen. Wir haben doch einen Zeitplan. Es ist einfach zum Kotzen, wie der sich aufführt.«

Den Mann, der sich aufregte, schätzte Christine auf Mitte vierzig. Mindestens. Seine Frisur mit dem in der Mitte der Stirn spitz zulaufenden Pony erinnerte sie an die Journalistin Krone-Schmalz.

»Nun bleib mal ganz geschmeidig«, sagte sein Sitznachbar, ein deutlich jüngerer Mann. »Vielleicht hat er nur verpennt.« Er schob seinen Stuhl zurück. »Ich geh hoch und klopf an seine Zimmertür.«

»Ja klar, Marcel, immer schön schleimen«, stänkerte der Ältere.

»Leck mich doch, Oliver.« Der Mann namens Marcel drehte sich um und ging davon. Der dritte Mann am Tisch löffelte still sein Müsli.

Phillip kam zurück und stellte den Multivitaminsaft vor Christine ab.

»Danke.« Sie lächelte ihn an.

Sie sah ihrem Mann hinterher, als er zum Büfett zurückging. Ihrem Mann. Es war ein eigenartiges, ein warmes Gefühl, wieder verheiratet zu sein. Auch wenn sie sich an den neuen Nachnamen erst gewöhnen musste. Am Telefon meldete sie sich manchmal noch mit »Cordes« statt mit »Delvental«. Sie hoffte, sie würde die Namensänderung schnell verinnerlichen. Schließlich liebte sie ihn aus tiefstem Herzen, und in nicht einmal acht Monaten wurden sie Eltern. Automatisch glitten Christines Hände auf ihren flachen Bauch. Sie hatte nicht erwartet, noch schwanger werden zu können, es war ein überraschendes Hochzeitsgeschenk gewesen, das sie nur zu gern angenommen hatte.

Joanna kam mit dem Kännchen Tee. »Die Eier sind gleich fertig«, sagte sie freundlich.

Christine lächelte sie an. »Alles gut, nur keine Hektik. Wir sind im Urlaub und haben Zeit.«

Kurz nachdem sie sich und Phillip Tee eingeschenkt hatte, kehrte Marcel zum Nebentisch zurück. »Erik rührt sich nicht«, sagte er und nahm wieder Platz. »Vielleicht ist er gestern noch irgendwo versackt?«

Der dritte Mann, der bislang schweigend sein Müsli gegessen hatte, sah auf. »Wo soll man denn hier versacken? Auf der Insel macht doch alles schon vor Mitternacht dicht.«

»Ist doch egal, Lars«, sagte der ältere Mann namens Oliver. »So haben wir wenigstens freie Bahn beim Dreh, und Erik funkt uns nicht dazwischen.« Er grinste. »Vielleicht ist er von irgendeiner Touristin abgeschleppt worden, der er sich als der große Filmproduzent vorgestellt hat. Würde zu gern sehen, wie die reagiert, wenn sie erfährt, dass er nur Dokumentarfilme fürs Fernsehen dreht.«

»Hör auf zu stänkern, Oliver. So schlimm ist Erik nun auch wieder nicht«, sagte Marcel. »Aber wie du ganz richtig sagst: Wir kriegen den Dreh auch allein hin. Ist schließlich alles vorbereitet.«

»Hier, bitte schön.« Phillip stellte einen Teller mit geräuchertem Lachs und Käsevariationen auf den Tisch. »Was magst du für Brot?« Schon wollte er wieder davoneilen.

Christine zwinkerte ihm zu. »Ganz lieb, danke. Aber du brauchst mich nicht bemuttern. Ich bin nur schwanger. Nicht krank.« Sie stand auf und drückte Phillip sanft auf seinen Stuhl, ehe sie selbst zum Büfett ging, um eine kleine Brotauswahl zusammenzustellen.

***

Selten in seinem Leben hatte Fynn sich so beschissen gefühlt wie in dem Moment, als er die Leute der Rettungswacht mit Trage und Notfallkoffer auf sich zukommen sah. Er hoffte, dass Kilian die Bierflaschen weit genug weg zwischen den Granitsteinen entsorgt hatte, damit niemand dahinterkam, dass sie hier eine kleine Privatparty hatten feiern wollen. Das würde nämlich zu einem Rausschmiss aus der Schule führen. Und den konnte er sich ja nun gar nicht leisten, wo er doch in allem den Vorstellungen seines Vaters entsprechen und so wie er Jura studieren sollte, um anschließend die Kanzlei zu übernehmen. Fuck! Warum musste gerade heute hier ein Toter liegen?

Die Rettungssanitäter kamen im Laufschritt näher.

»Wo liegt die Person?«, rief einer von ihnen.

»Da.« Fynn zeigte auf die Stelle.

Die Sanitäter kletterten vorsichtig über die Steine. Keine zwei Minuten später war die anfangs vorherrschende Geschäftigkeit verebbt. »Keine Vitalfunktion«, hörte Fynn einen der Männer sagen. Er selbst hockte mit Kilian und Leon am Rand des Deichsicherungsweges, die Füße gegen die kleinen Betondreiecke gestemmt, die die Sturmwellen brechen sollten.

»Ich glaub, wir müssen hierbleiben«, sagte Leon. »Das ist jedenfalls im Fernsehkrimi immer so. Die Zeugen müssen dableiben und Aussagen machen.«

»Wir sind keine Zeugen«, widersprach Fynn. »Wir haben den Typ nur gefunden.«

»Deswegen sind wir trotzdem Zeugen«, beharrte Leon. »Gleich kommt die Polizei, dann werden wir befragt und müssen unsere Personalien angeben und sagen, was wir hier gemacht haben.«

»Wir wollten wegen der Inselrallye den schnellsten Weg ins Dorf nehmen. Das werdet ihr sagen!«, befahl Fynn. »Kein Wort vom Bier. Verstanden?« Er sah Kilian streng an. »Du hast die Flaschen doch richtig zertrümmert?«

»Klar«, erwiderte Kilian. »Volle Lotte über die Granitsteinhaufen geschmissen. Hab’s klirren gehört. Die können uns nicht draufkommen.«

***

Die Nordsee war bereits wieder auf dem routinemäßigen Rückzug, als Christine und Phillip den Frühstücksraum verließen und Hand in Hand an der Wasserkante entlang gen Westen liefen. Die Schuhe behielten sie an, denn trotz Sonnenscheins und obwohl die Temperaturen für Anfang November sehr mild waren, lockte das Nordseewasser nicht gerade mit angenehmer Wärme. Im Gegenteil. Es war lausekalt, wie Christine feststellte, als sie ihre Hand ins kühle Nass hielt. Und kalte Füße mochte sie nicht, nicht einmal im Urlaub.

»Da war ja eben richtig was los am Nebentisch«, sagte sie, als sie vom Strand hinauf auf den befestigten Deich liefen, wo linker Hand Berge von dicken Granitsteinen darauf warteten, zur Deichsicherung verarbeitet zu werden. »Ich stelle es mir aber auch schwierig vor, als Filmteam ständig zusammen und unterwegs sein zu müssen. Sind ja schließlich alles kreative Köpfe, da hat bestimmt jeder so seine eigenen Ideen hinsichtlich eines Drehs.«

Hajo Albrecht, der Chef des Hotels Atlantic, hatte ihnen erklärt, dass das Filmteam eine Dokumentation über Plastikmüll an den Stränden der Ostfriesischen Inseln drehen wollte. Vor allem, weil die Inselgemeinden nun ihren Plan, den Gast aktiv in die Müllbeseitigung einzubeziehen, umsetzten: An den Strandübergängen waren große grobmaschige Behältnisse aufgestellt worden, in die die Gäste den Müll werfen konnten, den sie am Strand auflasen. Drei Teile Müll, das müsste doch jeder schaffen, lautete die Devise. Für eine bessere Umwelt. Für die Befreiung der Weltmeere von dem immer größer werdenden Plastikproblem. Christine hatte Berichte im Fernsehen gesehen, in denen ganze Plastikinseln zwischen Hawaii und Kalifornien gezeigt worden waren, viermal größer als die Bundesrepublik.

»Tja«, entgegnete Phillip lax, »so ist das nun mal, wenn man im Team zusammenarbeitet. Da kannst du ebenso ein Lied von singen wie ich.«

»Na ja«, entgegnete Christine lachend, »in meinem Job ist Kreativität nicht so gefragt, bei mir geht es um Fakten, Sorgfalt und die richtigen Schlussfolgerungen.« Als Oberkommissarin des K1 der Polizeiinspektion Wilhelmshaven war sie mit den eher heftigeren Straftaten betraut, hatte so manchen Mordfall aufklären müssen. Phillip hingegen war Architekt und plante große Logistikzentren. Auch da musste die Kreativität oft untergeordnet werden. »Ist ja auch egal. Wir haben Urlaub und müssen uns um die beruflichen Befindlichkeiten anderer Leute Gott sei Dank keine Gedanken machen.« Sie blieb stehen und gab ihm einen Kuss.

Nachdem sie ein paar Schritte weitergelaufen waren, stutzte sie. »Was ist da denn los?«

Weiter hinten sah man einen Polizisten in Uniform und mehrere Rettungssanitäter in knallig orangen Jacken. Der Polizist hockte bei drei Personen, die am Wegesrand saßen.

»Da muss etwas passiert sein.« Schon legte sie einen Zahn zu.

»Christine. Bitte«, protestierte Phillip. »Du hast Urlaub. Dein Kollege da vorne wird das auch ohne dich schaffen.«

»Phillip. Rettungsdienst und Polizei! Da ist ganz klar was passiert.« Sie ließ Phillips Hand los, mit der er sie zurückhalten wollte, und erhöhte das Tempo.

Ein wenig außer Atem erreichte sie die ungleiche Menschengruppe. Jetzt erst bemerkte sie, dass die drei Personen, bei denen der Polizist hockte, Jugendliche waren.

»Cordes, Kripo Wilhelmshaven«, stellte sie sich vor. »Was ist denn geschehen?«

»Christine!«, rief Phillip von hinten.

Einer der Sanitäter sah sie an. »Haben Sie Ihren Dienstausweis dabei?«

»Natürlich. Moment.« Christine zog ihr Portemonnaie aus der Tasche ihrer Daunenweste, hielt dann aber inne. »Nein, hab ich nicht. Ich bin im Urlaub hier. Und … ich heiße auch gar nicht mehr Cordes, sondern Delvental. Seit letzter Woche.« Sie kam sich wie eine Hochstaplerin vor. Phillip hatte recht gehabt, sie zurückhalten zu wollen. Aber nun war sie vorgeprescht und wollte auch dabei bleiben.

Die beiden Rettungssanitäter, der Polizist und die drei Jugendlichen sahen Christine interessiert an. Hinter den Granitsteinen machte sie einen Arzt aus, der eine anscheinend leblose Person untersuchte.

Der Polizist stand auf. »Moin, Christine«, grüßte er freundlich und gab ihr die Hand. »Erinnerst du dich? Ich bin der Nachfolger von Bernd Tönjes. Stefan Knudsen. Wir haben uns im letzten Jahr bei einer Fortbildung in Aurich kennengelernt. Oda war auch dabei. Ich hatte gerade den Posten hier übernommen. Kurz nach der Remberg-Sache. Das war Bernds letzte richtig große Aktion. Ich hab beinahe das Gefühl, dabei gewesen zu sein, so oft hat Bernd davon erzählt.« Er wandte sich an die Rettungssanitäter. »Alles gut, ich kenne die Kollegin. Frau Delvental hat damals in dem Fall der am Dünenübergang gefundenen Frau ermittelt.«

»Ja. Sophia Remberg«, erinnerte sich Christine. Sie drehte sich zu Phillip um, der mürrisch dreinblickend hinter ihr stand. »Phillip, das ist Stefan Knudsen, der Inselpolizist. Stefan, das ist mein Mann. Phillip Delvental.«

Stefan trat auf Phillip zu und reichte auch ihm die Hand. »Herzlichen Glückwunsch zur Hochzeit.« Dann wandte er sich wieder an Christine. »Sag bloß, ihr verlebt eure Flitterwochen hier? Hättet ihr euch nicht besser was außerhalb deines Dienstbereiches aussuchen sollen?« Er zwinkerte amüsiert.

»Meine Frau hat Urlaub. Sie ist nicht im Dienst«, stellte Phillip mit scharfem Unterton klar. Irritiert warf Christine ihm einen Blick zu.

»Also, was ist passiert?«, fragte sie dann.

»Diese drei jungen Herrschaften hier haben einen Toten gefunden«, antwortete Stefan Knudsen. »Da hinten. Zwischen den Granithaufen. Wie es aussieht, hat er eine gewaltige Kopfwunde.«

»Zwischen den Steinen?« Christine sah die Jungs an.

»Na ja«, sagte der eine. »Wir machen gerade eine Inselrallye. Von der Schule aus. Sollen Fragen beantworten und die Insel erkunden. Uns hat halt interessiert, was da so ist, bei diesen Steinen.«

Christine schmunzelte ob der Vehemenz, mit der der junge Mann seine Aussage machte. Garantiert war da noch was anderes im Spiel gewesen als bloß reine Neugierde. Irgendwas, das nicht für die Erwachsenen bestimmt war. Sie ging darüber hinweg und wandte sich an Knudsen. »Kann es ein Unfall gewesen sein?«

»Christine. Bitte.« Das war Phillips warnende Stimme.

Stefan Knudsen ignorierte ihn. »Nee. Also, wir können es zwar nicht ausschließen, aber wäre er auf den Steinen herumgeklettert und gestürzt, hätte sein Kopf in einer Blutlache liegen müssen. Da ist aber nichts.«

»Also hat er sich die Verletzung nicht hier zugezogen?«

»Ich vermute mal nicht.«

»Er wird kaum stark blutend hierhergelaufen sein«, überlegte Christine. »Also ist davon auszugehen, dass eine andere Person beteiligt war.«

»Könnte sein. Bislang haben wir im direkten Umfeld der Leiche allerdings nichts gefunden, was auf die Anwesenheit einer zweiten Person hindeutet. Auch nichts, was als Tatwerkzeug in Frage kommt.«

»Wisst ihr, wer das Opfer ist?«

»Warum willst du das wissen, Christine?«, fragte Phillip scharf. »Damit sollen sich deine Kollegen auseinandersetzen. Wir haben Urlaub. Es sind unsere Flitterwochen, verdammt!«

Knudsen sah sie fragend an.

Christine holte tief Luft. »Natürlich ist das die Sache meiner Kollegen«, sagte sie. »Dennoch würde ich gern wissen, wer es ist. Nenn es weibliche Neugier.«

Aber es war nicht nur die Neugier.

»Kein Insulaner«, antwortete Knudsen jetzt. »Aber ich glaub, es könnte Erik Sander sein. Der dreht hier nämlich mal wieder einen Film. Einen Ausweis hat er aber nicht dabei.«

Sofort dachte Christine an den fehlenden Mann vom Nachbartisch.

***

»Tja, meine Liebe«, sagte Hendrik Siebelt, Erster Kriminalhauptkommissar und Chef der Wilhelmshavener Polizeiinspektion, zu Kriminalhauptkommissarin Oda Wagner, »du darfst mal wieder auf Staatskosten nach Wangerooge fahren. Es gibt einen männlichen Toten, der vermutlich erschlagen wurde.« Er las die Informationen, die der Inselpolizist an die Polizeiinspektion übermittelt hatte, von einem Zettel ab. »Erik Sander, Produktions- und Aufnahmeleiter einer Produktionsfirma, die fürs Fernsehen arbeitet. Er sollte mit seinem Team einen Dokumentarfilm zum Thema Plastikmüll in den Meeren drehen und war zusammen mit seinen Kollegen im Hotel Atlantic in der Peterstraße untergebracht. Da ist aber kein Zimmer frei. Lemke hat dich und Nieksteit im Hotel Hanken einquartiert. Das liegt ja in unmittelbarer Nachbarschaft. Die Kriminaltechniker sind schon auf dem Weg nach Harle zum Flugplatz.«

»Mit Nieksteit?« Oda runzelte die Stirn. So gern sie früher mit dem quirligen Kollegen zusammengearbeitet hatte, jetzt sträubte sich ihr inneres Gefieder bei dem Gedanken, ihn an ihrer Seite zu wissen. In letzter Zeit war er mehr durch seine Unstetigkeit und häufige kurze Krankmeldungen aufgefallen, als durch Einsatzfreude zu glänzen. Wenngleich Oda zugeben musste, dass Nieksteits Arbeit, so er denn zum Dienst erschien, nicht zu beanstanden war. Dennoch. Christine und sie waren über die Jahre zu einem super Vor-Ort-Team geworden, Lemke und Nieksteit bildeten das Backoffice. Und so sollte es bleiben.

Allerdings hatte sich Nieksteits Verhalten in den letzten Wochen stark verändert, und zufällig beobachtete Situationen hatten in Oda den Eindruck erweckt, dass der junge Kollege in Schwierigkeiten steckte. Sie hatte ihn darauf angesprochen, doch er hatte alles mit der ihm eigenen Leichtigkeit abgetan.

»Nun guck nicht so. Lemke brauche ich hier. Und Christine ist in den Flitterwochen«, sagte Siebelt.

»Ja, auf Wangerooge«, entgegnete Oda. »Und wenn ich mich nicht irre, haben sie und Phillip sich in das Hotel eingebucht, in dem auch der Tote gewohnt hat. Christine liebt das Atlantic.« Ihre Augen funkelten, als sie voller Elan hinzufügte: »Da hat sie sich genau den richtigen Ort zur richtigen Zeit ausgesucht. Glaub mir, sie wird nicht untätig zusehen, während Nieksteit und ich dort ermitteln.«

»Oda. Christine ist in den Flitterwochen«, wiederholte Siebelt nachdrücklich. »Da denkt sie bestimmt an ganz andere Dinge als daran, einen Todesfall aufzuklären.«

»Ich weiß nicht, Chef. An andere Dinge hat sie bestimmt auch schon vorher gedacht.« Sie grinste. Dass Christine schwanger war, brauchte sie Siebelt nicht zu erzählen. War nicht ihre Aufgabe. Überdies war Christine noch ziemlich am Anfang, sie hatte ja selbst erst kurz vor der Hochzeit davon erfahren. Oda war sich sicher, dass einer wie Siebelt nicht erwartete, dass seine Mitarbeiterin mit einundvierzig Jahren noch schwanger werden könnte. Es entsprach nicht Siebelts Weltbild, wie sie aus seinen Reaktionen ableiten konnte, wenn er mal wieder Zeitungsmeldungen vorlas, laut denen eine Prominente mit Mitte, Ende vierzig oder sogar Anfang fünfzig ein Kind zur Welt gebracht hatte.

»Egal. Halt Christine da raus. Du nimmst Nieksteit mit. Lemke hat das Zimmer erst einmal für drei Nächte gebucht.«

»Das Zimmer?«, entfuhr es Oda entsetzt. »Wir sollen uns ein Zimmer teilen?«

»Unsinn.« Siebelt sah sie an, als sei sie blöd. »Zwei Einzelzimmer natürlich. Also: Fahr nach Hause, pack ein paar Klamotten ein, und dann nichts wie los. Lemke hat bei den Inselfliegern Bescheid gesagt, dass ihr kommt und so schnell wie möglich rübermüsst.«

***

Nieksteit saß in der Küche seiner Wohnung auf einem Stuhl, den Kopf auf die Hände gestützt. Eigentlich hatte er heute einen Tag freigenommen, aber nun gab es einen ungeklärten Todesfall auf Wangerooge, und er sollte mit Oda Wagner rüberfahren. Voraussichtlich für mehrere Tage. Das ging nicht! Das konnte er nicht! Schweiß trat auf seine Haut, tränkte sein T-Shirt unter dem Pullover. Er wischte sich mit der Hand über den Mund. Er konnte nicht weg. Nicht auf die Insel. Gab es dort überhaupt eine Spielhalle? Selbst wenn, wie sollte er Oda erklären, dass er dort seine Zeit verbrachte? Peinlich genug, dass sie ihn an einem Tag, an dem er sich krankgemeldet hatte, vor der Spielhalle gesehen hatte. Und später wollte sie wissen, ob er ein Spielhallen-Problem hatte?

Natürlich hatte er kein Problem mit Spielhallen. Er hatte eines ohne. Allein der Gedanke, einen oder mehrere Tage nicht an einem der Automaten sitzen zu können, im diffusen Dämmerlicht der Räume, in denen Töne und wechselnde Lichtreflexe Glück oder Pech der Spieler anzeigten, beschleunigte seinen Puls, ließ ihn schwitzen. Aber vielleicht gab es ja einen Glücksspielautomaten in einer der Gaststätten. Dann könnte er dort ein Bierchen trinken und wie zufällig, nur mal so zur Ablenkung, spielen. Dazu müsste er Oda allerdings abschütteln. Ob sie sich abschütteln ließe? Sicher wäre sie alarmiert, wenn sie mitbekam, dass er sich an einen Automaten setzte.

Nein. Es ging wirklich nicht. Er konnte Oda nicht begleiten. Er musste Siebelt anrufen und um Vertretung bitten. Aber mit welcher Begründung?

Wieder fuhr er sich mit der Hand über den Mund. Warum zum Teufel musste so eine Gewalttat ausgerechnet dann geschehen, wenn Christine im Urlaub war? Warum auf dieser Insel, der einzigen, für die die Polizeiinspektion Wilhelmshaven zuständig war? Wäre es doch bloß auf einer der Nachbarinseln passiert, für die waren die Kollegen aus Aurich und Wittmund zuständig.

Er sah auf die Uhr. Die Zeit drängte. Sein Herz klopfte, dröhnte laut. Er griff zum Telefon. Wählte. Als sein Chef sich meldete, brauchte er die Schwäche in seiner Stimme nicht vorzutäuschen. Erschöpft gestand er, er fühle sich zu krank, um Oda auf die Insel zu begleiten.

***

»Versteh mich doch bitte.« Christine hielt Phillip an der Hand fest und zwang ihn dazu, ebenfalls stehen zu bleiben. »Der Tote ist einer der vier Männer aus unserem Hotel. Die drei anderen haben sich beim Frühstück darüber aufgeregt, dass er schon wieder sein eigenes Ding macht. Sie sind als Team hier. Und es gibt Unstimmigkeiten zwischen ihnen, von denen ich weiß. Da hab ich doch das Gefühl, irgendwie an der Sache beteiligt zu sein. Ich kann nicht so tun, als ginge mich das nichts an. Du weißt doch, dass man eine Spur so schnell wie möglich verfolgen muss. Ich kann mich nicht einfach zurücklehnen und wertvolle Zeit verstreichen lassen, bis die Kollegen auf die Insel kommen. Ich muss mit den Teamkollegen des Opfers reden. Sie nach ihren Alibis fragen, ehe sie sich die Antworten zurechtlegen können.«

Phillip sah sie kühl an. »Natürlich verstehe ich, dass man in einem solchen Fall die Spuren so schnell wie möglich sichern muss. Aber ich wiederhole mich gern: Du bist nicht im Dienst. Du befindest dich im Urlaub. Und in keinem normalen Urlaub. Du bist auf Hochzeitsreise.«

»Phillip, bitte.«

»Nein. Nicht: Bitte! Ich hätte deinem Wangerooge-Flitterwochen-Vorschlag von Anfang an nicht zustimmen sollen. Wir hätten nach Österreich an irgendeinen schönen See fahren sollen, an dem du entspannen könntest und nichts mit irgendwelchen Mordfällen zu tun gehabt hättest. Außerdem hast du dich bei den Leuten vom Rettungsdienst als Christine Cordes vorgestellt. Was meinst du eigentlich, wie ich mich dabei fühle? Ich hatte gedacht, du freust dich darauf, den Namen deines ungeliebten Ex-Mannes abzulegen und meine Frau zu sein. Aber da scheine ich mich ja gründlich geirrt zu haben.« Er schüttelte ihre Hand ab und ging weiter.

Fassungslos sah Christine ihm nach. »Das war doch bloß ein Reflex«, rief sie. »Natürlich habe ich mich riesig darauf gefreut, deine Frau zu werden! Ich muss mich nur eben erst noch an meinen neuen Nachnamen gewöhnen.« Sie eilte ihm hinterher. »Bitte Phillip. Ich mach auch nur diese eine Befragung. Wenn die Kollegen vom Festland hier sind, lasse ich sie arbeiten, und wir beide flittern hemmungslos. So, wie geplant.« Sie wollte ihm einen Kuss geben, aber er wich ihren Lippen aus.

»Den Start in unsere Ehe habe ich mir anders vorgestellt«, sagte er knapp. Dann wandte er sich um und steuerte den Übergang zur Gaststätte Saline an.

***

Es wunderte Oda nicht wirklich, dass Siebelt, kaum dass sie zu Hause angekommen war, anrief und ihr mitteilte, Nieksteit sei erkrankt und könne nicht mitfliegen.

»Der hörte sich wirklich total mies an«, beeilte sich ihr Chef zu sagen. Natürlich hatte er Nieksteits häufige Kurzerkrankungen mitbekommen, und Oda hatte ihm auch ihre Befürchtungen, Nieksteit könnte private Probleme haben, mitgeteilt. Siebelt hatte ihr zugehört, sie allerdings zu beruhigen versucht, und wollte nun unnötigen Spekulationen vorbeugen.

Sie nickte, während er mit ihr sprach. »Jaja, kein Problem. Ich krieg das auch allein hin«, gab sie zurück.

Nachdem das Gespräch beendet war, drückte sie ihren Schlafanzug so fest in die Reisetasche, dass er garantiert total zerknüddelt auf der Insel ankam. Aber das war egal.

»Nimm’s nicht so dramatisch. Du hast ja noch den Kollegen vor Ort«, hatte Siebelt gesagt. »Der unterstützt dich schon. Du kennst ihn doch bereits.«

Natürlich kannte sie Stefan Knudsen. Aber es ging nicht darum, allein auf Wangerooge ermitteln zu müssen. Das wäre kein Problem. Immerhin hatte sie genügend Berufserfahrung. Es ging um Nieksteit. Darum, dass sie befürchtete, er könnte die Kontrolle über sein Leben verlieren. Andererseits hatte sie erst vor Kurzem das Gespräch mit ihm gesucht. Ihm Hilfe angeboten. Die er abgelehnt hatte, weil er keine bräuchte. Nun denn, er war alt genug. Dennoch …

Es klingelte an der Tür. Das war bestimmt der Kollege von der Bereitschaftspolizei, der sie nach Harlesiel fahren würde. Sie besaß ja kein eigenes Auto, und mit dem Fahrrad konnte sie schwerlich mit Gepäck und in angemessener Zeit zum Anleger radeln. Sie schlüpfte in ihre Jacke, steckte ihr Handy in die Tasche, nahm ihre Wohnungsschlüssel und schloss hinter sich ab. Jürgen hatte sie bereits darüber informiert, dass sie dienstlich fortmusste.

Auf dem Weg nach Harlesiel plauderte der Kollege Herz unverblümt drauflos. »Also, ich komm gern mit«, bot er ihr an. »Zahnbürste und Zahnpasta kann ich auf Wangerooge kaufen und T-Shirts und Unterhosen bestimmt auch. Ich kann ja die ganze Zeit in Uniform rumlaufen, da brauch ich keine anderen Klamotten. Ich helfe dir wirklich gern, du brauchst es nur zu sagen und beim Chef anzumelden. Der macht da bestimmt mit.«

Oda griente. Herz war ein feiner Kollege, den sie wirklich mochte. Er war ambitioniert und voller Tatendrang. »Ganz lieb von dir, aber lass mal. Du wirst in Wilhelmshaven gebraucht. Ich krieg das auf der Insel schon hin. Da ist schließlich der Kollege Knudsen, der mich unterstützt.« Und Christine ist auch da, dachte sie, sprach es allerdings nicht aus. Obwohl sie vermutete, dass Christine es sich zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nicht nehmen lassen würde, an den Ermittlungen beteiligt zu sein, sollte sie sich besser schnell zurückziehen. Schließlich war sie in den Flitterwochen.

Herz zog einen enttäuschten Flunsch. »Schade. Aber beim nächsten Mal denkst du an mich, ja?«

»Klar. Jemanden wie dich kann ich immer gebrauchen.«

***

Neugierig sah Stefan Knudsen zu, wie die Kollegen der Kriminaltechnik in ihren weißen Einmalschutzanzügen über die Granitsteine kletterten und mit ihren Untersuchungen begannen. Er durfte es offen ja nicht zugeben, aber endlich war mal was los auf der Insel. Natürlich mochte er die gemütlichen Routinearbeiten in der Nebensaison. Da wurde höchstens mal ein Fahrrad als gestohlen gemeldet, das dann meistens an anderer Stelle wiederauftauchte, weil irgendein Depp es einfach benutzt und irgendwo stehen gelassen hatte. Viele Insulaner waren etwas nachlässig mit dem Anschließen ihrer fahrbaren Untersätze, und einige Räder verschwanden tatsächlich auf Nimmerwiedersehen. Die Diebe waren anscheinend so dreist und gaben die geklauten Fahrräder bei der Gepäckbeförderung zum Festland als ihre eigenen auf. Das wurde allerdings nicht offen kommuniziert, schließlich war Wangerooge, genau wie die anderen Ostfriesischen Inseln, ein Urlaubsparadies. Allerdings wurden in den letzten Jahren auch Straftaten gemeldet, die es früher gar nicht gab. Damals schlossen die Insulaner ihre Wohnungen und Häuser nicht einmal ab, wie er von seinem Vorgänger erfahren hatte.

Egal. So schlimm war es wirklich nicht, man konnte kaum von einer hohen Kriminalitätsrate auf Wangerooge sprechen. Umso interessanter war das, was sich nun in unmittelbarer Nähe abspielte. Zumal es sich bei dem Toten um den Aufnahmeleiter einer Fernsehproduktionsfirma handelte, der seine Kindheit auf der Insel verbracht hatte. Erst kürzlich hatte im »Inselboten« gestanden, dass der gebürtige Wangerooger Erik Sander wieder herkommen und seinen Dokumentarfilm über Plastikmüll zu Ende drehen würde. Einmal, bei den Dreharbeiten im Sommer, hatten sie persönlich Kontakt miteinander gehabt, als dem Filmteam vermeintlich eine Kamera gestohlen worden war. Zum Glück hatte sich herausgestellt, dass der Kameraassistent sie einfach nur beim Mittagessen neben dem Tisch im Restaurant abgestellt und dann vergessen hatte. Danach hatten sie sich zwar zugenickt, wenn sie sich über den Weg gelaufen waren. So, wie man sich eben zunickt, wenn man sich vom Sehen kennt. War trotzdem was anderes, als wenn die Leiche jemand komplett Unbekanntes gewesen wäre.

Einer der Techniker kam auf ihn zu. Seiner Frau Martina hatte Knudsen bereits bei Eintreffen des Teams eine Nachricht geschickt, dass sie für die Kollegen einen Kuchen backen sollte, sie buk für ihr Leben gern, und alles, was sie zauberte, schmeckte einfach genial. Unwillkürlich lächelnd fuhr er sich mit beiden Händen über den stattlichen Bauch und nickte dem Kriminaltechniker zu.

»Tja«, sagte der und schob sich die Kapuze vom Kopf. »Eines steht schon mal fest: Der Fundort ist nicht der Tatort. Der Mann wurde hier abgelegt, die Kopfverletzungen hat er sich woanders zugezogen. Zwischen den Granitsteinen gibt es etliche Blutspuren, doch auf dem Weg ist nichts. Er muss hierhertransportiert worden sein.«

Stefan Knudsens Mund wurde trocken. Oje, das war ja nun wirklich ein Fall für die Kripo. Wie gut, dass Christine Cordes, ach nee, Delvendingsbums – so genau hatte er es sich nicht gemerkt bei all der Hektik –, schon auf der Insel war. »Also war es kein Unfall?«

»Sieht nicht danach aus. Es gibt mehrere Kopfverletzungen, das war kein einfacher Sturz.«

»Wat für ’n Schiet. Aber danke für die Info. Ihr guckt doch noch weiter nach Blutspuren, um den Tatort zu ermitteln?«

»Da müssten wir die Insel Zentimeter für Zentimeter absuchen, und das ist kaum machbar«, sagte der Kriminaltechniker. »Natürlich werden wir das Umfeld genau unter die Lupe nehmen, aber ihr solltet schon mal anfangen, die Insulaner und Gäste nach Hinweisen zu fragen. Kann man heutzutage auch über Facebook machen. Ich hab schon von erstaunlichen Erfolgen bei der Suche nach Hinweisen aus der Bevölkerung über die sozialen Medien gehört.«

»Das darf ich als Inselpolizist nicht«, widersprach Stefan Knudsen.

»Ja nee, ist schon klar, aber die von der Polizeiinspektion können das. Die Kollegen müssten ohnehin bald hier sein, hab Bescheid bekommen, dass sie im Anflug sind.«

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Enttäuscht und traurig lief Christine in den Ort zurück. Warum nur konnte Phillip nicht verstehen, dass es wichtig war, die Spuren in diesem Fall zeitnah zu verfolgen? Sie musste doch zumindest so lange zur Verfügung stehen, bis Oda und Konsorten aufschlugen. Denn natürlich ging sie davon aus, dass Oda den Fall übernehmen würde. Und nur zu gern würde sie ihn dann sogleich an sie übergeben.

In der Zeitung hatte sie gelesen, dass heute auf den gesamten Ostfriesischen Inseln ein sogenannter »Müllsammel-Tag« anberaumt war. Ergänzend zum Internationalen Tag der Küstenreinigung in Zusammenarbeit mit dem NABU, der traditionell im September stattfand, sollte so ein »Müllsammel-Tag« neuerdings monatlich stattfinden. Um die Strände sauber zu halten einerseits, aber auch, um an die Gefahren zu erinnern, denen die Weltmeere und die darin lebenden Tiere durch das achtlose Wegwerfen von Müll ausgesetzt waren.

Beim Frühstück hatte Christine aufgeschnappt, dass das Männerquartett diese Aktion als das zentrale Element des Dokumentarfilms betrachtete. Sie hatten sich darüber unterhalten, wo sie am meisten Müllsammler antreffen würden und an welchen Punkten abseits des Hauptstrandes gedreht werden sollte. Ein Teil der Aufnahmen für den Film, so hatte Christine mitbekommen, war wohl schon während der Saison gemacht worden. Sie zog ihr Handy aus der Jackentasche und wählte die Nummer ihres Chefs.

»Ich bin’s, Christine«, sagte sie, als er sich meldete.

»Christine! Na, so eine Überraschung«, rief Siebelt aus. »Ist was passiert? Oder hast du einfach nur Sehnsucht nach uns?«

»Nein, das nun nicht gerade. Es geht um den Toten. Ich kam hinzu, als die Rettungskräfte und Knudsen vor Ort waren.«

»Oh. Das ist natürlich nicht gerade ein Flitterwochen-Highlight.«

»Nein. Schickst du Oda?«

»Klar. Eigentlich sollte Nieksteit mit, aber der ist krank. Daher kommt sie erst mal allein. Sie hat ja Knudsen zur Unterstützung.«

»Ich bin ja auch noch da«, meinte Christine.

»Nee, Frollein, du hast Urlaub.«

»Aber bis Oda hier ist, könnte ich die Filmcrew doch schon mal über den Tod ihres Kollegen informieren. Und eine erste Befragung vornehmen. Was meinst du?«

»Was sagt denn dein Mann dazu?«

»Der war natürlich dabei, als wir auf Knudsen und die Leiche stießen. Kannst dir sicher vorstellen, dass er nicht gerade begeistert ist. Dennoch, ich habe das Gefühl, ich muss mich kümmern. Zumal mir die Kollegen des Opfers schon aufgefallen sind, wir wohnen alle im selben Hotel. Aber sobald Oda da ist, überlasse ich ihr das Feld.«

»Das ist lieb von dir. Und auch, wenn ich es offiziell nicht dürfte, nehme ich das Angebot gerne an. Aber wirklich nur, bis Oda vor Ort ist. Versprochen?«

»Versprochen.«

Christine entdeckte das Filmteam am Strand, auf Höhe der Surfschule, die auch um diese Jahreszeit noch Kurse anbot. Wind und Wellen waren schließlich der Hauptmotor fürs Surfen, und in Neoprenanzügen ließ sich auch die kühle Nordsee aushalten.

Sie ging auf die drei Männer zu, die gerade ein junges Paar interviewten. Der mit dem spitzen Pony stellte die Fragen, der eher schweigsame Kollege filmte, und der jüngste, Marcel hieß er, angelte den Ton. Der befragte Mann trug lange Dreadlocks, die Frau Pumphosen und einen achtlos gebundenen, dünnen Dutt, der Christine unwillkürlich an eine Zeichnung von Wilhelm Busch erinnerte, auch wenn die Frau in Buschs Karikatur deutlich voluminöser war.

Christine wartete, bis das Interview beendet war. Dann trat sie auf den Kameramann zu. »Entschuldigen Sie bitte«, sagte sie. »Wie es der Zufall will, wohnen wir im selben Hotel. Mein Name ist Christine …« Sie zögerte kurz, dann lächelte sie zufrieden und ergänzte: »Delvental.«

»Hören Sie«, entgegnete der Kameramann unwirsch, »wir sind hier am Arbeiten, wie Sie bemerkt haben dürften. Also lassen Sie uns in Ruhe, wir haben einen Drehplan zu erfüllen, und auf dem stehen Sie nicht drauf.« Er wandte sich an seinen Kollegen, der nun auf ein in eine Art Kissen gehülltes iPad schaute. »Wie ist denn die Aufnahme geworden, Marcel?«

Christine sah ihn entgeistert an. Auf den Gedanken, dass der Mann sie für eine sensations- oder kameralüsterne Person halten könnte, wäre sie im Leben nicht gekommen. Doch selbst dann würde sie sich diesen Ton nicht bieten lassen.

»Stopp«, sagte sie barsch. »Sie haben mich falsch verstanden. Um es korrekt auszudrücken: Ich bin Kriminaloberkommissarin Christine Delvental.«

Der ältere Mann im Team drängte sich vor sie. »Moin. Mein Name ist Oliver Beerbaum. Ich bin der Regisseur des Films. Sie wohnen also bei uns im Hotel? Nichts für ungut, wir können uns gern morgen beim Frühstück über den Dreh unterhalten, aber wir müssen uns an den Zeitplan halten. Da können Sie Kommissarin sein, so viel Sie wollen.«

»Ich interessiere mich nicht für Ihren Film. Es geht um Ihren vierten Mann. Denjenigen, den Sie heute beim Frühstück vermisst haben.«

»Ach, Erik. Kein Grund zur Panik. Der macht gern mal sein eigenes Ding. Nix, worum die Polizei sich kümmern müsste. Der taucht schon wieder auf. Brauchen tun wir ihn ohnehin nicht wirklich, er quatscht uns nur immer rein. Also stecken Sie Ihr hübsches Näschen nicht in unsere Angelegenheiten. Wir müssen zügig arbeiten, das Warten auf Erik hat uns schon genug Zeit gekostet. Also: Tschüss.«

»Tja.« Christine sah dem Mann geradewegs in die Augen. »Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Sie Ihre Dreharbeiten unterbrechen müssen. Mit dem Eintreffen Ihres Kollegen ist nicht mehr zu rechnen. Eben deshalb muss ich ja mit Ihnen reden.«

»Was soll das heißen, Erik kommt nicht, und Sie müssen mit uns reden?«

Christine seufzte. Dieser Oliver Beerbaum schien etwas begriffsstutzig zu sein. Dabei könnte man die simplen Tatsachen – Kriminalkommissarin, »Erik kommt nicht« und »Wir müssen reden« – doch ganz schnell in einen Zusammenhang bringen. Der Einfachheit halber fasste sie alles in einem klärenden Satz zusammen: »Ihr Kollege Erik Sander wurde heute Morgen im Westen der Insel tot aufgefunden.«

***

Normalerweise bevorzugte Oda die Fährverbindung mit der anschließenden Fahrt in der blauen Insel-Bimmelbahn. Das allein war schon Urlaub. Entschleunigen. Runterkommen. Nicht umsonst hing am Hafen von Wangerooge das Schild: »Gott schuf die Zeit. Von Eile hat er nichts gesagt.« Es dauerte eben, bis man mit der Fähre und der Bahn im Dorf ankam, und bis die Koffercontainer entladen waren, dauerte es noch mal. Meistens holte sich Oda in der Zwischenzeit einen Kaffee am Kiosk vor dem Bahnhof. Der auch Dosenbier führte, wie Jürgen bei einem ihrer gemeinsamen Wangerooge-Besuche begeistert festgestellt hatte. Dosenbier gab es sonst nicht auf der Insel. Zumindest in den Supermärkten nicht. Und so sehr Jürgen sonst auf Nachhaltigkeit und Glasflaschen setzte: Bei ihren Inselumwanderungen ein Döschen Bier und keine schwere Glasflasche im Rucksack mitschleppen zu müssen, heiligte die Mittel.

Auf die gemütliche Schiffs- und Bimmelbahnfahrt musste Oda heute leider verzichten. Sie gab es nur ungern zu, aber jedes Mal, wenn sie beruflich nach Wangerooge fliegen musste, hoffte sie, dass es nicht stürmisch war. Obgleich sie in den großen Urlaubsfliegern keine Angst hatte – was ja widersinnig war, denn gerade da stellte sich die Frage, wie sich so viel Gewicht am Himmel hielt, ohne runterzufallen –, flößten ihr die zehnsitzigen Maschinen der Inselflieger Respekt ein. Zumal sie auf dem mittleren Platz sowohl die linke als auch die rechte Flugzeuginnenseite berühren konnte, wenn sie beide Arme ausstreckte. Und so eine kleine Maschine wackelte in der Luft auch viel mehr als ein großes Flugzeug.

Heute war das Wetter zum Glück wie fürs Fliegen gemacht. Kein Wölkchen am Himmel und kaum Wind. Neugierig sah Oda beim Start aus dem Fenster. Wie schnell die Landschaft kleiner wurde. Die Nordsee hatte sich mal wieder verzogen, und so lag das silbrig in der Sonne glitzernde Wattenmeer unter ihr. Das Flugzeug war als kleiner Schatten auf dem graubraunen Wattboden zu sehen, zwischen mäandernden Prielen, die wie ein Geflecht aus Adern im Schlick lagen. Oda war begeistert. Schnell machte sie mit ihrem Handy ein paar Fotos, die sie Jürgen schicken wollte, wenn sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte. Dann lehnte sie sich entspannt zurück.

Mit sich und der Welt im Reinen, gestand Oda sich ein, dass sie im Grunde froh über diese kleine Auszeit von zu Hause war. Das hatte nichts mit Jürgen zu tun, beileibe nicht, aber so war sie abgelenkt von dem, was sie in letzter Zeit im Übermaß beschäftigte: der Umstand, dass ihr Sohnemann Alex mit seinen gerade mal neunzehn Jahren Vater wurde. Dass seine Freundin Leonie fast zwei Jahre älter war, machte die Sache nicht besser, denn beide befanden sich noch in der Ausbildung. Leonie war mitten im Bachelorstudium, Alex hatte gerade erst angefangen. Zwar erkannten die beiden durchaus die Notwendigkeit einer fundierten Berufsausbildung und wollten das Studium auf keinen Fall schmeißen, doch Oda hielt sich nicht für antiquiert, wenn sie den Standpunkt vertrat, man solle durch die Ausbildung eine solide Basis schaffen, bevor man eine Familie gründete. Überhaupt: So lange kannten sich Leonie und Alex ja noch gar nicht. Und wie würde das Leben ihres Sohnes zwischen Studieren und Windelnwechseln wohl aussehen? Leonie wollte genauso wie Alex ihr Ding durchziehen, das stand fest. Also würden die Großeltern in besonderem Maße gefragt sein. Aber Leonies Eltern wohnten in Cloppenburg. Da brachte man nicht mal eben für ein paar Stunden einen Säugling hin. Blieb nur Oda. Und sie freute sich auf ihr Enkelkind, ehrlich. Doch sie sperrte sich dagegen, als familiärer Babysitter benutzt zu werden. Jürgen hatte sie, vernünftig wie immer, darum gebeten, abzuwarten und alles auf sich zukommen zu lassen, aber er hatte gut reden. Er war ja nicht Alex’ Vater. Der hatte sich in den Jahren seit ihrer Trennung ganz entspannt aus allem rausgehalten. Zwar hatte er den gesetzlich vorgeschriebenen Unterhalt für seinen Sohn gezahlt und sich ab und zu mit Alex getroffen, aber ein inniges Verhältnis pflegten die beiden nicht.

Das Flugzeug ging in den Sinkflug. Keine Minute später setzte es auf der Landebahn direkt hinter dem Deich auf und steuerte das Wangerooger Flughafengebäude an. Der Pilot stieg aus und öffnete die Türen. Das Pärchen in der Reihe vor Oda hatte als Erstes wieder Boden unter den Füßen, nun konnte Oda die Lehne der Vorderbank runterklappen und ebenfalls aus der Maschine klettern. Sie bückte sich unter der Tragfläche hindurch, lief um das Heck der Maschine auf die andere Seite und nahm ihre Reisetasche in Empfang. Als sie den Ausgang ansteuerte, entdeckte sie unter den Wartenden Stefan Knudsen, der sie mit einem breiten Grinsen empfing.

»Moin, Oda!« Er nahm ihr die Reisetasche ab. »Ich hätte mir ein netteres Wiedersehen gewünscht«, sagte er, als sie das Flughafengebäude verließen. »Aber zumindest hatte ich Glück im Unglück: Christine war heute Morgen mit am Leichenfundort.«

Überrascht sah Oda ihn an. »Christine?«

»Sie hat mit ihrem Mann einen Spaziergang in Richtung Westen gemacht und ist uns quasi direkt in die Arme gelaufen. Ihr Mann war ziemlich sauer, als sie mit mir und den Rettungsleuten sprechen wollte. Zumal sie sich den Sanitätern als Christine Cordes vorgestellt hat. Kannst dir sein Gesicht vorstellen. Humor scheint der nicht gerade zu haben.« Er nahm die Reisetasche in die andere Hand. »Was haste da denn drin? Ist ganz schön schwer.«

Oda schmunzelte. »Da sind Rollen dran. Man kann den Griff rausziehen, dann geht es ganz einfach.« Sie strahlte ihn an wie ein Honigkuchenpferd, als er stutzte, etwas verlegen grinste und schließlich die Stange aus der Halterung unter dem Taschenboden zog. »Aber du irrst dich, Christines Mann ist ein wirklich Netter. Die beiden sind auf Flitterwochen hier. Und wenn die frisch Angetraute dann sozusagen über eine Leiche stolpert und sich statt für ihn für den Fall interessiert … Nee, da hab ich Verständnis für Phillip, dass der das nicht gerade toll findet.«

»Ja, gut. Das ist natürlich ein Argument. Aber er war nicht gerade gnädig, das muss man schon sagen. Jedenfalls wollte sie keine Zeit verlieren und die erste Befragung der Kollegen des Toten übernehmen. Sie kannte die schon, weil sie zufällig im selben Hotel wie sie wohnen«, erklärte Knudsen.

Sie marschierten in Richtung Ortskern, immer geradeaus, vorbei an der Inselschule und an den beiden Supermärkten auf der anderen Seite der Charlottenstraße. Der Flugplatz lag strategisch günstig am Rande des Dorfes, aber irgendwie auch mittendrin. Man brauchte keine zehn Minuten zu Fuß bis zur Hauptgeschäftsstraße, der Zedeliusstraße.

»Der Fundort ist nicht der Tatort?«, fragte Oda.

»Nee. Die von der Kriminaltechnik suchen zwar noch, gaben mir aber den Tipp, einen Aufruf um Mithilfe bei Facebook zu starten.« Die Rollen der Reisetasche klackerten lautstark über die Klinkersteine der Bürgersteige. »Aber das kann ich ja nicht einfach so auf eigene Faust machen. Ist besser, wenn das von offizieller Seite kommt.«

»Hast recht«, erwiderte Oda. »Ich werde es so schnell wie möglich veranlassen.«

Sie hatten das Hotel Hanken erreicht und betraten das Foyer. Odas Zimmer war bereits bezugsfertig, sie brachte nur kurz ihre Reisetasche nach oben und ging direkt wieder runter zu Knudsen.

»Ist schon jemand von der Kriminaltechnik im Hotelzimmer des Opfers?«, fragte sie.

»Jo«, gab Stefan Knudsen zurück. »Ist nicht weit, nur ein paar Schritte.«

***

Betreten standen die drei Männer vor Christine. Das junge Paar aus Gerresheim, mit dem sie über Müllvermeidung und die Müllsammel-Aktion auf den Inseln geredet hatten, war von ihnen inzwischen weitergeschickt worden. Obwohl die beiden offensichtlich gern geblieben wären, um mehr über den Toten aus dem Filmteam zu erfahren.

Doch das war nichts für fremde Ohren.

»Um Gottes willen«, sagte Oliver Beerbaum zum wiederholten Mal. »Was ist passiert?«

»Vielleicht hatte er eine Herzattacke«, mutmaßte Lars Schneider, der Kameramann. »Kommt bei Workaholics wie Erik ja öfter vor.«

»Ist er verunglückt?« Marcel Krieger, der Kameraassistent, wandte sich nervös an Beerbaum. »Was machen wir denn jetzt? Wenn Erik nicht mehr dabei sein kann?«

»Wir machen weiter wie geplant. Wir schaffen das auch ohne Erik. Ich habe das Konzept schließlich gemeinsam mit ihm erarbeitet. Es nützt ja nichts. Wir können nicht in Trübsal versinken. Der Beitrag muss gedreht werden, der Sendetermin steht fest. Außerdem sind wir die Ersten, die dieses Thema auf den Ostfriesischen Inseln aufgreifen. Wenn wir jetzt einfach aufhören, ist damit keinem gedient. Am allerwenigsten Erik. Es ist der letzte Beitrag, in dem sein Name auftaucht. Allein ihm zu Ehren müssen wir durchhalten.«

Das klang kollegial. Und professionell. Aber auch ein wenig … unsensibel.

»Wann haben Sie Ihren Kollegen das letzte Mal gesehen?«, fragte Christine.

»Das muss gestern so gegen siebzehn Uhr dreißig gewesen sein. Da haben wir Feierabend gemacht«, antwortete Beerbaum.

»Oliver, Marcel und ich sind dann zusammen in der Pizzeria essen gewesen«, ergänzte Lars Schneider. »Erik wollte mal wieder nicht mit. Er sagte immer, er brauche die kreative Einsamkeit mit sich selbst, um neue Projekte zu überdenken.«

»Wissen Sie, was Ihr Kollege im Westen der Insel gewollt haben könnte?«, fragte Christine. Ein Hund kam angerannt, tobte neugierig um sie herum.

»Lotte! Aus!«, rief das dazugehörige Frauchen. Kurz wandte ihr der Hund den Kopf zu, sprang dann jedoch gleich wieder begeistert von einem zum anderen. Marcel Krieger griff in seine Jackentasche, holte etwas heraus, bückte sich und streckte die Hand aus. Ein Leckerli lag darauf.

»Hast wohl gerochen, dass ich das in der Tasche habe, was?« Er lachte. Der Hund nahm vorsichtig den Hundebonbon, wedelte mit dem Schwanz und lief zu seiner Besitzerin zurück, die ihn inzwischen zwei weitere Male gerufen hatte.

»Nee«, antwortete Oliver Beerbaum auf Christines Frage. »Erik hat nach Feierabend gern sein eigenes Ding gemacht. Wie Lars gerade schon sagte. Er sah sich nicht als Teamplayer. Ich sag das ja nicht gern, aber Erik tat immer so, als sei er der Boss und wir seine Untertanen. Mit denen er nach Feierabend nix zu tun haben wollte. So als wäre er was Besseres.«

»Oliver!«, sagte Lars Schneider entrüstet.

»Ach, ist doch wahr. Warum soll ich lügen? Erik hielt sich für den King, den Kopf des Ganzen. Das konnte er vor dem Sender ja auch gut verkaufen. Aber sagt doch mal selbst, brauchen wir ihn bei unseren Drehs? Nicht wirklich. Er meinte immer, uns reinfunken zu müssen. Aber da hab ich dagegenhalten können.« Er lächelte Christine an. »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Beim Film kommt das oft vor, kreative Köpfe geraten gern mal aneinander. Jeder möchte seine Ideen durchsetzen. Und Erik meinte, ihm als Produktions- und Aufnahmeleiter würde stets das letzte Wort gehören. Dabei ist es im Grunde sein Job, meine Arbeit möglich zu machen, und er verfügt bei Weitem nicht über die praktischen Erfahrungen, die ich aufweisen kann. Aber egal. Man soll über einen Toten nicht schlecht reden.«

Christine betrachtete ihn interessiert. Ihre Freundin Doreen, die als Psychologin in einer Justizvollzugsanstalt arbeitete, hätte an ihm garantiert ihre helle Freude. Beerbaum sah sich klar im Aufwind, nun, da Sander nicht mehr lebte. »Aber Sie haben doch als Team gut zusammengearbeitet?«, hakte sie nach.

»Auf jeden Fall«, beeilte sich Lars Schneider zu sagen. Überrascht sah Christine ihn an. »Wir kannten einander, wussten, wie jeder arbeitet. Da ergab ein Handgriff den nächsten. Wie bei den Rädern eines Uhrwerkes.«

Aus dem Augenwinkel registrierte Christine, dass Beerbaum und Marcel Krieger sich einen verstohlenen Blick zuwarfen. Hier war etwas nicht ganz koscher. Das spürte sie. Doch dem würden ihre Kollegen nachgehen müssen. Sie selbst war ja in Urlaub. In den Flitterwochen!

»Was haben Sie denn gestern Abend gemacht?«, fragte sie unvermittelt. »Nach Ihrem Besuch in der Pizzeria?«

»Wieso?«, wollte Oliver Beerbaum wissen. »War das, woran Erik gestorben ist, etwa keine Herzattacke?«

»Nein. Wie es momentan aussieht, war Gewalt im Spiel. Also beantworten Sie bitte die Frage.«

»Wir haben Skat gespielt«, sagte Marcel Krieger rasch. »Im Hotel.«

»Skat. Im Hotel. Nicht in einer der Kneipen?«

»Wir sind nach einem langen Drehtag froh, keine Menschen mehr um uns haben zu müssen«, erklärte Beerbaum. »Zwar treffen wir bei diesem Film überwiegend auf engagierte und positiv gestimmte Menschen, aber es gab auch einige, denen wir mit unseren Fragen über die Müllsammel-Aktion auf den Keks gegangen sind. Besonders, wenn wir sie dabei ertappt haben, wie sie achtlos Dinge weggeworfen haben oder einfach über angespülten Müll hinweggestiegen sind. Stimmt’s?« Er sah seine Kollegen auffordernd an.