Mord im Anzug - Jean G. Goodhind - E-Book
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Mord im Anzug E-Book

Jean G. Goodhind

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Beschreibung

Mord nach Maß.

Der Name "Tern and Pauling" in Bath, Herrenschneider für die oberen Zehntausend, steht für konservative Werte und Tradition. Zum Kundenkreis zählen sogar einige Royals. Dass sich das Geschäft am Schaufensterwettbewerb beteiligt und ihn auch noch gewinnt, hätte niemand erwartet. Doch am Morgen nach der Siegerparty hängt der Juniorchef im Schaufenster am Galgen ...

Ein ungewöhnlicher Fall für die Hotelbesitzerin Honey Driver und ihren charmanten Partner Detective Chief Inspector Steve Doherty.

»Skurrile Handlung und viel britischer Humor.« Brigitte »Eine moderne Miss Marple in bester britischer Krimitradition.« Für Sie.

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Informationen zum Buch

Mord nach Maß

Das Schaufenster von Tern and Pauling in Bath, Herrenschneider für die oberen Zehntausend, ist mit sensationellen Dekorationen bekannt geworden, seit der Juniorchef dort das Sagen hat. Immer drängen sich Menschen davor. Doch heute hängt dort der Juniorchef selbst an einem Galgen. Hotelbesitzerin Honey Driver und ihr charmanter Partner Detective Chief Inspector Steve Doherty müssen in Aktion treten.

»Eine moderne Miss Marple in bester britischer Krimitradition.« Für Sie

Jean G. Goodhind

Mord im Anzug

Honey Driver ermittelt

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Ulrike Seeberger

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Anmerkungen

Über Jean G. Goodhind

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Kapitel 1

Wirklich erotisch, so ein Mann mit engen Kniehosen und hohen Reitstiefeln!

»Sehr attraktiv.«

Honey Driver versuchte ihre Hormone in den Griff zu bekommen, ehe sie den edlen Wegelagerer noch einmal vom Scheitel bis zur Sohle gründlich musterte. Seine Kniehose war aus burgunderrotem Samt, von der altmodischen Sorte, mit der man auch einen Ohrensessel hätte beziehen können. Die schwarzledernen Reitstiefel waren traditionell geschnitten und hatten hohe Stulpen, die vorn das ganze Knie bedeckten.

Ein weißes Seidentuch fiel in einer üppigen Schleife über eine Weste aus Goldbrokat. Der Gehrock war aus marineblauer Wolle, farblich auf den Dreispitz abgestimmt.

Als würde das nicht schon reichen, um Frauenherzen höherschlagen zu lassen, trug der Edelganove noch eine Maske vor den Augen und hatte die untere Hälfte seines Gesichts hinter einem schwarzen Tuch verborgen.

Der Traum jeder heißblütigen Frau, da war sich Honey sicher. Von diesem Straßenräuber würde man sich wirklich gern überfallen lassen!

Leider war er nicht echt, sondern nur Teil einer Schaufensterdekoration. Eine von vielen, die in einem Wettbewerb begutachtet wurden. Bisher war das Honeys absoluter Favorit, ließ ihre Phantasie Purzelbäume schlagen.

Mit der Pistole in der Hand stand der Räuber vor einem Hintergrund aus düsteren Bergen und schwarzen Bäumen. Spots waren geschickt so platziert worden, dass ein bleicher Mond silberne Muster auf den indigoblauen Himmel malte. Eingerahmt war die ganze Szene von maßgeschneiderten Jacketts in Farbtönen von Rostrot über Senfgelb bis Burgunder, die wie riesige Herbstblätter im Schaufenster zu schweben schienen und gespenstische Schatten auf die vom Mond erhellte Kulisse warfen.

Anstelle des Schattens, den der Wegelagerer auf die Rückwand hätte werfen sollen, sah man die Umrisse eines Galgens, an dem eine Schlinge baumelte.

Beim Anblick dieser Szene liefen Honey Schauer über den Rücken. Sie war fasziniert. Die meisten anderen Schaufensterdekorationen waren hübsch, ganz nett oder betont künstlerisch angehaucht gewesen. Im Spielwarenladen hatte es eine höchst lebendige Deko gegeben, in der pfeifende Spielzeugeisenbahnen herumfuhren und Bälle hüpften. Zusätzliche Hörgenüsse wurden dort durch den blechernen Gesang einer Gruppe von Puppen, Teddybären und Plastiktieren geboten, der Honey allerdings gewaltig auf die Nerven ging. Leider wurde der Gesamteindruck durch einen Plastik-Spiderman verdorben, der umgefallen war und einer Plastik-Lolita unter den Rock zu linsen schien.

Clowns gab es da auch noch zu sehen. Honey konnte Clowns nicht leiden. Da waren ihr Wegelager schon sehr viel lieber!

Allein durch den schattenhaften Galgen war dieses Schaufenster ganz anders als all die anderen. Künstlerisch angehaucht, das schon, aber auch ein kleines bisschen gruselig.

»O ja«, hauchte Honey mit leuchtenden Augen. »Ich bin froh, dass ich mitgemacht habe.«

Sie hatte Bedenken gehabt, als die Vereinigung der Bath-Händler – abgekürzt BH – sie gebeten hatte, als Jurorin beim Wettbewerb für Baths schönstes Schaufenster zu fungieren.

»Ich muss Sie warnen. Ich habe keine Ahnung, was eine gute Schaufensterdekoration ausmacht, zumindest nicht als Profi«, hatte sie Lee Christie, einem der Organisatoren, erklärt. »Ich weiß zwar, was mir gefällt. Aber ich möchte niemandem auf die Füße treten, der viel mehr Ahnung von diesen Dingen hat als ich.«

Vielleicht war es Einbildung, aber ganz kurz hatte sie gemeint, dass Lee ziemlich verschlagen geschaut hatte, ehe seine Augen wieder wie üblich völlig ausdruckslos waren. Er war ebenfalls Ladenbesitzer. Bei ihm konnte man ziemlich gewagte Outfits kaufen. Honey selbst war nie dort gewesen, da es sie nicht drängte, sich als französische Zofe zu verkleiden oder sich in eine altmodische Krankenschwester-Uniform, komplett mit gestärkter Schürze, Häubchen und blickdichten schwarzen Strümpfen, zu zwängen.

Lee Christies Nase bebte, während er zischend einatmete.

»Sie gehen aber doch einkaufen, oder nicht?«

»Machen das nicht alle?«

Wieso hatte sie deswegen ein schlechtes Gewissen?

»Ja, natürlich waren Sie schon einkaufen. Haben Sie je einen Schaufensterbummel gemacht und fanden eine Auslage besonders attraktiv?«

Ja. Das auch. Sie nickte.

Sein Brustkorb weitete sich, als er noch einmal ganz tief Luft holte. Die Nase bebte erneut.

»Dann wissen Sie also, was Ihnen gefällt. Das allein qualifiziert Sie schon dafür, uns zu sagen, welche Auslage Sie am meisten anspricht.«

Da konnte sie ihm nur recht geben. Einkaufen, das war etwas, das sie tun MUSSTE. Und schließlich machte sie es nun schon jahrelang.

Noch immer verwundert darüber, wie erfahren sie doch zu sein schien, nickte sie. »Ja. Da haben Sie wohl recht. Ich bin eine sehr versierte Einkäuferin.«

Darauf hatte ihr Lee die Einzelheiten erläutert. Der Preis waren £ 5000 plus ein Artikel in der Tageszeitung, vielleicht sogar eine Erwähnung im Radio oder Fernsehen. Mit anderen Worten: kostenlose Werbung.

Also hatte Lee Christie sie sozusagen als Preisrichterin eingeschworen – als eine von drei Juroren.

Alle Juroren sollten zunächst einzeln, aber in Begleitung von Lee die Runde machen, der mit Klemmbrett und Stift bewaffnet war. Und das tat Honey gerade jetzt. Sie musterte jede der teilnehmenden Auslagen gründlich, und dann bat Lee sie, der Dekoration Punkte zwischen einem und fünf Punkten zu geben, und zwar für die künstlerische Gestaltung, die Beleuchtung und dafür, welche sie am meisten angesprochen hatte.

Mit jedem der Juroren machte Lee diesen Spaziergang, führte die drei Listen und zeichnete ihre Eindrücke auf. Honey wusste nicht, wer ihre Kollegen in der Jury waren, wohl eine Vorsichtsmaßnahme, damit sie sich nicht absprechen konnten und man so jeder Anschuldigung der Voreingenommenheit den Wind aus den Segeln nahm.

»Warum haben Sie mich eigentlich ausgesucht?«, fragte Honey fröhlich. »Ich meine, es kann doch nicht nur daran liegen, dass ich gern Schaufensterbummel mache. Das trifft schließlich auf jede Frau zu, die ich kenne.« Sie hatte gehofft, man hätte sie als Person von unfehlbar gutem Geschmack, als Stütze der Gesellschaft und Modevorbild ausgewählt, dessen Meinung jeder respektierte.

Doch Lees Antwort überraschte sie.

»Zunächst dachten wir, eine Frau, die gern einkauft, würde ideal sein. Da gab es auch noch andere Kandidatinnen, aber wir dachten, es wäre nützlich, jemanden an Bord zu haben, der freundschaftliche Beziehungen zur Polizei pflegt – falls die Dinge eine ungute Entwicklung nehmen sollten. Von einigen Wettbewerbsteilnehmern ist bekannt, dass sie leider schlechte Verlierer sind, und wenn schon die Polizei ausrücken muss, um bei Tätlichkeiten dazwischenzugehen, dachten wir, wenn Sie bei uns mitmachen, würde sie vielleicht schneller kommen.«

»Oh!«

Es ging also keineswegs um ihr künstlerisches Gespür, sondern nur darum, die lokale Polente rasch auf den Plan zu rufen, wenn die Situation eskalierte; das waren die Vorteile, wenn man die Verbindungsperson des Hotelfachverbands zur Kripo war. Vielleicht war auch bekannt, dämmerte ihr plötzlich, dass sie in Detective Inspector Steve Doherty in mehr als einer Hinsicht einen guten Partner hatte. Immer wenn sie sich in eine Situation verstrickte, mit der sie nicht allein fertig wurde, kam er ihr als Polizist zu Hilfe geeilt. Mit dieser Auskunft hatte sie wirklich nicht gerechnet.

Lee begleitete sie zu allen Schaufenstern, musterte interessiert ihr Gesicht, während er auf ihre Kommentare wartete. Er rührte sich dabei nicht vom Fleck, starrte auf sie wie eine Glucke, die schaut, ob ihr erstes Küken schlüpft. Sie hatte bereits sechs Wettbewerbsteilnehmer bewertet. Der Wegelagerer war der siebte – die Glückszahl sieben! Einen hatte sie noch zu begutachten.

Bis zum Wegelagerer war die Auslage beim »Chocolate Soldier« ihr Favorit gewesen. Dieser Laden war auf feinste Pralinen – was sonst? – spezialisiert.

Dort war alles um eine Schokoladenburg herum arrangiert, die von Schokoladenmenschen bewohnt und von Schokoladensoldaten bewacht war; sehr angemessen in Anbetracht des Namens. Man hatte die verschiedenen Brauntöne und das Elfenbein der weißen Schokolade durch sehr viel Glitzerpapier ein wenig aufgehellt. Der einzige winzige Fehler war die kleine Zugbrücke, die von einem Elektromotor ständig auf und ab bewegt wurde. Denn die Wärme des Motors hatte dafür gesorgt, dass die Stelle, wo Zugbrücke und Burg miteinander verbunden waren, bereits zu schmelzen begann. Aber abgesehen davon war diese Deko erstklassig und bisher das einzige Schaufenster, bei dem Honey das Wasser im Mund zusammenlief. Das war jedoch schlagartig vergessen, als sie nun dem Wegelagerer von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand.

»Diese Deko gefällt mir wirklich sehr«, sagte sie zu Lee.

»Künstlerische Gestaltung, von null bis fünf, wobei null überhaupt nicht künstlerisch und fünf außerordentlich künstlerisch ist. Nennen Sie bitte eine Zahl.«

Honey verschränkte die Arme vor der Brust, während sie nachdachte, die Augen zusammenkniff und jeden Teil der dargestellten Szene beäugte, wie dramatisch sie war, was sie zu bedeuten hatte. Waren das nicht die Kriterien, nach denen man in der Kunstszene Gemälde begutachtete? Was will mir das Kunstwerk sagen?

»Es ist ein wirklich dramatischer Kontrast«, sagte sie laut, während sie versuchte, in Zahlen zu denken. »Ich meine, Sportjacketts aus Tweed sind ja nicht gerade aufregend. Die Männer, die sie tragen, eigentlich auch nicht.«

»Ich trage so was«, meinte Lee knapp.

»Ich meine, das sind angesehene, aufrechte Bürger«, platzte Honey heraus und mühte sich nach Kräften, die Scharte auszuwetzen. »Im Gegensatz zu Kriminellen – und dieser Wegelagerer ist ja eindeutig einer, trotz seines betont romantischen Gepräges. Ich finde, dass das bei mir einen Eindruck hinterlässt.«

Lee schien beruhigt. Sein Kugelschreiber schwebte über dem Klemmbrett.

»Na ja, vielleicht.«

Sie warf ihm einen verstohlenen Blick zu. Seine Nase war spitz, sein Gesicht so ausdruckslos langweilig und rund wie ein Pudding. Sie dachte an all die sexy aussehenden Klamotten aus Latex und Leder, die es in seinem Laden gab. Und natürlich die DVDs. Und die Bücher. Xcite, Black Lace. Er führte sie alle.

»Wieso haben Sie sich eigentlich nicht an dem Wettbewerb beteiligt?«

Sein Puddingkinn im Puddinggesicht spannte sich ein wenig.

»Das wäre nicht familientauglich«, zischte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Oh!« Mehr fiel ihr dazu nicht ein. Ihre Gedanken schlugen Purzelbäume, während sie sich vorstellte, was wohl in seiner Auslage zu sehen gewesen wäre. Im Augenblick war sie schwarz verhängt, mit einem wunderbar glänzenden schwarzen Stoff mit goldenen Verzierungen an den Ecken. Niemand konnte einfach hineinschauen, um die Ware zu mustern. Es war wohl auch schwierig, von innen nach draußen zu sehen, überlegte sie.

»Gut«, sagte sie und konzentrierte sich mit einiger Mühe auf ihre Aufgabe. »Welche Punktzahl soll ich also hier geben? Das muss eine Fünf sein – oder meine ich eine Eins? Tut mir leid, ich habe schon wieder vergessen, was gut und was schlecht ist. Eins ist doch die höchste Bewertung und fünf die niedrigste?«

»Nein, genau umgekehrt. Fünf ist die höchste Wertung, die Sie vergeben können.«

»Dann gebe ich eine Fünf.«

»Das ist Ihre ehrliche Meinung?«

Plötzlich hatte sie das Gefühl, die Sprecherin der Geschworenen vor Gericht zu sein.

»Ja. Ich meine, der Mann ist doch wirklich der Stoff, aus dem erotische Träume sind …«

Lee schluckte, als litte er unter heftigen Schmerzen. Hoppla! Da hatte sie wohl was Falsches gesagt. Erotisches, das war ja seine Spezialität, zumindest glaubte er das bestimmt. Aber lederne Herrenstrings und schrittoffene Schlüpfer, das reizte sie alles nicht sonderlich.

Sie warf noch einen Blick auf den Galgen und dann auf die Augen des Wegelagerers. Gemalte Augen. Braun und schwarz umrandet.

»Ja.« Dieser edle Wegelagerer regte wirklich die Phantasie an. In ihren Träumen würde er jedenfalls vorkommen.

Sie nickte. »Ja, ich glaube, eine Fünf. Die Auslage ist interessant. Sie sagt mir was, wissen Sie, diese Gegenüberstellung von gutbürgerlich schick und ziemlich verrucht.« Sie wusste, was von beiden ihr lieber war, aber, he, sie wollte ja Lees empfindsame Seele nicht noch mehr verletzen.

Lee malte mit einer eleganten Bewegung seines Kulis einen Kringel um die Fünf. »Wenn Sie meinen.«

Es klang nicht so, als hätte ihn ihre Anmerkung, dass der Dekorateur dem Publikum etwas mitteilen wollte, sonderlich beeindruckt. Ihr war vollkommen klar, dass Lee eine vollbusige Dame mit eng geschnürtem Korsett bevorzugt hätte – mit sonst nichts, nur dem Korsett.

Außer dem etwas halbseidenen Laden, der ihm gehörte und, wenn sie sich recht erinnerte, »Leather Lovers« hieß, führte er auch gemeinsam mit seiner Mutter einen Geschenkeladen, so ein Geschäft, in dem Hellblau und Hellrosa vorherrschten und bemalte Häuschen und kuschelige Teddybären die größten Verkaufsschlager waren. Wenn diese Art von Laden überhaupt eine Aussage machte, dann wohl die: Liebe mich, liebe meinen Teddybär. Darüber, welche Aussage eine sexy Szene im Schaufenster von »Leather Lovers« wohl machen würde, wollte sie besser nicht nachdenken. Spür den Kitzel? Sado-Maso – eine Strafe für sich?

Mit Mühe zerrte sie ihre Gedanken von solchen Überlegungen fort. Konzentrier dich! Sie musste sich konzentrieren!

Tern & Pauling, das Geschäft, dessen Schaufenster sie begutachtete, war ein Herrenausstatter der alten Schule. Hier gab es keine auffallende Designerkleidung, keine schmollenden Schaufensterpuppen in der Auslage und keine ohrenbetäubende und nervenzerrüttende Techno-Musik. Irgendwann um die Jahrhundertwende – die vom neunzehnten zum zwanzigsten, wohlgemerkt! – gegründet, war Tern & Pauling ein Maßschneider, der wunderbar geschnittene Herrenbekleidung aus hochwertigen Stoffen fertigte, genäht von den Besten im Schneiderhandwerk. Königliche Hoheiten gehörten zur Kundschaft des Unternehmens. Hier interessierte man sich nicht für neureiche Emporkömmlinge, die irgendwas mit Computern machten und deren Wagen in drei Komma acht Sekunden von null auf hundert beschleunigten. Tern & Pauling, da dachte man eher an einen betagten Bentley als an einen heißen Schlitten.

Honey winkte dem Wegelagerer schüchtern zum Abschied, wünschte sich, er würde zurückwinken, und ging dann hinter Lee weiter die schmale Straße entlang.

Sie schaute sich noch einmal nach dem breiten Erkerfenster um und überlegte, wie wenig sich hier in den letzten zwei, drei Jahrhunderten geändert hatte – außer den Geschäften natürlich.

In der Vergangenheit hatte es in der Beaumont Alley mehr als ein Geschäft gegeben, und alle hatten die eleganten Erkerfenster gehabt, wie man sie heutzutage nur noch auf altmodischen Weihnachtskarten oder Pralinenschachteln oder in Dickens-Verfilmungen und Historienschinken im Fernsehen sieht.

Der Erker von Tern & Pauling war alles, was noch aus eleganteren Zeiten übriggeblieben war, als Damen in langen Kleidern und Hauben und Männer in knappen Kniehosen Arm in Arm über die Steinplatten und Pflastersteine schritten.

Heute kamen nur wenige Leute in diese kleine Straße, denn die meisten bevorzugten die neuen Einkaufsarkaden und Läden am anderen Ende der Stadt.

Der Herrenausstatter hatte eisern an seinem abgelegenen Standort festgehalten. Das konnte Honey gut verstehen, denn die Kundschaft war ja so beschaffen, dass das Geschäft besser diskret abseits der Hauptstraßen verborgen lag. Die Kunden, Menschen, die Privatheit zu schätzen wussten, machten Termine zur Auswahl von Stoffen oder zum Maßnehmen und den Anproben aus. Tern & Pauling hatte es nicht nötig, irgendwo dazuzugehören. Warum also, überlegte Honey, hatte man sich an dem Wettbewerb für das beste Schaufenster von Bath beteiligt? Das schien so gar nicht zu diesem Unternehmen zu passen.

Die nächste Auslage, die sie begutachten sollte, gehörte zu einem viel schickeren Laden, der sich weniger an die gesetzteren als an die jüngeren Herren richtete. Bereits aus über zwanzig Meter Entfernung konnte sie die Musik dröhnen hören und sah, dass Spots im herrlich beleuchteten Schaufenster blinkten. Ringsum hatte sich eine Menschenmenge versammelt und bewunderte mit viel Oh und Ah die strahlend helle und quietschbunte Auslage.

Touristen und Einheimische drängten sich in dem neuen Einkaufszentrum an dem Ende der Stadt, wo riesige Glasscheiben vorherrschten und Musik auf die Bürgersteige flutete.

Lee schlängelte sich durch die Menge und bat die Leute höflich, ein wenig zurückzutreten, da die Auslage nun bewertet werden sollte. Dabei deutete er auf ein Schild unten rechts im Schaufenster: »Schaufenster-Wettbewerb Bath«.

»Roadrunner Racers steht auf der Shortlist«, posaunte er laut heraus.

Honey erinnerte sich nicht daran, dass es überhaupt eine Longlist gegeben hatte, und wunderte sich. Lee gab nur an. Das konnte allerdings niemand wissen.

Trotz des Rennwagens im Schaufenster wusste Honey sehr wohl, dass Roadrunner Racers Autozubehör verkaufte, das heißt alles, was den Rap im Auto so laut verstärkte, dass man beinahe taub davon wurde und alle etwas davon hatten, ob sie nun Rap, Garage oder House oder sonst was mochten oder nicht. Allgemeinen Krach hätte man es nennen sollen.

Nachdem ihr Lee einen Weg gebahnt hatte, trat Honey näher.

Mitten im Schaufenster prangte ein Formel-1-Rennwagen. Er war grellrot und von karierten Fahnen und all den marktschreierischen Accessoires des Rennzirkus umgeben. Die Beleuchtung war – im Gegensatz zu der von Tern & Pauling – alles andere als diskret: blinkende bunte Lampen, nirgendwo Schatten. Auch keine sexy Gestalt weit und breit. Diese Rolle hatte augenscheinlich das Rennauto übernommen.

»Na, hallo zusammen!«

Selbst aus zwanzig Metern Entfernung konnte Honey sehen, wie der Besitzer sich die Hände rieb und selbstgefällig grinste, als sei ihm der Sieg schon gewiss.

Als er sie näher kommen sah, schubste er die Gaffer zur Seite.

»Bin entzückt«, gurrte er mit honigsüßer Stimme. Sein Lächeln wirkte wie in Zement gegossen. Weiße Zähne blitzten hervor. Ein großer weißer Hai, der sich aufs Frühstück freute.

Honey linste auf ihr Klemmbrett. Julian Cunningham. Oberlackaffe, dachte sie still für sich. Er hatte zudem den richtigen Laden, den richtigen Hintergrund – Rennfahren, wenn auch nur auf Provinzniveau. Sie war sich sicher, dass er sich für Gottes Antwort auf das Gebet einer Jungfrau hielt und an der Costa Blanca Urlaub machte; das stand ihm auf die Stirn und sonst wohin geschrieben.

Vom blond gesträhnten Haar bis zu den zweifarbig weiß-braunen Slippern kreischte alles »Lackaffe«.

Er trug ein Leinenhemd, das seinen Zähnen im Weiß nicht nachstand, die Manschetten waren locker umgekrempelt, so dass sonnengebräunte Unterarme zum Vorschein kamen, sicherlich eher aus der Tube als der Natur geschuldet. Am Handgelenk baumelte ein dickes Goldarmband.

Die gelben Jeans saßen tief auf den Hüften. Das Haar hatte er auf dem ganzen Kopf in stacheligen Spitzen hochgegelt. Das Weiß seiner Slipper war so strahlend wie das des Hemdes und der Zähne. Honey überlegte, dass die Schuhe wahrscheinlich aus italienischem Ziegenleder genäht waren und ein Vermögen gekostet hatten. Oder vielleicht waren es doch Designer-Imitate und irgendwo in Spanien billig erworben?

Die Augen des Mannes musterten sie von Kopf bis Fuß. »He, Babe! Wieso sehen nicht alle Juroren bei diesem Wettbewerb so aus wie Sie?« Der Tonfall sollte sie wohl entwaffnen. Stattdessen stellten sich ihr die Nackenhaare auf.

»Vielleicht brauchen Sie Kontaktlinsen«, erwiderte sie und lächelte zuckersüß und verpasste ihm gleichzeitig null Punkte für Feingefühl.

Andere hatten versucht, ihre Entscheidung zu beeinflussen, indem sie ihr Kaffee, ein Glas Wein, ein kleines Geschenk und natürlich Pralinen anboten. Bei der Schokolade wäre sie beinahe schwach geworden, aber sie hatte tapfer widerstanden. Doch niemand war so aalglatt und schmierig gewesen wie Julian Cunningham.

Honey trat näher an das Schaufenster heran.

»Alles echt?«

Julian rollte die Schultern. Sein Lächeln wurde breiter. »Aber jeder Zentimeter von mir, Schätzchen.« Er lehnte sich dichter zu ihr hin und flüsterte: »Können Sie gern näher in Augenschein nehmen, wenn Sie möchten. Ich jedenfalls würde Sie sehr gern genauer begutachten.«

»Ich meinte das Auto. Ist das ein echtes Rennauto?«, blaffte Honey.

Trotz ihres scharfen Tonfalls schien Julian Cunningham völlig ungerührt.

»Aber natürlich, Schätzchen. Es ist allerdings kein Motor drin. Das ist nur das Chassis. Ein Klassiker, wenn ich das hinzufügen darf.« Er grinste sie an und machte sogar den Versuch, ihr den Arm um die Taille zu legen. »Ich habe eine Schwäche für klassische Chassis.«

Es war völlig klar, worauf er anspielen wollte: Sie war nicht mehr ganz jung, aber noch in Topform. Er hielt das vielleicht für ein Kompliment. Sie nicht. Die Wut wanderte ihr in den rechten Fuß, den sie leicht anhob und fest auf einen seiner wirklich wunderschönen italienischen – oder spanischen? – Lederslipper heruntersausen ließ.

»Aua!« Er hüpfte auf einem Fuß herum, während er seine nun nicht mehr ganz so makellose Fußbekleidung überrascht musterte. »Herrgott noch mal! Sehen Sie sich an, was Sie da angerichtet haben!«

Honey blickte auf den Abdruck ihrer schwarzen Stiefelsohle auf dem weißen Ziegenleder.

»Lassen Sie sich das eine Warnung sein, Mr Cunningham. Mit Juroren sollte man sich nicht anlegen!«

Dann begutachtete sie weiter die Auslage. Ehrlich gesagt, sie war wirklich sehr gut, und die Leute ringsum schienen sie toll zu finden. Honey erinnerte sich daran, dass sie sich vom Besitzer des Ladens nicht beeinflussen lassen sollte. Bei Tern & Pauling war der gar nicht aufgetaucht. In einigen anderen Läden auch nicht. Bisher hatte sie sich weder von der Anwesenheit noch von der Abwesenheit der Besitzer beeinflussen lassen, und das wollte sie auch weiter so halten.

»Es ist ein echter Rennwagen«, sagte der Mann gerade zu ihr. »Und er ist ein echtes Statement.«

Sie nickte und murmelte irgendwas als Antwort. Klar, ein Statement.

»Der Gewinner kriegt alles«, fuhr der Mann fort und hauchte ihr seinen heißen Atem ins Ohr.

Ihr lag die Bemerkung auf der Zunge, dass sie bei diesem Wettbewerb in keinster Weise einen Teil des Preises darstellte, aber sie wusste, dass auch das auf taube Ohren stoßen würde. Julian Cunninghams Ego war so groß, dass es den Konzertsaal der Royal Albert Hall locker ausgefüllt hätte. Er war nicht der Typ Mann, der Nein als Antwort akzeptierte – auch wenn man ihm noch so auf die Schuhe trampelte.

Sie musste sich eingestehen, dass die Auslage gut war. Sie verdiente es, ernsthaft in Erwägung gezogen zu werden. Aber fünf Punkte wollte sie auf keinen Fall vergeben. Stattdessen hätte sie ihm nur zu gern dieses selbstgefällige Grinsen vom Gesicht gewischt. Und wenn sie ihm im Wettbewerb eine hohe Punktzahl gab, würde er daraus ableiten, dass er bei ihr maximal eingeschlagen hatte. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.

Und dennoch … zweifellos war es eine gute Auslage. Ach, wenn sie doch nur in ihre Bestandteile zerfallen würde … was für finstere Gedanken! Mary Jane, die hauseigene Professorin für das Paranormale im Green River Hotel, hatte irgendwann einmal erwähnt, dass finstere Gedanken, wenn man sie nur intensiv genug dachte, tatsächlich in der Wirklichkeit Fuß fassen und umgesetzt werden konnten. Einen Versuch war es wert – oder?

Plötzlich geschah etwas! Doch sicher viel zu plötzlich, als dass es schon ein Ergebnis ihrer Gedanken sein konnte?

Die farbigen Lichter blinkten nun schon eine ganze Weile fröhlich grün, rot, weiß, lila und blau. Da flammte auf einmal Lila hell auf, sprühte Funken und verlosch. Dann folgte Blau, ebenfalls in einem Funkenregen, der auf den Fahrersitz des Rennwagens niederfiel.

»Großer Gott!«

Julian Cunningham gab ein Bild der Panik wie aus einem Trickfilm ab, warf die Arme in die Höhe und kreischte jemandem im Laden einen Befehl zu, während er schon über die Schwelle flitzte. Eine der karierten Fahnen, die beim Zieleinlauf vor der Motorhaube des Siegers geschwenkt werden sollte, glimmte und verkohlte an einer Ecke. Sie war aus billigem Nylon und fing Feuer. Flammen züngelten über den Stoff. Cunningham sprang mit dem Schaumlöscher im Schaufenster auf und ab, kreischte allen zu, sie sollten weitere Feuerlöscher herholen, um die Flammen zu löschen, ehe der Wagen beschädigt wurde und er selbst in Teufels Küche geriet.

»Ach du je«, meinte Lee, seltsam ungerührt von all dieser Aufregung. Er machte keinerlei Anstalten, beim Löschen des Feuers zu helfen. »Ich hoffe nur, dass er eine Feuerversicherung hat.«

Honey schüttelte den Kopf. »Das wage ich zu bezweifeln. Der hat sein ganzes Geld für die Schuhe und die blonden Strähnchen ausgegeben.«

»Wahrscheinlich«, murmelte Lee und ging weiter.

Kapitel 2

Niemand hatte die Vorhänge aufgezogen. Das bemerkte der alte Mann zuerst. Und niemand hatte ihm das Frühstück gebracht. Halb acht! Er erwartete sein Frühstück um halb acht, keine Minute früher, keine Minute später. Er blickte auf die Uhr auf dem Kaminsims. Er konnte sie nicht genau erkennen, aber es sah nicht so aus, als zeigte sie auf halb acht. War es etwa schon nach elf? Wenn das stimmte, wo blieben sie dann alle?

Mit vom Rheuma schmerzenden und von Altersflecken übersäten Händen, deren Haut schlaff und so runzlig wie ein alter Apfel war, tastete er nach seinem Handy und tippte die Telefonnummer seines Sohnes ein. Es war ihm gleichgültig, dass sein Sohn nur ein Stockwerk weiter unten im Haus war. Es hatte sich herausgestellt, dass er ihn so am besten erwischen konnte. Da konnte er sich das Rufen sparen. Und er brauchte nicht vom Bett aufzustehen.

Eine blecherne Stimme teilte ihm mit, dass der angerufene Teilnehmer nicht erreichbar war. Der undankbare Hund hatte sein Handy ausgeschaltet. Was wurde da gespielt?

Es fiel ihm ein, dass Nigel schon ein paar Tage, ehe man ihn, seinen Vater, mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren hatte, auf alle Fragen ausweichend geantwortet hatte und ihm sogar ein wenig rebellisch erschienen war. Das verdammte Krankenhaus! Er hatte nicht dorthin gewollt, aber ein Pflegefall wollte er auch nicht werden. Er hatte nie damit gerechnet, alt zu werden. Selbst in seinen mittleren Jahren war er überzeugt gewesen, dass er geistig und körperlich fit und gesund bleiben würde.

Die Dinge waren überhaupt nicht nach Plan verlaufen. Er war hingefallen und hatte sich die Hüfte gebrochen. Und als er mit der neuen Hüfte nach Hause gekommen war, hatte er sich eine Erkältung zugezogen, und sein Arzt fürchtete, es könnte sich daraus eine Lungenentzündung entwickeln. Der Arzt hatte ihm vorgeschlagen, ins Krankenhaus zurückzukehren, aber Arnold hatte sich standhaft geweigert.

»Wenn ich schon sterbe, dann lieber zu Hause.«

Nicht dass er vorhatte zu sterben. Störrischer Widerstand bis zum Letzten – das hatte er sich vorgenommen!

Der Arzt hatte nicht lockergelassen. Arnold war zwar bereits im Fieberwahn, hatte sich aber durchgesetzt, hauptsächlich, weil sich Nigel auf seine Seite geschlagen hatte.

»Wenn mein Vater nicht ins Krankenhaus will, dann müssen wir das respektieren.«

Ja, überlegte Arnold, als er daran zurückdachte. Am besten bleibe ich zu Hause, nur eine Krankenwagenfahrt vom Krankenhaus und seinen Notfalleinrichtungen entfernt. Aber du, mein lieber Sohn, hast gemeint, dass zu Hause die Wahrscheinlichkeit, dass ich sterbe, wesentlich höher ist, und das wäre natürlich das Beste für dich. Dann würde dir alles gehören, nicht wahr, mein Lieber? Denkst du jedenfalls.

Arnold musste unwillkürlich vor sich hin glucksen, und seine Lunge rasselte vor Anstrengung. »Ich bin stärker, als du glaubst«, murmelte er und lachte leise. »Warte nur ab, bis du mein Testament liest! Wart’s nur ab!«

Inzwischen würde er auf Plan B umschalten. Wenn der Berg nicht zum Propheten kam … wenn du dir nicht die Mühe machen willst, mit meinem Frühstück die Treppe raufzukommen, dann muss ich wohl nach unten gehen. »Ich bin stärker, als du glaubst, Bürschchen. Stärker, als du glaubst. Vielleicht überlebe ich dich sogar! Wäre das nicht ein Witz!«

Er tastete nach seinem Krückstock. Er war nicht da.

Er schüttelte verärgert den Kopf. Wenn er nur einfach aufstehen und nach unten gehen könnte! Sein großer Traum war, dass er es bis in den Laden schaffen würde. Tern & Pauling war immer noch sein Laden. Er war mächtig stolz darauf, dass er maßgeschneiderte Kleidung in bester Qualität lieferte für Menschen mit Status und Geld, am besten mit beidem. Seine Lieblingskunden hatten sowohl Status als auch Geld, denn das hieß, dass sie zumeist auch Manieren hatten. Es gab natürlich Ausnahmen, eine ganz besonders … Er versuchte den Gedanken an diesen Mann zu verdrängen. Schurke! Mistkerl! Und was meinen Sohn angeht …

»Dieser unnütze Bengel! Nicht mal das kriegt er richtig hin. Er kriegt eigentlich gar nichts richtig hin. Kein Frühstück. Kein Krückstock. Na, so klapprig bin ich noch nicht, dass ich nicht diese Treppe runterkomme und dir gehörig die Meinung sagen kann!«

Nachdem er die Bettdecke weggeschoben hatte, rutschte er vorsichtig an die Bettkante, grummelte, weil sich seine Schlafanzughose in seiner Pofalte verklemmt hatte und seine schlaffe Haut irritierte. Um ihren Fängen zu entgehen, rutschte er unruhig von einer Backe auf die andere. Es dauerte lange, aber es funktionierte.

Nachdem er den Schlafanzug gerichtet hatte, ließ er vorsichtig erst einen, dann den anderen Fuß über die Bettkante hinunter. Schließlich hingen sie beide nur wenige Zentimeter über seinen Hausschuhen über dem Boden. Er sah, dass sein Krückstock umgefallen war und quer über den pelzgefütterten Mokassins lag, die sein Sohn ihm letztes Jahr zu Weihnachten gekauft hatte. Sein Sohn Nigel schenkte ihm jedes Jahr Hausschuhe zu Weihnachten, obwohl die alten nie aufgetragen waren. Er kaufte sie bei Harrods. Eigentlich müssten ein halbes Dutzend Paar Hausschuhe im Schrank stehen, aber da war nur eines. Er vermutete, dass die ausgedienten Hausschuhe in die Altkleidersammlung wanderten, fragte aber nie nach.

Er seufzte schwer und murmelte ein paar unfreundliche Worte über den Jungen, seinen Sohn. Der hätte darauf achten sollen, wie der Krückstock angelehnt stand, hätte dafür sorgen sollen, dass er nicht umfallen konnte. Warum hatte er das nicht überprüft? Warum hatte er es immer so eilig? Aber so war Nigel eben. Viel zu sehr wie seine Mutter. Die war auch nie methodisch vorgegangen. Doch im Bett war sie gut gewesen – wenn man unter gut versteht, dass sie sich alles gefallen ließ, was er wollte. Wenn er es recht bedachte, hatte sie nie auch nur angedeutet, dass seine sexuelle Akrobatik sie irgendwie mit der gleichen Begeisterung erfüllte wie ihn.

Es kam nicht in Frage, dass er sich herunterbeugte, um seinen Krückstock aufzuheben. Das würde sein Kreuz nicht mitmachen, und seine Hüften schon gar nicht.

Mit der Entschlossenheit eines Menschen, der immer erwartet, am Schluss der Gewinner zu sein und alles zu bekommen, was er wollte, schob er erst einen und dann den anderen Fuß in seine Hausschuhe. Der Krückstock blieb liegen, wo er war, quer über dem Spann seiner Füße.

Sein rechtes Knie war ein wenig beweglicher als das linke. Seine Hüften waren vom langen Liegen ganz steif.

Er rutschte vorsichtig in die genau richtige Position und streckte die Beine vorsichtig, während er sich gleichzeitig nach dem Krückstock streckte. Seine Knochen knarrten und stöhnten ein wenig, aber seine Entschlossenheit setzte sich durch.

Jetzt wollen wir mal sehen, was der junge Nichtsnutz wieder macht, dachte er, und es war ihm gleichgültig, dass sein Sohn fünfzig Jahre alt war und eine spiegelnde Glatze hatte. Für ihn war er immer noch »der Junge«, der Tunichtgut, der undisziplinierte Lehrling im Geschäft von Tern & Pauling. Selbst im Schneidern war er unter dem Durchschnitt. Im Grunde kümmerte er sich nur um die Verwaltung, die Bankgeschäfte, und die hochwertigen Schneiderarbeiten wurden an andere Unternehmen vergeben.

Insgesamt war sein Sohn eine große Enttäuschung für ihn, ein Muttersöhnchen, dachte er für sich. Verzogen. Von seiner Mutter verhätschelt. Er als der Vater hatte sich redlich Mühe gegeben, das wieder hinzubiegen, aber ohne Erfolg. Das Internat hatte ein wenig dazu beigetragen, dass Nigel erwachsen wurde, aber auch das war nicht sonderlich zu merken. Er rannte immer noch rum wie ein Junge von einer ganz gewöhnlichen Oberschule – sogar mit seinen fünfzig Jahren.

Es war ein paar Wochen her, seit Arnold Tern zuletzt im Erdgeschoss des großen Hauses gewesen war, das sein Großvater um 1900 herum erworben hatte. Das Haus war schön gelegen, an einer ruhigen Seitenstraße in der Nähe des Victoria Parks, nah genug, um die Bäume zu sehen, aber gerade weit genug weg, dass man das Schreien der spielenden Kinder nicht hören musste.

Die Tür zu seinem Schlafzimmer war sehr breit und auch sehr schwer. Er schaute sie vorwurfsvoll an, als er sie öffnete und sich überlegte, wieso ihm das nicht schon früher aufgefallen war. Er würde den Jungen – Nigel – beauftragen, da Abhilfe zu schaffen. Vielleicht konnte man andere Scharniere einbauen, um das Gewicht aufzufangen.

Er schlurfte zum Treppenabsatz, schaute über das Geländer, eine Hand fest um den Treppenlauf geklammert. Seine Knie waren ganz wackelig, und zudem war ihm leicht schwindlig, was verständlich war, denn er hatte ja wochenlang mit irgendeinem Infekt im Bett gelegen. Von irgendwo aus einem der Räume im Erdgeschoss hörte man das Dröhnen eines Staubsaugers.

Durch die verglaste obere Hälfte der Haustür strömte Licht in den Eingangsflur.

Außer Mrs Cayford, der Putzfrau, schien niemand im Haus zu sein.

Er rief den Namen seines Sohnes: »Nigel?«

Keine Antwort. Nicht unbedingt eine Überraschung. Es war gut möglich, dass Nigel einen Termin mit einem Kunden hatte. Geschätzte Kunden, so nannten sie die Herren, die zu ihnen kamen und sich Anzüge, Jacketts oder Hosen maßschneidern ließen. Der geschätzte Kunde oder eher noch sein Kammerdiener oder persönlicher Assistent, wie es anscheinend heute hieß, rief an und machte einen Termin aus. Sie wollten schließlich nicht den ganzen Tag im Laden verbringen.

Er schaute die Treppe hinunter und überlegte, ob es sich lohnen würde, nach unten zu gehen. Nigel war zweifellos im Laden. Und diese Treppe, die sah so steil aus; es würde mühsam sein, obwohl sie im Augenblick auf ihn zuzukommen schien, verschwamm, im Nebel verschwand …

»Mr Tern?«

Nach seinem Namen hörte er gleich das Dröhnen von rosa Plastik-Crocs. Mrs Cayford kam die Treppe heraufgestürmt und fing ihn auf, ehe er umkippte.

»Mr Tern, was machen Sie denn hier. Sie gehören ins Bett!«, schimpfte sie. »Kommen Sie. Ich bringe Sie zurück. Keine Widerrede.«

Edwina Cayford arbeitete in Teilzeit als Krankenschwester und kam zwei Tage in der Woche hier ins Haus, um sauberzumachen. Sie war der Meinung, dass eine kleine Pause von der Arbeit im Krankenhaus sie bei Verstand und bei Kasse hielt.

Nigel hatte vorgeschlagen, vielleicht jemanden zu suchen, der jeden Tag ein paar Stunden kommen könnte, aber davon wollte sein Vater nichts wissen. Er fand es jedoch sinnvoll, eine Krankenschwester in der Nähe zu haben, und wenn es nur an zwei Tagen in der Woche war. Außerdem mochte er Edwina Crawford. Einmal hatte sie bei ihm hereingeschaut und noch ihre Schwesternkleidung angehabt, weil er sie darum gebeten hatte. Beim bloßen Gedanken daran leckte er sich die Lippen. Er hatte eine Schwäche für Krankenschwestern. Er fand sie ungeheuer attraktiv – sogar sexy – in ihren dunkelblauen Kleidern mit dem gestärkten weißen Kragen und den gestärkten Manschetten und einem Gürtel, der ihre Taille zusammenschnürte. Ganz gleich, wie dick oder dünn sie war, jede Frau bekam mit einem solchen Gürtel eine kurvenreiche Figur.

Leider hatte er bisher noch nicht begriffen, dass Krankenschwestern heutzutage keine so unbequemen Outfits mehr trugen, sondern eine lose Tunika und weite Hosen. Er war völlig entsetzt gewesen, als er Mrs Cayford so gekleidet gesehen hatte.

»Aber was ist mit Ihrer Schwesternkleidung?«

»Das ist meine Schwesternkleidung«, hatte sie lächelnd geantwortet. »Die Zeiten haben sich geändert, Mr Tern. Die alte Schwesterntracht war nicht praktisch. Dies hier ist besser. Leicht zu waschen, schnell getrocknet, und man muss nichts bügeln. Besser geht’s nicht.«

Arnold Tern musste sich damit zufriedengeben, ihren üppigen Busen anzuschauen, der sich deutlich in der Tunika abzeichnete, die, wie er mit Expertenblick feststellte, eine Nummer zu klein war. Das Gleiche galt auch für die Hose, die sie trug, obwohl er diesen Teil ihrer Anatomie nur begutachten konnte, wenn sie sich vornüberbeugte. Die Hose saß sehr knapp am Hinterteil, das sehr rund war und sie bestens ausfüllte.

Außer ihren deutlich sichtbaren Vorzügen reinigte Edwina das Haus auch sehr tüchtig. Wenn sie ging, war alles frisch poliert und glänzte nur so.

»Jetzt vorsichtig.«

Sie hatte ihm einen Arm über den Rücken gelegt, hielt mit der anderen Hand seinen Arm über ihrer Schulter fest. Er mochte es, wie sie ihn hielt, ihn mit ihren starken braunen Fingern packte, ihn mit ihren molligen Armen aufrecht hielt. Sie machte ihre Arbeit gut, diese Edwina, als Putzfrau und als Krankenschwester. Deswegen hatte er sie gern um sich; sie war es gewöhnt, Leuten zu helfen, die allein nicht mehr klarkamen.

»Jetzt wollen wir Sie mal wieder ins Bett bugsieren«, sagte sie mit fester Stimme, die keinen Widerspruch duldete. Nicht dass Arnold widersprechen wollte. Er hatte es gern, wenn sie ihn so resolut anfasste.

»Sie haben starke Arme«, sagte er zu ihr. »Ich spüre die sehr gern um mich. Wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre, würde ich das ausnutzen und Sie in echte Schwierigkeiten bringen.«

»Aber Mr Tern!« Ihre Stimme klang schockiert.

»Sie sind ein unartiger Junge!«, fügte sie hinzu und lachte leise. Sie führte den alten Mann in sein Schlafzimmer und zu dem warmen Bett zurück, aus dem er gerade erst mühsam aufgestanden war.

»Ich habe noch kein Frühstück bekommen«, sagte er zu ihr. »Nigel hat die Anweisung, mir um halb acht morgens mein Frühstück zu bringen. Mein Magen verlangt das. Wie spät ist es jetzt?«

»Halb zwölf vorbei.«

»Beinahe Mittagszeit?«

»Allerdings. Macht nichts. Ich bringe es Ihnen.«

»Das finde ich aber schön, wenn Sie es mir bringen.«

»Das weiß ich, aber keine Frechheiten«, antwortete sie lachend und sah ihn vorwurfsvoll an.

»Wenn ich jünger wäre …«, wiederholte er kichernd.

»Aber das sind Sie nicht«, antwortete sie und deckte ihn gut zu. »Er hätte mir sagen sollen, dass Sie noch nicht gefrühstückt haben. Ich denke, das hat er bei all der Aufregung heute Morgen einfach vergessen.«

Arnolds Augen leuchteten auf. Ungeahnte Möglichkeiten fielen ihm ein.

»Aufregung? Ich nehme an, mein Sohn ist ins Büro gegangen.«

Er nannte das Geschäft von Tern & Pauling stets Büro. Es als Laden zu bezeichnen wäre viel zu gewöhnlich gewesen.

»Na, das will ich meinen!«, trällerte Mrs Cayford. »Heute ist ein wunderbarer Tag!«

In Arnolds Ohren klang das beinahe so, als würde sie gleich ein Lied schmettern. Was zum Teufel hatte sie so fröhlich gemacht?

Dass der Tag heute so wunderbar war, konnte wohl nur an der Person des Kunden liegen, den sein Sohn heute traf. Sein altes Herz hüpfte vor Freude. Eine Königliche Hoheit wäre natürlich der absolute Gipfel. Ganz gleich wie reich der russische Oligarch war oder wie sehr ihm daran lag, so englisch wie möglich zu wirken, es gab einfach keinen Ersatz für die Verbindung zum Königshaus, dem britischen natürlich.

Einer der Prinzen hatte eine besondere Schwäche für gut geschnittene Sportjacketts oder Reitjacken. Er jagte noch hoch zu Ross mit der Meute – oder hatte gejagt, bis die Fuchsjagd verboten wurde. Arnolds Herz schwoll vor Stolz.

»Ah! Mein Sohn trifft sich heute mit einer wichtigen Persönlichkeit«, sagte er mit tiefer Zufriedenheit und ebenso großer Reserviertheit. Tern & Pauling verrieten niemals die Namen ihrer Kunden.

»Ja, genau«, erklärte Mrs Cayford. Arnold lag nun wieder im Bett, und sie hatte ihn fest zugedeckt, wie Krankenschwestern das eben machen.

»Wunderbar«, verkündete Arnold und nahm sich vor, Nigel, sobald der nach Hause kam, nach allen Einzelheiten zu befragen. So tüchtig und sexy Mrs Cayford auch war, bestimmte Dinge besprach man einfach nicht mit dem Personal.

Sie zog mit muskulösen Armen die Vorhänge auf und beugte sich dann hinunter, um den Thermostaten an der Heizung einzustellen.

»Ich hoffe, er war so diskret, wie es sich gehört.« Sein Blick ruhte auf Edwinas ausladendem Hinterteil. In Gedanken stellte er sich vor, wie es ohne Kleider aussehen würde, rund und glänzend und in sattem Braun.

»Das weiß ich nicht, Mr Tern, aber er war sich so sicher, dass er eine gute Chance haben würde. Und als er vor ein paar Minuten angerufen und es mir gesagt hat … Na ja … habe ich mich genauso gefreut wie er.«

Arnold zwinkerte. Er hatte wohl den Faden verloren? Wovon zum Teufel redete die Frau?

»Können Sie mir bitte genau erklären, wo er Ihrer Meinung nach hingegangen ist, Mrs Cayford?«

»Aber sicher, Mr Tern. Er ist sich seinen Preis abholen gegangen. Ist das nicht toll? Ich muss ja sagen, ich fand auch, dass es das beste Schaufenster war, obwohl das von Bob’s Boots auch nicht schlecht aussah. Und das vom Pralinenladen auch nicht … aber jetzt hat die Auslage von Tern & Pauling den Preis gewonnen. Fünftausend Pfund … Mr Tern? Mr Tern? Geht es Ihnen gut?«

Arnold Terns Unterlippe bebte. Seine Augen starrten geradeaus. Wäre er fit und gesund gewesen, er hätte vielleicht jemandem einen Fausthieb versetzt – höchstwahrscheinlich seinem Sohn. Wie die Dinge standen, konnte er aber nur dasitzen wie ein kochender Wasserkessel, in dem es heftig blubberte und dem nun schon bald der Dampf aus den Ohren zischen würde.

Edwina war nach unten gegangen, um ihm das Frühstück zuzubereiten, und hatte ihn im Bett zurückgelassen, den Krückstock und das Handy in Reichweite. Auf dem Nachttischchen waren auch ein Glas Wasser und seine Tabletten für Herz, Blutdruck, das Cholesterin und die Blase. Er konnte sie aber alle nicht auf nüchternen Magen einnehmen. Doch jetzt waren seine Gedanken nicht mehr beim Essen. Edwina hatte ihm, ehe sie nach unten ging, in allen Einzelheiten von der Schaufensterauslage erzählt. Sie hatte zugegeben, dass sie in die Stadt gegangen war und sie eine ganze Weile angestarrt hatte.

»Wunderbar ist das. Ein Wegelagerer, und im Hintergrund hängt ein Galgenstrick, und all die Jacketts und Mäntel sehen aus wie riesige Herbstblätter, die im Schaufenster herumschweben.«

Arnold war wie vom Donner gerührt. Bei Tern & Pauling genehmigte man sich keine extravaganten Auslagen. Genau genommen genehmigte man sich nie Schaufensterauslagen.

Tern & Pauling hatte es sich zur Hauptaufgabe gemacht, immer diskret vorzugehen. Die Kundschaft erwartete völlige Diskretion. Es waren reiche Leute, Leute mit Adelstiteln, Leute, die nicht fotografiert werden wollten, während man ihnen für die neueste Reitjacke oder den neuesten Cutaway Maß nahm. Leute, deren Privatleben Schlagzeilen machen würde, wenn die Angestellten von Tern & Pauling nur ein paar der Geheimnisse ausplaudern würden, die man ihnen verriet, während sie die innere Beinlänge eines adeligen Kunden vermaßen.

Arnold hatte Edwina zu erklären versucht, dass sein Sohn hinter seinem Rücken gehandelt hatte und dass es bei Tern & Pauling niemals Schaufensterauslagen gab. Vielmehr waren die Fenster mit Vorhängen versehen, denn schließlich waren ihre Kunden keine Menschen, die Schaufensterbummel machten. Sie vereinbarten Termine.

Er war nicht froh über diese Nachricht. Gar nicht froh. Wäre er gesund gewesen, so hätte er etwas unternommen, wäre vielleicht in die Stadt gegangen und hätte Nigel mit seinem Scheck über fünftausend Pfund auf dem Weg zur Bank abgefangen – das war doch die Summe, die Edwina erwähnt hatte?

Die Kissen und die Matratze unter ihm fühlten sich bretthart an; er war lange krank gewesen und keineswegs in der Lage, irgendwas zu unternehmen. Das Zimmer wirkte düster, obwohl die Vorhänge aufgezogen waren. Bildete er sich das nur ein, oder wurde es immer düsterer?

»Ich hätte noch gern eine Massage, wenn Sie Zeit dafür haben«, rief er Edwina hinterher. Ob sie ihn gehört hatte oder nicht, konnte er nicht ausmachen. Jedenfalls antwortete sie nicht.

Er war kurz davor, wieder einzuschlafen. Er konnte nicht unendlich lange dagegen ankämpfen, nur lange genug, um ein bisschen Frühstück zu sich zu nehmen, was natürlich inzwischen schon ein Brunch war, wie die Amerikaner es nannten. Vorher musste er jedoch noch einen Anruf erledigen. Nigel hatte ihn wütend gemacht. Er hatte einen Schritt getan, der das noble Geschäft in Richtung Massenware verschob, die hehren Gefilde der Maßanfertigungen verließ, für die das Unternehmen immer gestanden hatte. Weiß der Himmel, wer nun bei ihnen auftauchen und Anproben verlangen würde! Vielleicht gar Popstars! Oder Fußballspieler!

Er würde es nicht zulassen. Nigel dachte vielleicht, dass er die Firma so verändern konnte, aber da hatte er sich getäuscht. Und wenn er dazu sein gesamtes Vermögen jemand anderem vererben musste, dann würde er das tun, bei Gott! Verdammt, das würde er!

Obwohl er sein Alter schon mehrmals betont hatte und sein Kurzzeitgedächtnis nicht mehr hundertprozentig funktionierte, war doch sein Langzeitgedächtnis noch messerscharf. Er kannte die Telefonnummer, die er brauchte, auswendig. Nach ein paar Fehlstarts, weil er die falschen Tasten gedrückt hatte, kriegte er es schließlich richtig hin. Gott sei Dank hatte er auf einem Telefon bestanden, das ein überdurchschnittlich großes Tastenfeld hatte, ein Muss für jeden, der eine Lesebrille braucht. Nur eine Lesebrille, keine andere. In der Ferne sah er noch prima.

Es klingelte eine Weile, ehe Grace Pauling antwortete.

»Grace?«

»Arnold! Wie nett, dass du anrufst!«

Er bezweifelte, dass sie es wirklich nett fand. Er konnte beinahe hören, wie sie mit den Zähnen knirschte. Er konnte sich auch den überraschten Ausdruck auf ihrem herzförmigen Gesicht vorstellen. Sie hatte bestimmt im selben Augenblick, als sie den Anruf annahm, angefangen, sich mit den polierten Fingernägeln durch ihr weiches blondes Haar zu fahren, vielleicht hatte sie instinktiv geahnt, dass er ihr etwas mitteilen würde, das sie nicht gern hören würde.

»Bist du in der Kanzlei?«, fragte er.

»Ich war gerade einen Kaffee trinken. Ich bin auf dem Weg …«

»Macht nichts. Ich muss dich sehen. Ich möchte mein Testament ändern. Komm vorbei. Und zwar pronto.«

Kapitel 3

Grace Pauling schaltete ihr Mobiltelefon aus. Sie hatte einen Kaffee getrunken und war nun hier, um auf Kosten der Vereinigung der Einzelhändler von Bath Champagner zu schlürfen.

»Entschuldigung«, sagte sie und warf den Leuten ringsum ein gezwungenes Lächeln zu, während sie sich einen Weg durch die Menge bahnte. Sie musste unbedingt ganz vorn sein, wo er sie sehen würde. Sie hatte dringend etwas mit ihm zu bereden. Der Rollstuhl half ein bisschen. Die Leute machten immer einen Schritt zur Seite, um einen Rollstuhl durchzulassen.

Nigel und die Leute, die den Preis überreichen würden, hatten sich schon vor dem Siegerschaufenster aufgebaut, bereit für Ansprachen und Fotos. Grace’ Gedanken schlugen Purzelbäume, als sie die Auslage sah. Sie war wirklich großartig, männlich herb und doch romantisch. Sie verdrehte allen den Kopf. Grace überlegte, wer sie wohl gestaltet hatte. Nigel gewiss nicht. Der hatte keinen kreativen Knochen im Leib.

Sie warf ihm einen bedeutsamen Blick zu, der keinen Zweifel daran ließ, dass sie mit ihm sprechen wollte.

Fred Baker, der Vorsitzende des Einzelhandelsverbands von Bath, stand vor dem Schaufenster. Sein Bauch hing ihm über die Hose. Das Jackett war dunkelrot, die Hose braun. Nichts passte an seiner Kleidung so recht zusammen. Grace musste unwillkürlich an einen Zirkusdirektor in der Manege denken, wenn sie ihn ansah.

Eine adelige Dame aus Gloucester sollte den Preis überreichen. Fred Baker hielt die Laudatio und war offensichtlich fasziniert vom Klang seiner eigenen Stimme.

Auf einer Seite des Schaufensters hatte man einen Tisch aufgestellt, über den eine Leinendecke gebreitet war. Hinter einer Ansammlung von Sektflöten standen Champagnerflaschen kalt.

»In puncto Schaufensterdekorationen gibt es in Bath natürlich nur Sieger …« Fred Bakers Worte hallten von den glatten Fassaden der Gebäude zu beiden Seiten der schmalen Straße wider.

Grace Pauling hörte nur halb hin. Sie war angespannt und machte sich Sorgen. Sie wusste, was in Mr Arnolds Testament stand. Nigel war stets einer der Haupterben gewesen. Genau wie sie. Und dann … Sie wollte gar nicht daran denken, wer sonst noch bedacht wurde. Da drohte ein Skandal am Horizont, und zwar ein saftiger. Der dämliche alte Arsch. Genau das war Mr Arnold, nichts als ein dämlicher alter Arsch!

Nach dem breiten Grinsen auf seinem Gesicht zu urteilen, ging Nigel Tern anscheinend völlig in dieser Veranstaltung auf.

Grace Pauling überlegte, was er wohl mit dem Preisgeld vorhatte. Vielleicht mit einer seiner Damen eine kleine Italienreise machen? Bei dem bloßen Gedanken hatte sie einen Kloß im Hals. Einen sehr hässlichen Kloß. Natürlich, wenn sie Glück hatte, würde er sie fragen. »In der Horizontalen seid ihr alle gleich, Darling Grace«, hatte er eines Nachts zu ihr gesagt, als ihn die Leidenschaft übermannt hatte. Er war betrunken gewesen, hatte es aber anscheinend doch ernst gemeint, als er ihr so zu verstehen gab, es wäre ihm gleichgültig, dass sie im Rollstuhl saß. Irgendwie glaubte sie jedoch nicht, dass er sie einladen würde, diesmal nicht, obwohl inzwischen Fluggesellschaften und Hotels durchaus behindertengerecht dachten.