Mord im Eifel-Express - Carola Clasen - E-Book

Mord im Eifel-Express E-Book

Carola Clasen

3,8

Beschreibung

Jeden Tag rollt der RE 22 von Köln-Hauptbahnhof in die Eifel und wieder zurück. Für viele Menschen ist der Zug die einzige Möglichkeit, zum Arbeitsplatz zu kommen. Auch für Sonja Senger, ausrangierte Hauptkommissarin. Nach einigen Jahren als Privatdetektivin in der Nordeifel erhält sie eine zweite Chance im Kriminalkommissariat Euskirchen. Aber ihr alter Wagen schafft die Strecke von Wolfgarten in die Kreisstadt nicht mehr. Sonja nimmt den Zug. Genauso wie der alte Nowak aus Dahlem. Er hat alles verloren: sein Zuhause, seine Frau Beate, den Kontakt zu seinem Sohn Niklas und jeden Lebensmut. Zurückgezogen lebt er auf dem Hof von Schwester und Schwager und wartet darauf, dass wenigstens seine Frau zu ihm zurückkommt. Als eines Tages sein Sohn wieder auftaucht, kommt er nicht, um sich mit seinem Vater zu versöhnen, sondern um Rache zu nehmen - Rache an Dr. Gero Warenka, dem Mann, der seine Familie zerstört hat. Und auch Dr. Warenka nimmt den Eifel-Expess...

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Carola ClasenMord im Eifel-Express

Bisher von der Autorin bei KBV erschienen:

»Novembernebel«»Das Fenster zum Zoo«»Tot und begraben«»Auszeit«»Schwarze Schafe«»Wildflug«»Mord im Eifel-Express«»Spiel mir das Lied vom Wind«»Tote gehen nicht den Eifelsteig«

Seit 1998 schreibt Carola Clasen Kriminalromane, die in der Eifel spielen. »Tote gehen nicht den Eifelsteig« ist ihr siebter Roman mit der eigenwilligen Kommissarin Sonja Senger. Auch mit ihren Kurzgeschichten und Lesungen hat Carola Clasen sich einen Namen in der Region gemacht. Die »Queen of Eifel-Crime« ist Mitglied im Syndikat, lebt und arbeitet in Hürth.

Carola Clasen

Mord imEifel-Express

1. Auflage September 20082. Auflage November 20083. Auflage Februar 20094. Auflage September 20105. Auflage Juli 2011

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheimwww.kbv-verlag.deE-Mail: [email protected]: 0 65 93 - 99 86 68Fax: 0 65 93 - 99 87 01Umschlagillustration: Ralf KrampRedaktion: Volker Maria Neumann, KölnPrint-ISBN 978-3-940077-41-7E-Book-ISBN 978-3-95441-024-8

Für den Ur-Ur-Großneffenvon Karl May

»Die Zahl der Reisenden, die an einer Station aussteigen, kann nicht größer sein als die Zahl der Reisenden, die bei der Abfahrt von der vorhergehenden Station im Zug vorhanden gewesen sind.«

Zirkular der französischen Staatsbahnen

1. Kapitel

Selten legte Wilhelm Nowak Blumen auf ihr Grab. Im Sommer, da konnte er sie vom Straßenrand oder heimlich aus dem Garten seiner Schwester pflücken. Nachbarn, die von seinem Schicksal wussten, reichten ihm manches Mal welche über den Zaun, wenn sie ihn vorübergehen sahen. Doch im Winter, so wie jetzt, standen künstliche Blumen auf ihrem Grab, und er ging, abgesehen von seinem Gehstock in der Linken, mit leeren Händen zum Friedhof. Blumen im Geschäft zu kaufen, konnte er sich einfach nicht leisten. Er hatte alles verloren. Er war mittellos. Das Wenige, was ihm geblieben war, gab er lieber für Fahrkarten aus.

Eine rote Kerze aber brannte immer.

Wilhelm Nowak ging fast jeden Tag auf den Friedhof. Nach dem Mittagessen, das seine Schwester Ulrike lieblos zubereitete. Ein Verdauungsspaziergang, wie Wilhelm es nannte, aber es war mehr. Es war die Flucht vor dem Hof der Irmschers, auf dem er sich immer noch wie ungebetener Besuch vorkam. Er ging die knapp zwei Kilometer immer so schnell er konnte.

Erst hinab ins Tal, sodass er manchmal fast lief, während sein Stock an seiner Seite über den Straßenbelag schabte. Er durchquerte Dahlem, ohne großartig nach links oder rechts zu sehen und schleppte sich dann, die Linke fest auf seinen Gehstock gestützt, die Rechte tief in die Tasche seines abgetragenen Wollmantels vergraben, den steilen Kapellenweg hinauf, mit schwerem Atem. Auf halber Höhe, in der Marienallee, hielt er kurz an, um zu verschnaufen. Jetzt gelang es ihm, zwischen den kahlen Zweigen der Rotbuchen hindurch das Friedhofstor zu erkennen. Der Anblick trieb ihn voran, er konnte es dann kaum erwarten, die Anhöhe zu erreichen.

Der Sendemast der Mobilfunkstation irritierte ihn jedes Mal neu, eine Verschandelung der Natur. Vertraut und lieb geworden waren ihm dagegen jenes einsame Windrad, dessen Flügel sich drehten, langsam wie die Zeiger einer Uhr, das Brummen eines kleinen Flugzeuges, das die Dahlemer Binz gerade verlassen hatte oder ansteuern mochte, der Geruch des Holzfeuers, der vom Dorf aufstieg, der Blick auf den Bahnhof im Tal und der immerwährende Wind, der die Stämme der Birken, die den Friedhof säumten, in jungen Jahren geformt haben musste, denn sie standen kreuz und krach.

Er schob das Friedhofstor auf, rechts die moderne Trauerhalle, links die Gräber der Soldaten in strengen Reihen, wie im Leben, so im Tod, und folgte dem Hauptweg, der schnurgerade und von Rotbuchen umsäumt erst vor dem steinernen Kreuz mit der Josefsfigur endete. Wilhelm hatte sie gezählt, die Rotbuchen auf dem Friedhof. Es waren zweiundvierzig.

Ansonsten gab es kaum Wege. Besucher überquerten eine Wiese, um zu den Gräbern ihrer Lieben zu gelangen, deren Grabsteine zumeist dicht Rücken an Rücken standen, eine Anordnung, die Wilhelm wie eine liebevolle Zusammengehörigkeit und Gemeinsamkeit hier oben empfand. Sie hatten alle das gleiche Schicksal erlitten.

Von der alten Kapelle wusste Wilhelm von früher, dass an ihrem Platz – lange bevor dieser Friedhof existierte – ein Heiligenhäuschen gestanden hatte, ehe ein Bauer beim Pflügen eine Muttergottes fand, die er brav der Pfarrkirche abgab, die jedoch auf unerklärliche Weise den Weg zurück auf die Anhöhe fand. Zum Gedenken an das kleine Wunder ließ die Gemeinde eine Kapelle bauen und nannte sie Mutter vom Guten Rat.

Es standen nur drei Bänke auf dem Friedhof. Wilhelms Stammplatz war zwischen dem Kompostsilo und der kleinen Wasserstelle. Von hier aus hatte er das Grab und die Kapelle im Blick. Und er hatte eine Aussicht, die über das Kylltal hinweg weit bis in die Hocheifel hineinreichte.

Ehe er sich niederließ, legte er den Gehstock beiseite, wischte mit dem Ärmel über den halbrunden, grünlichen Stein, in den auch die Namen seiner Eltern eingemeißelt waren, entfernte die Blätter von der Grabstelle, die von irgendwoher herangeflogen waren, zupfte hier und dort das Unkraut weg, denn seine Mutter hatte es gern ordentlich gehabt. Nach einer Gedenkminute, während der er die Hände in den Taschen zu Fäusten ballte, nahm er den Stock wieder auf, setzte sich auf die Bank und schlug die Beine übereinander. Dort hielt er es lange aus. Er spürte die Kälte kaum.

Um diese Uhrzeit und erst recht im Winter war es so still hier oben, als säße er auf dem Grunde eines Sees. Das Geläut der Bahnschranken, begleitet vom schleifenden Rollen eines Zuges aus dem Tal drang nur in sein Bewusststein, weil er wusste, dass es einen Bahnhof gab.

Wilhelm blickte über die kahlen Zweige der Birken hinweg in den Himmel, und seine Gedanken gingen auf Reise. Immer führte diese Reise ihn zu demselben Ziel: zu Beate und zu dem Tag, an dem sie zum ersten Mal seinen kleinen, leicht verstaubten, bis zur Decke vollgestopften Lebensmittelladen auf der Kölner Straße betreten hatte.

Es war der 18. Juni 1983. Ein Freitag. Kurz vor Ladenschluss. Ein Datum, das Wilhelm nicht vergessen würde. Weil nichts danach mehr war, wie es vorher gewesen war.

Seine Mutter hatte sich aus gesundheitlichen Gründen zwei Jahre zuvor aus dem Geschäft zurückgezogen, fragte aber jeden Abend nach dem Umsatz, den Vater und Sohn getätigt hatten, und forderte die Grüße der Kunden ein. Dabei saß sie in ihrem Lieblingssessel. »Und?«, rief sie, wenn sie die Schritte hörte, Vater und Sohn endlich die Treppe hinauf in die Wohnung zurückkehrten, die Kittel abgelegt und die Hände gewaschen hatten. Sie erkundigten sich alle nach ihr, die Alten, die in Pantoffeln und Strickjacken aus den Nachbarhäusern herübergeschlurft kamen, um ein einziges Teil, manchmal zwei, einzukaufen. Der Laden war Umschlagplatz für Informationen aller Art. Man kannte das Leben der anderen, so wie das eigene ein offenes Buch für die anderen war. Fremde kamen nur zu den Nowaks, wenn sie etwas in Blankenheim oder Stadtkyll einzukaufen vergessen hatten. So wie Beate damals.

Ein Liter Vollmilch, ein Brot und Waschmittel fehlten ihr. Wilhelm wusste es wie heute. Sein Vater war gerade in den Keller ins Lager gegangen. Er war mit ihr allein. Es gab kein Entrinnen. Schon beim ersten Mal hinterließ Beate einen völlig irritierten, aus der Fassung geratenen Wilhelm Nowak, der noch lange auf die Stelle am Boden starrte, wo sie gestanden hatte, und sich wünschte, es wäre ihm etwas eingefallen, um sie in ein Gespräch verwickeln zu können. Doch als er wusste, was er hätte sagen können, da war sie längst wieder weg. Das hatte er schon immer gut gekonnt. Gelegenheiten verpassen.

Beate war schmal und fast so groß wie er selbst. Sie trug eine gefütterte Cordjacke, an deren Farbe Wilhelm sich nicht erinnern konnte. Aber an die Farbe ihres Haares. Es war schwarz, und kleine, mineralische Punkte glitzerten darin. Das Schönste an ihr war für ihn ihr Haar gewesen. Sie trug es glatt und lang bis auf die Schultern, den Pony bis über die Augenbrauen. Es war fein und flog ihr bei jeder Kopfbewegung ins Gesicht. Er liebte die kleine Handbewegung, mit der sie eine Strähne beiseite schob.

Zu seiner großen Verwunderung kam Beate in der nächsten Woche wieder. Und von nun an jede Woche. Immer freitags. Immer kurz vor Ladenschluss. Immer abgehetzt. Bald wusste er, was sie am liebsten aß. Wog großzügig ab und machte für sie günstigere Preise, hätte ihr die paar Kleinigkeiten aber auch geschenkt und noch etwas draufgelegt, wenn das nicht zu offensichtlich gewesen wäre. Wenn er dann hätte erklären müssen, warum, wieso …

Bald hätte er ihr am liebsten gesagt, sie müsse sich nicht beeilen, er würde freitags länger aufhalten. Nur für sie. Doch er tat auch das nicht.

Wie sehr hielt er nach ihr Ausschau, wenn es auf den Abend zuging, und wie gedankenverloren fertigte er seine Stammkunden ab! Die Glastür hatte er fest im Blick. Die Plakate mit Ankündigungen von Festlichkeiten in Tondorf oder Oberschömbach versperrten ihm einen Teil der Sicht. Jeden Augenblick konnte die Tür aufgestoßen werden. Von ihr. Und wenn es dann soweit war, wurde er erst richtig nervös.

»’n Abend«, sagte sie jedes Mal leise, schob die Tür hinter sich zu und blieb einfach stehen. Außer Atem, froh, ihr Ziel mit knapper Not erreicht zu haben. Es klang, fand Wilhelm, als ob jemand von weit weg herüberriefe, als hätte jemand hinter einer Glasscheibe gesprochen.

Gut, dass Beate nicht sehen konnte, wie hinter der Theke und unter seinem weißen Kittel die Knie gegeneinanderschlugen. Fest presste er die Hände auf die Arbeitsplatte, damit sie nicht zitterten.

Falls andere Kunden im Laden waren, räumte Wilhelm so lange Dinge geschäftig von einer Stelle an eine andere, bis sie allein waren. Erst dann fragte er sie nach ihren Wünschen.

Einmal hatte sie sehr viel eingekauft, mehr als gewöhnlich, sie war immer ohne Tasche, da hatte er ihr die Ware zum Auto getragen. Seitdem wusste er, dass er nur nach ihrem dunkelgrünen Japaner Ausschau halten musste, wenn er auf sie wartete. Die Buchstaben und Zahlen des Euskirchener Kennzeichens waren bereits nach einmaligem Hinschauen in sein Gedächtnis gebrannt.

Kleine, kurze Schritte auf dem Steinweg und ein schleifendes Geräusch stoppten den Fluss seiner Erinnerungen. Eine Frau mit grauer Angoramütze schob einen Rollwagen vor sich her. In dem Drahtkorb steckten eine kleine Gießkanne und ein Stoffbeutel, aus dem der Griff eines Gartenwerkzeugs ragte.

Sie sah kurz zu Wilhelm Nowak hinüber, dem Mann auf der Bank, der, beide Hände auf seinen Gehstock gestützt, ihr zunickte. Grau war alles an ihm. Sein Haar, seine Haut, seine Kleidung. Und krumm war er geworden. Man kannte sich vom Sehen. Man hatte kaum miteinander gesprochen. Sie ging ein paar Schritte an ihm vorbei, um das Grab ihres verstorbenen Mannes zu pflegen. Liebevoll segnete sie es, sobald sie es erreichte. »Dem Vater, dem Sohne und dem Heiligen Geist«, murmelten ihre Lippen. Das Grab lag direkt hinter dem der Nowaks.

Beate würde später nach seinem Grab sehen, hoffte Wilhelm. Wenn er frei wählen dürfte, dann würde er lieber eines Tages eines der Gräber am südlichen Rand des Friedhofs beziehen. Von dort hatte man eine ewig weite Aussicht. Unverbaubar.

Als die Frau mit der grauen Wollmütze den Rollwagen neben der Kapelle abstellte und das leise knarrende Holztor aufschob, öffnete sich vor Wilhelm Nowaks Augen das Kirchentor, und er und Beate Schlinger, jetzt Beate Nowak, traten im Hochzeitsstaat aus der Pfarrkirche von Dahlem. Das halbe Dorf stand Spalier.

Es war der 19. September 1984, wieder ein Freitag. Es war Beates Verdienst, dass es überhaupt soweit gekommen war, das musste Wilhelm zugeben. Er hatte es zwar auch gewollt – nichts lieber als das –, aber er hätte sich nie getraut, sie zu fragen. Sie waren sich erst in den letzten Monaten ein wenig näher gekommen, ein paar Mal zusammen spazieren gegangen, ins Café gegenüber seinem Laden eingekehrt. Einmal hatte Wilhelm sie ins Kino in Hillesheim ausgeführt. Einmal war sie bei ihm gewesen. Er hatte Beate seinen Eltern nicht vorgestellt, sondern sie heimlich, auf Zehenspitzen, die Treppe hinauf in sein Dachgeschoss geführt. Sie hatten versucht, miteinander zu schlafen. Ein ziemlich missglückter Versuch. Und dann hatte er sie in ihrer eigenen Wohnung besuchen dürfen.

Bei dieser Gelegenheit erzählte Beate ihm, dass ihre Vermieterin ihr kurzfristig gekündigt habe. Eigenbedarf, nannte sie es. Ihr Sohn wollte angeblich bei ihr einziehen. Aber Beate hatte den Verdacht, es habe mit der letzten Mieterhöhung zu tun, gegen die sie sich erfolgreich gewehrt hatte. Lange Rede, kurzer Sinn, sie wusste nicht, wohin. Sie kannte nur ihn.

Wilhelm hatte fieberhaft überlegt, wie er helfen könnte. Hatte nicht irgendein Kunde in letzter Zeit von einer leerstehenden Wohnung gesprochen? Hatte nicht irgendwo eine Notiz im Ort gehangen? Doch ehe ihm etwas einfiel, schlang Beate mit rührender Geste die Arme um seinen Hals und fragte ihn, ob sie nur zur Überbrückung, nur als Übergang, nur kurz und auf jeden Fall nur vorläufig …

Wilhelm war aus allen Wolken gefallen. »Natürlich! Sofort!«, hatte er sie unterbrochen, glücklich über die Fügung, wütend auf sich selbst, dass ihm die Idee nicht selbst gekommen war.

Dann fiel ihm ein, dass seine Mutter das niemals akzeptieren würde. Nicht ohne eine vorherige Heirat. Aber wie Beate das erklären? Wie um ihre Hand bitten? Siedend heiß wurde ihm bei der Vorstellung, sie würde ihn abweisen. Beate kam ihm zuvor. Für sie käme eine »wilde Ehe«, wie sie das nannte, nicht in Betracht.

Erst beim Aufgebot erfuhr Wilhelm, dass Beate schon einmal verheiratet gewesen war. Ihr erster Mann war gestorben. Sie war eine Witwe. Und Wilhelm wollte mehr darüber wissen.

»Das hat nichts mit uns zu tun«, sagte Beate.

Sie sprachen nicht wieder darüber. Auch nicht über andere Dinge aus ihrer Vergangenheit.

Nach der Hochzeit, die im Ort großartig und ein wenig übertrieben – wie es Wilhelm schien – gefeiert worden war, überließ der alte Nowak dem jungen Paar die Regie im Laden und zog sich ebenfalls zurück.

Es begann eine glückliche Zeit. Wilhelm und Beate arbeiteten Seite an Seite. Die kleine Dachgeschosswohnung war ihr Liebesnest. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte das Leben so weitergehen können. Das Geld war zwar knapp, aber er war nicht anspruchsvoll.

Zwei Jahre später, 1986, kam der Sohn auf die Welt. Niklas. Nun waren sie eine richtige kleine Familie geworden. Niklas würde eines Tages den Laden weiterführen, wenn Beate und er alt waren. Seine Eltern kümmerten sich rührend um den Jungen, während Beate und Wilhelm im Laden standen und verkauften. Wilhelms Glück war vollkommen.

Aber nichts ist für die Ewigkeit.

»Viel Arbeit – wenig Geld«, klagte Beate eines Abends, als sie erschöpft neben Wilhelm im Bett lag. Niklas war gerade ein Jahr alt geworden.

»Hauptsache ist doch, wir sind alle gesund und glücklich«, tröstete Wilhelm sie, nahm sie in den Arm und hoffte auf eine vorübergehende Unzufriedenheit, die Beate befallen haben mochte. Morgen würde sie nicht mehr daran denken.

Doch so war es nicht. Immer häufiger kamen von nun an dieser Satz oder eine ähnliche Bemerkung über Beates Lippen. Die Arbeit im Laden mache ihr einfach keinen Spaß mehr, klagte sie, er sei ihr zu eng, zu voll, zu unmodern. Wie solle sie sich in so einem dunklen Loch entfalten, warf sie Wilhelm vor, sie sei doch viel zu jung, um dort den Rest ihres Lebens zu verbringen. Versauern, hatte sie gesagt.

»Was sollen wir denn machen?«, fragte Wilhelm ratlos.

»Wer nichts erwartet, bekommt auch nichts.«

Wilhelm verstand nicht genau, was sie damit meinte. Mehr gab der kleine Laden nicht her. Und etwas anderes als verkaufen konnte er und wollte er nicht.

Im Februar 1992, Wilhelms Eltern waren im letzten Jahr kurz hintereinander gestorben, überfiel Beate ihn mit einem fertigen Plan. Es war ein Sonntagabend. Sie schickte Niklas, inzwischen sechs Jahre alt, früh zu Bett, räumte den Esstisch ab, wischte ihn sorgfältig sauber und bat Wilhelm, den Fernseher nicht einzuschalten, sondern auf sie zu warten.

»Einen Augenblick«, sagte sie, band ihre Schürze ab und lief die Treppe hinauf.

Wilhelm wurde ganz feierlich zumute.

Kurz darauf kam sie mit einer großen Papprolle zurück und entrollte auf dem Esstisch eine überdimensionale Grundrisszeichnung, die sie an den Kanten glatt strich. »Schau mal, Wilhelm! Sag jetzt nix! Wenn wir das Lager und den Hinterraum in den Keller verlegen, kann man den Laden um fast siebzig Quadratmeter vergrößern, wenn wir vom Hinterhof ein Stück abzweigen, können wir auf dem unnützen Garten einen Parkplatz für mindestens vier Autos einrichten. Was meinst du, mein Lieber!?«

Wilhelms Herz schlug bis zum Hals, entdeckte er doch am Rand des Plans das Logo eines Architekturbüros. Lange Theken für Obst und Gemüse, Fleisch, Fisch und Käse und zwei Gänge waren eingezeichnet, durch die die Kunden ihre Einkaufswagen schieben sollten, bis sie zu einer Zone mit zwei Kassen gelangten.

»Ein richtiger Supermarkt. Würde dir das gefallen?«, hörte er Beate fragen. So begeistert hatte ihre Stimme schon ewig nicht geklungen. Ihm gefiel das aber gar nicht! Die Vorstellung machte ihm eine Höllenangst.

»Wilhelm! Es ist doch alles für unseren Sohn!«

Er blickte auf und in ihre Augen und sah sich außerstande, sie und ihren glühenden Eifer zu enttäuschen. Lange hatte er sie nicht mehr so glücklich gesehen. Ihr Lachen nicht gehört. Sie schwärmte von Spiegeln über der Obsttheke, in der schon wenige Kisten wie üppige Berge aussehen würden, von eingefärbten Lampen, unter denen das Fleisch rosafarben schimmerte, einer Klimaanlage, einer Musikanlage, einer Lautsprecherdurchsage für Sonderangebote. Und erst das Fest der Eröffnung, wenn sie alle kämen, alle, alle.

»Wir zwei können in Zukunft den ganzen Tag einfach gemütlich an den Kassen sitzen und das Geld auf die Bank bringen. Das Personal macht die Arbeit.«

»Welches Personal?«, fragte Wilhelm entsetzt zurück.

»Wir haben Personal. Mindestens drei Leute. Oh, Wilhelm, das wird alles so wunderbar.«

»Aber, wie willst du das alles bezahlen. Wir …?«

Beate winkte ab. »Kein Problem. Ich habe bei unserer Bank nachgefragt und mir von Herrn Winter einen ordentlichen Finanzierungsentwurf erstellen lassen. Unser Haus und das Grundstück sind unsere Sicherheit. Es ist ganz einfach, du wirst sehen. Und auf unsere Bank konnten wir uns doch immer verlassen. Herr Winter hat alles von der Hauptgeschäftsstelle in Euskirchen prüfen lassen. Es ist alles in Ordnung. Bitte! Sag ja! Wilhelm! Du musst nur noch unterschreiben. Ich habe es schon getan. Es liegt jetzt alles an dir!«

Wenn das seine Eltern wüssten. Wilhelm bebte bei der Vorstellung, dass sich die Nachricht vom Dorf bis zum Friedhof herumsprechen würde. Er schluckte und versuchte seine Fassung wiederzugewinnen. Aber er fühlte sich in die Enge getrieben. »Mit wem hast du darüber gesprochen?«

»Nur mit Herrn Winter, natürlich. Und mit dir jetzt. Mit keinem sonst. Was denkst du? Das ist doch unser Geheimnis. Deines und meines. Wilhelm! Ich binde doch nicht jedem unsere Zukunftspläne auf die Nase.«

Als sie die Arme wieder um seinen Hals legte, war alles zu spät für Wilhelm, dann wurde er schwach. Immer noch. Nach all den Jahren.

Während in St. Hieronymus, der Pfarrkirche von Dahlem, die wöchentliche Chorprobe des Männergesangvereins stattfand, und die tiefen, leicht kratzigen Stimmen erstaunlich sauber durch das Tal schallten, legte wenige Meter weiter Herr Winter von der Dahlemer Filiale der Kreissparkasse Euskirchen in seinem modernen Gebäude dem ungläubigen Wilhelm Nowak den Finanzierungsentwurf für den Umbau seines unwirtschaftlichen Krämerladens vor.

»Es wäre geradezu eine Schande, Wilhelm«, meinte Winter. Er war ein seriöser, erfahrener Mann mittleren Alters, bartlos, rosa Haut, manikürte Hände. Und Wilhelm hatte keine Ahnung von Bankgeschäften. »Eine Schande wäre es, es nicht zu tun. Der Platz ist da, der Bedarf auch, es gibt keine Konkurrenz, und für das Geld sind wir da. Du weißt doch, mein Lieber, wenn’s um Geld geht – Sparkasse.«

»Aber es ist das Haus meiner Eltern«, protestierte Wilhelm schwach.

»Gott hab deine Eltern selig«, meinte Winter, »ihrem Häuschen wird nichts geschehen, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Die beiden alten Leutchen wären stolz auf ihren Sohn!«

Wären sie das wirklich?, fragte sich Wilhelm. Aber wenn er an Beate dachte, glaubte er keine andere Wahl zu haben und unterschrieb mit kalter, feuchter Hand.

Das Ausmaß dieses Irrtums konnte er nicht einschätzen. Aber eine dunkle Ahnung kroch Wilhelm unter die Haut, als er neben Beates Namen auch seinen auf dem Papier stehen sah, als seien sie in einen Grabstein eingemeißelt.

»Frieren Sie uns da mal nicht fest, Herr Nowak.«

Wilhelm schreckte auf. Sein Mund war trocken. Vor ihm hatten sich zwei Männer in grünen Arbeitsanzügen aufgebaut. Er registrierte Schubkarren und Besen. Friedhofsgärtner. Der eine balancierte eine Zigarette im Mundwinkel.

Er hatte die beiden schon gekannt, als sie noch kleine Jungen waren und in seinen Laden kamen, um lose Bonbons zu kaufen und Dinge anzufassen, die sie sich nicht leisten konnten. Wie hießen die beiden noch gleich? Die Vornamen wollten ihm nicht einfallen. Er wusste, dass einer der beiden der Jüngste vom Heinrich Plattes war und der andere der Einzige vom Albert Manderfeld.

»Ja, ja, ihr habt ja recht, Jungs. Ich geh ja schon«, sagte er und setzte beide Füße auf den Boden, rückte auf die Bankkante, als wolle er sich gleich erheben.

»Dann is’ ja gut«, sagte der mit der Zigarette.

»Und du, lass mal das Rauchen!«

»Ach, Sie wissen doch, Rauchfleisch hält länger! Kommen Sie, wir nehmen Sie mit dem Auto mit«, sagte der andere, fasste ihn unter den Arm und zog ihn von der Bank.

Wilhelm Nowak ließ ihn widerwillig gewähren. Noch ein paar Minuten hätte er gern dort gesessen. Denn er war mit seiner Reise in die Vergangenheit noch nicht bis ans Ende gekommen.

Er ging jeden Tag auf den Friedhof hinauf. Jeden Tag, außer freitags. Freitags ging er nach dem Essen zum Bahnhof von Dahlem, um Beate abzuholen, die von einem Einkauf in Euskirchen zurückkehren musste.

Es galt nur hinab ins Tal zu laufen, die Gleise zu überqueren und sich an Gleis 1 in Fahrtrichtung Trier auf die Rampe vor der ehemaligen Güterabfertigung zu setzen, die Beine baumeln zu lassen, den Stock quer auf den Schoß zu legen. Und zu warten.

Der Bahnhof Dahlem war zu einem Haltepunkt verkommen. Fenster und Türen des Bahnhofsgebäudes waren mit Metallplatten verbarrikadiert, als erwarte man jeden Moment einen atomaren Überfall. Fahrkarten konnten am sich selbst erklärenden Fahrkartenautomaten gelöst werden. Nur die alte Bahnhofsuhr stand noch da und wirkte verloren und fehl am Platz: Sie ging richtig.

Der Minutenzeiger zitterte, als er sich über den kleinen Stundenzeiger schob. Wilhelm war immer viel zu früh am Bahnhof. Ehe er mit seinem kaputten Rücken auf die Rampe geklettert und dort wieder zu Atem gekommen war, setzte das Geläut der Schranken ein, und es wurde Zeit, sich wieder von der Rampe herunterrutschen zu lassen und sich empfangsbereit zu machen.

Sobald der 15.44er aus Köln mit der üblichen Verspätung einfuhr, bezog Wilhelm Posten in der Nähe des Ausgangs, um keinen Fahrgast zu verpassen. Die Dieselmotoren des Triebwagens surrten mit sattem Geräusch, die roten Türen schoben sich wie von Geisterhand vor, um dann zu den Seiten zu gleiten.

Jedes Mal hoffte er, Beate würde einen Fuß auf eine der Trittstufen setzen. Daran würde er sie sofort erkennen, noch bevor er ihr Gesicht sah. Er würde seinen Stock wegwerfen, ihr entgegenlaufen und ihr beim Aussteigen behilflich sein, Rückenschmerzen hin oder her. Endlich käme sie vom Einkauf zurück, sicherlich mit großen Tüten voller neuer Kleider und Schuhe, vor allem Schuhe. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er ihre Schuhpaare vorwurfsvoll gezählt, aber das würde er nie wieder tun.

Die Tüten – viel zu schwer für eine zarte Frau wie sie – würde er ihr ohne Murren abnehmen. Und nicht nur das. Er hatte sich viel vorgenommen. Er würde sie bitten, ihr die neuen Kleider und Schuhe vorzuführen, er würde ihr Komplimente machen, ihr versprechen, sie auszuführen. Wie lange waren sie nicht mehr zusammen ausgegangen?

Wilhelm wartete, bis der letzte Passagier ausgestiegen, bis die Türen wieder geschlossen waren, der Zug wieder angefahren war und die Schranken sich wieder geöffnet hatten. Dann war der Schmerz wieder da, als hätte er nur auf diesen Moment gewartet, in dem der Eifel-Express in die nächste Kurve fuhr und Wilhelm in einer Duftwolke von Öl und Diesel zurückließ.

Sie wird aufgehalten worden sein, sagte er sich. Sie hat den Zug verpasst, sie hat jemanden getroffen und im Gespräch die Zeit vergessen. Sie hat nicht gefunden, was sie gesucht hatte und deswegen den nächsten Zug genommen.

Manchmal wartete Wilhelm ihn ab, den nächsten Zug, aber oft überquerte er stattdessen rasch die Gleise und machte sich auf den Weg, Beate entgegenzufahren. Aus dem Automaten zog er eine Fahrkarte, bis Kall, bis Blankenheim Wald, manchmal sogar bis nach Euskirchen, je nach dem, was er sich leisten konnte. Er war schon schwarz gefahren, aber das hatte ihn so aufgeregt und mitgenommen, dass es ihm kaum gelungen war, sich auf seine eigentliche Aufgabe zu konzentrieren.

Frauen, denen er unterwegs begegnete und die ihn an Beate erinnerten, sei es wegen eines Kleidungsstücks, ihres Gangs, ihrer Frisur oder nur der Art, wie sie die Schultern hochzogen, musterte er aufmerksam. Nie war sie es.

Erst gegen Abend fuhr er nach Hause in der erneuten Hoffnung, er habe Beate irgendwo übersehen, sie sei längst wieder auf dem Hof, wenn er komme. Wo warst du denn nur, würde sie ihn fragen. Anstatt einer Antwort würde er sie in den Arm nehmen, ganz außer Atem, weil er den Berg hinaufgelaufen war.

2. Kapitel

Der macht es aber nicht mehr lange«, sagte der Mechaniker zu Sonja Senger einen Tag vor Nikolaus, nachdem er irgendwelche Pumpen, Schwengel oder dergleichen an ihrem Polo ausgetauscht hatte, um ihn wieder fahrtüchtig zu machen. Er wischte sich die ölverschmutzten Finger an seinem Blaumann ab. »Den nächsten TÜV schafft er nicht mehr.«

»Das werden wir sehen«, brummte Sonja, und der Anblick der Rechnung ließ sie den Atem anhalten. Das hatte ihr gerade noch gefehlt.

»Schonen Sie ihn«, hörte sie den Mann sagen.

»Das mache ich sowieso.«

»Na dann, gute Fahrt. Und bis zum nächsten Mal.«

Von wegen, dachte Sonja, einem, der ihren Polo derart verächtlich behandelte, würde sie ihn nicht wieder anvertrauen. Das hatte er nicht verdient. Der Wagen war ein unauffälliges, treues Auto und leistete ihr seit zehn Jahren gute Dienste. Dabei fiel ihr wieder ein, dass sie ihn noch nicht umgemeldet hatte. Noch trug er stolz die Buchstaben TR für Trier.

Sie bezahlte die Rechnung, nahm die Papiere und den Zweitschlüssel in Empfang und verließ grußlos den ARAL-Shop in Gemünd. Eine Woche war sie ohne Auto ausgekommen, da die Ersatzteile erst hatten bestellt werden müssen. Sie hatte in dieser Zeit ihr Fahrrad und den ÖPNV genutzt und nur die nötigsten Fahrten unternommen.

Jetzt, da er alt und klapprig war, würde sie ihm ein wenig von dem zurückgeben, was er ihr gegeben hatte. Keinesfalls würde sie ihn auf direktem Wege nach Hause fahren. Sie wusste, dass er kleine, beschauliche Spazierfahrten ebenso liebte wie sie.

Sonja bog ab, wo sie sonst nie abbog, beachtete keine Schilder, ließ sich einfach treiben, ganz so, als wolle sie dem Polo ein letztes Mal die Schönheiten der Landschaft zeigen. Sie hatte mehr Zeit, als ihr lieb war.

Und all die vielen kleinen Begebenheiten fielen ihr ein, die der Polo ohne zu Murren mitgetragen hatte. Die strengen Winter in der Eifel hatten ihm zugesetzt, aber alle Verfolgungsfahrten hatte er durchgehalten und sich sogar von Jerome, ihrem Ex-Lebensgefährten, entführen lassen. Gut, da hätte er streiken dürfen. Aber er war eben durch und durch gutmütig.

Während Sonja langsam und gefühlvoll fuhr, sanft bremste und lenkte, nie das Gaspedal durchtrat, Schlaglöcher umfuhr und vorsichtig über Bahngleise setzte, beschloss sie, den Wagen bei nächster Gelegenheit innen und außen sorgfältig zu säubern. Am liebsten würde sie ihm eine Garage bauen lassen. Hoffentlich hielt er solange durch.

Auch Sonja hatte eine Odyssee hinter sich. Von Köln war sie nach Trier geflohen, von Trier nach Wolfgarten, wo sie seit drei Jahren in einem kleinen Forsthaus am Ende der Stromleitung lebte. Nach einer jahrelangen Zweierbeziehung war sie mit dem Alleinleben konfrontiert worden. Von einer Kriminalhauptkommissarin war sie zur Privatdetektivin geworden. Alles unfreiwillig, im ständigen Kampf gegen sich selbst und den Rest der Welt.

Seit vielen Monaten hoffte sie nun als Privatdetektivin mit Gewerbeschein auf einen großen Auftrag, der eine Wende in ihre Finanzmisere bringen würde. Der letzte war der von Eva Lommersheim gewesen, den diese nicht bar, sondern mit einer Dienstleistung bezahlt hatte. Das Forsthaus war von ihr unentgeltlich von oben bis unten geputzt worden.

Anstatt zu warten, dass das Schicksal jemanden anspülte, um sie vom Fleck weg zu engagieren, ergriff Sonja immer öfter die Initiative. Wenn der Berg nicht zum Propheten kam … Die Zeit verstrich dabei. Wenigstens die Zeit, die sie sonst in ihrem Forsthaus hätte totschlagen müssen.

Es war so ruhig in diesem Landstrich in letzter Zeit. Natürlich gab es all diese kleinen Delikte, wie Diebstähle von Geldbörsen auf Bahnhöfen, von Kupferdraht auf Baustellen, von Navigationsgeräten aus Autos und totgefahrenem Wild von Landstraßen. Hier ein Exhibitionist, dort ein Autoschieber, Unfälle auf Bahnübergängen, immer wieder Unfallflucht, Verkehrsunfall mit einem Milchwagen, jede Menge Trunkenheitsfahrten, alles schön und gut, aber nichts für jemanden wie Sonja, die von der Mordkommission kam.

»Das ist die Ruhe vor dem Sturm«, hatte sie sich lange eingeredet. »So wird es nicht ewig weitergehen. Wo sind wir denn hier?«

Doch es kam anders. Der Zustand der Ereignislosigkeit manifestierte sich. Sonja nahm es persönlich. Der Gedanke daran, allein, alt und verarmt im Forsthaus zu verkommen, schwirrte ihr durch den Kopf wie ein Schwarm Fliegen. Sie versuchte, ein Netz aufzuspannen, um sie nicht an sich herankommen zu lassen, aber die Botschaft war ein ewiges Summen und drang bis in ihr Unterbewusstsein vor.

Aus Verzweiflung hatte sie im März dieses Jahres einen Brief an das Polizeipräsidium Köln aufgesetzt. Nach mehrfachen Korrekturen wurde aus ihrem anfänglich unhöflichen, anklagenden und fordernden Ton ein freundliches, gefälliges, nahezu unterwürfiges Bittschreiben. Sie sei bereit, die Konsequenzen zu tragen, sie würde alles tun. Es war ein Schreiben nach Canossa.

Die Antwort ließ auf sich warten und war niederschmetternd. Sie musste nicht zwischen den Zeilen lesen, die Aussage war eindeutig. Man lege nur geringen Wert auf eine Zusammenarbeit mit ihr. Eigentlich gar keinen. Nach derartig langen Fehlzeiten sei sie als Beamtin kaum noch tragbar und vollständig auf das Wohlwollen gewisser Einzelpersonen angewiesen. Und da gebe es im Augenblick niemanden, der sich für sie einsetzen wolle. Man bedaure.

Sie las den Brief zweimal, ehe sie begriff. Dann landete er im grünen Kachelofen. Das Papier loderte kurz auf und zerfiel zu Asche. Mehr war es nicht wert. Sonja starrte in die Flammen und versuchte, die Niederlage zu verdauen. Sie machte lange Spaziergänge mit Davis, ihrem Hund, und überlegte, wie sie anderweitig an Geld oder Lohn kommen könnte. Es gab da eine Lebensversicherung.

Und einen gewissen Bernd Wesseling, Staatsanwalt aus Aachen. Sie hatten sich 2004 kennen gelernt, als er auf Urlaub in Kall weilte, und sie sich ungebeten in einen Fall eingemischt hatte. Seitdem standen sie in mehr oder weniger engem Kontakt. Sie mochte ihn, obwohl er überkorrekt und phantasielos war, sich vor allzu persönlicher Nähe zu fürchten schien und sie gleichzeitig suchte. Eignete er sich vielleicht als Vitamin B? Lange hatte sie gezögert, ihn anzusprechen, so lange, bis er sich von selbst telefonisch meldete.

Er war unterrichtet oder hatte sich selbst unterrichtet, das ging nicht ganz aus seinen Aussagen hervor. Jedenfalls teilte er ihr mit, dass sie Köln tatsächlich vergessen müsse. Für immer.

»Kein Problem.« Sonja tat sorglos.

»In gewissem Sinne trägst du daran eine Art von Mitschuld, finde ich persönlich, könnte man sagen und überhaupt …«, formulierte er umständlich.

»Wie bitte?«

»Je nun.«

»Mein lieber Bernd …« Sie verstummte. Sie hatte ihn noch nie mit Vornamen angeredet. Irgendwie hörte sich das falsch an. Wesseling schwieg ebenfalls verlegen. »Also«, sie räusperte sich und begann von vorne. »Schon mal etwas von Fürsorgepflicht gegenüber Mitarbeitern gehört? Ich habe mich in einer tiefen, persönlichen Krise befunden. Andere wären nach so einem Schicksalsschlag zu einem Psychiater gelaufen oder Amok. Ich habe das ganz allein durchgestanden. Das bezeugt meine persönliche Stärke, Disziplin und Willenskraft. Aber solche Leute will man anscheinend nirgendwo auf der Welt haben, hingegen …«

»Sonja«, unterbrach Wesseling sie. »In Euskirchen ist ja auch ein Kriminalkommissariat.«

»Na und?«

»Man ist dort hoffnungslos überlastet. Ich könnte mir vorstellen, dass da vielleicht eine Stelle für dich einzurichten wäre. Wenn du dich bemühst, dann …«

»Noch einmal irgendwo zu Kreuze kriechen? Niemals.«

»Je nun«, Wesseling zögerte, »ich könnte da vielleicht was arrangieren.«

»Ich verzichte«, sagte sie, das Schreiben aus Köln vor Augen, und beendete das Gespräch, ohne Grüße an seine Frau Hilde auszurichten.

Sonja sah durch die Seitenscheibe, wie die Eifel an ihr vorbeizog, und seufzte. Immer wenn sie durch die vom guten Geist der Infrastruktur verlassenen Dörfer fuhr, fragte sie sich, was sie hier eigentlich machte. Und auf der nächsten Anhöhe wusste sie es dann wieder. Es war dieser weite Blick bis zu jener welligen Linie, wo der Himmel die Hügel zu berühren schien. Eine gut gemischte Grünpalette, selbst im Winter. Einen einzigen Nachteil hatte die Eifel in Sonjas Augen: Sie war ein küstenfreier Landstrich. Wenn die Eifel eine Insel wäre. Eine Insel mit zwei Bergen …

Mit der Diagnose des Kfz-Meisters und der Rechnung auf dem Beifahrersitz musste sie aber den Tatsachen ins Auge blicken. In der Eifel ohne Auto zu sein, grenzte an die Höchststrafe. Erst recht im Winter. Das war schlimmer als der Verlust des Arbeitsplatzes. Wenn jetzt kein Wunder geschah!

Sonja bog um eine scharfe Linkskurve. »Na, wer sagt’s denn.« Sie nahm den Fuß vom Gaspedal.

Auf dem Grünstreifen am linken Straßenrand saß eine Gestalt, vergeblich Windschatten suchend, an einen blauen Kleinwagen gelehnt. Ein hochglänzendes Gesicht, rot wie ein Ballon, leuchtete Sonja entgegen. Der hagere Körper war in sich zusammengesunken, die Hände, frostig blau, lagen verkrampft im Schoß.

Sie hielt auf gleicher Höhe und kurbelte die Scheibe an der Fahrerseite herunter. »Brauchen Sie Hilfe?«

Die Gestalt drehte mühsam den Kopf in ihre Richtung. Ein junger Mann war das und ein Bild des Jammers. Ramponiert sah er aus. Seine langen, krausen Haare standen zu Berge und bildeten einen Kranz um seinen Kopf: Struwwelpeter war zum Leben erwacht. Struwwelpeter war übersät von dunkelroten Pickeln. Sein Adamsapfel, groß wie ein Tischtennisball, stand beängstigend weit vor.

Sonja stieg aus, ein eiskalter Wind pfiff ihr entgegen, sie überquerte die schmale Straße, die weder über einen Mittelstreifen noch eine Randbefestigung verfügte. Sie beugte sich über den Jungen. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Nein«, stöhnte er. Sein Atem war heiß, roch aber nicht nach Alkohol. Auf seiner Kleidung und in seinen Haaren hatten sich kleine Häufchen Sägespäne angesammelt, auch ein paar abgebrochene Zweige. Für einen Holzarbeiter war der Junge viel zu schmächtig und für diese Jahreszeit viel zu dünn angezogen. Es war Dezember. Aber hier wohnte ein abgehärtetes Volk, das keine Probleme damit hatte, im tiefen Winter im T-Shirt unterwegs zu sein.

Von einem tiefen Winter, musste Sonja sich eingestehen, konnte zurzeit allerdings keine Rede sein. Anfang November hatte es plötzlich in der Eifel zu schneien begonnen. Ein verfrühtes Versprechen und Schnee von gestern, seit einigen Tagen war es mit zehn Grad plus nahezu frühlingshaft.

Wenn es also nicht die Kälte war, was war es dann, was den jungen Mann erschauern ließ? Was hatte ihn aus der Fassung gebracht? Sonja legte eine Hand auf seine knochige Schulter. Er zuckte zurück.

»Ist Ihr Auto kaputt?«

Er schüttelte den Kopf.

»Haben Sie kein Benzin mehr?«

»Doch.«

»Sind Sie angefahren worden?«

»Nein.«

So weit, so gut. Sonja ließ ihn los und warf einen kurzen Blick ins Innere seines Autos. Eine alte Lederjacke, ein grüner Schal, eine Schlägermütze, leere Wasserflaschen, zusammengeknüllte Plastiktüten, ein Fernglas und jede Menge Undefinierbares lagen auf den durchgescheuerten Sitzen durcheinander. Auf der Rückbank entdeckte sie nicht das Werkzeug eines Holzarbeiters, sondern ein kleines, zusammengezurrtes Akkordeon, eines, das statt Tasten nur Knöpfe hatte. Ein Musikant also, schön, dachte Sonja, das passte schon eher zu seiner Statur. Den Kofferraum zu öffnen, hielt sie nicht für nötig, und auf das Kennzeichen zu sehen, vergaß sie schlichtweg.

»Was machen wir denn nun?«, fragte Sonja.

»Lassen Sie mich einfach hier in Ruhe sitzen, ja?« Er stierte auf die Hände in seinem Schoß, die von dunklen, klebrigen Flecken übersät waren. Harz. Die dünnen Finger zitterten. Die Nägel waren kurz.

»Gerne. Kann ich gut verstehen. Hübsches Plätzchen haben Sie sich hier ausgesucht.« Sie blickte sich um. Auf der Anhöhe stand kein Strauch, kein Baum. Nur der Wind fegte hier. In der Ferne dieselte ein Traktor, und ein roter Zug schlängelte sich durch das Gelände wie ein Regenwurm. »Hören Sie mal, ich halte hier an, um Ihnen zu helfen, ich hab’ eigentlich Besseres zu tun …«

»Ich hab Sie nich’ drum gebeten«, meinte der Junge am Boden.

»Dann noch viel Spaß hier oben.« Sonja ließ eine ihrer Visitenkarten in seine Hände segeln, stieg in ihr Auto und fuhr davon. Sie hätte die Polizei benachrichtigen oder einen Krankenwagen anfordern müssen und bereute, dass sie ihr Handy wie üblich im Forsthaus zurückgelassen hatte. Sie verpasste eine gute Möglichkeit, sich ins Gedächtnis der Instanzen zurückzurufen. Andererseits hätte sie Probleme gehabt, die Stätte des Geschehens genau zu lokalisieren. Sie wusste nicht, wo sie sich befand.

Als sie nach einer weiteren Linkskurve und etwa fünfhundert Metern ein gelbes Ortsschild passierte, war sie schlauer. Sie hatte Hergarten auf der B 265 erreicht. Hergarten? Hieß der Bürgermeister von Schleiden nicht Hergarten?, sinnierte Sonja. Schade, dass Hergarten zu Heimbach und nicht zu Schleiden gehörte.

Sie schaltete die Scheinwerfer ein. Die zwei schwankenden Lichttunnel versuchten, die einsetzende Dämmerung und aufkommende Nebelschwaden zu durchbohren.

Es waren Ereignislosigkeit und Neugier, die sie in Düttling wenden ließen, sodass sie eine gute Viertelstunde später wieder an derselben Stelle vorbeifahren konnte. Auto und Junge waren verschwunden. Sonja hielt am Straßenrand und stieg aus. Auf dem Grünstreifen zeugten zwei Reifenspuren vom längeren Halt eines Autos. Und von mehr. Hier musste ein regelrechtes Bremsmanöver stattgefunden haben. Die Abdrücke der Reifen waren tief und breit und führten direkt in den Seitengraben hinein. Der Begrenzungspfahl stand völlig schief und trug blaue Kratzer. Das Katzenauge war zersplittert. Auch der Weidezaun, der hinter dem Grünstreifen entlangführte, hatte etwas abbekommen. Der Stacheldraht hatte sich von Holzpfählen gelöst und zu einer Schleife aufgewickelt. Drei Ponys standen ratlos auf der Weide, nahe einem Wasserwagen unter einem Wellblechdach, und bliesen ihren heißen Atem in die kalte Gegend. Raureif schimmerte weiß in ihren langen Mähnen. Sie wussten auch nicht weiter.