Tote gehen nicht den Eifelsteig - Carola Clasen - E-Book

Tote gehen nicht den Eifelsteig E-Book

Carola Clasen

3,9

Beschreibung

Der Eifelsteig mit seinen 313 Kilometern fordert die beiden Ärzte Dr. Edgar Schramm und Dr. Lutz Winkelmann zu einer sportlichen Wette heraus. Derjenige von ihnen, der alle Etappen am schnellsten geht, bekommt die Stelle des Chefarztes in der Klinik in Euskirchen. Edgars Weg beginnt in Aachen, Lutz startet in Trier. Edgar ist Sportler, Lutz nicht. Edgar hat keinen Zweifel daran, dass er die Wette gewinnt. Nichts kann ihn aufhalten. Auch nicht die ermordete junge Frau in einem Hotel in Einruhr und der fürchterliche Verdacht, der mit einem Mal auf ihm lastet. Schon bald sind seine Gegner nicht mehr Lutz oder die unzähligen, noch vor ihm liegenden Kilometer. Am Wegesrand mehren sich von Etappe zu Etappe die unheilvollen Zeichen, die darauf hindeuten, dass jemand ein böses Spiel mit ihm treibt ... Als Edgar kurz davor ist, dem Eifelsteig-Koller anheim zu fallen, findet Sonja Senger, Hauptkommissarin von der Kriminalpolizei Euskirchen, schließlich im hintersten Winkel ihres Forsthauses ihre ungeliebten Wanderstiefel und macht sich auf die Suche nach einem skrupellosen Mörder.

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Carola ClasenTote gehen nicht den Eifelsteig

Bisher von der Autorin bei KBV erschienen:

»Novembernebel«

»Das Fenster zum Zoo«

»Tot und begraben«

»Auszeit«

»Schwarze Schafe«

»Wildflug«

»Mord im Eifel-Express«

»Spiel mir das Lied vom Wind«

»Tote gehen nicht den Eifelsteig«

»Die Eifel sehen und sterben«

»Nirgendwo in der Eifel«

Seit 1998 schreibt Carola Clasen Kriminalromane, die in der Eifel spielen. »Tote gehen nicht den Eifelsteig« ist ihr siebter Roman mit der eigenwilligen Kommissarin Sonja Senger. Auch mit ihren Kurzgeschichten und Lesungen hat Carola Clasen sich einen Namen in der Region gemacht. Die »Queen of Eifel-Crime« ist Mitglied im Syndikat, lebt und arbeitet in Hürth.

Carola Clasen

Tote gehen nichtden Eifelsteig

1. Auflage Mai 2011

2. Auflage Juli 2011

3. Auflage November 2011

4. Auflage November 2012

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlagillustration: Ralf Kramp

Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln

Print-ISBN 978-3-942446-05-1

E-Book-ISBN 978-3-95441-026-2

Nichts ist beglückender, als den Menschen zu finden,den man für den Rest seines Lebens ärgern kann.

Agatha Christie

Der Eifelsteig313 km zwischenAachen und Trier

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

Epilog

Danksagung

Eifeler Witz und weiblicher Charme

Prolog

10. Januar, 9.15 UhrKlinik am Wald, Euskirchen

Meine Herren«, sagte Marius Hagen, Verwaltungs-Chef der Klinik am Wald, und zeigte auf die beiden Stühle vor seinem Schreibtisch, »setzen Sie sich doch.«

Dr. Lutz Winkelmann und Dr. Edgar Schramm tauschten einen Blick. Sie waren nervös. Sie wussten, warum Hagen sie mitten aus der Visite geholt und zu einem Gespräch gebeten hatte. Heute sollte die Entscheidung fallen.

Hagen saß im feinen Zwirn vor ihnen, sah von einem zum anderen und schwieg zunächst bedeutungsvoll. Seine Hände lagen ineinander verschränkt auf dem Schreibtisch. Seine Stirn war sorgenvoll zerklüftet.

Die Kollegen wechselten wieder einen Blick und nickten sich fast unmerklich zu. Wenn sie Hagens Miene richtig deuteten, war der worst case eingetreten: einer der vielen Bewerber von außerhalb war ihnen vorgezogen worden.

Das lasse ich mir nicht gefallen, dachte Lutz.

Da kann man nichts machen, dachte Edgar.

Sie wären am liebsten sofort aufgestanden und gegangen. Hagen konnte sich seine warmen Worte sparen.

Der Verwaltungschef räusperte sich, biss sich auf die Unterlippe und wackelte mit dem Kopf, als wäge er noch ab, wie er es den Herren denn nun erklären sollte, wozu es gut sei, dass sie einen fremden Schnösel als Chef vor die Nase gesetzt bekamen.

Das hätte er sich früher überlegen müssen, dachte Edgar und kontrollierte seine Armbanduhr.

Er wird sehen, was er davon hat, dachte Lutz und kontrollierte die Wanduhr, links neben Hagens Kopf.

Hagen löste seine Hände und trommelte leise auf den Schreibtisch. »Meine Herren«, hob er an, »wie wir alle wissen, geht unser sehr geschätzter Professor Dr. Heribert Röhl Ende dieses Jahres in den wohlverdienten Ruhestand und mit ihm der Chef der Inneren, nicht wahr?«

Beifallheischend sah er von Winkelmann zu Schramm, die beide nicht willens schienen, ihm bei seiner schweren Aufgabe entgegenzukommen. Sie fixierten ihn mit finsteren Blicken.

»Wir, das heißt die Verwaltung, haben die Stelle ordnungsgemäß ausgeschrieben, eine Vielzahl höchst vielversprechender Bewerbungen aus der ganzen Bundesrepublik erhalten und eine Reihe hochinteressanter Gespräche geführt.« Hagen hörte mit dem Fingertrommeln auf und ballte seine Hände zu Fäusten. »Andererseits ist es Professor Dr. Röhls ausdrücklicher Wunsch, dass die Stelle mit einem Arzt aus unserem Hause besetzt wird. Ich denke, er hat mit Ihnen darüber gesprochen, dass er sich am liebsten eine Doppelspitze mit Ihnen beiden wünscht. Ha. Ha.«

Lutz und Edgar grinsten selbstgefällig. So genau hatte Röhl ihnen gegenüber es nicht formuliert, er hatte nur betont, dass er sich dafür einsetzen werde, dass einer von ihnen seine Nachfolge antrat. Aber Doppelspitze – das wäre geradezu ideal! Würde Hagen es wagen, sich über Röhls Wunsch hinwegzusetzen?

Hagen holte die Daumen aus den Fäusten und reckte sie nach oben. »Gerne berücksichtigen wir Dr. Röhls Wunsch. Aber eine Doppelspitze geht schon aus rein finanziellen Gründen nicht. Wir haben ihn also gebeten, sich für einen von Ihnen«, Hagen sah von Lutz zu Edgar, »zu entscheiden.«

Lutz und Edgar verging das Grinsen.

»Prof. Dr. Röhl hat es sich wirklich nicht leicht gemacht. Wenn ich Ihnen hier einige Einzelheiten des Entscheidungsprozesses kurz darlegen dürfte. Sie, Herr Dr. Schramm, haben sozusagen ein gewisses Vorrecht auf den Posten. Sie haben – mit Verlaub – die besseren Examensnoten, sind zwei Jahre länger in unserem Hause und haben Ihrem Mitbewerber erst die Türen geöffnet. Ihnen Dr. Winkelmann sozusagen vor die Nase zu setzen, wäre also nicht besonders kollegial.«

Zwischen Edgar und Lutz breitete sich plötzlich Kälte aus. Sie vermieden es, sich anzusehen.

Hagens Blick schwenkte zu Winkelmann. »Andererseits scheinen Sie, Herr Dr. Winkelmann, ein wenig besser ins Team zu passen. Dr. Röhl hat nicht übersehen, dass die Patienten große Stücke auf Sie halten und zu strahlen beginnen, sobald Sie ein Zimmer betreten. Solche Leute brauchen wir.«

Die Temperatur im Büro sank auf minus 15 Grad. Edgar begann zu frösteln. Lutz schauderte.

»Und es gibt noch viele andere Gründe für oder gegen den einen oder den anderen. Dr. Röhl erklärte sich nach langer Bedenkzeit zu einer Entscheidung außerstande.« Hagen lehnte sich zurück und wartete die Wirkung seiner Worte ab. Edgar lehnte sich ebenfalls zurück, als wolle er das Problem aussitzen.

Lutz dagegen sprang auf und rief: »Dann nehmen Sie in Gottes Namen einen Ihrer vielversprechenden Kandidaten von außerhalb!«.

»Das werden wir auch tun«. Hagen zeigte pikiert auf den Stuhl, und Lutz setzte sich widerstrebend. Dann tauchte ein listiges Lächeln auf Hagens Lippen auf. »Es sei denn, einer von Ihnen ist bereit zu verzichten?«

»Ich nicht«, sagten Edgar und Lutz unisono.

»Das klingt ziemlich entschieden. Wollen Sie nicht wenigstens eine Nacht darüber schlafen?«

Unisono: »Auf keinen Fall!«

»Gut«, fasste Hagen zusammen. »Dann können wir also frei entscheiden, ohne Ihnen in ...«

»Moment!«, unterbrach Lutz ihn. Edgar trat ihm unter dem Schreibtisch gegen das Schienbein. Er ignorierte es. »Sie haben recht. Wir werden darüber nachdenken. Wie viel Zeit geben Sie uns?«

»Bis gestern, nein, Spaß beiseite. Spätestens Mitte des Jahres muss ich es wissen.«

»Gut.«

Hagen erhob sich und streckte Dr. Winkelmann die Hand entgegen: »Ich freue mich sehr über Ihre Bereitschaft zur Mitarbeit, Herr Dr. Winkelmann, und ich bin sicher, Sie werden zu einer guten und vor allem weisen Entscheidung kommen.«

Für Edgar blieben ein schlaffer Händedruck und das Gefühl, wieder einmal seine Unfähigkeit zur Teamarbeit unter Beweis gestellt zu haben. Kaum hatte Hagen die Tür ins Schloss gedrückt, fuhr er Lutz an: »Du willst also verzichten, sehe ich das richtig?«

»Ich denk nicht dran!«

»Ich auch nicht.« Edgar überholte ihn.

»Mensch, warte doch. Irgendetwas wird uns schon einfallen!«

»Was soll uns schon einfallen?«, rief Edgar ohne sich umzusehen.

Es war ein Freitagabend, zehn Tage nach der Besprechung mit Hagen, und Lutz und Edgar hockten wie so oft im Bistro ParaGraf auf der Kölner Straße, zogen wie üblich über Kollegen und Patienten her, als Lutz plötzlich unvermittelt sagte: »Wenn ich verliere, ziehe ich meine Bewerbung zurück und du hast den Job.«

Edgar verschluckte sich fast, stellte sein Bierglas ab und wischte sich über den Mund. »Wenn du was verlierst?«

»Die Wette.«

»Was für eine Wette?«, stieß Edgar hervor. Er versuchte, seine Gedanken zu sammeln und ein gewisses Stadium der Nüchternheit zu erreichen.

»Unser Fachgebiet«, verriet Lutz.

»Sport?«

Lutz nickte.

Edgar war schon jetzt einverstanden. Er ging selbstredend davon aus, dass er jede Wette der Welt gegen Lutz gewinnen würde. So wie früher.

Sie hatten sich 1997 an der Uni in Köln kennen gelernt. Sie hatten beide zur gleichen Zeit mit dem Medizinstudium angefangen und zusammen gearbeitet und gefeiert und Sport getrieben. Lutz hatte nach dem fünften Semester die Uni gewechselt. Er war wegen einer Frau nach München gegangen, und die beiden hatten sich aus den Augen verloren. Edgar war nach dem Examen an die Klinik am Wald in Euskirchen gegangen. Er war ein Eifeler Junge, er wollte es bleiben. Sein Elternhaus stand in Schleiden.

Als die Klinik am Wald im letzten Jahr eine zweite Facharztstelle für die Innere ausgeschrieben hatte, da hatte sich Lutz bei Edgar gemeldet und gefragt, ob er sich nicht aus alter Freundschaft in Sachen Bewerbung für ihn einsetzen könne. Natürlich hatte Edgar das getan. Er legte für seinen früheren Kommilitonen die Hand ins Feuer. Die Klinik vertraute Dr. Edgar Schramms Urteil, und die Zeugnisse des Kandidaten waren exzellent. Und – wie praktisch – Dr. Lutz Winkelmann hatte in der Zwischenzeit seinen Facharzt für Innere Medizin gemacht.

Edgar war froh, Lutz wieder in seiner Nähe zu haben. Die alte Freundschaft blühte wieder auf, sie arbeiteten zusammen, und sie feierten zusammen. Nur mit dem gemeinsamen Sport war es vorbei. Lutz war bequem geworden. Er begann schon einen Bauch anzusetzen und hatte sich mit Haut und Haar seiner Karriere verschrieben. Während Edgar noch immer gut in Form war. Er trainierte täglich. Lutz ahnte davon nichts.

Was riskierte Edgar also mit dieser Wette? Nichts. Er würde Lutz in die Tasche stecken. Den Chefarztposten hatte er quasi schon in der anderen Tasche. Schnell streckte Edgar seine Hand aus, ehe Lutz es sich anders überlegen konnte. »Ein Mann, ein Wort?«

»Ein Mann, ein Wort«, sagte Lutz, schlug ein und rückte peu à peu mit einer Idee heraus, die so ganz anders war, als Edgar das erwartet hatte.

»Du kennst den Eifelsteig?«, fragte Lutz und seine Augen verengten sich zu verräterischen Schlitzen.

»Bleibt nicht aus, wenn man hier wohnt. Alle reden davon. Von Aachen nach Trier. Mehr als 300 Kilometer.« Ein Verdacht stieg in ihm auf. »Warum fragst du?«

»313 Kilometer, um genau zu sein. Der Tourismusverband Nordeifel hat ihn in 15 Tagesetappen aufgeteilt, das macht zwischen 14 und 29 Kilometer pro Tag«, rechnete Lutz vor. Er zog einen Zettel aus der Hosentasche und fügte hinzu: »Sieh dir das an. So sieht das offiziell aus.«

Edgar studierte den Plan und winkte ab: »Vergiss es. Ich wandere nicht. Wandern ist was für alte Leute.«

»Aber ich wette mit dir, dass du es nicht schaffst, die Etappen statt in 15 nur in zehn Tagen zu gehen«, sagte Lutz.

Edgar blinzelte in die Thekenlampe und schien sich im Kopfrechnen zu üben.

»Und dass du dabei auch noch schneller bist als ich?!«

Edgar betrachtet Lutz misstrauisch. »Du wanderst auch?«

»Logisch. Aber ich habe keine Lust hinter, neben oder vor dir herzulaufen. Ich werde in der Gegenrichtung laufen. Damit wir uns nicht beim Wandern in die Quere kommen. Du gehst von Aachen aus, ich von Trier. Mal sehen, wer zuerst an seinen Zielpunkt kommt.« Lutz drohte mit dem Finger. »Wenn du glaubst, du könntest pfuschen, vergiss es. Wir machen Fotos der Wegkreuzungen und Aussichten, beim Ein- und Auschecken im Hotel lassen wir uns die Zeit abstempeln. Außerdem haben wir die ganze Zeit Kontakt, Junge. Verlaufen kannst du dich nicht, wir gehen mit GPS. Das System kann jeden unserer Schritte archivieren. Und irgendwo treffen wir uns ja auch.«

Edgar runzelte die Stirn. So schlecht hörte sich die Wette gar nicht an, fand er. Wenn er nach einem guten Plan ging und ordentlich ausgestattet war, musste die Strecke zu schaffen zu sein. Eine echte Herausforderung. Etwas dergleichen hatte er noch nie gemacht. Und Neugier und Ehrgeiz meldeten sich in Edgar.

»Halbzeit ist bei Mirbach«, hörte er Lutz sagen. »Wir sehen uns davor oder dahinter, je nachdem, wer von uns schneller ist. Oder wenn wir Pech haben, exakt auf dem Punkt. Ich habe an alles gedacht. Gib zu, mein Plan ist ein logistisches Meisterwerk«.

»Wann gehen wir los?«

»Ja!«, triumphierte Lutz und reckte eine Faust in den Himmel. »Das wollte ich von dir hören.«

»Wann?«, wiederholte Edgar.

»Na ja, wir müssen sehen, wann wir zusammen Urlaub haben können. Hagen will es bis Juli wissen. Wir werden ihm erklären, dass wir unbedingt zehn bis vierzehn Tage gemeinsam frei haben müssen, um das Problem unter uns zu klären. Dr. Bittger kann uns in der Zwischenzeit vertreten, im Notfall kann er uns anrufen, wir machen natürlich telefonische Bereitschaft. Bittger ist ein guter Mann, der wird auch mit einer Ferndiagnose fertig. Aber bete mal lieber, dass es keinen Notfall gibt, sonst bricht das ganze System zusammen.«

»Aber wir sagen Hagen nichts von der Wette, klar?«, verlangte Edgar.

»Kein Wort zu niemandem, logisch«, versicherte Lutz. »Alle würden uns für verrückt halten.«

»Du bist es!« Edgar rutschte von seinem Barhocker und warf ein paar Euroscheine auf die Theke. »Ich geh nach Hause und mache mal einen Plan.«

»Setz dich, Junge.« Lutz zog ihn am Ärmel wieder auf den Hocker und nahm einen zweiten Zettel aus der Hosentasche. »Hier! Ich habe doch längst einen gemacht.«

1. Kapitel

25. Januar, 14.10 UhrKlinik am Wald, Euskirchen

Ihr Kinn fiel herunter, ihre Finger krampften sich um die Türklinke, ihre Knie begannen zu zittern. Die Stelle zwischen Fenster und Medikamentenschrank war leer. Rita Funke fühlte sich wie ein Museumsdirektor, dem ein wertvolles Bild gestohlen wurde. Nervös flogen ihre Blicke die übrigen Wände des Schwesternzimmers entlang und entdeckten schließlich auf dem Schreibtisch der Stationsschwester eine Papierrolle, die dem Format nach das vermisste Objekt sein konnte, nein, musste – sie wollte es so.

Statt einer Begrüßung brachte sie nur ein Krächzen zustande. Schwester Silvia blickte auf ihre Armbanduhr, schüttelte resigniert den Kopf und setzte die Übergabebesprechung mit den anderen Schwestern fort. Rita streifte hastig im Nebenraum die weiße Arbeitskleidung über, kam zurück, setzte sich zu der Runde und hypnotisierte mit finsterer Miene die Papierrolle.

Seit fast vier Wochen hatte nicht nur ihr erster, sondern auch ihr letzter Blick immer nur diesem verfluchten Plan gegolten. Öfter als nötig war sie im Laufe einer Schicht vor ihm stehen geblieben. Während sie vorgab, in einer Schublade zu kramen, fuhr sie mit dem Finger die eine Zeile entlang und vergewisserte sich: ER hatte sich noch immer nicht eingetragen. Zwölf Monate, zweiundfünfzig Wochen, 365 Tage, kein noch so kleiner Punkt, kein, Strich, keine Linie, kein Balken, nichts.

Ansonsten herrschte so eine gähnende Leere nur noch bei ihr selbst und beim Chef, bei Dr. Lutz Winkelmann. Chefarzt Prof. Dr. Röhl trat Ende des Jahres in den Ruhestand und sammelte seine Urlaubstage an, um mit ihnen das Ende seines Schaffens und Wirkens vorziehen zu können. Das war jedermann bekannt. Winkelmanns Grund für sein Zögern interessierte Rita nicht. Wohl aber ihr eigener Urlaub. Als Aushilfe in Teilzeit gingen ihr langsam die Argumente aus. Nicht auszudenken, wenn Schwester Silvia von ihr verlangte, sich einzutragen, bevor Edgar es getan hatte.

Schlimmer war nur noch die Vorstellung, sie bekäme seinen Eintrag nicht mit, und der Plan hinge eines Tages nicht mehr an der Wand und läge auch nicht wie heute – vorausgesetzt, sie irrte nicht – gut sichtbar auf dem Schreibtisch, sondern sei bereits in der Verwaltung abgegeben, die Kopie unauffindbar in Silvias Schreibtisch eingeschlossen oder die Daten in ihrem Rechner gesichert.

So wie letztes Jahr, als Rita erst erfuhr, dass Edgar Urlaub hatte, als dieser ihn bereits angetreten hatte. Sie musste sich krankschreiben lassen, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren.

»Jetzt fehlst nur noch du, Rita.« Schwester Silvia reichte ihr die Papierrolle.

Die Kolleginnen erhoben sich. Die Übergabebesprechung schien beendet zu sein, ohne dass Rita irgendetwas mitbekommen hatte. Sie entschuldigte sich. Als sie das Blatt aufrollte, leuchtete ihr der rote Edding entgegen, mit dem Edgar seinen Urlaub eingetragen hatte:

10. - 21. Mai.

Ihr Herz machte einen Sprung. Er hatte den Mai gewählt, den Wonnemonat, den Monat der Verliebten. Und sie glaubte, nein, sie wusste, auch das leuchtende Rot war kein Zufall, das hatte er nur gewählt, damit sie seinen Eintrag nicht übersah. Als könnte das je geschehen. Gleichgültig in welcher Farbe er schrieb, sie hätte es gesehen! Er hätte auch mit unsichtbarer Tinte schreiben können.

Der Strich, den sie kurz darauf hinter ihrem Namen mit einem schwarzen, unauffälligen Kuli für den gleichen Zeitraum zog, ohne Rücksicht auf die Urlaubszeit der anderen Schwestern auf der Inneren zu nehmen, geriet Rita vor Aufregung etwas wacklig.

Schwester Silvia trat hinter sie und blickte ihr über die Schulter. »Zwei Wochen im Mai? Na gut, das geht in Ordnung. Aber du hättest fragen sollen.«

Rita entschuldigte sich. Aber sie hätte nicht fragen können. Ein Nein wäre für sie inakzeptabel gewesen. Schwester Silvia und niemand sonst hatte eine Vorstellung davon, wie mühsam es schon im Alltag für sie war, seine Wohnung, sein Auto, seinen Kittel und ihn selbst im Auge zu behalten. Und dabei zu vermeiden, dass es irgendjemandem auf Station oder auf der Straße auffiel, geschweige denn ihm selbst. Und stets darauf zu achten, dass sie den gewünschten Abstand zu Edgar einhielt.

Was sollte sie auf der Inneren, wenn er im Urlaub war? Wenn sie wochenlang nicht wusste, was er wo mit wem tat, während sie Betten abzog, Fieber maß und Bettpfannen reinigte, als sei die Welt in Ordnung? Kaum zu ertragen waren schon diese endlosen Stunden, in denen versetzte Schichten es ihr unmöglich machten, ihn auf dem Gang zu sehen, seinen Gesichtsausdruck und seine Körperhaltung zu deuten, bei seiner Visite unentbehrlich im Hintergrund zu stehen, seine Verordnungen mit konzentrierter Miene zu notieren und die elektrisierende Spannung, die zwischen ihr und ihm in der Luft hing, zu spüren und zu verinnerlichen, so nachhaltig, dass sie bis zum nächsten Tag davon zehren konnte. Sie tat das alles nicht aus freien Stücken.

»Und dein ständiges Zuspätkommen muss auch aufhören«, hörte Rita Schwester Silvia sagen.

Sie entschuldigte sich. Silvia hatte recht. Aber sie war morgens immer so müde.

»Am besten du bringst den Plan sofort runter«, fuhr sie fort.

Rita rollte den Plan vorsichtig zusammen, ohne auf den Eintrag von Dr. Lutz Winkelmann geachtet zu haben, sonst wäre sie vielleicht nachdenklich geworden. »10. bis 21. Mai«, murmelte sie vor sich hin, während sie durch die Flure und das Treppenhaus lief, als könne sie diesen Zeitraum vergessen, war er doch längst in ihr Gedächtnis eingebrannt wie der Tag, an dem sie ihn zum ersten Mal bemerkte. Da war sie noch Verkäuferin gewesen.

12. Januar 2005. Ein Montag. Kurz vor halb sechs. Euskirchen, Spiegelstraße, Kaufhof, Herrenabteilung. Ein großer, schlanker, dunkelhaariger Mann stand mit einem roten Hemd und einem grünen Pullover vor ihr und fragte, ob sie wohl zueinander passten. Hemd und Pullover passten nicht zusammen, nein, dafür er und sie um so mehr. Sie wusste es sofort. Er auch. Der Funke sprang sofort über. Aus der Beratung wurde ein Abendessen, aus dem Abendessen eine gemeinsame Nacht. Aus der ersten Nacht ganz viele, und ganz viele Farb-Beratungen. Und sie dachte, es sei für immer. Sie wechselte für ihn den Arbeitsplatz. Sie wurde Krankenschwesternhelferin in der Klinik am Wald, wo er auf der Inneren als Arzt tätig war. Sie musste in seiner Nähe sein. Sie konnte die Augen nicht von ihm lassen.

Aber dann war von einem Tag auf den anderen nichts mehr wie zuvor. In dieser Nacht stieg ein Gespenst aus der Finsternis zu ihm herauf, nistete sich in seinem Kopf ein, machte sich dort breit und redete ihm ein, dass sie nicht zueinander passten. Es sagte ihm, sie enge ihn ein. Und er hörte darauf. Er machte ihr Vorwürfe. Er zog sich zurück. Und dann kam der schreckliche Tag, und er schickte sie fort. Denn das Gespenst wollte ihn ganz für sich allein haben, den ganzen Edgar, nicht nur seinen Kopf, so sind sie, die Gespenster. Das war am 24. November 2007 gewesen.

Während Rita rechts in den Verwaltungstrakt einbog, faltete sie den Plan ein weiteres Mal auseinander. Sie konnte sich an dem Anblick nicht satt sehen: der rote und der schwarze Strich, sie verknüpften sich zu einer rot-schwarzen, unauflöslichen Endlosschleife, die vor ihren Augen verschwamm.

»Stopp! Immer langsam!«

Weißer Arztkittel, laute Stimme, zwei große Hände auf ihrer Schulter, die sie ausbremsten. Das konnte nur einer sein. Sie blickte hoch. Dr. Lutz Winkelmann. Sie war in seine Arme gelaufen. Als Edgar und sie ein Paar wurden, hatten sie sich auf einigen Partys zu dritt amüsiert und waren einige Male zusammen essen oder ins Kino gegangen.

Aber Edgar hatte immer schon weniger Freizeit gehabt als Lutz, nicht etwa wegen ihr, sondern wegen seines Sports. Edgar war ein Freak, er scharrte mit den Hufen, wenn das Wetter so schlecht war, dass er kaum vor die Tür konnte. Als Rita ihm vorschlug, sich ein Laufband anzuschaffen, auch in der Hoffnung, sie könne in seiner Nähe sein, wenn er um sein Leben rannte, blickte er sie an, als habe sie ihm geraten, einen Mord zu begehen.

»Weißt du, wo Edgar steckt?«, hörte sie Lutz fragen.

Edgar war unbeirrbar. Er war wie besessen. Rita fragte sich ohne Unterlass, warum er nicht auf sein Herz hörte – anstatt auf dieses Gespenst in seinem Kopf. War er vielleicht krank? Manchmal fürchtete Rita, das Gespenst in seinem Kopf wäre ein Tumor. Manchmal hoffte sie, dass es so wäre. Man könnte ihn herausschneiden und alles wäre wie früher.

Lutz rüttelte an ihren Schultern. »Hallo? Rita? Jemand zu Hause? Weißt du, wo Edgar ist?«

»Keine Ahnung!« Sie befreite sich aus seinen Armen und lief weiter. Er rief ihr irgendetwas hinterher. Aber sie konnte jetzt nicht stehen bleiben und mit ihm reden, ohne ihm zu sagen, wie glücklich sie darüber war, dass sie endlich wusste, wann Edgar in diesem Jahr Urlaub hatte.

Es schneite und regnete gleichzeitig, als Rita nach Schichtende die Klinik am Wald verließ. Erst 20 Uhr, aber es war schon dunkel, als wäre es mitten in der Nacht. Die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Autos blendeten sie. Sie hielt den schwarzen Schirm nah über ihren Kopf und trat von einem Fuß auf den anderen, während sie auf den Bus wartete, der schon fünf Minuten Verspätung hatte. Andere Schirme stießen gegen ihren, garantierten aber immerhin einen Sicherheitsabstand. Sie hasste es, wenn sie Schulter an Schulter mit anderen stehen musste. Gesprächsfetzen drangen zu ihr. Ein älteres Paar, sie mit grauem Haar, er mit krummem Rücken, beide elegant gekleidet.

»So ein schreckliches Wetter.«

»Ja, es macht mich ganz krank. Lass uns wegfahren. Ich möchte irgendwohin, wo es warm ist.«

»Ja, das wäre schön, warm und hell und nicht allein.«

Wer wollte das nicht, fragte sich Rita. Sie wandte sich ab, entfernte sich ein paar Schritte, ließ den Schirm sinken, blickte in den dunklen Himmel und ließ sich für einen kurzen Moment den Schneeregen ins Gesicht tropfen, ehe sie ihre Haare schüttelte und den Schirm wieder über sich hielt. Natürlich! Warum war sie nicht eher darauf gekommen?

Der Bus trudelte heran. Die Scheiben waren beschlagen, die Passagiere drängten sich, neue stiegen hinzu, kein Sitzplatz war mehr frei, auch kein Stehplatz mehr. Nichts für Rita. Sie ließ den Bus davonfahren und machte sich zu Fuß auf den Weg nach Hause. Sie hatte es nicht so weit. Sie wohnte in der Nähe des Stadtparks.

Ihre Schritte wurden schneller und leichter. Sie knöpfte ihren Mantel auf. Ihr freier Arm schwang locker an ihrer Seite. Ihre Schultertasche flog auf den Rücken. Man hätte bei ihrem Anblick meinen können, sie liebe nichts mehr als Schneeregen und Temperaturen unter null Grad. Beides war nicht der Fall. Es war die Idee, die sie wärmte.

Zu Hause ließ sie Mantel, Schirm und Tasche in der Diele fallen. Die Schuhe streifte sie von den Füßen, als sie schon am Schreibtisch saß und ihren Rechner hochfahren ließ. Ungeduldig rieb sie ihre klammen Hände, während sie auf die Startseite wartete.

Sie würde eine Reise buchen. Eine Reise für zwei Personen. Eine Reise für Dr. Edgar Schramm und Rita Funke. Für ihn und sie. Nervös trommelte sie auf den Schreibtisch und schob sich den Pony aus der Stirn. Sie war eine Idiotin, das hätte sie schon vor zwei Jahren machen sollen.

Nur zu gut erinnerte sie sich an die beiden letzten Urlaube seit ihrer Trennung. Er hatte nichts gebucht, sondern nur spontane Tagesausflüge oder Wochenendfahrten mit dem Zug, dem Fahrrad oder dem Auto unternommen. Wenn er einkehrte, waren seine Hotels nicht die Ersten am Platze, die Restaurants nur Mittelklasse. Er schien zu sparen, aber wofür? Oder hatte er keine Freude mehr am Luxus, seitdem er ohne sie war?

Während dieser beiden Urlaube war Rita auf dem Sprung gewesen, gejagt, gehetzt, zwei Wochen lang in Angst, sie könnte ihn verpassen oder verlieren. Wenn sie danach völlig erschöpft an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte, versuchte sie die spitzen Bemerkungen der Kolleginnen zu ignorieren. Es war nur noch eine Frage der Zeit, dass sie ihnen ausgeliefert war. Bald, als Edgars Ehefrau, würde sie das nicht mehr nötig haben.

Immerhin wusste sie am Ende der beiden Urlaube, dass er noch keine Neue hatte und auch nicht auf der Suche war. Was nichts anderes bedeuten konnte, als dass er noch an ihr hing, dass er sie noch liebte. Gut zu wissen – und dennoch, sie hatte nichts anderes erwartet.

Rita ging ins Netz und klickte Fernreisen an. Sie ließ sich von der Fülle der Angebote überwältigen und verlor sich in Träumereien. Feste Vorstellungen kristallisierten sich erst allmählich heraus, während sie durch die Seiten blätterte. Exotisch, luxuriös und einzigartig musste ihre gemeinsame Reise werden. Keine Massenveranstaltung. Ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Eine Reise, zu der Edgar nicht Nein sagen konnte, ganz gleich, was das Gespenst in seinem Kopf ihm befahl. Eine Reise in ein Land, in dem er noch nicht gewesen war. Vier Sterne mindestens, lieber vier plus. Nicht zentral, nicht zu groß, mit romantischen Sonnenuntergängen, einer Bar mit Tanzmusik, Frühstück im Bett ...

Sie musste tief in die Tasche greifen. Es waren die unvermeidlichen Einzelzimmer, die das Unternehmen richtig teuer machten. Auch wenn sie sicher nur anfangs vonnöten sein würden, weil sie Edgar nicht bedrängen wollte. Nicht lange, und er würde es in seinem Bett ohne sie nicht mehr aushalten, aufstehen, herüberkommen und klopfen ...

Ritas Blicke glitten vom Monitor zum Fenster. Schwarz und kalt stand die Winternacht dahinter. Es hatte Zeiten gegeben, da konnten ihre Betten nicht nahe genug aneinander stehen, nicht schmal genug sein, da waren sie mit einem einzigen ausgekommen. Sie stand auf und zog die Vorhänge zu.

Nach langem Hin und Her entschied Rita sich letztendlich für einen Inselurlaub. Zwei Einzelzimmer im Hotel Selmun Palace, einem Schloss aus dem 18. Jahrhundert, das abseits der Touristenhochburgen auf einem Hügel lag, einen grandiosen Blick über die Insel Malta und das angrenzende Mittelmeer bot und nur auf staubigen, mit wilder Macchia bewachsenen Pfaden zu verlassen war, wozu es keinen Grund gab, da es sich um All-inclusive-Angebot handelte. Edgar, der nicht schnell Kontakte schloss, wäre gänzlich auf sie angewiesen.

Rita war kurz davor zu buchen, als sie eher aus Versehen auf einen Link geriet, der ihr eine Art zu reisen eröffnete, an die sie im Traum nicht gedacht hatte. Im Prinzip auch ein Hotel, dessen isolierte Lage aber durch nichts auf der Welt zu überbieten war. Höchstens noch durch ein Gefängnis. Rita lächelte versonnen. Welche Vorstellung, Edgar und sie säßen irgendwo ein, auf Lebenszeit, wegen eines unsühnbaren Verbrechens, Zelle an Zelle. Mit Klopfzeichen würden sie in Verbindung bleiben, sich beim gemeinsamen Hofgang sehnsüchtige Blicke zuwerfen, so lange bis er endlich das Loch in die Mauer gegraben hatte, um zu ihr zu gelangen. Jede Nacht käme er zu ihr gekrochen, ein Leben lang.

Sie wählte weder die Insel noch das Gefängnis, sondern den Kompromiss und klickte sich auf dem Link zur Online-Buchung. Im Monat Mai konnte sie nur noch vom 8., dem Samstag vor Urlaubsbeginn, bis zum 16. buchen. Kein Problem, denn das Personal hatte in der Klinik am Wald keine Wochenendschicht vor Urlaubsbeginn. Im Gegenteil, auf diese Weise blieben Edgar und ihr fünf freie Tage danach. Fünf lange Tage und Nächte, in denen alles wie früher sein würde. Spätestens danach würde es in seinem Kopf keinen Platz mehr für ein Gespenst geben. Sie würde es wieder sein, um die alle seine Gedanken kreisten, Rita Funke. Sie war es schon einmal. Sie würde es wieder sein. Sie spürte es ganz deutlich.

Die Reiseunterlagen sollten erst vier Wochen vor Reisebeginn zugestellt werden, entnahm sie irritiert den Geschäftsbedingungen. Vier lange Monate sollte sie die Überraschung für sich behalten? Wie sollte das gehen? Sie konnte sich doch nicht nur allein freuen!

Ritas Blick fiel auf das Telefon neben ihr. Sie nahm es aus der Station und suchte Edgars Telefonnummer aus dem Speicher heraus. Sie erschien auf dem kleinen grünen Display. Sie war nur einen Tastendruck von seiner Stimme entfernt. Aber sie kannte Edgars Bedingungen. Sie drückte die Stopp-Taste und legte das Telefon zurück. Auch Mails und Briefe waren tabu.

Aber von einem Preisausschreiben war nie die Rede gewesen.

Mithilfe einer PowerPoint-Vorlage bastelte sie einen eindrucksvollen, offiziellen Gutschein eines fiktiven Unternehmens, ausgestellt auf Dr. Edgar Schramm, auf dem sich keine einzige handschriftliche Zeile befand. Nur unten rechts in der Ecke malte sie ein kleines Zeichen.

Sie steckte das Werk in einen gefütterten Umschlag und wollte gerade Edgars Anschrift darauf schreiben, als ihr einfiel, dass sie später durch seine Straße fahren würde und den Umschlag genauso gut mitnehmen und in seinen Briefkasten stecken konnte. Dann konnte sie sicher sein, dass die Post ihn nicht verschlampte. Nicht auszudenken, wenn die frohe Botschaft ihn nicht erreichen würde!

Ehe Rita ihren Rechner ausschaltete, hackte sie sich kurz in Edgars Computer ein. Er war nicht online. Und er hatte seit gestern keine neuen Mails bekommen oder versendet. Alles war ruhig.

Er wohnte nur zehn Minuten von ihrer Wohnung entfernt. Rita musste nur an der Kreuzung Gerberstraße/Moselstraße links abbiegen. Das Licht hinter allen Fenstern seiner Wohnung im dritten Stock war schon gelöscht, sein Auto stand auf seinem Stammplatz. Ein paar Mal marschierte sie vor seiner Haustür auf und ab. Schritte, die ihr zur Routine geworden waren, ohne die sie später nicht schlafen konnte. Sie hatte es versucht.

Aber sie brauchte auch die Gewissheit, dass er wirklich in seiner Wohnung war und sich nicht irgendwo herumtrieb, Kontakte suchte und knüpfte. Sie hob einen der kleinen Kiesel auf, die zwischen Hauswand und Bürgersteig lagen, zielte damit gegen sein Schlafzimmerfenster. Der erste Versuch schlug fehl, nach dem zweiten ging sie hinter einem Auto in Deckung. Es dauerte nicht lange, der Vorhang wurde beiseite geschoben und sein Kopf erschien.

Mit Rührung erkannte sie im Schein der Straßenlaterne sein verschlafenes Gesicht, sein zerzaustes Haar, das weiße T-Shirt, in dem er immer schlief. »Schlaf gut, mein Lieber«, murmelte sie und hauchte ihm einen Kuss zu. »Mach dir keine Sorgen. Alles wird gut.«

Edgar sah ein paar Mal von links nach rechts die Straße entlang, zog sich dann zurück, der Vorhang fiel zu und Rita näherte sich der Haustür und dem Briefkasten. Sie schob mit der linken Hand die Klappe hoch, aber ein Gedanke ließ sie zögern.

Wenn der Gutschein einmal im Kasten war, war es zu spät. Wenn sie ihre Meinung änderte und ihn doch lieber auf eine andere Weise überbringen wollte, war das nicht mehr möglich. Sie ließ die Klappe herunterfallen und beobachtete, wie sie nach einem leisen Scheppern zur Ruhe kam. Liebevoll strich sie mit dem Finger über Edgars Namensschild.

Licht ging im Treppenhaus an. Sie trat in den Schatten. Ein Mann kam mit einem kleinen, schwarzen Hund heraus und spazierte mit gesenktem Kopf davon. Die Haustür fiel so langsam hinter ihm zu, dass es einen Moment gab, in dem Rita sie hätte aufhalten können.

Hand an den Griff, Fuß auf die Schwelle, zwei Stockwerke hinauflaufen, klingeln, Edgar den Umschlag in die Hand drücken. Ich habe hier etwas für dich, würde sie sagen.

Aber die Haustür fiel schon ins Schloss. Das Licht erlosch. Der Moment war vorbei. Sie holte den Umschlag aus ihrer Schultertasche und betrachtete ihn. Ein weiteres Mal hob sie die Klappe des Briefkastens hoch und blickte hinein. Das Fach war leer. Reichlich Platz für den Umschlag, der endlich vorsichtig durch den Schlitz geschoben wurde. Als Rita ihn losließ, fiel er dumpf auf den Grund. Ihre Fingerspitzen konnten ihn noch ertasten, aber nicht mehr herausholen. Sie zog ihre Hand zurück. Die Klappe fiel zu. Leises Scheppern. Es war vollbracht.

Die halbe Nacht schlug sie sich danach in ihrem Bett um die Ohren und quälte sich mit den Gedanken an den morgigen Tag. Sie wälzte sich von einer zur anderen Seite. Edgar und sie hatten morgen die gleiche Schicht. Vielleicht rief er sie schon in aller Frühe an, sobald er seine Zeitung aus dem Briefkasten geholt, den Gutschein entdeckt und das Erkennungszeichen auf ihm erkannt hatte.

Sie sprang auf, machte Licht und kontrollierte, ob ihre Telefone funktionierten. Sie wählte von ihrem Handy aus ihre Festnetznummer. Und umgekehrt. Sie stellte die Ruftöne lauter. Sie nahm beide Telefone mit ans Bett und legte sie neben ihr Kopfkissen. Sie löschte das Licht, und die Finsternis ergoss sich über sie wie Regen. Mit offenen Augen lag sie in der Dunkelheit und malte sich aus, wie er morgen nach dem Dienst hinter einer Straßenecke auf sie wartete und sie mit seinem Auto nach Hause fuhr. Sie hatten ihre Beziehung immer möglichst diskret gehalten. Er würde ohne Unterlass reden, ihr danken, erklären, versichern, bedauern, beteuern ... alles nur ein Missverständnis ... er brauchte eine Auszeit ... gleichgültig, was er sagen würde, sie würde ihm verzeihen. Sie musste bei der Vorstellung lächeln, wie erleichtert Edgar sein würde, wenn endlich alles gesagt, wenn alles wieder gut war. Wenn das Gespenst in seinem Kopf endlich vertrieben war. Ohne Operation. Sie musste morgen unbedingt etwas Besonderes für diesen besonderen Tag anziehen.

Als Rita am nächsten Morgen die gläsernen Eingangstüren zur Klinik aufschob, lief Edgar gerade die Treppe hinauf. Er war früher als gewöhnlich – und im Anzug, er nahm zwei Stufen auf einmal, nicht wie sonst den Aufzug. Seine linke Hand schwebte über den Lauf des Treppengeländers, unterm rechten Arm steckte eine Zeitung, in der Hand hing seine Aktentasche.

Rita setzte einen Fuß auf die unterste Stufe, blieb wie gebannt stehen und blickte an der Spirale des schmiedeeisernen Geländers die Stockwerke hinauf. In der Kurve zum dritten Stock wurde er auf sie aufmerksam, blieb stehen und legte den Finger auf den Mund. Er trug eine Krawatte. Eine Locke fiel ihm in die Stirn. Seine Nase kräuselte sich.

Sie konnte es kaum fassen. Er hatte sich schön gemacht. Für sie! So wie sie für ihn. Sie erstarrte fasziniert. Ihre linke Hand wollte das Geländer nicht loslassen, die rechte hing wie gelähmt an ihrer Seite. Ihr Mund stand leicht offen. Während ihre Augen ihn weiter verfolgten, nahmen ihre Füße wie von selbst die Treppe, Stufe um Stufe. Als Edgar abbog und aus ihrem Blickfeld entschwand, stolperte sie. Sie verlor das Gleichgewicht, fiel auf die Knie und faltete die Hände: Er kommt zu mir zurück.

»Amen!«, rief eine weibliche Stimme forsch hinter ihr.

Rita fuhr herum. Sie kannte die Frau nicht, die sich da über sie lustig machte, aber das hatte nichts zu bedeuten, sie kannte hier kaum jemanden. Schnell rappelte sie sich auf und wischte den Staub von den Knien. Ihre schwarze Strumpfhose hatte den Sturz nicht vertragen, mitten auf der Kniescheibe zeichnete sich eine Laufmasche ab.

»Schlimm?«, fragte die Frau und musterte Rita, die heute ein schwarzes Kleid und schwarze Schuhe mit hohem Absatz trug.

Rita schüttelte den Kopf. »Ich bin nur gestolpert.«

Resolut griff die Frau unter ihren Arm. »Wohin müssen Sie denn?«

»In den dritten.«

»Dann nehmen Sie doch den Aufzug.« Sie zog Rita die Treppenstufen hinunter, führte sie zum Aufzug und drückte für sie auf den Knopf. Sie wartete, bis die Kabine im Erdgeschoss ankam, und schob sie hinein. »Wir sind nämlich voll auf der Chirurgie.« Wieder dieses Lachen.

Die Frau bog in einen Gang ab, und Rita drückte nicht den Knopf zum dritten Stock, sondern ließ sich nur eine Etage höher fahren. Sie hasste Aufzüge.

Sie traf Edgar danach den ganzen Tag nicht mehr. Er wartete auch nicht nach Dienstschluss, so wie früher, auf der Elsa-Brandström-Straße auf sie. Enttäuscht nahm sie den Bus und ließ sich im Gedränge nach Hause fahren. Auf ihrem Anrufbeantworter war keine Nachricht von ihm und auf dem Rechner keine Mail. Unruhig wartete sie auf den späten Abend und auf die Schritte vor seinem Haus in der Dunkelheit. Sein Briefkasten war leer. In seinem Arbeitszimmer brannte Licht. Sie verstand es nicht.

Auch der nächste Tag war mysteriös. Auch die folgenden Tage blieben es. Sie konnte es sich nur so erklären: Er kämpfte gegen das Gespenst. Einen einsamen und unerbittlichen Kampf, mit dem er sie nicht belasten wollte. Bestätigung für ihre Theorie fand sie in seinem vagen Lächeln bei ihrem Anblick, seiner Aufmerksamkeit, wenn sie eine dienstliche Frage stellte, und in seiner Höflichkeit, wenn er ihr die Tür aufhielt. Unübersehbare, unmissverständliche Zeichen. Dazu bedurfte es keiner großen Phantasie. Besonders wenn sie an den Zeigefinger dachte, den er mehr als einmal auf den Mund legte. Sie hatten ein gemeinsames Geheimnis!

Dafür war Rita bereit, jeden Preis zu zahlen. Denn da war die Garantie, dieses Mal würde es mit Edgar und ihr gut gehen. Es musste. Sie wollte es so. Sie waren füreinander bestimmt. Sie hatte es schon damals im Kaufhof gewusst.

2. Kapitel

26. April, 10.15 UhrForsthaus, Wolfgarten